Verführung in bester Gesellschaft - Kat Martin - E-Book

Verführung in bester Gesellschaft E-Book

Kat Martin

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Beschreibung

Hilfe, ich verliebe mich in meine Frau! Vor drei Jahren führte Rule Dewar in Übersee die junge Tochter seines Geschäftspartners zum Altar - ließ sie aber in der Obhut ihres Vaters zurück. Eine reine Zweckheirat, an die der charmante Lebemann schon bald keinen Gedanken mehr verschwendet. Bis Violet überraschend in London auftaucht, um die Scheidung zu verlangen: kein schüchterner Backfisch mehr, sondern eine betörende Schönheit. Wie gern würde Rule jetzt seine ehelichen Pflichten erfüllen! Voller Leidenschaft macht er sich daran, das Herz seiner Gemahlin zu erobern. Doch es gibt jemandem, der genau das verhindern will - und zwar um jeden Preis …

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Seitenzahl: 475

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Kat Martin

Verführung in bester Gesellschaft

IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2010 by Kat Martin Originaltitel: „Rule’s Bride“ erschienen bei: MIRA Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 269 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Bärbel Hurst

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733761394

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

Boston, 1857

Es hieß, das Warten werde stets belohnt, aber Rule Dewar war davon nicht ganz überzeugt. Er stand in der langen Marmorhalle auf Griffin Heights, dem palastartigen Anwesen seines Dienstherrn am Rande von Boston, und wartete angespannt, während der Butler mit ausdrucksloser Miene an die Tür des Arbeitszimmers klopfte.

Er unterdrückte das Bedürfnis, sein Halstuch zu richten oder sich das Haar glatt zu streichen, und straffte die Schultern, als er leise Schritte auf der anderen Seite der Tür vernahm. Dann wurde die Tür geöffnet. Der Mann, der ihm gegenüberstand, lächelte. Offenbar hatte er die Ankunft seines Gastes erwartet.

„Rule! Kommen Sie herein, mein Junge! Ich freue mich, dass Sie so kurzfristig noch vorbeikommen konnten.“ Howard Griffin war Inhaber von Griffin Manufacturing, einer Firma, die hochkarätige Waffen herstellte. Er führte ihn in sein Arbeitszimmer – einen großen Raum voller Bücher, der einen bedeutenden Teil des Westflügels einnahm.

Rule folgte der Aufforderung. „Es war kein Problem. Ich hatte mir gerade Ihre Änderungswünsche für die neuen Entwürfe angesehen.“

Griffin, ein Mann in den Vierzigern und beinahe so groß wie Rule, war kräftig gebaut und hatte rotbraunes Haar. Er ging zu einem Schrank aus schimmerndem Mahagoni, griff zur Tür und schob sie auf. Dahinter verbarg sich eine gut gefüllte Bar mit hochwertigen Getränken und Kristallkaraffen, die auf schimmernden Silbertabletts standen.

„Was also halten Sie von der neuen Linie?“, fragte Griffin. Er nahm zwei Kristallgläser und stellte sie auf die Anrichte.

„Ich stimme Ihrer Einschätzung zu. Ich glaube, irgendwann werden die kleinen Kaliber überall von einem gezogenen Lauf ersetzt werden. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir den Anteil der Musketen verändern, die wir produzieren.“

Griffin lächelte offenbar zufrieden, obwohl Rule den Eindruck hatte, dass der Mann nicht mit ihm über Geschäfte reden wollte.

„Möchten Sie einen Whiskey?“ Der ältere Mann hielt eine Karaffe mit einer goldbraunen Flüssigkeit hoch. „Oder vielleicht lieber etwas anderes?“

Rule bevorzugte Brandy, ein etwas weicheres Getränk, aber die Amerikaner schienen Hochprozentiges zu lieben. Er hatte sich inzwischen an den Geschmack gewöhnt. „Whiskey ist in Ordnung.“

Griffin schenkte beiden einen Drink ein und reichte Rule ein Glas. Rule trank einen Schluck. Das Brennen des Alkohols in seiner Kehle nahm ihm ein wenig von der Anspannung, die er spürte. Wenn auch nicht alles. Jetzt strich er sich doch übers Haar, bis jede Strähne an ihrem Platz lag. Es geschah nicht oft, dass der reiche Inhaber der Gesellschaft ihn in sein Haus einlud. Was wollte er von ihm?

