Perlen für die Braut - Kat Martin - E-Book

Perlen für die Braut E-Book

Kat Martin

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Beschreibung

Auf der Flucht vor ihrem Stiefvater, dem brutalen Baron Harwood, kommen die hübschen Schwestern Victoria und Claire nach London. Sie haben Glück: Der gut aussehende Cordell Easton, Earl of Brant, sucht für sein Stadthaus eine Haushälterin und ein Zimmermädchen. Wohlweislich verschweigt die lebenstüchtige Victoria ihm ihre eigene adelige Herkunft. Aber dann erfährt Cordell, dass Baron Harwood nach den Schwestern sucht: Sie haben ihm eine wertvolle Perlenkette gestohlen. Cordell verspricht, Victoria direkt nach einer wichtigen Seereise zu helfen. Als er jedoch zu seinem Segelschiff kommt, ahnt er nicht, dass sich dort bereits zwei reizende blinde Passagierinnen eingeschlichen haben ...

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Seitenzahl: 514

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IMPRESSUM

HISTORICAL VICTORIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2005 Kat Martin Originaltitel: „The Bride’s Necklace“ erschienen bei: MIRA Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL VICTORIABand 53 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Alexandra Kranefeld

Abbildungen: Lee Avison/Trevillion Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733749606

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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PROLOG

England, 1804

Ein leises Knarren der Holzdielen im Korridor hatte sie geweckt. Victoria Whiting setzte sich in ihrem Bett auf und horchte angestrengt. Schwach vernahm sie das Geräusch von Schritten, die schließlich vor dem Zimmer ihrer Schwester anhielten.

Tory schlug das Herz bis zum Hals, als sie entschlossen die Beine über die Bettkante schwang. Ihr Stiefvater, der Baron, hatte es nicht erlaubt, dass Claire ein Schloss an ihrer Tür hatte. Tory hörte das Klicken des Türknaufs und erneut Schritte, die nun von dem Teppich in Claires Zimmer gedämpft wurden.

Nur schwer hatte der Baron die Lust verbergen können, die er für seine Stieftochter empfand. Tory befürchtete seit langem, dass er seiner Begierde irgendwann freien Lauf lassen würde. Wild entschlossen, das zu verhindern und ihre Schwester zu beschützen, stand sie hastig auf, griff nach ihrem blauen Umhang und rannte auf den Korridor hinaus. Claires Zimmer war von dem ihren nur zwei Türen entfernt. So leise wie möglich ging Tory den Gang entlang. Ihre Knie drohten nachzugeben, und ihre Hände waren so feucht, dass sie kaum den Türknauf drehen konnte.

Sie atmete tief durch und versuchte es noch einmal. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat in das dunkle Zimmer. Im schwachen Licht, das durch die Vorhänge fiel, konnte sie die dunkle Silhouette ihres Stiefvaters neben dem Bett ausmachen. Tory erstarrte, als sie den leisen Wortwechsel vernahm und dabei die Angst in Claires Stimme hörte.

„Lassen Sie mich“, bat Claire flehentlich.

„Ich werde dir nicht wehtun. Halte einfach nur still, und lass mich gewähren.“

„Nein. Ich … ich will, dass Sie mein Zimmer verlassen.“

„Sei ruhig“, sagte der Baron ungehalten. „Du wirst deine Schwester wecken, und du kannst dir sicher vorstellen, was ich mit ihr machen würde, wenn sie jetzt hereinkäme.“

Claire wimmerte. „Bitte tun Sie Tory nichts.“ Aber beide Schwestern wussten, dass das ihren Stiefvater Miles Whiting, Baron Harwood, nicht abhalten konnte. Auf Torys Rücken waren noch immer die Narben sichtbar, die sie von ihrer letzten Bestrafung zurückbehalten hatte.

„Dann mach, was ich dir sage, und halte still.“

Claire gab einen erstickten Laut von sich, und Tory spürte eine Welle des Zorns in sich aufsteigen. Vorsichtig schlich sie sich an den Baron heran. Sie wusste, was ihr Stiefvater vorhatte. Und sie konnte sicher sein, dass er sie wieder mit dem Stock verprügeln würde, wenn sie versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Früher oder später würde es ihm dennoch gelingen, Claire seinen Willen aufzuzwingen.

Tory versuchte, ihre Wut zu zügeln und nachzudenken. Sie musste den Baron aufhalten! An die Folgen ihres Eingreifens wagte sie zwar nicht zu denken, sie konnte es gleichwohl nicht zulassen, dass er ihre Schwester anrührte.

Ihr Blick fiel auf die kupferne Bettflasche, die neben dem Ofen stand. Sie war längst kalt, aber das Gefäß war noch mit Wasser gefüllt und deshalb recht schwer. Vorsichtig streckte sie ihre Hand danach aus, umfasste den hölzernen Griff und hob die Flasche leise auf.

Von Claire vernahm sie erneut einen flehentlichen Laut. Tory machte zwei Schritte auf den Baron zu und holte weit aus. Harwood gab ein grunzendes Geräusch von sich und stürzte auf den Boden.

Torys Hände zitterten. Dumpf fiel die Bettflasche auf den wertvollen Aubusson-Teppich. Claire sprang aus dem Bett, rannte auf ihre Schwester zu und warf sich ihr in die Arme.

„Er hat … er hat mich angefasst.“ Sie schluckte und klammerte sich an Tory. „Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen.“

Claire bebte am ganzen Körper, als sie sich umwandte und den am Boden liegenden Mann betrachtete. Dunkles Blut strömte aus einer Wunde an der Schläfe. „Hast du … ihn umgebracht?“

Tory betrachtete den leblosen Körper des Barons und wurde von einem leichten Schwindel ergriffen. Sie holte tief Luft. Im schwachen Schein des Mondlichts konnte sie sehen, wie sich der Blutfleck unter Harwoods Kopf vergrößerte. Er schien nicht mehr zu atmen, aber sie war sich nicht sicher.

„Wir müssen fort von hier“, sagte sie entschlossen und versuchte, die Panik in ihrer Stimme zu dämpfen. „Nimm deinen Umhang und hol deine Tasche unter dem Bett hervor. Ich hole derweil meine, und dann treffen wir uns am Fuß der Dienstbotentreppe.“

„Ich … ich kann doch nicht in meinem Nachthemd …“

„Uns bleibt keine Zeit. Wir müssen uns unterwegs umziehen.“

Die Reise kam für sie nicht unerwartet. Vor drei Tagen, am Abend vor Claires siebzehntem Geburtstag, hatten sie bereits ihre Taschen gepackt. Seit diesem Abend schien die Begierde in den Augen des Barons bei Claires Anblick jedes Mal zu wachsen. Noch in der Nacht hatten beide Schwestern begonnen, Pläne zu schmieden. Sobald sich eine Gelegenheit bot, wollten sie Harwood Hall verlassen.

Aber nun hatte das Schicksal ihnen vorgegriffen. Sie hatten keinen Augenblick mehr zu verlieren.

„Was ist mit der Halskette?“, fragte Claire.

Es war immer Teil ihres Plans gewesen, den kostbarsten Besitz des Barons zu stehlen, da sie für die Reise nach London Geld benötigten. Die wunderschöne Kette aus Perlen und Diamanten war ein Vermögen wert.

„Ich hole sie. Versuche, niemanden zu wecken. Ich bin wieder bei dir, so schnell ich kann.“

Tory warf einen letzten Blick auf ihren Stiefvater und folgte Claire aus dem Zimmer. Lieber Gott, bitte lass ihn nicht tot sein, dachte sie. Der Gedanke, dass sie den Baron tatsächlich umgebracht haben könnte, entsetzte sie. Tory schauderte, als sie eilig den Gang hinablief.

1. KAPITEL

London, zwei Monate später

Vielleicht lag es an der Kette. Tory hatte nie an den Fluch geglaubt, aber jeder im Umkreis des kleinen Dorfes Harwood wusste von der Legende, die sich um die Perlenkette rankte. Nur hinter vorgehaltener Hand sprachen die Leute davon. Das wunderbare Schmuckstück, das im dreizehnten Jahrhundert für die Braut Lord Fallons angefertigt worden war, wurde zugleich verehrt und gefürchtet. Man erzählte sich, dass die Brautkette ihrer Trägerin entweder unaussprechliches Glück oder unerträgliches Leid bringe.

Das hatte Tory jedoch nicht davon abgehalten, die Kette zu stehlen und sie dann einem Geldverleiher in Dartfield zu verkaufen, damit sie und Claire genügend Geld für ihre Flucht hatten.

