Mein mutiges Herz - Kat Martin - E-Book
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Mein mutiges Herz E-Book

Kat Martin

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Beschreibung

Eine junge Dame, allein in Opiumhöhlen und Bordellen? Couragiert ist die Reporterin Lindsey zu allem bereit! Sie muss den wahren Mörder von Covent Garden finden, um den entsetzlichen Verdacht von ihrem Bruder abzuwenden. Doch Thor Draugr, Schwager ihrer Verlegerin, sieht das anders: Als Ehrenmann kommt es für ihn nicht infrage, dass Lindsey sich in Gefahr begibt. Auch wenn sie sein kühles nordisches Blut zum Sieden bringt - keinen Tag weicht er von ihrer Seite! Und auch keine Nacht, wenn Lindsey voller Verlangen seine Männlichkeit herausfordert ... Aber wo ist ihr Geliebter, als Lindsey unvermittelt dem Mörder gegenübersteht?

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Seitenzahl: 510

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IMPRESSUM

HISTORICAL VICTORIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe HISTORICAL VICTORIABand 47 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2019 by Kat Martin Originaltitel: „Heart of Courage“ erschienen bei: Harlequin Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Traudi Perlinger

Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg, in der Reihe HISTORICAL GOLD, Band 223

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733737337

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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1. KAPITEL

London

September 1844

COVENT GARDEN MÖRDER SCHLÄGT WIEDER ZU

Londoner Bevölkerung in Angst

Thor überflog den Leitartikel der London Times, einen Bericht über den zweiten grausamen Frauenmord im Stadtteil Covent Garden in den letzten sechs Monaten.

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Leif war er kein begeisterter Leser. Seiner Meinung nach eignete sich eine Zeitung am besten dafür, Fische darin einzuwickeln. Er sah jedoch die Nützlichkeit ein, sich über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten, deshalb befasste er sich mit dem englischen Text – eine Sprache, die er erst vor zwei Jahren nach seiner Ankunft in London begonnen hatte, zu erlernen. Zuvor hatte er auf einer kleinen Insel weit im Norden gelebt, in einer abgeschlossenen kleinen Welt, von deren Existenz nur eine Handvoll Menschen wusste.

Unter Anleitung seines Förderers und Lehrers Professor Paxton Hart hatte er lesen und schreiben gelernt, wusste mittlerweile auch, sich einigermaßen zu kleiden und sich in der vornehmen Londoner Gesellschaft zu bewegen. Leif und seine Gemahlin waren ihm dabei gleichfalls eine große Hilfe, und allmählich gewöhnte er sich an das Leben in der Großstadt. Dennoch zog Thor es vor, sich in der freien Natur zu bewegen, statt untätig in einem Zimmer zu sitzen und ein Buch zu lesen.

„Sie waren es also, der meine Zeitung gestohlen hat!“, fauchte eine aufgebrachte Frauenstimme hinter ihm. „Und ich suche sie schon die ganze Zeit.“ Lindsey Graham durchquerte das Büro mit eiligen Schritten und kam ihm dabei vor wie eine Wildkatze, die sich auf ihre Beute stürzt.

Mit dem Stein des Anstoßes in der Hand stand Thor auf der Schwelle des Hinterzimmers von Heart to Heart, dem Frauenmagazin, das von seiner Schwägerin Krista Hart Draugr und deren Vater, seinem Lehrer Sir Paxton Hart, herausgegeben wurde. Es war Donnerstag, der Tag vor der Auslieferung der neuen Ausgabe, und in den Redaktionsräumen herrschte rege Betriebsamkeit.

„Ich habe sie nicht gestohlen“, verteidigte Thor sich gegen den Racheengel, der auf ihn zugestürmt war. „Ich habe sie mir nur geliehen, weil ich etwas über diesen Mord erfahren wollte.“

Sie funkelte ihn aus goldbraunen Augen an, mit denen sie wahrlich einer Wildkatze glich. „Es gab einen zweiten Mord?“

Er hielt ihr die Zeitung hin. „In Covent Garden“, sagte er. „Wie beim ersten Mal.“

Lindsey nahm ihm die Zeitung aus der Hand und überflog den Artikel. Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau, die neben einem nordischen Hünen wie ihm jedoch zierlich wirkte. Ihr brünettes Haar schimmerte golden. Eine hübsche, zartgliedrige Person mit fein geschnittenen Gesichtszügen, aber nicht der Typ, der ihm gefallen könnte.

Wie sein Bruder bevorzugte er üppige, vollbusige Frauen, und mit Krista hatte Leif seine ideale Lebensgefährtin gefunden. Thor hingegen hielt immer noch Ausschau nach der richtigen Frau, mit der er sein Leben teilen wollte.

„Schon wieder ein Frauenmord“, murmelte Lindsey, den Blick auf die Titelseite gerichtet. „Erwürgt … wie beim ersten Mal. Die Polizei geht davon aus, dass es derselbe Mörder ist.“

Lindsey Graham, die Verfasserin der wöchentlichen Kolumne Heartbeat, war eine zielstrebige und fleißige Journalistin, Eigenschaften, die Thor bewunderte, da auch er ein harter Arbeiter war. Wenn er nicht unten an den Docks die Schauermänner seines Bruders beaufsichtigte, die für Walhall Shipping arbeiteten, machte er sich in der Redaktion nützlich. Den Lohn sparte er, um sich irgendwann ein Haus auf dem Land kaufen zu können, weit weg vom Lärm und der stickigen Luft der Metropole.

„Das hier ist neu“, fuhr Lindsey fort und steckte ihre hübsche Nase in die Zeitung. „Hier steht, die ermordeten Frauen waren Damen der Nacht.“

„Huren“, bestätigte Thor unverblümt.

Lindsey errötete. „Das heißt noch lange nicht, dass jemand das Recht hat, sie zu töten.“

„Das sagte ich auch nicht.“

Sie seufzte. „Die Leute, die in dieser Gegend leben, tun mir leid. Zwei Morde innerhalb von sechs Monaten. Die Nachbarn müssen doch ständig in Angst leben. Ich kann nur hoffen, dass die Polizei den Täter diesmal fasst.“

„Die Zeitung schreibt, dass es bereits Spuren gibt und er bald überführt wird.“

„Mich würde interessieren, welche Spuren sie haben.“

Thor schwieg. In die Zeitung vertieft, trat Lindsey an ihren Schreibtisch und setzte sich. Die große Stanhope Druckerpresse stand noch still, würde aber bald mit lautem Getöse in Gang gesetzt werden und die nächste Ausgabe drucken.

Thor sah gerne zu, wenn die Druckerpresse arbeitete. Er war immer noch fasziniert von den großen Maschinen, die er vor seiner Ankunft in England nicht gekannt hatte. Maschinen, die Wolle und Baumwolle zu Stoffbahnen webten, Maschinen, die flüssiges Glas zu Gefäßen in allerlei Formen und Größen pressten. Es gab sogar riesige Dampfmaschinen, Lokomotiven genannt, die Menschen und Güter innerhalb weniger Stunden über lange Strecken beförderten, für die man zu Pferd Tage brauchen würde.

Von all diesen technischen Errungenschaften gab es nichts auf der einsamen Insel Draugr, wo Leif und er geboren und aufgewachsen waren. Die Bewohner von Draugr lebten noch heute wie vor Hunderten von Jahren, waren Krieger und Bauern, keine Stadtbewohner wie die Menschen hier in London.

Er warf der Schriftsetzerin Bessie Briggs ein Lächeln zu, eine Frau in mittleren Jahren, die ihn bemutterte wie ihren eigenen Sohn, und machte sich an die Arbeit, Kisten und Kartons aufzustapeln, um Platz für die neue Ausgabe des Magazins zu schaffen.

Wenige Minuten später schlug die Glocke über dem Eingang an und lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen hageren, dunkelhaarigen Herrn mit Hakennase. Gekleidet war der Besucher in einen maßgeschneiderten braunen Gehrock und rehbraune Hosen, dazu trug er einen jener lächerlichen hohen Zylinderhüte, die von modebewussten Herren der feinen Londoner Gesellschaft bevorzugt wurden. Thor weigerte sich stets standhaft, einen dieser Hüte zu tragen.

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, bis erboste Stimmen zu ihm drangen. Thor war froh, dass diesmal nicht er die Zielscheibe von Miss Grahams Zorn war. Er wagte einen Blick durch die halb offene Tür ihres Büros und sah den gut gekleideten Herrn vor ihrem Schreibtisch stehen. Die beiden schienen in einen Streit verwickelt. Beim Anblick des zorngeröteten Gesichts des Fremden, dessen dunkle Vogelaugen wütende Blicke schossen, trat Thor ein paar Schritte näher.

Lindsey stemmte die Fäuste in die Hüften. „Ich schere mich keinen Pfifferling darum, ob Ihnen mein Artikel gefällt oder nicht. Hätten Sie Ihre Frau nicht betrogen, wäre man Ihnen nicht auf die Schliche gekommen und ich hätte Ihr schändliches Benehmen nicht in meiner Kolumne erwähnt!“

„Sie unverschämtes Miststück! Meine Frau droht mir mit Scheidung. Ich bin der Earl of Fulcroft und ein Whitfield, und die Whitfields lassen sich nicht scheiden! Sie verfassen umgehend einen Widerruf, sonst sorge ich persönlich dafür, dass Ihr Ruf ruiniert wird!“

„Und wie, wenn ich fragen darf, wollen Sie das anstellen, Mylord?“

Ein böses Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Earls. „Ich werde in Ihrer Vergangenheit herumstöbern, bis ich etwas finde, was Ihrem Ruf schadet und die Leserinnen Ihrer Kolumne gegen Sie aufbringt. Es findet sich gewiss ein dunkler Fleck in Ihrer Vergangenheit, mögen Sie sich auch noch so unschuldig geben. Ich grabe so lange danach, bis ich ihn finde. Dann werden wir ja sehen, ob Sie sich immer noch keinen Pfifferling scheren!“

Thor hatte genug gehört. Er sah, wie Lindsey erbleichte, trat auf Fulcroft zu, packte ihn am Revers seines feinen Gehrocks und hob ihn vom Boden.