Griffin bat Rule nicht, Platz zu nehmen, sondern führte ihn zu einem Fenster, von dem aus man in den Garten sehen konnte. Obwohl das Jahr noch nicht alt war, sprossen bereits erste Frühlingsblumen. Die gewundenen Wege durch den Garten waren sorgfältig gepflegt.

Griffin schwenkte sein Glas. „Seit Sie in meinen Diensten stehen, haben Sie ausgezeichnete Arbeit geleistet, Rule. Es war eine kluge Entscheidung, Sie zu engagieren.“

„Vielen Dank, Sir.“ Obwohl Rule erst vierundzwanzig Jahre alt war, hatte ihm Griffin bereits große Verantwortung übertragen. Rule schrieb dies seiner guten Erziehung in Oxford zu, die die Amerikaner zu beeindrucken schien, aber auch seinem Stammbaum.

Rule war nicht dumm. Als englischer Aristokrat hatte er Zutritt zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft auf beiden Seiten des Ozeans. Der Bruder eines Dukes zu sein, öffnete ihm eine erstaunliche Anzahl von Türen, und Rule war bereit, jeden Vorteil zu nutzen, um seine Karriere voranzutreiben.

Griffin drehte sich um und sah aus dem Fenster. In der Ferne sprühte eine Wasserfontäne aus einem marmornen Brunnen in die strahlende Frühlingssonne. Er war auffallend nachdenklich und ruhig, was im Widerspruch zu seiner sonst so forschen Art stand.

„Ich glaube, meine Tochter Violet haben Sie schon kennengelernt?“

„Ja, Sir, ich traf sie bei mehreren Gelegenheiten. Ein reizendes Mädchen.“

„Sie ist noch jung, erst sechzehn, und ein bisschen wild. Das ist mein Fehler. Ich hatte keinen Sohn, also habe ich sie verwöhnt.“

Rule blickte dorthin, wohin Griffin sah: zu einer hohen Maulbeerfeige, die rechts vom Brunnen stand. Unter den Zweigen saß Violet Griffin auf einer Schaukel und lachte, während sie sich immer höher in die Luft schwang, sodass sich ihre weiten Röcke über den Beinen bauschten, die von Strumpfhosen bedeckt waren. Ihr Gesicht war herzförmig, ihre Figur knabenhaft, und ihr Haar hatte die Farbe eines Kupferpennys.

„Wie ich schon sagte, sie ist noch jung, aber sie ist ihrer Mutter sehr ähnlich – Gott sei ihrer Seele gnädig. Ich denke, sie wird mit der Zeit zu einer Schönheit heranwachsen.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Rule nippte an seinem Drink. Er hatte keine Ahnung, wie dieses magere Mädchen in ein paar Jahren aussehen würde, und fragte sich, wohin dieses Gespräch führen sollte.

Griffin drehte sich um. Sein Blick ruhte auf Rules Gesicht. „Unglücklicherweise werde ich nicht mehr da sein, um das zu erleben.“

Rule sah auf. „Sir?“

„Ich werde bald sterben, Rule. Anders kann ich es leider nicht ausdrücken. Ich habe verschiedene Ärzte konsultiert, die alle derselben Meinung sind. Ich werde sterben und es gibt keine Möglichkeit, dies hinauszuzögern.“

Rule stockte der Atem. Zum ersten Mal bemerkte er den gelben Schimmer auf Griffins Haut und die tiefen dunklen Ringe unter seinen Augen.