Seitdem waren zwei Monate vergangen, und die lächerlich geringe Summe, die Tory für das wertvolle Schmuckstück erhalten hatte, war fast aufgebraucht.

Zunächst war sie noch zuversichtlich gewesen, dass sie rasch eine Stelle als Gouvernante in einer netten und respektablen Familie finden würde. Bislang hatte sie allerdings keinen Erfolg gehabt. Die wenigen Kleider, die sie und Claire auf ihrer Flucht hatten mitnehmen können, entsprachen zwar der Londoner Mode, aber Torys Manschetten begannen langsam abgestoßen auszusehen, und am Saum von Claires aprikosenfarbenem Musselinkleid zeigten sich die ersten Flecken. Obwohl ihre Fähigkeiten und Aussprache erkennen ließen, dass sie beide aus besseren Kreisen kamen, konnte Tory kein einziges Empfehlungsschreiben vorzeigen und wurde deshalb immer wieder abgewiesen.

Fast war sie wieder so verzweifelt, wie sie es vor ihrer Flucht aus Harwood Hall gewesen war.

„Was sollen wir nur tun, Tory?“ Die Stimme ihrer Schwester riss sie aus ihrem Selbstmitleid. „Mr. Jennings hat gesagt, dass er uns hinauswirft, wenn wir die Miete nicht bis Ende dieser Woche gezahlt haben.“

Tory erschauderte bei dem Gedanken. Sie hatte in London Dinge gesehen, die sie sich kaum vorzustellen vermocht hatte, obdachlose Kinder, die Essensreste aus der Gosse klaubten, Frauen, die ihre ausgezehrten Körper für so wenig Geld anboten, dass es kaum zum Überleben reichte. Der bloße Gedanke, dass sie nun ihre letzte Zuflucht, eine kleine Dachkammer über dem Laden eines Hutmachers, verlieren sollten, war mehr, als Tory ertragen konnte.

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte sie dennoch ihre Schwester und versuchte, zuversichtlich zu klingen. „Bislang haben wir immer eine Lösung gefunden.“

Claire lächelte schwach. „Ich weiß, dass dir etwas einfallen wird. Dir fällt immer etwas ein.“ Mit ihren siebzehn Jahren war Claire Whiting zwar zwei Jahre jünger, aber dafür etwas größer als ihre Schwester, die eher zierlich war. Beide Mädchen hatten ein ansprechendes Äußeres, doch es war Claire, die das atemberaubend gute Aussehen ihrer Mutter geerbt hatte.

Sie hatte leicht gewelltes, silberblondes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, eine Haut, die so hell und durchsichtig schien wie Alabaster, und das Blau ihrer Augen leuchtete wie der klare Himmel über Kent. Ein Engel in einem aprikosenfarbenen Musselinkleid und einem warmen Umhang sähe genauso aus wie Claire Whiting.

Tory schätzte sich selbst weitaus irdischer ein mit ihrem schweren, kastanienbraunen Haar, das sich meist auch noch gegen ihren Willen lockte, ihren grünen Augen und Sommersprossen. Aber nicht nur äußerlich waren die Schwestern grundverschieden.

Claire war einfach anders. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, und sie war ihrer Schwester schon immer als ätherisch erschienen, wie ein Mädchen, das mit Elfen spielte und sich mit Trollen unterhielt.

Natürlich tat sie das nicht echt – doch sie machte den Eindruck, als ob sie es jederzeit tun könnte.

Was Claire hingegen gar nicht konnte, war, sich um sich selbst zu kümmern. Deshalb übernahm Tory das für sie.

Und das war nun auch der Grund, weshalb sie vor ihrem Stiefvater hatten flüchten müssen, sich nach London durchgeschlagen hatten und jetzt kurz davor standen, auf der Straße zu landen. Ganz zu schweigen davon, dass sie wegen Diebstahls gesucht wurden – und vielleicht sogar wegen Mordes.

Cordell Easton, der fünfte Earl of Brant, lehnte sich entspannt gegen die reich verzierte Kopfblende eines geräumigen Himmelbettes. Auf einem Stuhl ihm gegenüber saß die gänzlich unbekleidete Olivia Landers, Viscountess Westland, vor ihrem Spiegel und fuhr sich mit einer versilberten Bürste andächtig durch ihr langes, rabenschwarzes Haar.

„Warum kommst du denn nicht einfach wieder ins Bett?“, fragte Cord nun träge. „Danach wirst du dich ohnehin wieder kämmen müssen.“

Olivia drehte sich um und ein verführerisches Lächeln umspielte ihre rubinroten Lippen. „Ich habe nicht vermutet, dass dein Interesse so schnell wieder zu wecken wäre.“ Sie ließ ihren Blick von seiner muskulösen Brust abwärts wandern. „Erstaunlich, wie sehr ich mich doch irren konnte.“

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und kam langsam auf ihn zu. Ihr hinreißender Körper wurde nur teilweise von den glatten Haaren bedeckt, die im Kerzenlicht schimmerten, und Cord bemerkte, wie seine Erregung mit jedem Augenblick zunahm.

Olivia war eine sehr junge und zugleich sehr sinnliche Witwe, mit der er sich seit einigen Monaten traf. Leider war sie auch verwöhnt und egoistisch und schien ihm allmählich mehr Aufwand als Vergnügen. Er dachte bereits darüber nach, die Affäre zu beenden.

Aber noch nicht heute.

Heute hatte er dringend einer Ablenkung bedurft und war für einige Stunden vor den Aktenbergen auf seinem Schreibtisch geflüchtet. Für derlei kurzweilige Vergnügungen, wenn schon für nichts anderes, war Livy bestens geeignet.

Sie warf ihre dunklen Haare zurück, als sie zu ihm auf die weiche Daunenmatratze kam. „Ich will oben sein“, schnurrte sie aufreizend. „Ich will sehen, wie du dich unter mir aufbäumst.“

Ihre ungestümen Vorlieben waren Cord nicht neu, und an diesem Tag kamen sie seinen Bedürfnissen sehr entgegen. Nur danach fühlte er sich immer seltsam leer und unbefriedigt. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass er sich nach neuer weiblicher Begleitung umsah. Bislang hatte die Aussicht auf ein frisches Abenteuer stets seine Stimmung gehoben – unter anderem. Sein Jagdinstinkt schien allerdings nachzulassen.

„Cord, du hörst mir nicht zu.“ Spielerisch kitzelte Olivia seine muskulöse Brust.

„Tut mir leid, meine Süße.“ Aber er empfand kein Bedauern, da er überzeugt war, dass ihre Worte ihn nicht im Geringsten interessieren würden. „Deine überaus entzückenden Brüste haben mich abgelenkt.“ Um eine Brustknospe schloss er nun seine Lippen, während er Olivia auf sich setzte und spürte, wie ihr wundervoller Körper ihn ganz in sich aufnahm.

Seine Gespielin stöhnte, und sobald sie begann, sich zu bewegen, überließ Cord sich völlig den Reizen, die sie zu bieten hatte. Livy erreichte zuerst den Höhepunkt, Cord folgte ihr, doch dann ließ das Glücksgefühl bereits nach, und es war ihm, als hätte es nie existiert.

Nachdem Olivia aus dem Bett geklettert war, kam ihm nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass das nicht alles sein konnte.

Cord schob diesen beunruhigen Gedanken beiseite und wandte sich wieder den vielen anderen Problemen zu, mit denen er sich seit dem Tode seines Vaters, der ihm Titel und Vermögen vererbt hatte, konfrontiert sah. Er verließ gleichfalls das Bett und begann, sich anzuziehen. Noch so viel war zu erledigen: Neue Investitionen mussten getätigt und die Konten durchgesehen werden, es gab Beschwerden von Pächtern und jede Menge Rechnungen.

Und zu allem kam noch seine anhaltende Sorge um seinen Cousin. Ethan Sharpe war seit über einem Jahr verschollen, und Cord war fest entschlossen, ihn zu finden.

Aber ganz gleich, wie beschäftigt er auch immer sein mochte, für sein einziges großes Laster – Frauen – fand er trotzdem Zeit.

Überzeugt davon, dass eine neue Geliebte ihn von seinen Grübeleien ablenken würde, nahm er sich vor, sofort mit der Suche zu beginnen.