„Nun ist aber Schluss mit Ihren Drohungen gegen die Dame. Sie entschuldigen sich augenblicklich für die Beleidigungen und verlassen dieses Haus.“

Ohne auf Lindseys verdutztes Gesicht zu achten, schüttelte Thor den vornehmen Herrn wie eine nasse Ratte.

„Lassen Sie mich sofort los!“, keuchte der Earl erzürnt.

„Ich sagte, Sie entschuldigen sich. Und zwar augenblicklich.“

Fulcroft strampelte hilflos, seine glänzend polierten Schuhe baumelten eine Handbreit über den Dielen. „Gut, gut. Tut mir leid, dass ich sie unverschämtes Miststück nannte. Nun lassen Sie mich gefälligst los!“

Thor stellte den Mann auf die Füße, der sich rückwärts zur Tür bewegte. Sein hasserfüllter Blick durchbohrte Lindsey. „Trotz dieser Bulldogge meine ich jedes Wort ernst. Ich erwarte Ihren Widerruf in der nächsten Ausgabe, sonst werde ich Schritte gegen Sie unternehmen.“

„Tun Sie sich keinen Zwang an!“, rief Lindsey ihm nach, als er sich umdrehte und hastig das Büro verließ.

Thor war sichtlich zufrieden mit sich, doch dann fuhr Lindsey zu ihm herum. „Tun Sie so etwas nie wieder!“

„Wovon sprechen Sie?“

„Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten. Ich werde mit meinen Problemen alleine fertig und brauche Ihre Hilfe nicht.“

Thor starrte sie an. „Wäre es Ihnen lieber gewesen, dass der Mann Sie noch mehr beleidigt? Stört es Sie nicht, dass er Sie beschuldigt, mit Mist zu tun zu haben?“

Sie bekam große Augen. Dann zogen sich ihre Mundwinkel hoch. „Natürlich hat mich das gestört. Aber ich wäre allein mit ihm fertig geworden.“

„Gut. Das nächste Mal, wenn ein Mann Sie beleidigt, höre ich einfach nicht hin. Ist Ihnen das lieber, meine Dame?“

Sie sah ihm einen Moment unverwandt in die Augen, bevor sie den Blick abwandte. „Ja, das wäre mir entschieden lieber. Ich brauche weder von Ihnen noch von irgendwem sonst Hilfe.“

Thor schüttelte den Kopf. „Störrisch wie ein hässliches Pferd.“

„Sie meinen wohl ein Maultier“, korrigierte sie ihn.

„Gut, dann eben störrisch wie ein Maultier.“

Lindsey warf ihm einen letzten giftigen Blick zu, machte kehrt und entfernte sich.

Verdammtes Frauenzimmer, dachte Thor und versuchte, nicht auf ihre schwingenden Hüften unter den weiten Röcken zu achten und die Frage zu verdrängen, ob seine Hände ihre schmale Mitte umfassen könnten. Sie war schlank und flach wie ein Brett. Wieso ihm ihr Gang überhaupt auffiel, konnte er sich nicht erklären.

Allerdings musste er gestehen, dass ihr Gesicht hübsch war und ihre helle Haut schimmerte wie Perlmutt. Ihr brünettes Haar glänzte honigfarben im Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel.

Zähneknirschend registrierte er, wie ihn blitzartig Begehren durchfuhr, was ihn erheblich störte. Gereizt begab er sich wieder nach hinten und stapelte die restlichen Kisten und Kartons auf.

Diese Lindsey Graham interessierte ihn nicht, sie war nicht sein Typ, nicht im Geringsten. Doch als sie das Büro in ihrem anmutigen Gang durchquerte, folgte Thors Blick ihr erneut.

Lindsey überflog ihre Notizen zu einem Artikel für die nächste Ausgabe der Zeitschrift. Im Hintergrund der großen Halle, in der die Stanhope Presse stand, konnte sie hören, wie Thor die gebundenen Zeitschriftenstapel, die morgen ausgeliefert werden sollten, auf Handkarren lud.

Krista lag dieser Artikel besonders am Herzen, das wusste Lindsey. Die Freundin trat vehement für ein Verbot privater Pflegestellen für Säuglinge ein. Ledige Mütter lieferten ihre Neugeborenen gegen geringes Entgelt bei alleinstehenden Frauen ab, um der Schande einer unehelichen Geburt zu entgehen. Diese Pflegemütter, meist verarmte Witwen, versorgten die Kinder kaum mit dem Nötigsten, gaben ihnen mit Kalk gestreckte Milch zu trinken, und die meisten der armen Würmer starben bereits nach wenigen Wochen. Damit war für die leiblichen Mütter ein lästiges Problem aus der Welt geschafft, und die gefühlskalten Pflegemütter brachten ein paar Groschen für ihren eigenen Lebensunterhalt auf die Seite.

Ihre gemeinsame Freundin Coralee Whitmore Forsythe hatte diese unmenschlichen Zustände aufgedeckt, während sie nach dem Mörder ihrer Schwester suchte. Solange Coralee mit ihren Nachforschungen beschäftigt war, hatte Lindsey ihre Gesellschaftskolumne für das Magazin übernommen. Im Augenblick befand Coralee sich mit ihrem frisch angetrauten Gemahl, dem Earl of Tremaine, auf Hochzeitsreise. Nach ihrer Rückkehr wollte das Paar sich weiterhin für Kristas Kampf gegen diese abscheulichen Praktiken der Kindesmisshandlung einsetzen.

Lindsey warf einen Blick durch die offene Tür in die Halle und sah Thor bei der Arbeit zu. Er wuchtete die schweren Stapel auf einen Karren, als seien sie federleicht. Die körperliche Anstrengung schien ihm großen Spaß zu machen, denn die niederen Dienste eines einfachen Arbeiters verrichtete er sichtlich gern.

Er war weniger lerneifrig als sein älterer Bruder Leif. Verglichen mit seinem Bildungsstand vor zwei Jahren hatte er allerdings große Fortschritte gemacht. Sie wusste nicht viel über ihn, nur, dass er von einer winzigen Insel nördlich der Orkneys stammte. Er sprach leidlich gut Englisch mit einem kaum merklichen nordischen Akzent. Mittlerweile konnte er auch lesen und schreiben, und Krista und ihr Vater hatten ihm die Grundregeln guten Benehmens beigebracht, um sich in der vornehmen Gesellschaft zu bewegen.

Aber im Grunde genommen war der Mann ein ungehobelter Barbar, der keinerlei Interesse an Kunst, Theater und Oper zeigte und nicht den geringsten Wunsch hatte, Konzerte, Liederabende, Soireen und Bälle zu besuchen, wie es Lindsey so liebte. Als Gesellschaftskolumnistin von Heart to Heart gehörte es natürlich zu ihren Pflichten, solche Veranstaltungen zu besuchen und in den besten Kreisen zu verkehren. Doch als Tochter eines Barons fiel ihr das leicht.

Sie liebte ihren Beruf und schätzte die Unabhängigkeit, die er ihr bot. Zunächst waren ihre Eltern natürlich entsetzt über die Vorstellung, dass ihre zweiundzwanzigjährige Tochter den Wunsch hatte, einen Beruf zu ergreifen, aber da ihre Eltern gerne reisten und ständig unterwegs waren, hatte Lindsey darauf bestanden, dass sie dringend eine nützliche Beschäftigung brauchte. Am Ende hatte sie wie gewöhnlich ihren Kopf durchgesetzt.

Auch momentan bereisten ihre Eltern den Kontinent und überließen Lindsey der Obhut der älteren Schwester ihrer Mutter, Delilah Markham, Countess of Ashford. Lindsey hatte ihre Tante sehr gern, eine fortschrittlich denkende Frau, die mit sechsundvierzig ein reges Gesellschaftsleben führte und jeden Tag ihrer Witwenschaft genießen wollte.

Und das bedeutete im Grunde genommen, dass Lindsey tun und lassen konnte, was ihr gefiel.

Es war recht warm im Büro an diesem sonnigen Septembertag. Lindsey fächelte sich mit der Zeitung Luft zu und warf wieder einen Blick nach hinten in die große Halle, wo Thor sich gerade bückte, um einen weiteren Stapel Zeitschriften auf den Karren zu hieven. Er war immer einfach gekleidet, trug nie Weste, Krawatte oder steifen Kragen.

Als sie bemerkte, dass er den Gehrock abgelegt und das Hemd aufgeknöpft hatte, bekam sie große Augen und bestaunte seinen breiten Brustkorb mit den ausgeprägten Muskelwölbungen, die sich bis zu seinem flachen Bauch zogen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn den sehnigen Hals hinunter, das dünne Hemd klebte an seinem prachtvollen Körper. Seine Schultern und Arme waren kräftig und muskulös, und als er sich umdrehte, sah sie das Spiel seiner Muskeln an Schultern und Rücken.