Er schluckte. „Was … was ist mit Ihnen, Sir? Unter welcher Krankheit leiden Sie?“ Griffins Blick blieb ausdruckslos. Er schüttelte den Kopf. „Eine Fehlfunktion der Leber. Die Ärzte können nichts mehr für mich tun.“

Rule hatte das Gefühl, es schnürte ihm die Brust zusammen. Er konnte kaum atmen. Howard Griffin war der vitalste Mann, dem er je begegnet war. Wohin er auch ging, stets schien ihn eine Aura von Macht und Autorität zu umgeben. Sie kannten einander nicht sehr gut, doch Rule empfand großen Respekt vor ihm.

„Es tut mir leid, Sir. Mir fehlen die Worte. Sie sagen, die Ärzte sind sich sicher?“

„Ich fürchte ja. So ungern ich es auch tue, es ist an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken und entsprechende Pläne zu machen.“

Rule wappnete sich. „Was immer Sie brauchen, Sie wissen, dass Sie auf mich zählen können.“

Griffin blickte Rule zufrieden an. „Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.“ Dann wandte er sich wieder dem Fenster zu. „Auch wenn ich bezweifle, dass Sie auch nur im Entferntesten ahnen, um was ich Sie bitten möchte.“

Rule antwortete nicht.

„Was immer das Schicksal auch für mich bereithalten mag, meine größte Sorge gilt meiner Tochter. Bevor ich gehe, muss ich wissen, dass ihre Zukunft abgesichert ist. Ich muss sicher sein, dass sie gut versorgt sein wird und dass sie das Zuhause bekommen wird, das eine Frau von ihrem Stande sich wünscht. Kurz gesagt: Ich muss einen guten Ehemann für sie finden.“

Rules Kehle schnürte sich plötzlich zu. Howard Griffin sah ihn ihm doch nicht etwa einen Kandidaten für die Hand seiner Tochter?

„Sie mag Sie, Rule. Ich glaube, sie hat sich sogar auf mädchenhafte Art ein wenig in Sie verliebt.“

„Sie meinen doch nicht …“

„Ehrlich gesagt, das tue ich, aber Sie müssen mich nicht so erschrocken ansehen. Was ich vorschlage, ist nicht das, was Sie denken.“

„Ich verstehe Ihre Angst, Mr Griffin, aber wie Sie schon sagten, Ihre Tochter ist erst sechzehn.“

„Und doch ist es meine Pflicht als Vater, mich um ihre Zukunft zu kümmern. Ich muss dafür sorgen, dass sie sich vorteilhaft verheiratet, damit sie glücklich und versorgt sein wird. Stünde mir mehr Zeit zur Verfügung, würde ich das alles natürlich anders regeln. Unglücklicherweise aber ist gerade Zeit etwas, was ich nicht mehr habe.“

Rule konnte nur ahnen, wie dieser Mann sich fühlen musste. Er hatte eine Tochter, die er liebte, und er würde nie erleben, wie sie zu einer Frau heranwuchs. „Ich sehe, in welcher Zwickmühle Sie sich befinden, Sir, aber ich fürchte …“

„Meine Wahlmöglichkeiten sind begrenzt, Rule. Ich muss Vorkehrungen für die Zukunft meiner Tochter treffen, auch wenn sie in mancher Beziehung noch ein Kind ist. Das ist der Grund, warum ich ihren zukünftigen Ehemann bitten würde zu warten, bis sie erwachsen ist, ehe die Ehe vollzogen wird. Sie muss mindestens achtzehn Jahre alt sein.“

Rule schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Sir. Sosehr ich Sie auch respektiere, wenn Sie mich bitten, Ihre Tochter zu heiraten, dann werde ich, so fürchte ich …“

„Ehe Sie mir antworten, hören Sie mir bitte bis zum Ende zu.“

Dieser Mann war dem Tod geweiht. Das Mindeste, was Rule tun konnte, war, ihm die Höflichkeit zu erweisen, zuzuhören. Er nickte kurz. Eines war sicher. Wie sehr er Howard Griffin auch bewunderte, er würde nicht heiraten, und schon gar kein sechzehnjähriges Mädchen.

„Warum setzen wir uns nicht und ich sage Ihnen, was ich Ihnen vorschlagen möchte? Vielleicht werden Sie mich dann nicht länger ansehen, als hätte ich den Verstand verloren.“

Rule musste lächeln. Verdammt, er mochte Griffin wirklich und er hasste die Vorstellung, dass dieser Mann so viele Jahre zu früh sterben sollte.