„Vielleicht zeigt der Fluch ja schon seine Wirkung.“ Claire sah Tory aus ihren großen blauen Augen besorgt an. „Du weißt doch, was die Leute sich erzählen … Mama sagte auch, dass die Kette ihrem Besitzer großes Leid einzubringen vermag.“

„Sei nicht albern, Claire. Es gibt keinen Fluch. Und zudem besitzen wir die Kette nicht, sondern haben sie uns nur für eine Weile geborgt.“

Für ihren Stiefvater war sie tatsächlich ein böses Omen gewesen. Tory dachte wieder an den Baron und erinnerte sich, wie er in Claires Zimmer in seinem Blut gelegen hatte. Inständig hoffte sie, ihn nicht getötet zu haben.

Wenngleich er es für seine Untaten nun wahrlich verdient hätte!

„Die Legende erzählt im Übrigen auch“, fügte Tory hinzu, „dass die Kette dem Besitzer großes Glück bringen kann.“

„Nur wenn diese Person reinen Herzens ist“, wandte Claire ein.

„Das stimmt allerdings.“

„Wir haben sie gestohlen, Tory. Das ist eine Sünde. Und nun sieh, was mit uns geschieht. Wir haben kaum noch Geld, sie werden uns aus unserem Zimmer werfen, und bald werden wir uns kein Essen mehr leisten können.“

„Wir haben im Moment ein wenig Pech, aber das hat nichts mit einem Fluch zu tun. In Kürze finden wir sicherlich eine Anstellung.“

Claire sah sie besorgt an. „Glaubst du?“

„Es wird keine Stelle sein, wie wir sie uns erhofft haben, trotzdem werden wir etwas finden. Davon bin ich überzeugt.“ Zwar machte sich Tory ebenfalls große Sorgen, sie wollte indes Claires Hoffnungen nicht noch weiter zerstören. Und sie würde Arbeit finden, ganz gleich, was sie zu tun hatte.

Aber drei weitere Tage vergingen, ohne dass sich eine Gelegenheit auftat. Tory hatte Blasen an den Füßen, und der Saum ihres taubengrauen Kleides war gerissen.

Heute wird sich etwas ergeben, redete sie sich ein und versuchte noch einmal, allen Mut zusammenzunehmen, als sie sich Ende der Woche erneut auf die Suche machten. Seit Tagen schon waren sie im West End von Tür zu Tür gegangen, in der Hoffnung, dass eine der wohlhabenden Familien eine Gouvernante brauchte. Bislang war ihr Bemühen jedoch vergebens gewesen.

Tory hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in den letzten Tagen schon vor verschlossenen Türen gestanden hatten, Treppen hinauf- und wieder hinabgestiegen waren. Ein weiteres Mal hob sie nun einen der schweren Messingklopfer. Sie hörte, wie das Geräusch im ganzen Haus widerhallte. Einige Minuten später öffnete ein hagerer, schwarzhaariger Butler die Eingangstür.

„Ich möchte bitte die Herrin des Hauses sprechen.“

„Und in welcher Angelegenheit wollen Sie sie sprechen, wenn ich fragen darf, Madam?“

„Ich suche eine Stelle als Gouvernante. Eines der Küchenmädchen in der Nachbarschaft sagte, dass Lady Pithering drei Kinder habe und vielleicht jemanden bräuchte.“

Der Butler erfasste mit geschultem Auge Torys ausgefranste Manschetten und den Riss am Saum ihres Kleides. Er reckte sein Kinn in die Höhe und wollte bereits zu einer Antwort ansetzen, da fiel sein Blick auf Claire. Sie lächelte ihn auf die ihr eigene bezaubernde Art an und sah aus wie ein Engel auf Erden.

„Wir sind beide sehr kinderlieb“, versicherte sie ihm. „Meine Schwester ist zudem unglaublich schlau und wäre die beste aller Gouvernanten. Ich suche ebenfalls eine Stelle, und wir hatten gehofft, dass Sie uns helfen könnten.“

Sprachlos sah der Butler Claire an, und sie lächelte hoffnungsvoll.

Tory räusperte sich leise, woraufhin der Butler sich von Claires Anblick losriss und sich wieder an Tory wandte. „Wenn Sie zur Hintertür kommen, werde ich Sie mit der Haushälterin sprechen lassen. Das ist leider alles, was ich tun kann.“

Sie nickte und war dankbar für diesen kleinen Erfolg. Doch als sie nur wenige Minuten später wieder auf der Straße standen, war sie dafür von umso tieferer Verzweiflung ergriffen.

„Der Butler war so nett“, sagte Claire. „Ich war mir sicher, dass es diesmal …“

„Du hast gehört, was die Haushälterin gesagt hat. Lady Pithering sucht jemanden, der älter ist.“ Und es schien in London niemanden zu geben, der ein Dienstmädchen einstellte, das so schön war wie Claire.

Claire biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe so Hunger, Tory. Mein Magen macht sehr undamenhafte Geräusche, und ich halte unmöglich bis zu unserer Abendmahlzeit durch. Können wir nicht jetzt schon eine Kleinigkeit kaufen?“

Tory schloss die Augen und versuchte, einen letzten Rest an Zuversicht aufzubringen. Sie konnte den besorgten und verängstigten Ausdruck im Gesicht ihrer Schwester kaum ertragen. Erst recht nicht brachte sie es übers Herz, ihr zu sagen, dass ihre finanziellen Reserven bis auf den letzten Viertelpenny aufgebraucht waren. Solange sie keine Anstellung fanden, würden sie nicht einmal mehr trocken Brot essen können.

„Versuche, noch ein wenig durchzuhalten, meine Liebe. Wir versuchen es jetzt in dem Haus am Ende der Straße, das uns die Haushälterin empfohlen hat.“

„Aber sie hat gesagt, dass Lord Brant keine Kinder hat.“

„Wir nehmen jede Stelle, die sich uns bietet.“ Tory versuchte zu lächeln. „Bis wir etwas Besseres finden.“

Claire nickte tapfer, und Tory war nach Weinen zumute. Wenn sie sich doch nur besser um ihre kleine Schwester kümmern könnte! Sie selbst hatte in Harwood Hall jeden Tag viele Stunden mit der Führung des Haushaltes verbracht, Claire hingegen war an die schwere Arbeit eines Dienstmädchens nicht gewöhnt. Tory hätte ihrer Schwester dies alles gerne erspart, doch das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Nun mussten sie versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen.

„Welches Haus ist es?“, fragte Claire.

„Der große Backsteinbau dort hinten. Siehst du die steinernen Löwen zu beiden Seiten des Eingangs? Das ist die Residenz des Earl of Brant.“

Claire begutachtete das elegante Stadthaus, das größer war als alle anderen in der Nachbarschaft. Sie lächelte.

„Vielleicht ist Lord Brant nicht nur reich, sondern auch nett und gut aussehend“, meinte sie träumerisch. „Du könntest ihn heiraten, und wir wären beide gerettet.“

Nachsichtig lächelte Tory sie an. „Bis dahin sollten wir vielleicht einfach hoffen, dass er ein oder zwei weitere Bedienstete braucht und die Güte hat, uns einzustellen.“

Leider wurden sie auch hier abgewiesen, diesmal von einem kleinen, glatzköpfigen Butler mit breiten Schultern und einem durchdringenden Blick.

Sobald sie wieder auf der Straße standen, fing Claire an zu weinen. Tory griff nach ihrem Handbeutel und begann, nach einem Taschentuch für ihre Schwester zu suchen, als plötzlich wie von Geisterhand eines erschien. Claire nahm es dankbar entgegen und betupfte sich das Gesicht. Schließlich richtete sie ihre großen blauen Augen und das engelsgleiche Lächeln auf den Mann, der es ihr gereicht hatte.

„Ich danke Ihnen sehr.“

Tory war nicht überrascht, dass der Mann das Lächeln erwiderte. „Cordell Easton, Earl of Brant, ganz zu Ihren Diensten, meine Dame. Und Sie sind …“

Er sah Claire auf diese gewisse Weise an, mit der Männer sie bedachten, seit sie zwölf Jahre alt war. Tory war sich sicher, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass Claire nicht allein war.

„Ich bin Miss Claire Temple, und dies ist meine Schwester Victoria.“ Tory war erleichtert, dass Claire daran gedacht hatte, sich mit dem Mädchennamen ihrer Mutter vorzustellen.

„Guten Abend, meine Damen.“ Noch immer lächelte Brant Claire an, und es fiel ihm sichtlich schwer, sich von ihr abzuwenden und Tory in die Begrüßung einzubeziehen.