In Lindseys Magen setzte ein befremdliches Flattern ein. Das einzig Attraktive an diesem grobschlächtigen Barbaren war sein herrlicher Körper, der dem nordischen Gott zu gleichen schien, nach dem er benannt war. Und natürlich seine Augen, in die Lindsey kaum zu blicken wagte, um sich nicht darin zu verlieren – sie waren von einem unbeschreiblich tiefen Blau.

Höchst seltsam, dass ein Mann so umwerfend gut aussah und dabei in seinem Wesen so uninteressant und nichtssagend war.

Eine merkwürdige Mischung, die Lindsey irgendwie ungerecht fand.

Dennoch vermochte sie den Blick nicht abzuwenden, bis er sich umdrehte und sie dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte.

Er hob den Kopf und fixierte sie mit seinen unbeschreiblichen Augen.

„Ich bin nicht salonfähig gekleidet“, stellte er seelenruhig fest. „Eine Dame würde den Blick abwenden.“

Lindsey hob das Kinn. „Und ein Gentleman würde sich nicht in aller Öffentlichkeit halb nackt ausziehen!“ Sie wirbelte ihren Drehstuhl herum, riss den Federhalter aus der Silberhülse, stieß ihn ins Tintenfass, um einen Satz zu streichen, und hinterließ eine Spur von Klecksen auf dem Papier.

Thor murmelte etwas in sich hinein und setzte seine Arbeit fort.

„Wie fühlst du dich?“

Erschrocken fuhr Lindsey auf, als ihre beste Freundin Krista Hart Draugr an ihren Schreibtisch trat. Sie war im Begriff zu entgegnen, sie habe sich recht wohlgefühlt, bevor Thor sich der Hälfte seiner Kleider entledigt hatte, besann sich aber eines Besseren. Kristas Frage bezog sich bestimmt auf die Auseinandersetzung mit dem Earl of Fulcroft und nicht auf Thor.

„Bessie berichtete mir von dem Auftritt des Earls“, erklärte Krista. „Schade, dass ich nicht hier war.“ Sie war größer als die meisten Männer, abgesehen natürlich von ihrem Gemahl und Thor. Mit ihren großen grünen Augen und dem goldblonden Haar war sie eine ausgesprochene Schönheit. Und in Leif hatte sie den idealen Ehemann gefunden. Das Paar hatte ein Söhnchen, mittlerweile neun Monate alt, das beide vergötterten, und bei Leifs augenscheinlicher Manneskraft würde sich wohl bald weiterer Nachwuchs einstellen.

Lindsey lächelte. „Mir geht es glänzend. Fulcroft wollte vermutlich nur Dampf ablassen.“

„Womit er dir auch gedroht hat, der Verlag steht hinter dir. Du musst keinen Widerruf schreiben, wenn du nicht willst.“

Lindsey dachte an Fulcrofts Drohung, in ihrer Vergangenheit herumzustochern, bis er etwas fand, womit er sie kompromittieren konnte. Diese Möglichkeit bestand, wie sie sehr wohl wusste. Sie war immer eigenwillig und rebellisch gewesen. Er würde nicht lange bohren müssen, um auf ihre Jugendsünde mit dem jungen Viscount Stanfield zu stoßen. Allerdings zweifelte sie daran, dass Lord Fulcroft seine Drohung wahr machen würde, und im Übrigen wollte sie sich nicht erpressen lassen.

„Wie gesagt, er spuckte bloß heiße Luft. Nach Thors deutlicher Warnung wird er Ruhe geben und mich nicht weiter belästigen.“

Krista richtete den Blick nach hinten in die Halle auf Thor, der mit offenem Hemd seiner schweißtreibenden Arbeit nachging.

„Ich hoffe, Thor hat dein Feingefühl nicht verletzt. Mein Ehemann und sein Bruder legen zuweilen etwas ungeschliffene Manieren an den Tag.“

„Das ist eine Untertreibung.“

„Ich könnte die Tür schließen, aber dann wird es hier drin schrecklich heiß.“

„Sei nicht albern. Ich habe schon so manche Männerbrust gesehen.“

Krista warf ihr einen vielsagenden Blick zu, als wolle sie sagen: Aber keine Männerbrust wie seine. Und damit hatte sie vollkommen recht.

Nachdem die Freundin sich in ihr eigenes Büro zurückgezogen hatte, richtete Lindsey den Blick auf das Blatt Papier vor ihr und versuchte das Bild des Muskelspiels unter glatter gebräunter Männerhaut zu verdrängen, was ihr partout nicht gelingen wollte.

Gegen drei Uhr morgens ließ Lindsey sich von einem Diener aus der Karosse helfen, wartete, bis auch Tante Delilah ausgestiegen war, hakte sich bei ihr unter, und die beiden Damen betraten das Herrenhaus in Mayfair.

In der mit Marmor gefliesten Halle reichte Lindsey ihren Umhang dem Butler, einem hageren silbergrauen Herrn mit würdevoller Miene, der seit mehr als zwanzig Jahren im Dienste der Familie stand. „Vielen Dank, Benders.“

Er verneigte sich lächelnd und nahm auch ihrer Tante den Mantel ab. „Kann ich noch etwas für die Damen tun?“

„Nein danke, das wäre alles für heute“, erklärte Tante Dee.

Der Butler zog sich zurück, und Lindsey begab sich mit ihrer Tante in den roséfarbenen Salon, um den Abend bei einem kurzen Plausch ausklingen zu lassen.

Erschöpft sank Lindsey auf das rosa bezogene Samtsofa und sehnte sich eigentlich nur nach ihrem Bett.

„War das nicht ein wunderschöner Abend?“ Die Countess of Ashford, Witwe des verblichenen Earl of Ashford, rauschte leichtfüßig hinter ihr in den Salon, aufgekratzt und guter Dinge, als sei es sechs Uhr abends und nicht weit nach Mitternacht. Als hätten sie beide nicht das Tanzbein geschwungen, bis Lindseys Füße schmerzten und ihr Nacken steif war. Als hätten sie nicht unentwegt gelächelt und leere Konversation betrieben, bis Lindsey glaubte, ihr Gesicht würde für immer zur Maske erstarren.

Normalerweise fühlte sie sich bei gesellschaftlichen Anlässen wie dem Ball der Marquess of Penrose ausgesprochen wohl, doch an diesem Abend wäre sie dem lärmenden Gedränge, der stickigen, mit süßem Parfumduft geschwängerten Luft im Ballsaal gerne entflohen, um sich in ein abgelegenes Kabinett zurückzuziehen.

Tante Dee goss sich ein Glas Sherry ein, bot Lindsey ein zweites Glas an, die kopfschüttelnd ablehnte, und machte es sich in einem Sessel bequem.

„Der Earl of Vardon war heute Abend besonders aufmerksam.“ Sie nippte an ihrem Sherry. „Ich glaube, er interessiert sich für dich.“

Delilah war, wie Lindsey, eine hochgewachsene Frau, nur ein wenig fülliger, mit einer erstaunlich gut erhaltenen Figur. Mit ihrem vollen schwarzen Haar, einem makellos hellen Teint und grauen lebhaften Augen wirkte sie zehn Jahre jünger als sechsundvierzig und wurde von den Herren heftig umschwärmt. Allerdings durfte nur eine sorgfältige Auslese ihrer Verehrer das Privileg ihrer Gesellschaft genießen.

„Tja, ich hingegen interessiere mich nicht für Lord Vardon“, entgegnete Lindsey. „Und das gilt für jeden Mann. Zumindest im Augenblick.“

Delilah lehnte sich in die Polster zurück. „Ich sollte dich in deinem Streben nach Unabhängigkeit nicht bestärken, fürchte ich. Aber ehrlich gestanden, bin ich völlig deiner Meinung. Eine Frau sollte ihre Jugend genießen, solange sie ungebunden ist. Später bleibt ihr noch genügend Zeit für Ehemann und Kinder.“

Auf ihre Weise war Tante Dee eine rebellische Natur in ihrer Überzeugung, dass einer Frau die gleichen Freiheiten zustehen sollten wie einem Mann. Irgendwie war es erstaunlich, dass Lindseys Eltern in ihr die geeignete Anstandsdame für ihre Tochter sahen. Andererseits waren ihre Eltern, Lord und Lady Renhurst, seit eh und je mehr an ihrem eigenen Leben interessiert als an dem ihrer Tochter.

„Mir gefällt mein Leben“, sagte Lindsey sinnend. „Ich möchte gerne das tun, wonach mir der Sinn steht, ohne einen Ehemann an der Seite, der mir ständig Vorschriften macht.“

„So soll es auch sein, meine Liebe. Eine Frau muss zwar etwas vorsichtiger und kritischer sein im Umgang, den sie pflegt, aber wenn sie klug und pfiffig ist, findet sie reichlich Gelegenheit, ihr Leben zu genießen.“

Lindsey konnte sich vorstellen, dass Tante Dee diesen Rat selbst befolgte, und bewunderte sie dafür. Es erforderte einigen Mut für eine Frau, so zu leben, wie es ihr gefiel.

In Gedanken an den verflossenen Abend lehnte Lindsey sich zurück. „Ich frage mich, ob Rudy schon zu Hause ist.“ Ihr Bruder war ein paar Stunden auf dem Ball gewesen, hatte sich aber vorzeitig mit seinen Freunden verabschiedet.