Es war eine Schande, dass er seinen Vorschlag ablehnen musste.

Violet Griffin saß auf einem reich verzierten goldenen Samtsofa in ihrer Schlafstube neben ihrer Cousine und besten Freundin Caro­line Lockhart. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Violet schnäuzte in ihr spitzenverziertes Taschentuch und wischte sich mit einer Hand die Tränen von den Wangen.

„Ich kann es immer noch nicht glauben.“

„Es ist nicht fair“, sagte Caroline. „Du hast schon deine Mutter verloren. Du verdienst es nicht, auch noch deinen Vater zu verlieren.“

Violet atmete tief durch. Seitdem ihr Vater sie in sein Kontor gerufen und ihr die schreckliche Wahrheit gesagt hatte – dass er in weniger als einem Jahr tot sein würde –, hatte sie nur geweint. „Vater sagt, das Leben ist niemals fair.“

„Vermutlich nicht, aber das sollte es sein.“

Violet sah zu ihrer Freundin auf. „Vater möchte, dass ich heirate. Er sagt, nur so könne er in Frieden sterben.“

Caroline sah die Cousine aus ihren großen hellblauen Augen an. Sie war blond, mit heller Haut und gut zwei Zentimeter größer als Violet. Als sie sich jetzt bewegte, raschelte der rosa Taftrock ihres Teekleides. „Liebe Güte, du bist erst sechzehn!“

„Das spielt keine Rolle.“

Caroline biss sich auf die Unterlippe. „Wen sollst du seinem Wunsch gemäß heiraten?“

„Den Engländer Rule Dewar. Du erinnerst dich an ihn? Er war ein paar Mal zum Essen hier. Du musst ihn getroffen haben.“

Carolines Miene wurde verträumt. „Als ob ich ihn vergessen könnte. Noch nie habe ich einen schöneren Mann gesehen.“

Violet nickte nur. „Das habe ich auch gedacht, als ich ihn das erste Mal sah. Er hat die erstaunlichsten blauen Augen und sein Haar ist so schwarz, dass es schon beinahe blau wirkt.“ Sie senkte den Blick und sah dann wieder die Freundin an. „Meinst du auch, ich sollte ihn heiraten? Vater möchte meine Zukunft gesichert sehen, ehe … ehe …“

„Dein Vater hat dich sehr lieb“, sagte Caroline leise.

„Ich weiß, dass er mich liebt.“ Violet tupfte sich die Tränen von den Wangen. „Soll ich seinem Wunsch entsprechen? Papa hat nur selten etwas von mir verlangt, und es würde ihm so sehr gefallen.“

„Meinst du … meinst du, Rule würde dich heiraten wollen?“

„Ich weiß es nicht. Vater sagt, er würde es tun.“

„Es ist ein seltsamer Name – Rule. Was glaubst du, wo er herkommt?“

„Vater sagt, es war der Name seines Urgroßvaters mütterlicherseits. Er sagt, sie wären bereits zu einer finanziellen Übereinkunft gekommen, die uns beide gut versorgen wird. Er sagte, Rule würde erst … er würde erst dann zu meinem richtigen Ehemann werden, wenn ich achtzehn bin.“

Caroline nickte. „Du meinst, er würde seine ehelichen Rechte erst einfordern, wenn du alt genug dafür bist.“

„Das nehme ich an.“ Violet drehte das feuchte Taschentuch zwischen ihren Fingern. „Bis dahin kehrt er wieder nach London zurück, um sich um die Niederlassung der Firma zu kümmern, die wir dort besitzen.“

Caroline strich ihren Rock mit beiden Händen glatt. „Willst du ihn denn heiraten?“

Violet schüttelte den Kopf. „Ich möchte niemanden heiraten. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber wenn ich heiraten muss, nun … dann würde ich vermutlich Rule wählen.“

Caroline strahlte. „Kannst du dir das vorstellen? Der Mann ist der Bruder eines Dukes! Wenn du ihn heiratest, wird dich jedes Mädchen in Broadmoor beneiden.“

Mrs Broadmoors Akademie für junge Damen, die beide Mädchen zurzeit besuchten, war die exklusivste Schule für höhere Töchter in ganz Boston. Violet gefiel es dort nicht sehr. Sie schätzte andere Dinge, die Art von Unterricht, für die ihr Vater bisher gesorgt hatte: Mathematik und Geschichte, Naturwissenschaften und Geographie, Französisch, Latein und Griechisch.