„Lord Brant“, sagte Tory und betete inständig, dass ihr Magen nicht gerade in diesem Moment knurren würde. Wie Claire gehofft hatte, war der Earl groß und ausgesprochen gut aussehend. Allerdings wirkte er mit seinem dunkelbraunen Haar und den markanten Gesichtszügen nicht im Entferntesten wie einer der blonden Märchenprinzen, von denen Claire träumte.

Dank seiner breiten Schultern und der athletischen Figur war er ein überaus beeindruckender Mann, und Tory nahm mit wachsender Sorge zur Kenntnis, mit welcher Bewunderung er Claire anschaute.

„Ich habe gesehen, wie Sie mein Haus verlassen haben“, bemerkte er. „Bitte sagen Sie mir, dass es nicht mein Butler war, der Sie zum Weinen gebracht hat. Timmons kann manchmal etwas unwirsch sein.“

Während Claire weiterhin lächelte, antwortete Tory: „Ihr Butler hat uns mitgeteilt, dass es keine freien Stellen in Ihrem Haushalt gibt. Wir sind auf der Suche nach Arbeit, Mylord.“

„Welche Art der Anstellung suchen Sie?“

Sie glaubte, etwas in seinen Augen zu sehen – etwas, woraus sie noch nicht schlau wurde. „Das hängt von den Stellen ab, die Sie zu besetzen haben. Wir machen jede respektable Arbeit, die uns einen ehrlichen Lohn einbringt.“

„Mein Schwester möchte Gouvernante werden“, verkündete Claire strahlend, „nur haben Sie ja leider keine Kinder.“

Sofort drehte er sich wieder zu Claire. „Nein, die habe ich nicht.“

„Wir nehmen jede Arbeit an“, fügte Tory hinzu und versuchte, ihre Verzweiflung nicht durchklingen zu lassen. „Unsere Situation ist seit kurzem leider nicht sehr erfreulich.“

„Es tut mir leid, das zu hören. Haben Sie keine Familie oder Freunde, die Sie unterstützen könnten?“

„Nein, unglücklicherweise nicht. Aus diesem Grund suchen wir eine Anstellung und hatten gehofft, bei Ihnen etwas zu finden.“

Der Earl schien sich erst jetzt ihrer wahren Lage bewusst zu werden. Mit einem weiteren bewundernden Blick auf Claire lächelte er wieder. Tory kam der Gedanke, dass sein Lächeln auf Frauen denselben Effekt haben musste wie das ihrer Schwester auf Männer.

Allerdings war Claire dabei völlig arglos, während der Earl seinen Charme mit Kalkül einzusetzen schien.

„Es verhält sich tatsächlich so, dass wir noch Unterstützung bräuchten. Timmons ist darüber nur noch nicht informiert worden. Warum kommen Sie beide nicht einfach mit mir?“ Er bot Claire seinen Arm an, was Tory als schlechtes Vorzeichen wertete.

Sie kannte die Wirkung, die ihre Schwester auf Männer hatte, und sie wusste auch, dass Claire sich darüber nicht im Klaren war. Beides war der Grund, weshalb sie sich überhaupt in dieser misslichen Lage befanden.

Das Mädchen war himmlisch! Cord hatte noch nie so eine helle Haut und so wunderbar blaue Augen gesehen. Sie war zwar schlank, aber unter ihrem etwas schäbigen aprikosenfarbenen Kleid zeichneten sich wunderbar gerundete Brüste ab. Er hatte nicht erwartet, auf seiner Suche nach einer neuen Geliebten ein solch göttliches Geschöpf direkt vor seiner eigenen Tür zu finden.

Als Cord in der Eingangshalle stehen blieb, sahen die beiden Schwestern ihn abwartend an. Timmons, der etwas abseits stand, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Cord wandte sich Claire zu, aber sie hatte eine Vase mit Rosen entdeckt und schien ganz in die Betrachtung einer hellroten Knospe versunken zu sein.

Die andere Schwester hingegen beobachtete ihn mit offensichtlichem Misstrauen. Freundlich lächelte er sie an, während er überlegte, wie lange es wohl brauchte, die blonde Schönheit in sein Bett zu locken.

„Nun, Mylord, Sie erwähnten eine freie Stelle.“

Er versuchte, seine Aufmerksamkeit auf die dunkelhaarige Schwester zu richten – wie hieß sie doch gleich? Velma oder Valerie oder …? Victoria, ja genau. Er ließ seinen Blick über sie schweifen. Sie war kleiner als Claire, wenn auch nicht zu klein, und bei weitem nicht so zerbrechlich. Victoria wirkte handfest und resolut, und allem Anschein nach fühlte sie sich als Beschützerin ihrer Schwester.

„Meine Haushälterin Mrs. Mills hat vor einigen Tagen gekündigt, und ich suche noch eine passende Nachfolgerin für sie.“ Victoria Temple war viel zu jung für eine solche Stelle, was ihr wohl bewusst war. Dennoch war er sich sicher, dass sie zusagen würde. „Vielleicht hätten Sie Interesse.“

Ihm entging nicht die Erleichterung, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, und verwundert stellte er fest, wie sehr ihn das berührte.

„Ja, Mylord, ich bin sehr interessiert. Ich habe bereits zuvor ähnliche Arbeiten verrichtet und denke, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.“

Ihm war bisher nicht aufgefallen, dass sie attraktiv war. Obwohl sie nicht über die atemberaubende Schönheit ihrer Schwester verfügte, war ihr Gesicht fein gezeichnet, ihre dunklen Brauen schwangen sich über lebhafte grüne Augen, ihre Nase war gerade und ihr Kinn fest. Ein sehr trotziges Kinn, dachte er leicht amüsiert.

„Und was ist mit meiner Schwester? Ich fürchte, ich werde die Stelle nicht annehmen können, wenn Sie nicht auch eine Beschäftigung für Claire haben.“

Er hörte die Anspannung in ihrer Stimme. Es war offensichtlich, dass sie die Anstellung dringend benötigte, und anscheinend war es ihr noch nicht in den Sinn gekommen, dass Claire der Grund ihrer Einstellung gewesen war.

„Als Haushälterin können Sie über Personalfragen frei entscheiden. Ein weiteres Zimmermädchen wäre sicher nützlich. Ich werde Mrs. Mills rufen, damit sie Sie mit dem Haus und Ihren Aufgaben vertraut machen kann. Da dies ein Junggesellenhaushalt ist, werde ich Sie am besten als Mrs. Temple vorstellen.“

Es war Victoria anzusehen, dass ihr die Notwendigkeit dieses Vorwands Unbehagen bereitete.

„Das wäre sicher angemessen. Claire würden Sie dann mit ihrem zweiten Namen als Miss Marion anreden.“

Brant nickte und bedeutete Timmons, Mrs. Mills zu holen. Die rundliche Haushälterin fand sich einige Minuten später ein, woraufhin sie alle Anwesenden argwöhnisch betrachtete.

„Mrs. Mills, das ist Mrs. Temple“, stellte Cord Tory vor. „Von Montag an wird sie Ihre Stelle übernehmen.“

Die Haushälterin runzelte die Stirn. „Ich dachte, dass Mrs. Rathbone …“

„Und ich sage Ihnen nun, dass Mrs. Temple Ihre Nachfolgerin wird. Das ist ihre Schwester, Miss Marion, ein neues Zimmermädchen.“

Mrs. Mills schien über die Regelung nicht glücklich zu sein, aber sie nickte einlenkend und bedeutete den beiden jungen Frauen, ihr zu folgen.

„Wir bringen erst einmal Ihre Schwester unter“, erklärte die Haushälterin Tory, als sie neben ihr die Treppe hinaufging. „Später zeige ich Ihnen Ihr Zimmer. Es ist im Untergeschoss, gleich neben der Küche.“

„Komm schon, Claire“, ermahnte Tory nun ihre Schwester, die noch immer in den Anblick der Rosen versunken war. „Mrs. Mills zeigt uns unsere Zimmer.“ Obwohl ihre Worte an Claire gerichtet waren, richtete sie ihre Augen auf Cord, und er glaubte, in ihrer Stimme einen warnenden Unterton zu hören.

Die Vorstellung einer Bediensteten mit Widerspruchsgeist erheiterte ihn außerordentlich. Zum ersten Mal seit Wochen war er in Gedanken nicht ausschließlich mit seiner Arbeit oder der Sorge um Ethan befasst.