„Das glaube ich kaum. Dein Bruder pflegt sich doch die Nächte um die Ohren zu schlagen. Ich wette, er taucht erst gegen Mittag auf.“

Lindsey setzte sich aufrecht hin. „Na und? Ihn sticht lediglich der Hafer“, verteidigte sie ihn. „Alle jungen Männer gehen durch diese Phase der Entwicklung.“ Rudy war zwar nur ein Jahr jünger als Lindsey, aber immer noch das verhätschelte Kind in der Familie. Und als Erbe des Titels konnte er sich alle Freiheiten erlauben.

„Dein Bruder ist ein ausgesprochen leichtlebiger Nichtsnutz. Er trinkt zu viel und umgibt sich mit unmöglichen Freunden. Dein Vater hätte ihn schon vor Jahren zur Räson bringen sollen. Nun ist der Junge erwachsen und wird sich nicht mehr ändern.“

„Aber er ist doch noch jung“, hielt Lindsey ihr entgegen. „Er wird bald vernünftig werden.“ Das hoffte sie jedenfalls. Schon als Kind durfte Rudy sich alles erlauben, und daran hatte sich nichts geändert. Er stand im Ruf, ein Trunkenbold und Frauenheld zu sein, und Lindsey war sich nicht wirklich sicher, ob er sich je ändern würde.

Tante Dee leerte ihr Glas. „Nun, mein Kind. Ich denke, es ist Zeit, zu Bett zu gehen.“

Erleichtert atmete Lindsey auf und erhob sich. „Ja, auch ich bin müde. Gute Nacht, Tante Dee. Wir sehen uns beim Frühstück.“

Während sie erschöpft die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufging, dachte sie an Rudy und fragte sich, ob ihre Tante in ihrer Meinung über ihn recht behalten würde.

2. KAPITEL

Rudy kam am nächsten Morgen gegen zehn nach Hause. Lindsey, die gerade ihr Frühstück beendet hatte, hörte Lärm in der Halle und sprang auf, um nachzusehen, wer gekommen war.

Ihr Bruder wankte mit einem einfältigen Lächeln auf sie zu und lüftete den hohen Zylinderhut, der seinen Fingern entglitt und über die Marmorfliesen rollte. „Morgen, Schwesterherz.“

Der Butler, der aus einer Seitentür erschienen war, gab vor, den trunkenen Zustand des jungen Herrn nicht zu bemerken, bückte sich nach dem Hut, wischte mit dem Ärmel über die Krempe und legte ihn auf den Garderobentisch.

Lindsey eilte ihrem Bruder entgegen. „Gütiger Himmel, Rudy, du bist ja völlig betrunken!“

Er kicherte kindisch, ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann mit sandfarbenem Haar und Sommersprossen. „Tatsächlich?“ Er taumelte gegen die Wand, fasste sich und fiel erneut dagegen.

„Benders, helfen Sie mir, meinen Bruder in sein Zimmer zu bringen.“

„Selbstverständlich, Miss.“

Der betagte Diener eilte herbei, aber Rudy winkte ab. „Nicht nötig, brauche keine Hilfe. Ich nehme nur ein Bad, wechsle die Kleider und bin gleich wieder weg. Treffe mich mit Tom Boggs und den anderen im Club.“

Aufgebracht baute Lindsey sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Bist du verrückt? In diesem Zustand kannst du dich unmöglich bei White’s sehen lassen. Du blamierst dich bis auf die Knochen.“

Rudy runzelte die Stirn. „Ist es wirklich so schlimm?“

„Noch schlimmer. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten.“

Gleichmütig zuckte er die Achseln. Sein Gehrock war zerknittert und beschmutzt. „Vielleicht lege ich mich ein Weilchen hin und mache ein Nickerchen. In meinem Kopf dreht sich alles.“

„Ja, das kann ich mir denken.“ Lindsey trat neben ihn, legte sich seinen Arm um die Schultern, und Benders nahm ihn auf der anderen Seite unter die Fittiche. Gemeinsam schleppten sie Rudy die Treppe hinauf, wobei dessen Füße gegen jede zweite Stufe stießen. Als sie den Trunkenbold endlich wie einen Sack Kartoffeln auf das breite Baldachinbett legten, war der alte Benders außer Atem. Sobald Rudy auf der Matratze lag, fielen ihm die Augen zu, und er begann augenblicklich zu schnarchen.

„Der junge Herr scheint die Nacht durchgemacht zu haben.“

„Ja, und es wäre nicht das erste Mal, wie wir wissen.“

„Er ist eben lebenslustig und ungestüm, das legt sich.“

„Ich hoffe nur, dass seine Lebenslust ihn nicht in Schwierigkeiten bringt.“

Benders nickte nur und zog an der Klingelschnur, um Mr. Peach zu rufen, Rudys Kammerdiener, dem die Aufgabe zuteil war, ihn zu entkleiden und zuzudecken.

Seufzend verließ Lindsey das Zimmer. Gottlob hatte Tante Dee den beschämenden Auftritt ihres Bruders nicht miterlebt. Bei aller Toleranz konnte ihre Tante Betrunkene, die aus der Rolle fielen, nicht ausstehen.

Lindsey saß an ihrem Schreibtisch und machte sich Notizen über den Penrose Ball für ihre Kolumne. Sie beschrieb gerade die Pracht der kunstvollen Chrysanthemengestecke in den hohen bauchigen Vasen, die Blumenkränze, mit denen die Marmorsäulen geschmückt waren, die riesigen goldgerahmten Spiegel an den Wänden des Ballsaals, der dem Spiegelsaal in Versailles nachempfunden war, als Rudy in die Redaktionsräume von Heart to Heart stürmte wie ein Wirbelwind. Er wirkte bleich unter seinen Sommersprossen, der Blick seiner braunen Augen irrte verstört hin und her.

„Lissy … ich muss dich dringend sprechen.“ Er nannte sie wie damals, als er noch ein kleiner Junge war und Lindsey nicht aussprechen konnte, ein Kosename, den er kaum noch benutzte. Sie fuhr auf und sah ihn erschrocken an.

„Du meine Güte, was ist passiert? Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht sinken.“

„Ich bin ein Mann, Lindsey – Männer fallen nicht in Ohnmacht. Aber ich … ich … muss dich unter vier Augen sprechen.“

Etwas in seinen weit aufgerissenen Augen erinnerte sie an den kleinen Jungen, der er einmal war. Lindsey erhob sich und lud ihn ein, sie ins obere Stockwerk zu begleiten. Rudy folgte ihr in das kleine Kabinett, in dem die Bücherschränke bis zur Decke reichten. Professor Hart benutzte es als Arbeitszimmer, wenn er sich in London aufhielt.

Lindsey schloss die Tür und drehte sich um. „Erzähle, warum bist du so furchtbar aufregt?“

Rudy holte tief Atem, um sich zu beruhigen. „Heute Vormittag war die Polizei bei mir.“

„Wie bitte?“

„Ein Constable namens Bertram. Er leitet die Ermittlungen in den Mordfällen in Covent Garden.“

„Was, in aller Welt, wollte Constable Bertram von dir?“

Als würden seine Beine ihn nicht länger tragen, ließ Rudy sich schwer auf einen schlichten Holzstuhl vor dem zerkratzten Eichenschreibtisch des Professors fallen. „Er stellte mir Fragen im Zusammenhang mit dem neuen Mordfall. Eigentlich über beide Mordfälle.“

„Wieso denkt die Polizei, du könntest etwas über diese Morde wissen?“

„Es kommt noch schlimmer. Die Polizei … ähm … geht anscheinend davon aus, ich könnte etwas damit zu tun haben.“

Ein eisiger Schauer kroch Lindsey über den Rücken. „Wieso solltest du in einen Mord verwickelt sein?“

Rudy schaute kreuzunglücklich zu ihr hoch. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. „Man scheint mich für einen Verdächtigen zu halten, Lindsey. Der Mann tat so, als hätte ich die Verbrechen tatsächlich begangen.“

Entsetzt sank Lindsey auf den zweiten Stuhl, ihr Herz schlug dumpf gegen ihre Rippen. „Wie kann er …“ Sie befeuchtete ihre trocken gewordenen Lippen. „Wie kommt er denn darauf?“

Rudy wandte den Blick aus dem Fenster in den grau verhangenen Himmel. Der Herbst zeigte sich nun von seiner unfreundlichen Seite. Es war kühler geworden, und bald würde es Regen geben.

„Ich kannte sie“, murmelte er, „… die Frau, die ermordet wurde.“

Lindsey furchte die Stirn. „Aber es heißt doch, die Frau sei ein … ein Freudenmädchen gewesen.“

Er schaute noch unglücklicher drein. „Mir sagte sie, sie sei Schauspielerin. Wir … ähm … haben uns bei einem Fest bei Tom Boggs kennengelernt.“

Tom Boggs. Der verwöhnte jüngste Sohn eines Earls war ein zügelloser Lebemann. Seit Rudy Umgang mit Tom und seinen zweifelhaften Freunden pflegte, hatte er sich verändert. Und nun stellte sich heraus, dass er sich auch noch mit einer Prostituierten eingelassen hatte. Lindsey lernte eine Seite an ihrem Bruder kennen, die sie nicht in ihm vermutet hätte.

Andererseits durfte eine wohlerzogene junge Dame aus gutem Hause nichts über Prostitution und derlei geschmacklose Dinge wissen, während von einem jungen Adeligen erwartet wurde, sich auch auf diese Weise die Hörner abzustoßen.