Aber sie war fest entschlossen, die Dame zu werden, die sie dem Wunsch ihres Vaters gemäß werden sollte. Daher widmete sie sich mit demselben Eifer ihren Aufgaben an der Akademie.

Die Tränen stiegen ihr erneut in die Augen. Jetzt war es egal, ob sie als Klassenbeste abschloss oder nicht. Ihr Vater würde es nie erfahren.

Violet holte tief Luft. Ob er es erfahren würde oder nicht, spielte keine Rolle. Sie würde es wissen! Und ihm zu gefallen, war jetzt wichtiger denn je.

Sie fasste einen Entschluss. „Ich werde es tun, Caroline. Ich werde Rule Dewar heiraten.“

Caroline stieß einen entzückten Schrei aus, rückte zu ihr hinüber und umarmte sie. „Du wirst eine Braut! Ich kann es kaum glauben!“

Violet betrachtete das Taschentuch auf ihrem Schoß und schluckte mühsam. Sie spürte einen Kloß in ihrer Kehle. „Ich auch nicht.“

Zwei Wochen gingen ins Land. Für Rule schienen sie wie im Fluge zu vergehen. Es war Samstag, ein warmer Frühlingstag, worin er ein gutes Omen für den gewaltigen Einschnitt in seinem Leben sehen wollte, der sich gleich vollziehen würde. Er stand in den weitläufigen Gärten von Griffin Heights vor einem blumengeschmückten Bogen, der sich über einem Altar wölbte, und blickte durch den Mittelgang auf die zukünftige Mrs Rule Dewar.

Sie sah genau so aus, wie sie war: ein junges naives Mädchen, das kaum der Kinderstube entwachsen war. Selbst in dem eleganten Brautkleid aus zahllosen Metern Brüsseler Spitze blieb sie eine magere, knabenhafte Frau. Kaum bereit für eine Hochzeit und ganz bestimmt nicht die Sorte Frau, die Rule sich ausgesucht hätte.

Tatsächlich war diese Heirat das Letzte, was er wollte.

Aber Howard Griffin war ein Überredungskünstler. Er hatte Rule einen Handel angeboten, von dem dieser nie zu träumen gewagt hätte. Nach Griffins Tod und wenn die Ehe vollzogen war, würde Rule die Hälfte von Griffins Vermögen erben sowie die Hälfte von Griffin Manufacturing. Die andere Hälfte bekam Violet, die Frau, die nun bald seine Ehefrau sein würde.

In Amerika galten andere Gesetze. Das Vermögen seiner Braut würde auch nach der Hochzeit weiterhin ihr gehören. Gemeinsam würden sie in der Finanzwelt eine machtvolle Größe bilden.

Und es gab noch einen weiteren Vorteil. Abgesehen von dem Geld und dem Anteil an einem außerordentlich erfolgreichen Unternehmen würde Rule den größten Wunsch seines Vaters erfüllen. Der verstorbene Duke of Bransford war fest davon überzeugt gewesen, dass eine Verbindung mit Amerika die Familie Dewar sicher ins nächste Jahrhundert bringen würde. Rule hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass es geschah.

Die Hochzeit mit einer Amerikanerin und ein Unternehmen, das beide Seiten des Atlantiks umfasste, würden sicher geeignete Voraussetzungen dafür schaffen.

Er ließ den Blick über die Reihen gleiten, in denen Griffins Freunde und einige enge Familienmitglieder saßen. Es war eine private Feier, die sicherlich spektakulärer ausgefallen wäre, wäre Violet älter und die Hochzeit nicht so übereilt gewesen.