Er warf einen letzten Blick auf die engelsgleiche Schwester, die ihren vornehmen Kopf gesenkt hielt und das Muster des Teppichs begutachtete. Cord sah eine Locke silberblonden Haares ihre Wange umspielen und spürte eine vertraute männliche Regung. Er lächelte, als er sich ausmalte, was die Zukunft für ihn bereitzuhalten schien.

Dann erinnerte er sich an die Aktenberge, die ihn auf seinem Schreibtisch erwarteten, und das Lächeln verging ihm. Mit einem tiefen Seufzer eilte er in Richtung seines Arbeitszimmers.

2. KAPITEL

Am frühen Morgen des nächsten Tages begann Mrs. Mills damit, Tory in ihren neuen Aufgaben zu unterweisen. Glücklicherweise hatte Letztere bereits in Harwood Hall einen Haushalt geführt, wenngleich der geizige Baron die Zahl der Bediensteten recht gering gehalten hatte und alle dafür umso mehr arbeiten mussten.

Obwohl Claire in Harwood Hall keine Pflichten gehabt hatte, fügte sie sich nun klaglos ihrer Arbeit. Sie pflückte Erbsen und Bohnen im Küchengarten, eilte zum Markt, um für die Köchin einen Topf Butter zu holen, und hatte sichtlich Freude daran, in einer Gemeinschaft mit anderen Bediensteten zu arbeiten.

Seit ihre Mutter, Charlotte Whiting, Lady Harwood, vor drei Jahren gestorben war, hatten die beiden Schwestern kaum noch Gesellschaft gehabt. Vor dem Tod ihrer Mutter hatte Tory Mrs. Thornhills Privatschule besucht, aber danach hatte ihr Stiefvater darauf bestanden, dass sie ihm den Haushalt führte.

Claire konnte seiner Ansicht nach zu Hause unterrichtet werden. Tory wusste, dass dies nicht nur Ausdruck seines Geizes war, sondern ihm auch sein Vorhaben erleichtern sollte, die Stieftochter zu verführen.

Bei der Erinnerung an ihren Stiefvater erschauderte sie. Claire ist jetzt in Sicherheit, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. In Wahrheit hing der Diebstahl der Halskette und der mögliche Tod des Barons wie ein Damoklesschwert über ihnen. Hätte sie es nicht schon längst in den Zeitungen lesen müssen, falls er wirklich von ihrer Hand gestorben war? Oder wäre sie nicht gar schon für die Tat gefasst worden?

Vielleicht hatte der Baron sich von dem Angriff erholt und verschwieg den Zwischenfall, um einen Skandal zu vermeiden. Er schätzte den Titel, den er nach dem Tod von Torys Vater geerbt hatte, viel zu hoch, um den Namen Harwood leichtfertig in den Schmutz zu ziehen.

Sie dachte wieder an die Brautkette. Zwar schien es ihr unwahrscheinlich, dass die Legenden von Leidenschaft und Gewalt, die sich um das Schmuckstück rankten, mehr als bloße Fantasie waren. Doch andererseits …

Tory sah von ihrer Arbeit auf und erfasste nüchtern ihre Situation. Ihr Gesicht war feucht von der Hitze des Kohlenfeuers und dem Dampf aus den Töpfen, die brodelnd auf dem Herd standen. Einzelne Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst und klebten ihr am Nacken. Sie dachte an Claire und begann, sich Sorgen über die Absichten des Earls zu machen. In diesem Moment fragte sie sich, ob nicht doch der Fluch der Kette seine Wirkung zeigte.

An diesem Tag arbeitete sie mit Mrs. Mills zusammen, die ihr ihre Aufgaben erklärte. Tory hatte die Bücher zu führen, musste die Speisepläne zusammenstellen und die Einkäufe organisieren, die Vorräte verwalten und nach der Wäsche schauen – kurzum, sie war für den reibungslosen Ablauf aller Vorgänge im Haus verantwortlich.

Erst viele Stunden später, als sie gerade auf dem Weg in eines der oberen Stockwerke war, um den Wäscheschrank im Westflügel zu sichten, begegnete sie wieder dem Earl, der im Türrahmen eines der Schlafzimmer lehnte. Tory stellte fest, dass ihre Schwester in dem Zimmer mit dem Wechseln der Bettwäsche beschäftigt war, und sah sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Mylord?“, fragte Tory.

„Wie bitte? Oh … nein. Nein, danke. Ich habe nur gerade …“ Er zeigte auf Claire, die mit der schmutzigen Wäsche im Arm versonnen aus dem Fenster schaute. „Was tut Ihre Schwester da?“

Tory folgte seinem Blick und sah, wie Claire fasziniert und völlig regungslos einen Schmetterling beobachtete, der sich auf ihrem Finger niedergelassen hatte.

Angst stieg in Tory auf. Sie waren beide auf diese Arbeit angewiesen, denn die letzten Tage hatten ihnen gezeigt, dass ihre Möglichkeiten mehr als begrenzt waren. Keinesfalls durften sie ihre Anstellung verlieren.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Mylord. Claire kann sehr hart arbeiten und wird ihre Aufgaben immer zu Ihrer Zufriedenheit erledigen. Manchmal scheint sie etwas langsamer zu sein als andere, dafür ist sie sehr gewissenhaft.“

Der Earl sah Tory mit seinen goldbraunen Augen an, und für einen Moment verspürte sie erneut ein Gefühl der Unruhe.

„Ich habe keine Zweifel an ihrer Eignung.“ Wieder betrachtete er ihre Schwester, die immer noch gebannt den leichten Bewegungen des Schmetterlings folgte.

Zielstrebig betrat Tory das Zimmer. „Claire, meine Liebe. Warum bringst du die Laken nicht schon nach unten? Mrs. Wiggs wartet bestimmt schon darauf, und sie braucht sicher Hilfe in der Waschküche.“

Claires Gesicht wurde von ihrem strahlenden Lächeln erhellt. „Aber natürlich.“ Als sie das Zimmer verließ, streifte sie den Earl wie ein leichter Sommerwind, und er sah ihr nach, wie sie anmutig davoneilte.

„Ich versichere Ihnen, dass Sie sich keine Sorgen um Claire zu machen brauchen.“

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Tory zu und lächelte leicht. „Nein, mir scheint, dass Sie das bereits in ausreichendem Maße tun.“

Tory verließ ohne eine Antwort das Zimmer. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie spürte ein seltsames Ziehen im Bauch. Es wird meine Angst davor sein, dass wir unsere Anstellung verlieren könnten, sagte sie sich. Doch als sie im Vorübergehen einen letzten Blick auf den gut aussehenden Earl warf, fragte sie sich, ob ihre Empfindungen nicht doch eine ganz andere Ursache hatten.

Die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims schlug Mitternacht. Cord, der an seinem Schreibtisch saß, nahm es kaum wahr. Die silberne Öllampe warf einen hellen Lichtschein auf die Geschäftsbücher, die er nach dem Abendessen durchzusehen begonnen hatte. Während er sich erschöpft mit der Hand über die Augen fuhr und sich in seinem Stuhl zurücklehnte, dachte er über seine bisherigen Anstrengungen nach, den Familienbesitz aus den roten Zahlen zu holen.

Bis zu dem Tag, an dem sein Vater starb, hatte er sich keine Vorstellung davon gemacht, wie schlecht es um die Finanzen bestellt war. Stattdessen war er vor allen Dingen daran interessiert, sich mit seinen Freunden zu vergnügen, zu trinken, zu spielen und Frauen nachzustellen.

Dann hatte sein Vater einen Hirnschlag erlitten und war zwei Monate später gestorben. Die ganze Verantwortung, die mit Titel und Familienbesitz einhergingen, ruhte seitdem auf Cords Schultern. Nichts hatte ihn auf diese Aufgabe wirklich vorbereitet.

In den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Cord sich oft gefragt, ob sein Vater noch leben könnte, wenn er von ihm mehr Unterstützung erfahren hätte. Zusammen wäre es ihnen vielleicht gelungen, die finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen. Doch so hatte sein Vater die ganze Last allein zu tragen gehabt …

Doch nun war es zu spät, und seine Schuldgefühle bestärkten Cord in seinem Vorhaben, endlich zu tun, womit er längst hätte beginnen sollen.

Er seufzte und lauschte kurz dem gleichmäßigen Ticken der Uhr in seinem stillen Arbeitszimmer. An der Wand sah er seinen eigenen Schatten, als er sich wieder über den Schreibtisch beugte. Erfreulicherweise waren seine bisherigen Unternehmungen von Erfolg gekrönt gewesen. Die verschiedenen Investitionen, die er in den letzten zwei Jahren getätigt hatte, brachten so viel ein, dass er dringend notwendige Reparaturen auf seinen drei Gütern bezahlen sowie in viel versprechende neue Anlagen investieren konnte.