„Hattest du … etwas mit ihr zu tun, als der Mord geschah?“

„Nun ja … ich habe sie kurz vorher gesehen.“

Lindsey scheute sich, die nächste Frage zu stellen, aus Furcht vor der Antwort. In letzter Zeit führte ihr Bruder ein lasterhaftes Leben, und sie hatte befürchtet, dass er früher oder später in Unannehmlichkeiten verwickelt sein würde.

„Was ist mit der anderen Frau … die vor sechs Monaten ums Leben kam? Kanntest du sie auch?“

Rudy nickte schwach und ließ den Kopf hängen. „Ich war nur ein Mal mit ihr zusammen, aber ich fürchte, ich hielt mich in der Nähe auf, als sie umgebracht wurde.“

„Gütiger Himmel, Rudy!“

„Was soll ich denn nur tun, Schwesterherz?“

Was für eine Frage! Lindsey atmete tief durch, um sich zu beruhigen, ging in Gedanken seine Beichte noch einmal durch und überlegte, was zu tun sei. „Zunächst wenden wir uns an Mr. Marvin, Vaters Rechtsberater. Als Anwalt kann er dir raten, welche Aussagen du bei der Polizei machen sollst.“

„Aber ich habe diese Frauen nicht getötet. Das ist die Wahrheit, und ich sehe nicht ein, warum …“

„Ich denke, du siehst den Grund sehr wohl ein, sonst würdest du mich nicht um Hilfe bitten.“

Er wandte wieder den Blick ab und räusperte sich. „Ich muss gestehen, dass ich ein wenig in Sorge bin. Schließlich werde ich nicht jeden Tag von der Polizei verhört.“

„Und deshalb wollen wir nichts dem Zufall überlassen. Lass dir einen Termin bei Mr. Marvin geben, und dann sehen wir weiter.“

Widerstrebend nickte Rudy. Nachdem er sich verabschiedet hatte, suchte Lindsey ihre Freundin Krista in ihrem Büro auf.

„Ich brauche deinen Rat, wenn du nicht zu sehr beschäftigt bist“, sagte sie an der Tür.

„Für dich bin ich nie zu beschäftigt. Komm nur herein.“

Lindsey setzte sich auf den Stuhl neben Kristas Schreibtisch, strich über die weiten Röcke und gab der Freundin eine Zusammenfassung von Rudys Bericht.

„Gütiger Himmel.“

„Das sagte ich auch. Aber ich kann es einfach nicht glauben. Mein Bruder ist zwar leichtsinnig, in letzter Zeit trinkt er zu viel und schlägt sich die Nächte um die Ohren. Aber er würde nie im Leben einen Mord begehen.“

„Zu dieser Überzeugung wird die Polizei gewiss auch kommen.“

„Das will ich hoffen.“ Sie seufzte. „Vermutlich können wir im Moment nicht viel unternehmen und müssen abwarten, ob die Polizei weitere Schritte gegen ihn unternimmt.“

„Was ich für ziemlich unwahrscheinlich halte. Euer Vater ist schließlich ein hoch angesehener und einflussreicher Mann in dieser Stadt.“

„Du hast natürlich recht. Es gibt keinen Anlass zur Sorge.“

„Nicht den geringsten … aber ich bin froh, dass du deinem Bruder geraten hast, den Rechtsbeistand deines Vaters aufzusuchen.“

Das war der einzig richtige Schritt, das wusste Lindsey, und sie redete sich ein, die leidige Angelegenheit würde bald im Sande verlaufen.

Am nächsten Tag in der Redaktion versuchte Lindsey, sich auf ihren Artikel zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Rudy. Gestern hatte er mit Mr. Marvin gesprochen, der ihm geraten hatte, ohne sein Beisein nicht mit der Polizei zu sprechen. Glücklicherweise nahmen die Ermittler keinen weiteren Kontakt zu ihm auf.

„Aber irgendwie bin ich immer noch beunruhigt“, gestand Lindsey der Freundin. „Immerhin kannte mein Bruder beide Frauen.“

„Sie zu kennen und sie umzubringen ist ein himmelweiter Unterschied.“

„Natürlich.“

Als Rudy aber ein paar Stunden später hereinstürmte, durchfuhr sie ein Stich der Angst.

„Sie waren wieder bei mir.“

„Die Polizei? Du hast doch hoffentlich nicht mit ihnen geredet ohne Mr. Marvin, wie?“

„Sie sagten, sie hätten nur noch ein paar Fragen. Da ich unschuldig bin, dachte ich, es könnte nicht schaden.“

Lindseys Lippen wurden schmal. „Und? Was wollten sie diesmal wissen?“

„Sie fragten mich, wo ich … ähm … in den Nächten war, in denen die Morde geschahen.“

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Offenbar zog die Polizei ihren Bruder ernsthaft als Tatverdächtigen in Betracht. „Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, ich kann mich nicht erinnern.“

„Rudy!“

„Aber es stimmt, Schwester. Ich habe mit Tom und den anderen getrunken. Das ist alles, woran ich mich erinnere, bis ich am nächsten Morgen mit rasenden Kopfschmerzen im Hinterzimmer des Golden Pheasant aufwachte.“

„Golden Pheasant?“

Er senkte schuldbewusst den Blick. „Ein Spielsalon, in dem ich manchmal mit meinen Freunden verkehre.“

„Sag mir bloß nicht, die Spelunke liegt irgendwo in der Nähe von Covent Garden.“

Er blieb ihr die Antwort schuldig, ließ nur den Kopf hängen.

„Mein Gott, Rudy! In was bist du da nur hineingeraten?“

Zerknirscht sah er sie an. „Mehr war nicht, Schwester. Ich habe nichts verbrochen, nur ein wenig über den Durst getrunken.“

„Und hast du gespielt?“

Er tat ihre Frage mit einem gleichgültigen Achselzucken ab. „Na ja, ich verliere gelegentlich ein paar Guineas.“

Allerdings sagte ihr sein unsteter Blick, dass er mehr als nur ein paar Guineas verloren hatte. Lindsey stellte sich vor, wie enttäuscht ihr Vater wäre, wenn er von dem liederlichen Lebenswandel seines Sohnes erfuhr.

„Aber ich bin kein Mörder, das musst du mir glauben. Ich … ich weiß nur nicht, wie ich meine Unschuld beweisen soll.“

Auch Lindsey wusste keinen Rat. So verwöhnt und flatterhaft ihr Bruder auch sein mochte, sie liebte ihn. Die Geschwister hatten beide ein ungestümes Temperament und schlugen gelegentlich über die Stränge. Aber sie war fest davon überzeugt, dass Rudy niemals fähig wäre, ein Gewaltverbrechen zu begehen.

Und sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihn von dieser absurden Anschuldigung reinzuwaschen.

Thor beobachtete, wie der junge Rudy Graham Lindseys Büro verließ. Er hatte nicht vorgehabt, das Gespräch der Geschwister zu belauschen, aber genug gehört, um zu wissen, dass der junge Mann in Schwierigkeiten steckte. Und er wusste, wie schnell so etwas passieren konnte.

Kurz nachdem er in London angekommen war und mit der englischen Sprache nur mühsam zurechtkam, war auch er mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er war mit zwei zerlumpten Trunkenbolden in eine Prügelei geraten, da er versucht hatte, einer jungen Frau zu Hilfe zu eilen, die von den Kerlen belästigt wurde.

Als die Polizei eingriff, war die Frau verschwunden, und Thor konnte nur unzureichend erklären, was geschehen war. Also wurde er kurzerhand mit anderem herumlungernden Straßengesindel in einen Polizeiwagen verfrachtet und auf die Wache gekarrt. Nur durch Leifs Fürsprache war er wieder freigekommen. Seit diesem Vorfall vertrat Thor die Meinung, dass es verdammt schwer war, seine Unschuld zu beweisen, wenn die Constabler sich erst mal einen Sündenbock ausgesucht hatten.

Er betrachtete Lindsey, die mit gesenktem Kopf grübelnd an ihrem Schreibtisch saß und den Federhalter in der Hand hielt, ohne zu schreiben. Anscheinend war die Polizei der Meinung, der junge Rudy Graham habe den Tod von zwei Frauen auf dem Gewissen.

Der Dummkopf war in ernsten Schwierigkeiten.

Thor machte sich auf ihre ablehnende Haltung gefasst, als er sich ihr näherte. Lindsey sah besonders hübsch aus in einem schlichten geblümten Baumwollkleid, das honigfarbene Haar seitlich nach hinten gekämmt, von zwei Schildpattkämmen gehalten. Er fragte sich, wieso ihm solche Kleinigkeiten an ihr auffielen, und wischte den Gedanken unwirsch beiseite.

„Seien Sie nicht böse“, begann er, „aber ich habe Bruchstücke Ihrer Unterhaltung mit Ihrem Bruder gehört.“

Jäh hob sie den Kopf. „Sie haben gelauscht?“

„Nein, ich habe nur gute Ohren.“

Ihre Lippen zogen sich ein wenig hoch – rosige volle Lippen. „Vermutlich trifft Sie keine Schuld“, sagte sie dann eine Spur versöhnlicher. „Wir hätten nach oben gehen sollen. Aber Rudy war so aufgeregt …“ Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Ich mache mir Sorgen um ihn.“

„Er hat Schwierigkeiten mit der Polizei.“

„Er steht unter Verdacht, die Morde in Covent Garden begangen zu haben. Aber Rudy würde niemals jemandem Gewalt antun. Dafür kenne ich ihn zu gut.“

„Ich kenne Ihren Bruder zwar kaum, aber wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, stehe ich gerne zur Verfügung.“

Fragend zog sie die fein geschwungenen Brauen in der Stirnmitte zusammen. „Wieso sollten Sie uns helfen? Sie können mich doch nicht einmal leiden.“

Das stimmte nur zum Teil. Wenn sie ihn nicht ständig angreifen würde, könnte er sie vielleicht ganz nett finden. „Sie sind mit Krista und Coralee befreundet, mit denen ich wiederum befreundet bin. Deshalb möchte ich Ihnen helfen.“

Sie blickte mit ihren großen goldbraunen Augen zu ihm hoch, und plötzlich fiel ihm das Atmen schwer.