Er fragte sich, wie viele der Anwesenden wohl von den näheren Umständen der Vermählung wussten, und dachte, dass Griff, wie er ihn jetzt nennen sollte, vermutlich mit den meisten von ihnen gesprochen hatte. Rule ahnte, dass die meisten Gäste Verständnis hatten für den Wunsch eines todkranken Vaters, die Zukunft seines einzigen Kindes zu sichern. Sie würden seiner Entscheidung zustimmen.

An den Stufen, die hinunter zur Terrasse führten, streckte Griffin seinen Arm aus und Violet legte ihre Hand, die in einem weißen Spitzenhandschuh steckte, zaghaft auf seinen schwarzen Frackärmel. Sie war noch zierlicher, als Rule vermutet hatte. Schon zuvor war ihm aufgefallen, dass ihre Augen von einem hübschen Blattgrün waren. Auf der Nase hatte sie ein paar Sommersprossen. Das hatte er gesehen, als er ihr den Antrag gemacht hatte, so, wie es sich für einen Gentleman gehörte: mit gebeugtem Knie, im Salon und in Anwesenheit ihres Vaters.

Sie war kaum mehr als ein Kind und ein Teil von ihm wehrte sich gegen die Vorstellung, sie zur Frau zu nehmen, selbst ohne den Vollzug der Ehe. Er unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen und davonzulaufen, um an Bord des schnellsten Schiffes Richtung England zu fliehen. Aber es gab kein Zurück mehr. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können und nun erstreckte sich die Zukunft strahlend hell vor ihm.

Am Ende der Zeremonie würde Rule auf dem besten Wege sein, ein außerordentlich reicher Mann zu werden. In der Zwischenzeit konnte er bis zum traurigen Ableben seines Schwiegervaters mit einem üppigen Gehalt den Londoner Teil von Griffin Manufacturing leiten und in der Stadt auf großem Fuße leben.

Der Organist begann den Hochzeitsmarsch zu spielen. Rule wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Augenblick zu. Violet ging neben ihrem Vater und lächelte nervös, als sie auf ihn zukam. Er dachte daran, dass er noch einige Jahre Zeit haben würde, bevor er Verantwortung übernehmen und seine ehelichen Pflichten ausüben müsste.

Rule setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es überzeugend wirkte. Er dachte an die Möglichkeiten, die vor ihm lagen, an die Erfüllung des Versprechens, das er seinem Vater gegeben hatte, und machte sich bereit, seine Braut zu begrüßen.

Violet lächelte weiterhin, als sie den Mittelgang entlangschritt. Nur die engste Familie und ein paar gute Freunde waren anwesend. Es genügte Violet vollkommen. Sie wollte diesen Tag endlich hinter sich bringen. Am nächsten Morgen würde Rule nach London abreisen, und ihr Leben würde wieder wie gewohnt verlaufen. Wenigstens für eine Weile.

Sie wollte nicht an die Monate denken, die vor ihr lagen, und an das schreckliche Schicksal, das auf ihren Vater wartete. Deshalb schenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Mann, den sie nun heiraten wollte. Rule lächelte ihr ermutigend zu und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Himmel, wie gut er aussah! Noch nie hatte sie einen Mann mit so blauen Augen und so dichten Wimpern gesehen. Nie zuvor schönere Lippen, voll und sanft geschwungen. Seine schwarzen Brauen bildeten einen perfekten Bogen über jedem seiner schönen Augen, die Nase war gerade, und wenn er lächelte, zeigte er eine Reihe perfekter weißer Zähne.

Als sie neben ihm stand, nahm er ihre zitternde Hand in seine große, warme Hand und lächelte aufmunternd, sodass auf seinen Wangen Grübchen erschienen. Sie hatte wirklich noch nie ein so perfektes Gesicht gesehen.

Und dieser Mann würde ihr Ehemann werden!

Bei dem Gedanken daran begannen ihre Knie zu zittern. Als ihr Vater sie an Rule übergab, straffte sie die Schultern. Trotz Rules Schönheit war Violet tief in ihrem Inneren nicht davon überzeugt, dass sie das Richtige tat. Sie heiratete, weil ihr Vater es wünschte, nicht aus eigenem Verlangen.