Aber das allein reichte noch nicht. Cord glaubte, so tief in der Schuld seines Vaters zu stehen, dass er sich vorgenommen hatte, den Familienbesitz nicht nur zu sanieren, sondern zu bislang ungeahnten Höhen zu führen. Sein Plan schien ihm durchaus realisierbar, denn zum einen hatte er festgestellt, dass er Talent für finanzielle Belange zu haben schien, und zum anderen war er entschlossen, eine reiche Erbin zu heiraten, die zum Familienvermögen beisteuern würde.

Cord zweifelte nicht daran, dieses Ziel zu erreichen, denn er hatte Erfolg bei Frauen. Sie mochten ihn, und er mochte sie, ob sie nun jung oder alt waren, dick oder dünn, arm oder reich. Er hatte bereits eine engere Auswahl möglicher Kandidatinnen getroffen, und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, musste er sich nur noch entscheiden, welche der jungen, attraktiven Erbinnen er letztendlich heiraten wollte.

Da er gerade an Frauen dachte, kam ihm das hübsche blonde Hausmädchen in den Sinn, das seit heute unter seinem Dach lebte. Noch nie zuvor hatte er eine Bedienstete verführt, geschweige denn ein Mädchen, das so offensichtlich unschuldig war; bei der schönen Claire hingegen geriet er in Versuchung, eine Ausnahme zu machen. Er würde sich natürlich um sie kümmern, ihr ein komfortables Stadthaus einrichten und einen großzügigen Unterhalt zahlen, damit sie auch für ihre ältere Schwester sorgen konnte.

Ihm schien diese Idee für alle Beteiligten von Vorteil zu sein.

Es war Montag und Torys erster offizieller Tag als Haushälterin des Earl of Brant. Bislang hatte sie allerdings keinen guten Einstand gehabt. Obwohl der Earl sie dem Hauspersonal als Mrs. Temple vorgestellt hatte, taten sich die anderen Bediensteten schwer damit, ihr Loyalität und Respekt entgegenzubringen.

Es war einfach nicht üblich, eine Haushälterin einzustellen, die erst neunzehn war. Das Personal befolgte kaum ihre Anordnungen und schien sie nicht nur für zu jung, sondern auch für völlig unerfahren zu halten. Tory erkannte, dass sie nur versuchen konnte, sie im Laufe der Zeit vom Gegenteil zu überzeugen.

Zudem hätte eigentlich Mrs. Rathbone die Nachfolge von Mrs. Mills antreten sollen. Mrs. Rathbone war seit vielen Jahren im Hause des Earls angestellt und nun sehr aufgebracht darüber, wegen einer dahergelaufenen Fremden übergangen worden zu sein.

„Tory?“ Claire eilte die weit geschwungene Treppe hinunter. Nicht einmal die Haube, die sie über ihrem silberblonden Haar trug, der schwarze Taftrock und die schlichte weiße Bluse konnten ihre strahlende Schönheit verbergen. „Ich bin mit den Gästezimmern im Ostflügel fertig. Was soll ich nun tun?“

Tory ließ einen prüfenden Blick über die frisch geschnittenen Blumen auf den Hepplewhite-Konsolen in der Eingangshalle und das spiegelblanke Parkett schweifen. Das elegant eingerichtete Stadthaus des Earls schien in einem sehr gepflegten Zustand zu sein, doch bei genauerem Hinsehen hatte Tory entdeckt, dass es noch viel zu tun gab.

Das Tafelsilber gehörte dringend poliert, die Gästezimmer schienen seit Wochen nicht betreten worden zu sein, die Kamine mussten gekehrt werden, die Teppiche waren verstaubt und die Vorhänge anscheinend lange nicht gelüftet worden.

Sie würde es schaffen, versuchte Tory, sich aufzumuntern. Irgendwie würde sie das Personal schon dazu bringen, ihr zu gehorchen.

„Die Zimmer im Westflügel habe ich noch nicht gemacht“, schlug Claire vor.

Tory wollte jedoch in jedem Fall verhindern, dass Claire sich in der Nähe von Lord Brant aufhielt, dessen Räume sich genau in diesem Teil des Hauses befanden.

„Nein, geh lieber nach unten und hilf Miss Honeycutt dabei, das Tafelsilber zu polieren.“

„Mein Zimmer müsste aber unbedingt gefegt werden“, ließ sich der Earl vernehmen, der unbemerkt die Treppe hinuntergekommen war und nun hinter Claire stand.

Claire errötete, als sie seine goldbraunen Augen auf sich gerichtet fand. Sie machte einen hastigen Knicks und wäre dabei fast die letzten paar Stufen heruntergefallen, wenn der Earl sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte.

„Langsam, meine Liebe. Sie sollten sich in Ihrem Arbeitseifer nicht den Hals brechen.“

Claires Wangen glühten. „Verzeihen Sie, Mylord. Ich bin manchmal ein wenig … unbeholfen. Ich werde mich sofort um Ihr Zimmer kümmern.“ Sie eilte die Treppe hinauf. Der Earl sah ihr hinterher, bis sie verschwunden war, und wandte seine Aufmerksamkeit dann Tory zu.

„Ich nehme an, dass Sie sich bereits gut eingearbeitet haben.“

„Ja, Mylord. Die Arbeit geht sehr gut voran.“ Das war natürlich eine blanke Lüge, denn solange das Personal sie kaum zur Kenntnis nahm und ihren Anordnungen nicht folgte, würde sie ihre Aufgaben niemals wirklich bewältigen können.

„In Ordnung. Wenn sich Probleme ergeben, lassen Sie es mich wissen.“ Er wandte sich ab und begann, die Treppe hinaufzugehen, was in Tory sogleich wieder die Sorge um Claire weckte.

„Mylord?“

Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah zu ihr hinunter. „Ja?“

„Es gibt … einige Dinge, die ich sehr gerne mit Ihnen besprechen würde.“

„Vielleicht später.“ Er nahm die letzten Stufen und ging in Richtung seines Zimmers.

„Es ist aber ziemlich wichtig“, rief Tory ihm hinterher und eilte nun gleichfalls nach oben. „Vielleicht hätten Sie einen Moment Zeit.“

Brant blieb stehen und wandte sich um. Prüfend sah er sie an, und Tory glaubte zu merken, dass er ihre Absicht genau durchschaute.

Er lächelte leicht. „Wenn es ziemlich wichtig ist, werde ich in einer Viertelstunde nach unten kommen und mit Ihnen sprechen.“

Cord schüttelte amüsiert den Kopf. War sie nicht unglaublich, seine neue Haushälterin? Eine dreiste kleine Person, der wirklich nichts zu entgehen schien!

Er fand die Tür zu seinem Zimmer offen, und sein Blick fiel auf das ätherische Wesen, das mit leichten Bewegungen einen Besen über den Boden gleiten ließ, um das bisschen Staub zusammenzukehren, das sich auf den auf Hochglanz polierten Eichendielen angesammelt hatte.

Sie war unglaublich schön. Und im Gegensatz zu ihrer fast schon unverschämten Schwester sah sie ehrfürchtig zu ihm auf und schien sogar ein wenig Angst vor ihm zu haben. Er überlegte, was er tun konnte, damit sie in seiner Gegenwart etwas entspannter wurde.

Leise betrat er sein Zimmer. Claire bemerkte ihn nicht, was ihm die Möglichkeit gab, sie ungestört zu beobachten. Sie hatte in der Arbeit innegehalten und sah sich die kleine silberne Spieluhr an, die auf einer Kommode stand. Vorsichtig hob sie den Deckel an und lauschte gebannt, als die ersten Töne eines Wiegenliedes erklangen.

Claire begann, sich im Takt der Musik zu bewegen, und schwang dabei den Besen wie einen Tanzpartner vor sich her, während sie die Melodie mit heller Stimme begleitete. Cord beobachtete ihre anmutigen, leichten Bewegungen und runzelte überrascht die Stirn.

Claire war wunderschön, gleichwohl schien sie ihn zunehmend weniger zu faszinieren. Sie zu beobachten, war, als würde man heimlich in ein verborgenes Feenreich schauen oder einem Kind beim Spielen zusehen. Die Vorstellung hatte für Cord keinerlei Reiz.