„Danke für Ihr Angebot, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Mein Bruder ist unschuldig. Die Polizei wird den Mann bald finden, der das Verbrechen begangen hat.“

Thor nickte in der Hoffnung, dass sie sich nicht irrte. Obwohl sie eine Kratzbürste war, wollte er sie nicht leiden sehen, da er wusste, wie sehr sie ihren Bruder liebte.

„Er ist ein guter Kerl“, fuhr sie fort. „In letzter Zeit ist Rudy in schlechte Gesellschaft geraten, aber ich bin sicher, dass er auf den rechten Weg zurückfindet.“

„Er kann sich glücklich schätzen, eine Schwester zu haben, die zu ihm hält.“

Sie lächelte dünn. „Vielen Dank.“

Ihr betrübter Blick schnürte ihm die Brust zu. Er hatte Mühe, seinen Wunsch zu bezwingen, ihre Wange zu streicheln und die Sorgenfalten von ihrer Stirn zu wischen. Wieso eigentlich? Wie sie gesagt hatte, im Grunde genommen konnte er sie nicht besonders gut leiden.

Zumindest hielt er nicht viel von Frauen, die sich einem Mann gleichgestellt fühlten und einem Beruf nachgingen, statt im Haus zu bleiben und sich um Ehemann und Kinder zu kümmern. Leif hatte eine berufstätige Frau geheiratet, und Thor hatte seine Schwägerin Krista zwar ins Herz geschlossen, dennoch war sie für seine Begriffe zu unabhängig und eigenwillig, zu freimütig in ihren Ansichten, entsprach also keineswegs dem Bild der Frau, die er sich einmal zur Gemahlin nehmen wollte.

In seiner Heimat arbeiteten Frauen genauso schwer wie Männer, aber sie wussten stets, dass sie auf der Welt waren, um dem Mann zu dienen. Zu dieser Einsicht würde Lindsey Graham niemals finden.

Es sei denn, ein Mann wäre tollkühn genug, sich vorzunehmen, die Wildkatze zu zähmen.

Er verdrängte diesen abwegigen Gedanken, ebenso wie die aufkeimende Regung, ihre Sinnlichkeit herauszufordern. Er räusperte sich. Ein Kuss, und sie würde vermutlich schreiend die Flucht ergreifen. Leidenschaft war ihr gewiss ebenso fremd wie die Vorstellung, dass der Mann Herr im Haus war.

Kopfschüttelnd zog Thor sich zurück, überließ Lindsey ihren bekümmerten Grübeleien und machte sich wieder an die Arbeit. Den Rest der Woche würde er für seinen Bruder im Hafen arbeiten, um das Löschen der Fracht einlaufender Schiffe und das Beladen auslaufender Schiffe zu beaufsichtigen.

Morgen Nacht wollte er vielleicht den Damen im Red Door einen Besuch abstatten, einem Freudenhaus, das er gelegentlich aufsuchte.

Bevor er anfing, weitere Papierrollen aufzustapeln, warf er noch einen Blick auf Lindsey. Sie saß mit dem Rücken zu ihm über ihren Schreibtisch gebeugt. Ihr honigfarbenes Haar war geteilt und entblößte ihren hell schimmernden, biegsamen Nacken.

Ein Ziehen regte sich in Thors Lenden. Aus unerklärlichen Gründen weckte sie jedes Mal, wenn er in ihrer Nähe war, in ihm die Lust nach einer Frau. Er dachte wieder an das Freudenhaus Red Door und nahm sich vor, den Damen diesmal tatsächlich einen Besuch abzustatten.

Leif Draugr stand an der Kaimauer und sah den Schauerleuten zu, die unter Aufsicht seines Bruders die Fracht eines vor Anker liegenden Schiffs löschten. An der Mastspitze flatterte die britische Flagge in der steifen Brise, Seemöwen schossen im Sturzflug hernieder, um sich knapp über den unruhigen blauen Wellen wieder kreischend in die Höhe tragen zu lassen.

Leif genoss das Gefühl, etwas erreicht zu haben, wenn er den Blick über seine stetig wachsende Schiffsflotte schweifen ließ. Seit seiner Ankunft in England hatte er Walhall Shipping zu einer blühenden Schifffahrtsgesellschaft ausgebaut, wobei ihm auch klar war, dass Thor großen Anteil am Erfolg des Unternehmens hatte, obgleich er sich weigerte, dieses Lob anzunehmen.

Er beobachtete seinen Bruder, der den Männern lachend zur Hand ging. Mühsam hievten sie ein Frachtnetz mit sperrigen Holzkisten in den Laderaum des Schoners, der demnächst in Richtung der schottischen Inseln auslaufen würde.

Thor verstand es ausgezeichnet, mit den Arbeitern umzugehen. Mit seiner jovialen Art gewann er Vertrauen und Respekt der Männer, die ihr Bestes gaben und für ihn durchs Feuer gehen würden. Wenn Not am Mann war, scheute er sich nicht, selbst zuzupacken, egal, wie kräftezehrend und schmutzig die Arbeit auch sein mochte.

Leif und Thor waren hart arbeitende, zielstrebige Männer, beide liebten die See und die Freiheit, waren aber in mancher Hinsicht grundverschieden, nicht nur im Aussehen: Leif hellhäutig und blond, Thor gebräunt und dunkelhaarig. Während Leif darum bemüht war, sich alles Nötige anzueignen, um von der vornehmen Gesellschaft Englands akzeptiert zu werden, hatte Thor kaum mehr als ein paar Grundbegriffe gesellschaftlicher Umgangsformen gelernt.

Natürlich konnte er lesen und schreiben und sprach Englisch beinahe akzentfrei, weigerte sich aber strikt, sich vornehm zu kleiden, trug nur einfache, praktische Sachen, hatte noch nie einen Ball besucht und fand es lächerlich, herausgeputzt wie ein Pfau herumzustolzieren, wie er sich ausdrückte.

Er hatte zwar nicht den Wunsch, nach Draugr Island zurückzukehren, wo die Brüder geboren und aufgewachsen waren, wollte aber auch nicht in der Stadt leben. Deshalb arbeitete er im Hafen und auch in Kristas Verlag und war bestrebt, möglichst rasch Geld zu sparen, um sich ein Anwesen auf dem Land kaufen zu können. Leif hatte ihm zwar versichert, dass seine Anteile an Walhall Shipping ihm in naher Zukunft den Kauf von Land ermöglichen würden, aber Thor bestand darauf, sein Geld mit seiner Hände Arbeit zu verdienen. Er schien sich etwas beweisen zu wollen und nach etwas zu suchen, was er nicht preisgeben wollte.

Leif vermutete, sein Bruder suche unter anderem das Glück, das Leif in seiner Gemahlin und seinem Sohn gefunden hatte. Und er hoffte sehr, dass der Segen der Götter auch auf Thor lag und sie ihm die ideale Lebensgefährtin zuführen würden. Sobald ihm dieses Glück beschieden war, würde sich Thors Rastlosigkeit legen und ein rundum zufriedener Mann aus ihm werden.

Auch wenn sie im Wesen verschieden waren, glichen sich die Brüder in anderer Hinsicht. Beide Männer glaubten fest an Treue und Pflichterfüllung, Ehre und Mut. Leif würde seinem Bruder bedenkenlos sein Leben anvertrauen und wusste, dass Thor ebenso dachte wie er.

Thor stand breitbeinig unten am Anlegeplatz, der Wind zerrte an seinem dunklen Haar. Nun hob er den Kopf, entdeckte seinen Bruder und winkte ihm lächelnd zu. Leif winkte zurück.

Irgendwann würde Thor der Frau seines Lebens begegnen. Seiner Zukunft war gewiss Glück beschieden, da er unter dem Schutz der Götter stand, daran wollte Leif fest glauben. Mit diesen Gedanken begab er sich zur Anlegestelle. Als er den sehnsuchtsvollen Blick in den Augen seines Bruders wahrnahm, keimte allerdings leiser Zweifel in ihm auf.

3. KAPITEL

Lindsey versuchte, den Lärm der Betriebsamkeit im Verlag auszuschalten und sich auf die Überarbeitung ihres Artikels zu konzentrieren. Das Magazin ging morgen in Druck, und es gab noch viel zu tun.

Als die Glocke über der Eingangstür anschlug, hob sie den Kopf. Zwei grimmig dreinschauende Männer betraten die Halle und wurden von Bessie Briggs, der Schriftsetzerin, einer untersetzten Frau mit grau meliertem Haar, empfangen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Der größere der Männer holte aus der Innentasche seines grauen Gehrocks etwas hervor, das aussah wie ein Ausweis. Lindsey begriff, dass es sich um Polizisten handelte. Angst durchfuhr sie.