Während der kurzen Trauzeremonie stand Violet angespannt und kerzengerade da. Dann sprach Rule sein Gelübde und sie das ihre, und der offizielle Akt war vollbracht. Rule beugte sich vor, um ihr die Wange zu küssen.

Violet unterdrückte einen Anflug von Enttäuschung. Sie war noch nie geküsst worden. Ihrer Meinung nach verdiente sie es zumindest von dem Mann, der jetzt ihr Gemahl war.

„Nun, Mrs Dewar“, flüsterte er leise. Seinen warmen Atem auf der Haut zu spüren, rief eine Gänsehaut in ihr hervor. „Wie fühlt es sich an, verheiratet zu sein?“

Sie sah zu ihm auf. „Bisher habe ich noch keine Ahnung. Was ist mit Ihnen?“

Rule lachte, es war ein tiefer melodischer Laut. Natürlich war sein Lachen ebenso perfekt wie alles andere an ihm.

„Sie haben vollkommen recht, ich habe auch keine Ahnung. Ich fühle mich kein bisschen anders.“

„Vielleicht dauert es ein bisschen.“

Er lächelte und schien sich zu entspannen. „Vielleicht.“ Sie mochte seinen Akzent. Er passte so gut zu seinem makellos geschneiderten Anzug, zu seinen teuren Lederschuhen und seiner schneeweißen Krawatte.

„Ich nehme an, Ihre Familie hat eine Hochzeitsfeier geplant. Wenn das Schlimmste vorbei ist, können wir vielleicht sogar etwas essen.“

Violet lachte. Das hatte sie nicht erwartet, dass er sie zum Lachen bringen konnte. Dadurch wirkte er weniger Ehrfurcht gebietend, fast nahbar. „Ich habe großen Hunger. Heute früh hatte ich Angst, etwas zu essen. Ich war mir nicht sicher, ob ich es bei mir behalten könnte.“

„Mir ging es ebenso.“ Er lächelte. Er lächelte weiter und sie dachte: Kann dieser wunderschöne Mann tatsächlich mein Ehemann sein? Aber als er ihre Hand nahm und sie in seine Armbeuge legte, wusste sie, dass genau das der Fall war.

Sie bahnten sich ihren Weg durch die kleine Schar der Gratulanten hindurch vom Garten bis ins Haus. Rule hielt sie nah an sich und sie wusste zu schätzen, dass er sich bemühte, ein pflichtbewusster Gatte zu sein. Während der Nachmittag voranschritt, sagte sie sich, dass sich alles finden würde. Ihr Vater hatte sich nie zuvor getäuscht. Jetzt würde sie auch seinem Urteil vertrauen müssen.

Die Stunden schienen kein Ende zu nehmen, bis sich endlich alle Gäste verabschiedeten, alle außer Rule, ihrem Vater und Tante Harriet, der Schwester ihrer Mutter und eine von Violets engsten Verwandten. Plötzlich fühlte sich Violet sehr erschöpft. Sie schwankte ein wenig.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Rule besorgt und umfasste ihre Taille, um sie zu stützen.

„Es geht mir gut, danke. Ich bin vielleicht nur ein wenig müde.“ Violet lächelte.

Er warf einen Blick auf die Uhr, die im Salon über dem Kamin hing. „Die meisten anderen sind bereits gegangen und ich fürchte, es ist für mich jetzt auch Zeit zum Aufbruch. Ich muss noch einiges packen, ehe ich mich auf das Schiff begebe.“

Violet empfand einen Stich. Sie war verwirrt.

Sie war frisch verheiratet, aber ihr Gemahl verließ sie und sie konnte nicht wissen, wann sie ihn wiedersehen würde.

Andererseits war sie noch nicht bereit, die Rolle einer Ehefrau zu übernehmen, und sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis es so weit war.

„Wir begleiten Sie noch zu Ihrer Kutsche“, sagte ihr Vater. Auf der vorderen Veranda blieben Griffin, Tante Harriet und Violet stehen.