In diesem Moment wurde Claire seiner gewahr. Erschrocken fuhr sie zusammen und schloss hastig den Deckel der Spieluhr. „I…ich bitte um Entschuldigung, Mylord. Ich fand die Uhr nur so schön, dass ich sie einfach öffnen musste, und sobald die Musik zu spielen begann … Ich hoffe, Sie sind nicht verärgert.“

„Nein“, sagte er und schüttelte beschwichtigend den Kopf. „Ich bin nicht verärgert.“

„Mylord?“ Als er die scharfe Stimme Victoria Temples hinter sich hörte, zog er die Augenbrauen in die Höhe und wandte sich fragend zu ihr um. Beim Anblick ihres aufgebrachten Gesichts musste er innerlich lächeln.

„Was gibt es denn nun schon wieder, Mrs. Temple? Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich in einer Viertelstunde herunterkäme, um mit Ihnen zu sprechen.“

Sichtlich darum bemüht, sachlich zu klingen, antwortete sie: „Ich weiß, Mylord. Nur da ich ohnehin die frische Wäsche nach oben bringen musste, wollte ich Ihnen den Weg sparen.“

Wie zum Beweis trug sie einen Stapel ordentlich gefalteter Laken, die nach Seife und Lavendel rochen – und nach etwas, das er unwillkürlich als weiblich empfand. „Nun ja, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.“

Wenn es darum ging, ihre Schwester zu beschützen, schien ihr Einfallsreichtum keine Grenzen zu kennen. Cord warf einen letzten Blick auf Claire. Vor Schreck war ihr alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, was ihre überirdische Schönheit jedoch noch unterstrich. Er überließ sie wieder ihrer Arbeit und schloss die Tür hinter sich, bevor er seiner neuen Haushälterin den Gang hinunterfolgte. Unter einem vergoldeten Wandleuchter blieb er stehen.

„Nun, Mrs. Temple, welche Fragen haben Sie denn?“ Er war neugierig, was sie sich in der Zwischenzeit wohl ausgedacht haben mochte.

„Zunächst geht es um das Tafelsilber. Sie wünschen vermutlich, dass es regelmäßig poliert wird.“

Er nickte ernsthaft. „Unbedingt. Es wäre ja unverzeihlich, wenn Besuch käme und die Teekanne nicht spiegelblank wäre.“

„Das sehe ich auch so, Mylord.“ Über seine Schulter warf sie einen Blick in Richtung seines Zimmers, aus dem leise Claires Gesang drang. „Und dann sind da noch die Gästezimmer.“

„Die Gästezimmer?“

„Sie müssten unbedingt einmal gründlich gelüftet werden. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.“

Nun konnte er sich das Lachen kaum noch verkneifen und versuchte, eine betont ausdruckslose Miene aufzusetzen. „Lüften – aber natürlich.“

„Sie geben mir Ihre Zustimmung?“

„Das steht außer Frage.“ Als ob Victoria Temple seine Zustimmung bräuchte, wenn es nach ihrem Willen gehen sollte! „Es würde mich kompromittieren, wenn ein Gast meines Hauses von abgestandener Luft belästigt würde.“

„Es wäre auch wichtig, die Kamine …“

„Mrs. Temple, verfahren Sie mit den Kaminen, wie es Ihnen richtig erscheint. Ich habe Sie eingestellt, weil ich denke, dass Sie die nötige Kompetenz haben, das alleine zu entscheiden. Und wenn Sie mich nun entschuldigen würden …“

Da sie vermutete, dass er wieder in das Zimmer zurückkehren würde, in dem Claire putzte, setzte sie bereits zu einer Erwiderung an, verstummte jedoch, weil er sich in die entgegengesetzte Richtung wandte. Vergnügt lachte er in sich hinein und ging die Treppe hinunter zu seinem Arbeitszimmer. Ihm war, als könnte er hinter sich einen tiefen Seufzer der Erleichterung hören.

Am nächsten Morgen stand Tory sehr früh auf. Wie es ihrer Position als Haushälterin entsprach, war ihr Zimmer groß und überraschend komfortabel. Sie hatte ein schön eingerichtetes Wohnzimmer und ein Bett mit bequemer Matratze und wunderbar weichen Kissen. Auf dem Waschtisch stand ein mit Lavendelblüten bemalter Porzellankrug, und vor den Fenstern hingen weiße Musselinvorhänge.

Sie goss Wasser in die Waschschüssel und begann mit ihrer Morgentoilette. Als sie danach den schwarzen Rock und die weiße Bluse, die sie jeden Tag zur Arbeit trug, anziehen wollte, runzelte sie die Stirn. Es waren nicht dieselben Kleidungsstücke, die sie am Abend zuvor an die Garderobe gehängt hatte.

Rock und Bluse waren frisch gewaschen und verströmten einen durchdringenden Geruch nach Seife und Stärke. Als sie die Kleidung vom Haken nahm, machte der Stoff ein krachendes Geräusch, unter ihren Händen erschien er Tory wie Holz.

Sie seufzte. Zwar wusste sie nicht, wer von den Bediensteten für diesen Streich verantwortlich war, Mrs. Rathbone erschien ihr jedoch die wahrscheinlichste Kandidatin. Es war offensichtlich, dass sie auf Tory eifersüchtig war und ihr grollte, weil sie statt ihrer die Stelle der Haushälterin bekommen hatte. Doch auch von den anderen Dienstboten schlug Tory Ablehnung entgegen. Wahrscheinlich verbrachten sie den halben Tag damit, sich neue Hinterhältigkeiten auszudenken, um sie zu vergraulen. Wenn sie nur wüssten, wie verzweifelt Claire und sie auf diese Stelle angewiesen waren!

Claire mit ihrer lieben und nachgiebigen Art war schnell akzeptiert worden, aber Tory tat sich schwer. Dennoch war sie fest entschlossen, ihre Stellung zu halten, ganz gleich, was die anderen Bediensteten von ihr halten mochten.

Sie biss die Zähne zusammen, stieß ihre Arme in die steifen Ärmel der Bluse und stieg in den Rock. Ihre Kleider machten bei jeder Bewegung ein krachendes Geräusch, die Bluse kratzte ihr an dem Armen, und der Kragen scheuerte im Nacken.

Sobald sie in den Korridor getreten war, schienen sich die seltsamen Töne des gestärkten Stoffes noch zu verstärken, und während sie an dem goldgerahmten Spiegel vorbeiging, sah sie, welch schrecklichen Anblick sie bot. Die gestärkten Ärmel der Bluse wölbten sich um sie wie Flügel, und der geplättete Rock wirkte wie ein unbewegliches schwarzes Segel.

„Was um alles in der Welt …?“

Bei diesen Worten des Earls erstarrte Tory. Sie wandte sich um und sah ihn mit fragend hochgezogenen Brauen auf sich zukommen. Heute schien sie wirklich vom Pech verfolgt zu sein!

Cord blieb vor ihr stehen, verschränkte die Arme vor seiner beeindruckend breiten Brust und betrachtete sie nachdenklich.

„Mrs. Temple, mir scheint, Sie hätten mich besser nach der genauen Handhabung der Wäsche fragen sollen, als Sie gestern Ihre Pflichten als Haushälterin mit mir besprechen wollten. Ich hätte Ihnen zu etwas weniger Stärke geraten.“

Tory spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie kam sich in der lächerlichen Aufmachung unsäglich albern vor. Leider wirkte der Earl an diesem Morgen attraktiver als je zuvor.

„Die Wäsche gehört nicht zu meinen Aufgaben, Mylord. Allerdings werde ich zukünftig darauf achten, dass das Personal in dieser Hinsicht besser angeleitet wird.“

Er lächelte. „Das scheint mir überaus ratsam.“

Da er keine Anstalten machte zu gehen und sie weiterhin anlächelte, sah sie ihn herausfordernd an. „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, Mylord.“

„Aber natürlich. Ich möchte Sie nicht vom Polieren des Silbers und dem Lüften der Gästezimmer abhalten, ganz zu schweigen von Ihren Unterweisungen in der Waschküche.“

Tory drehte sich auf dem Absatz um und ging den Gang hinunter, wobei sie sich bemühte, sein leises Lachen und das Knarzen ihrer Kleidung zu überhören.

Der Anblick Victoria Temples in ihren vor Stärke starrenden Kleidern hatte Cord so sehr erheitert, dass er noch immer lächelte, als er kurz darauf sein Arbeitszimmer betrat. Er hatte heute Morgen ein Treffen mit Colonel Howard Pendleton vom Kriegsministerium, der ein guter Freund seines Vaters gewesen war und eng mit Cords Cousin Ethan zusammengearbeitet hatte.