„Ich bin Kommissar Bertram, und das ist meine Kollege Archer. Wir möchten mit einer gewissen Miss Lindsey Graham sprechen.“

Bessie bekam große Augen und wies mit dem Arm in Lindseys Richtung. „Dort drüben finden Sie Miss Graham. Ich melde Sie an.“

„Nicht nötig.“ Die Männer näherten sich Lindsey. Bertram, den ihr Bruder bereits erwähnt hatte, war von stämmiger Statur, hatte stechend schwarze Augen und schütteres, bräunliches Haar. Archer war untersetzt und korpulent, hatte buschige Augenbrauen und ein pockennarbiges Gesicht. Lindsey bemerkte, wie Thor sich auf Hörweite näherte, als die Polizisten ihr Büro betraten.

Er schien wie sein Bruder eine beschützerische Ader zu haben. Sie müsste ihn bitten, sich zu entfernen, da dieser Besuch ihn nichts anging, aber irgendwie brachte sie den Willen nicht auf. Thor lehnte sich in einiger Entfernung gegen die Wand und gab ihr mit seinem Blick zu verstehen, dass er da war, falls sie ihn brauchte.

Es war lächerlich. Der Mann hatte nicht die geringste Ahnung von der britischen Gesetzgebung, ganz zu schweigen vom Umgang mit Kriminalbeamten.

Sie wandte sich den Männern zu, die mit den Hüten in den Händen vor ihren Schreibtisch getreten waren. „Sie wünschen?“

„Mein Name ist …“

„Sie sind die Kommissare Bertram und Archer.“

„Richtig“, sagte Bertram. „Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, Miss Graham. Vielleicht können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

Sie wollte nicht allein mit den Polizisten sein. Alle Angestellten, außer Thor, waren mit ihrer Arbeit beschäftigt und achteten nicht auf die Besucher. Selbst wenn jemand etwas von dem Gespräch mithörte, störte sie das nicht. Die Mitarbeiter von Heart to Heart waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und nichts, was im Verlag vor sich ging, drang nach außen.

„Nicht nötig. Sie können mir hier Ihre Fragen stellen.“

Bertram nickte und strich sich eine Strähne seines schütteren Haars aus der Stirn. „Wie Sie wünschen. Es ist Ihnen vermutlich bekannt, dass Ihr Bruder unter polizeilicher Überwachung steht, wegen der Mordfälle in Covent Garden. Da er offenbar nicht in der Lage ist, uns Auskunft darüber zu geben, wo er sich in den jeweiligen Nächten aufgehalten hat, in denen die Verbrechen geschahen, hoffen wir, von Ihnen Näheres in diesem Zusammenhang zu erfahren.“

Lindseys Puls beschleunigte sich. Sie zwang sich zur Ruhe. „Mein Bruder ist ein erwachsener Mann. Er ist mir keine Rechenschaft schuldig, wo er seine Nächte verbringt. Ich kann Ihnen lediglich versichern, dass er kein Mensch ist, der zu Gewalt neigt, sollte er sich zufällig zur fraglichen Zeit in der Nähe der Verbrechen aufgehalten haben.“

„Wussten Sie, dass er beide Frauen kannte?“

„Er hat es erwähnt, ja.“

„Ist Ihnen gleichfalls bekannt, dass er in Begleitung von Miss Phoebe Carter, dem letzten Opfer, in der Nacht ihres Todes gesehen wurde?“

Lindsey spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Das … das ist nicht möglich.“

„Ein Freund Ihres Bruders …“, er zog einen Zettel aus der Tasche seines Gehrocks. „Ein gewisser Thomas Boggs sagte aus, Mr. Graham habe seine Wohnung mit dieser Frau verlassen und sei nicht mehr zurückgekehrt.“

Großer Gott, Rudy war mit der Frau in der Nacht ihres Todes zusammen gewesen. Wieso hatte er ihr das verschwiegen? Lindsey versuchte, sich an seine Worte zu erinnern … Ich habe sie … ähm … kurz davor gesehen. Grundgütiger, sie hatte angenommen, er spreche von Tagen, nicht von Stunden! Sie schwieg, saß nur angespannt da und bemühte sich, ihres inneren Aufruhrs Herr zu werden.

„Mir ist durchaus bewusst, dass wir hier von Ihrem Bruder sprechen“, sagte Kommissar Bertram, „aber Gesetz bleibt Gesetz, und wenn es etwas gibt, das Sie wissen und uns verschweigen …“

Lindsey sprang auf. „Ich weiß lediglich, dass mein Bruder kein Verbrechen begangen hat. Im Übrigen kann er gar nicht der Mörder von Miss Carter sein, weil … weil er in jener Nacht zeitig nach Hause kam. Er wird die Frau irgendwo abgesetzt haben und ist nach Hause gefahren.“

Kommissar Archer zog eine buschige Braue hoch. „Sind Sie sich dessen sicher, Miss? Waren Sie noch wach, als er nach Hause kam?“

„Ja, ich war noch wach. Wir haben kurz miteinander gesprochen, aber er war betrunken, und ich schickte ihn kurzerhand zu Bett.“

„Hatte er Blut an den Kleidern? Irgendetwas, das Ihnen verdächtig vorkam?“

„Nein, nichts.“

Bertram durchbohrte sie mit einem stechenden Blick. „Wie spät war es?“

„Wie spät?“, wiederholte sie dumpf.

„Ja, richtig. Um welche Uhrzeit ist Ihr Bruder nach Hause gekommen?“

Um welche Zeit mochte Rudy das Fest mit der Frau verlassen haben? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. „Das muss kurz nach Mitternacht gewesen sein.“

„Und Sie erinnern sich an diese spezielle Nacht, weil …?“

„Weil an diesem Abend ein Ball bei den Kentwells stattfand.“

Das war zumindest nicht gelogen. Am übernächsten Morgen hatte sie im Büro über den Mord in der Zeitung gelesen, die Thor sich ausgeborgt hatte, deshalb erinnerte sie sich daran. Thor war nicht so leicht zu vergessen.

„Sie machen sich strafbar, wenn Sie ein Verbrechen decken, Miss Graham“, warnte Bertram. „Im Falle einer Falschaussage machen Sie die Sache für Ihren Bruder nur schlimmer.“

„Und Sie müssen mit gesetzlichen Schritten rechnen“, betonte Archer.

Lindsey straffte die Schultern. „Mein Bruder würde keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn einen Mord begehen. Mehr habe ich nicht zu sagen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt gehen. Ich habe zu tun.“

Mittlerweile war Thor unbemerkt herangetreten und baute sich vor den Polizisten auf. „Miss Graham hat Ihnen alles gesagt, was sie weiß.“

„Und wer sind Sie?“, fragte Bertram.

„Ein Freund. Und ich sehe, dass Sie die Dame unnötig in Aufregung versetzt haben.“

„Wenn Sie mit Miss Graham befreundet sind, sollten Sie ihr raten, keine falschen Angaben über ihren Bruder zu machen.“

Thor sagte nichts. Und in seiner Schweigsamkeit wirkte er noch bedrohlicher.

„Guten Tag, die Herren“, verabschiedete Lindsey die beiden.

„Guten Tag, Miss Graham.“ Bertram setzte den Zylinder auf sein schütteres Haupt und verließ gemeinsam mit seinem Kollegen das Büro.

Thor sah sie streng an. „Sagen Sie jetzt bitte nicht, Sie wären alleine mit den Herren fertig geworden.“

„Ich habe mich wacker geschlagen.“

„Sie haben gelogen, und das wissen die Constabler. Bei den Göttern, Lindsey, Sie helfen Ihrem Bruder doch nicht, wenn Sie der Polizei Lügengeschichten auftischen.“

„Ich muss Zeit gewinnen. In ein paar Tagen widerrufe ich meine Aussage, behaupte, ich hätte mich geirrt und das Datum verwechselt. Aber das muss warten. Ich muss herausfinden, wer diese Frauen auf dem Gewissen hat. Das ist der einzige Weg, um den Namen meines Bruders reinzuwaschen.“

Der Blick seiner blauen Augen durchbohrte sie. „Warum überlassen Sie es nicht der Polizei, den Mörder zu finden? Glauben Sie denn tatsächlich, Sie könnten das besser?“

„Ich bin schließlich Journalistin. Es gehört zu meinem Beruf, Informationen zu sammeln. Und genau das werde ich tun.“

„Sie sind eine Frau, Lindsey, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Es wurden bereits zwei Frauen getötet.“

„Ich werde meinem Bruder helfen – ob Ihnen das gefällt oder nicht!“ Sie kehrte ihm den Rücken zu, griff nach ihrem Retikül und wollte zur Tür.

Thor hielt sie am Arm zurück. „Wollen Sie nach Hause?“

„Es geht Sie zwar nichts an, aber die Antwort ist Ja.“

„Steht Ihre Kutsche vor der Tür?“

„Bei schönem Wetter gehe ich zu Fuß.“

„Sie sind aufgebracht und nervös. Ich begleite Sie.“

Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber er schob sie bereits zur Tür, nahm im Gehen ihren Mantel vom Haken und führte sie aus dem Gebäude. Auf der Straße winkte er eine Mietdroschke herbei, half ihr beim Einsteigen und nahm auf der Bank neben ihr Platz, während der Kutscher das Gefährt in Bewegung setzte.

„Sie sind eine schwierige Person“, sagte Thor.

„Und Sie sind ein lästiger Mensch, der sich in alles einmischt“, entgegnete sie schlagfertig.