„Kommen Sie gesund in London an“, sagte Violet. Sie war nicht sicher, welche Form des Abschieds unter den gegebenen Umständen angemessen war.

Rule neigte sich über ihre Hand und presste die Lippen leicht auf ihren Handrücken. Violet spürte seinen warmen Atem durch den Handschuh hindurch. „Auf Wiedersehen, Violet.“

Sie sah ihm nach, wie er die Stufen hinabschritt und in seine Kutsche stieg. Und dann war er fort, so als hätte es ihn nie gegeben.

Ihr Vater legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. „Er wird gut zu dir sein, Liebes. Er hat mir sein Wort gegeben, dass er sich um dich kümmern wird.“

Sie nickte nur. Was ist mit Liebe? dachte sie. Bis zu diesem Augenblick war ihr dieses Wort nie in den Sinn gekommen, und ganz bestimmt hatte sie es nicht mit ihrem Vater besprochen. Sie wusste, dass Liebe kein zwingender Bestandteil einer Ehe war, und doch …

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, während sie Rules Kutsche nachsah.

„Rule wird dir ein sehr guter Ehemann sein“, sagte ihr Vater, „wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

„Ich … ich bin sicher, das wird er.“ Violet sah, wie Rules Kutsche durch die schweren eisernen Tore verschwand, die das Wappen der Griffins trugen – ein Löwe mit Adlerschwingen –, und sie wurde seltsam traurig.

„Komm herein, Liebes“, sagte Tante Harriet, eine Dame in den Fünfzigern mit silbernem Haar und unerschütterlicher Treue zu ihr und ihrem Vater. „Du musst nach einem so anstrengenden Tag müde sein.“

Violet nickte. Sie fühlte sich müde und seltsam verlassen. Sie hatte einen Ehemann, der nicht bei ihr war, und bald würde auch ihr Vater fort sein.

Als sie über die Veranda und ins Haus gingen, nahm Violet Griffins Arm. Sie wünschte sich, die Zukunft würde anders aussehen, und kämpfte gegen die Tränen.

1. KAPITEL

London, England. Drei Jahre später

Rule, wie schön, dass du gekommen bist!“ Die Gastgeberin des Abends, Lady Annabelle Greer, kam durch den reich geschmückten Ballsaal auf ihn zu. Sie bewohnte das großzügige Londoner Stadthaus gemeinsam mit ihrem Ehemann Travis. „Und wie ich sehe, hast du Lucas mitgebracht.“

Sie sah dorthin, wo sein bester Freund Lucas Barclay sich gerade mit einer reizenden jungen Witwe unterhielt, die er kürzlich kennengelernt hatte. Rule und Lucas waren gemeinsam in Oxford gewesen und entfernt miteinander verwandt. Rules ältester Bruder Royal, Duke of Bransford, war verheiratet mit einer Cousine der Ehefrau von Lucas’ Bruder.

Rule wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Gastgeberin zu. „Ich freue mich, Sie zu sehen, Mylady.“ Annabelle Greer mit ihrem hellbraunen Haar und den klaren blauen Augen war beinahe dreißig und Mutter dreier Kinder, aber sie war noch immer eine schöne Frau.

„Es überrascht mich, dass du gekommen bist. Normalerweise bist du viel zu sehr mit der Arbeit beschäftigt.“ Sie schlug ihm leicht mit ihrem Fächer auf die Schulter. „Weißt du nicht, dass es für einen Angehörigen der Aristokratie außerordentlich unpassend ist, für Geld zu arbeiten?“ Sie lächelte. „Aber keiner von euch Dewars hat sich je darum gekümmert, was sich schickt und was nicht.“

Rule lächelte. „Dasselbe könnte ich über Sie sagen, Mylady.“ Er erinnerte sich noch an die Gerüchte über eine Affäre, die er gehört hatte, und die zu Annabelles Heirat mit Travis Greer geführt hatten, einem früheren Lieutenant der britischen Kavallerie, überzeugten Junggesellen und besten Freund seines Bruders Reese.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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