Seine Kieferpartie spannte sich. „Eine störrische und schwierige Person.“

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Und Sie ein anmaßender Kerl.“

Thor brummte etwas in sich hinein und lehnte sich in die Polster zurück. Lindsey versuchte, die breite Schulter zu ignorieren, die sie berührte, und den schwachen Hauch nach Seife und Mann, der sie anwehte. Sie verdrängte auch die Erleichterung darüber, dass er sie begleitete, nachdem sie der Polizei gerade eine Lüge aufgetischt hatte, die möglicherweise sie statt ihres Bruders ins Gefängnis bringen könnte.

Tante Delilah ging gerade rastlos im Salon auf und ab, als Lindsey eintrat.

„Lindsey! Gott sei Dank! Die Polizei ist vor ein paar Minuten gegangen. Was, in aller Welt, geht hier vor?“

Lindsey seufzte. „Tut mir leid, Tante Dee, ich hätte dir davon berichten müssen. Aber ich hoffte, die leidige Angelegenheit würde im Sande verlaufen, ohne dich beunruhigen zu müssen.“

„Was für eine leidige Angelegenheit? Sprichst du etwa von den Frauenmorden, die dein Bruder nach Ansicht der Polizei begangen haben soll?“

Lindsey ergriff die bleiche Hand ihrer Tante und setzte sich mit Delilah aufs Sofa. „Er hat es nicht getan. Du weißt, dass Rudy niemals zu einer Bluttat fähig wäre.“

„Natürlich nicht. Gütiger Himmel, ich wünschte, dein Vater wäre hier.“

Das wünschte auch Lindsey – nicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Seit ihrer frühen Kindheit schienen ihre Eltern nie da zu sein, wenn sie Rat und Hilfe brauchte. „Er ist nun mal leider nicht hier, also liegt es an uns beiden, Rudys Unschuld zu beweisen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Da die Polizei offenbar nicht in der Lage ist, den Mörder ausfindig zu machen, müssen wir es eben tun.“

„Bist du verrückt? Du hast doch keine Ahnung, wie man einen Verbrecher zur Strecke bringt.“

„In erster Linie geht es doch darum, Erkundigungen einzuholen und Hinweise zu sammeln. Damit kenne ich mich als Reporterin nun wirklich aus.“

Tante Dee schüttelte den Kopf, und ihre schwarzen Löckchen wippten an ihren Schultern. „Ich weiß nicht, Lindsey … Wenn dir etwas zustößt … deine Eltern würden mir das nie verzeihen.“

„Und wie wäre ihnen wohl zumute, wenn ihr Sohn als Mörder im Gefängnis landet?“

Tante Dee stöhnte.

„Ich stelle nur ein paar Fragen, vielleicht stoße ich auf eine Spur. Ich spreche noch einmal mit Rudy und versuche, mehr über seine Beziehungen zu diesen Frauen zu erfahren und wo er sich zum Zeitpunkt der Tat aufhielt. Er braucht ein Alibi, um von der Liste der Verdächtigen gestrichen zu werden.“

Streng sah Tante Dee sie an. „Dieser Polizist mit den buschigen Augenbrauen sagte, du hättest behauptet, Rudy wäre in der Nacht des letzten Mordes zu Hause gewesen. Das, meine Liebe, ist völliger Unsinn. Früher oder später werden die Kommissare die Wahrheit herausfinden, und dann steckt ihr beide in großen Schwierigkeiten.“

Lindsey lief ein kalter Schauder über den Rücken. „Mir ist eben nichts anderes eingefallen. In ein paar Tagen erkläre ich, mich geirrt zu haben. Dadurch gewinnen wir wenigstens Zeit.“

„Ich hoffe, du weißt, was du tust, mein Kind.“

„Das hoffe ich auch, Tante Dee. Das hoffe ich auch.“

Am nächsten Morgen sprach Lindsey mit Rudy. Er war ausnahmsweise nüchtern und wirkte ziemlich geknickt. Welch angenehme Überraschung! Rudy berichtete ihr, er habe das erste Mordopfer Molly Springfield in einem Nachtlokal in Covent Garden kennengelernt, konnte sich aber nicht an den Namen der Spelunke erinnern. Abgesehen von einem kurzen Stelldichein in einem der oberen Räume habe er nichts mit der Frau zu tun gehabt.

„Und das zweite Mordopfer … Miss Carter?“

„Ich sagte doch schon, ich habe sie bei einem Fest in Boggs’ Haus kennengelernt. Sie war Schauspielerin am Drury Lane Theater.“

„Warum hast du mir verschwiegen, dass du mit ihr in der Mordnacht zusammen warst?“

Eine schuldbewusste Röte überflog seine Wangen. „Aber ich sagte doch, dass ich sie kurz vor ihrem Tod gesehen habe.“

„Ich hatte nicht angenommen, dass du sie so kurz davor gesehen hast!“

„Ich hielt es bei unserem ersten Gespräch nicht für so wichtig.“

Entnervt verdrehte Lindsey die Augen.

Letztlich brachte sie diese Befragung nicht weiter. Rudy war so betrunken gewesen, dass er sich nur vage erinnern konnte, was in den Nächten geschehen war, in denen die Frauen umgekommen waren.

Sie brauchte mehr Informationen, musste mit Tom Boggs und mit Rudys anderen sogenannten Freunden sprechen, um nähere Einzelheiten zu erfahren. Sie musste auch herausfinden, wo genau die Morde stattgefunden hatten, um Nachbarn befragen zu können, ob ihnen irgendetwas aufgefallen war.

In den letzten Tagen hatte sie diskrete Erkundigungen eingezogen, hatte die Leute in der Gegend ausgefragt, ohne etwas Neues zu erfahren. Bislang wusste noch niemand, dass Rudy unter Verdacht stand, und jene, die davon wussten, schwiegen. Aber eines Tages würde doch etwas durchsickern, und Lindsey war ratlos, was sie dann tun sollte.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und machte eine Liste der Dinge, die sie tun wollte, als Krista eintrat.

„Gibt es Neuigkeiten in der Sache mit deinem Bruder?“

„Ich fürchte nein. Ich mache gerade eine Aufstellung, wie ich an weitere Informationen gelange. Eigentlich müsste ich zunächst mit der Polizei sprechen.“

„Wieso das denn?“

„Ich muss wissen, was sie gegen Rudy in Händen haben. Die Tatsache, dass er die Frauen kannte, reicht doch gewiss nicht aus, um ihn zu verhaften.“

„Verstehe. Ich habe nämlich eine Idee.“

„Welche?“

„Nach unserem Gespräch vor ein paar Tagen versuchte ich Kontakt mit Randolph Petersen aufzunehmen, einem Privatdetektiv, mit dem wir befreundet sind. Mr. Petersen war uns vor einigen Jahren eine große Hilfe, als jemand versucht hat, unseren Verlag zu erpressen. Aber leider befindet Mr. Petersen sich auf einer Geschäftsreise, und sein Sekretär weiß nicht, wann er zurückkehrt.“

„Ein privater Ermittler … eine ausgezeichnete Idee. Ich hoffe ja, die Sache hat sich erledigt, bevor Mr. Petersen wieder in London ist, andernfalls wäre ich sehr froh, mit ihm sprechen zu können.“

„Vielleicht können wir einen anderen Detektiv einschalten.“

„Lass uns lieber auf deinen Freund warten. Möglicherweise stellt sich dann heraus, dass wir seine Hilfe gar nicht brauchen.“

Krista nickte. „Du hast vor, mit der Polizei zu reden?“

„Genau. Heute Abend findet die alljährliche Wohltätigkeitsveranstaltung des Vereins ‚Hilfe für Not leidende Witwen und Waisen‘ statt, eine Organisation, die auch vom Londoner Polizeipräsidenten unterstützt wird. Der Sohn einer Freundin meiner Tante Delilah ist Polizeibeamter im gehobenen Dienst. Es werden eine Reihe hochgestellte Beamte erwartet, darunter auch jener Lieutenant Harvey. Die Freundin meiner Tante will mich ihm vorstellen.“

„Ich warne dich, neugierige Fragen könnten gefährlich für dich werden, Lindsey.“

„Auf einem Ball, bei dem der Polizeipräsident anwesend ist, kann mir doch kaum etwas zustoßen.“

„Mag sein. Leif und ich sind jedoch der Meinung, du solltest jemanden an deiner Seite haben, wenn es dir damit ernst ist, heikle Fragen über die Morde zu stellen … eine Art Leibwächter, wenn du so willst. Jemand, der in deiner Nähe ist, falls …“

„Ich brauche keinen Leibwächter.“

„Das nicht, dennoch wäre es klug, eine Art Beschützer zu haben, falls du in Schwierigkeiten gerätst.“

Lindsey überlegte einen Moment. „Und an wen hast du dabei gedacht?“

„Wir dachten an Thor. Er ist absolut zuverlässig und …“

„Auf keinen Fall!“

„Genau das sagte ich damals auch, als mein Vater vorschlug, mich von Leif beschützen zu lassen, und eines Nachts hat er mir das Leben gerettet.“

„Aber das war doch eine völlig andere Situation.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Du hast keine Ahnung, wer der Mörder sein könnte, weißt nicht, aus welcher Gesellschaftsschicht er kommt, in welchen Kreisen er verkehrt und ob er etwas von deinen Nachforschungen erfahren könnte. Du hast dich ja bereits umgehört, nicht wahr? Du könntest dich in echte Gefahr begeben, Lindsey.“