Die wenige Zeit, die ihm sein Bemühen um eine Sanierung der Familienfinanzen noch ließ, versuchte Cord darauf zu verwenden, seinen Cousin und besten Freund Ethan Sharpe ausfindig zu machen. Ethan war der jüngere Sohn von Malcolm Sharpe, des Marquess of Belford, und seine Mutter Priscilla war Cords Tante. Als Malcolm und Priscilla bei einem Kutschenunfall ums Leben kamen, hatten Lord und Lady Brant die Kinder des Marquess, Charles, Ethan und Sarah, bei sich aufgenommen.

Cord, der keine leiblichen Geschwister hatte, war mit ihnen aufgewachsen und hatte ein sehr enges Verhältnis zu allen dreien. Natürlich hatten sie sich als Kinder manchmal gestritten, und einmal hatte der zwei Jahre jüngere Ethan sich sogar den Arm gebrochen, nachdem er und Cord bei einer Rauferei in einen Tümpel gefallen waren. Cord war nur deshalb der Bestrafung durch den Stock entgangen, weil Ethan schwor, dass er selbst in den Tümpel gefallen sei und sein Cousin lediglich versucht habe, ihn zu retten.

Dieser Vorfall hatte den Grundstein zur Freundschaft der beiden gelegt, die bis heute andauerte. Nach seinem Studium in Oxford war Ethan zur Marine gegangen, was nun auch schon neun Jahre zurücklag. Er hatte die Marine mittlerweile verlassen, stand aber als Freibeuter weiterhin im Dienst Seiner Majestät.

Zusammen mit seinem Schiff, der Sea Witch, war er spurlos verschwunden.

Von einem leisen Klopfen wurde Cord aus seinen Gedanken gerissen. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und er erkannte seinen Butler Timmons. „Colonel Pendleton ist eingetroffen, Mylord.“

„Führen Sie ihn herein.“

Einige Augenblicke später betrat ein Mann mit grau meliertem Haar das Arbeitszimmer. Er trug eine rote Offiziersuniform mit goldenen Knöpfen. Cord kam hinter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte seinen Gast.

„Wie schön, Sie zu sehen, Colonel.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mylord.“

„Möchten Sie eine Erfrischung? Einen Brandy oder eine Tasse Tee?“

„Nein, vielen Dank. Leider habe ich nur wenig Zeit.“

Cords Sorgen um seinen besten Freund nahmen mit jedem Tag zu. Fast ein Jahr dauerte nun schon seine Suche, und obwohl die Möglichkeit bestand, dass Schiff und Mannschaft in einem Sturm untergegangen waren und nie gefunden wurden, weigerte er sich, die Suche aufzugeben. Er wusste, dass Ethan ein sehr guter Schiffsführer war, und war daher davon überzeugt, dass sein Verschwinden eine andere Ursache haben musste.

Beide Männer nahmen in den bequemen Ledersesseln vor dem Kamin Platz, und Cord kam gleich zur Sache.

„Was für Neuigkeiten haben Sie, Howard?“

Der Colonel lächelte. „Gute Nachrichten, Mylord. Vor drei Tagen hat die Victor, eines unserer Kriegsschiffe, in Portsmouth angelegt. Mit an Bord war ein Zivilist namens Legg, der von sich behauptet, ein Mitglied der Mannschaft von Captain Sharpe gewesen zu sein.“

Cord spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Er beugte sich in seinem Sessel vor. „Und was hatte er über meinen Cousin und dessen Schiff zu erzählen?“

„Mr. Legg behauptet, dass sie kurz vor der französischen Küste bei Le Havre von zwei französischen Kriegsschiffen abgefangen wurden. Jemand muss sie verraten haben. Es gab ein kurzes Gefecht, aus dem die Sea Witch seeuntauglich hervorging, der größte Teil der Mannschaft überlebte jedoch und wurde gefangen genommen. Einschließlich Captain Sharpe.“

„Und wie ist Legg dann auf die Victor gekommen?“

„Als sie das Festland erreicht hatten, gelang ihm mit einem weiteren Matrosen die Flucht. Der andere ist dann bald seinen Verletzungen erlegen, aber Legg konnte sich bis nach Spanien durchschlagen, von wo aus er an Bord der Victor nach England zurückkehrte.“

„Hat er gesagt, wohin sie Ethan gebracht haben?“

„Das wusste er leider nicht.“

„Hat Ethan während des Gefechtes Verletzungen erlitten?“

„Legg erzählte, dass der Captain während des Kampfes eine Säbelwunde und einige kleinere Blessuren davongetragen hat. Seiner Ansicht nach war jedoch nichts davon so schlimm, dass es einem Mann wie Captain Sharpe etwas anhaben könnte.“

Cord hoffte inständig, dass der Seemann recht hatte. „Ich möchte mit diesem Legg sprechen. Je eher, desto besser.“

„Ich werde mich darum kümmern.“

Sie unterhielten sich noch einige Minuten über andere Dinge, bevor Cord aufstand und das Gespräch beendete.

„Ich danke Ihnen, Colonel.“

„Ich werde mich bei Ihnen melden“, versicherte ihm Pendleton.

Cord nickte stumm. Ethan lebte, daran bestand für ihn nun kein Zweifel mehr. Und wo immer er sein mochte, Cord war fest entschlossen, ihn zu finden.

3. KAPITEL

Tory hatte ihr Kleidungsproblem gelöst. Mrs. Wiggs, die Wäscherin, beteuerte ihre Unschuld, und ihre Hände zitterten, während sie prüfend den vor Stärke steifen Stoff betastete.

Sie arbeitete bis spät in die Nacht, um Torys Kleider gründlich zu waschen, und besorgte ihr zudem eine weitere Bluse und einen neuen Rock, den sie so abänderte, dass er die richtige Länge hatte.

Heute war das gesamte Dienstpersonal zusammen mit zahlreichen Kaminkehrern, die Tory ins Haus bestellt hatte, mit der Reinigung der Schornsteine beschäftigt.

Geschickt kletterten die Jungen die engen Schächte hinauf und hinunter, was ihre Arbeit leichter und ungefährlicher aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Tory ging von Zimmer zu Zimmer und war sichtlich erfreut vom Fortgang der Arbeit.

Nachdem sie im Blauen Salon nach dem Rechten gesehen hatte, ging sie in Lord Brants Arbeitszimmer, in dem er kurz zuvor noch gearbeitet hatte. Ihr war aufgefallen, wie viel Zeit er dort verbrachte, Akten studierte und die Geschäftsbücher prüfte, und sie gestand sich ein, dass sie das überraschte.

Weder ihren Stiefvater noch dessen Freunde hatte sie jemals arbeiten sehen. Allem Anschein nach war es unter ihrer Würde, sich um finanzielle Dinge zu kümmern, und keinen von ihnen schien es zu stören, dass durch ihre Untätigkeit und ihren Lebenswandel der Familienbesitz stetig an Wert verlor.

Der Gedanke daran machte Victoria wütend. Miles Whiting hatte als Cousin und nächster männlicher Erbe ihres Vaters nicht nur die Ländereien und das Vermögen der Harwoods übernommen, er hatte sich auch die Zuneigung ihrer Mutter erschlichen und sie geheiratet. So war er ebenfalls in den Besitz von Windmere, den Familiensitz ihrer Mutter, gelangt, der nicht an die männliche Erbfolge gebunden war.

In ihren Augen war Miles Whiting der verachtenswerteste Mensch, den Tory sich vorstellen konnte. Er war ein Dieb, ein Betrüger und ein Verführer unschuldiger junger Frauen. Und seit einigen Jahren hegte sie den Verdacht, dass er für den Tod ihres Vaters verantwortlich war. Sie hatte sich geschworen, ihm all das eines Tages heimzuzahlen.

Doch vielleicht hatte sie das ja unlängst getan …

Sie versuchte, ihre Gedanken an den Baron und daran, was ihm womöglich von ihrer Hand geschehen war, zu verdrängen und ging zielstrebig in Richtung des Kamins, der sich im hinteren Teil des Arbeitszimmers befand.

„Wie geht es voran, Mrs. Rathbone?“

„Wir scheinen hier ein Problem zu haben. Wenn Sie vielleicht mal selber schauen wollen?“

Tory kam näher. Sie bückte sich, steckte ihren Kopf in den Abzug und sah in den Schacht hinauf. In diesem Moment ging eine Wolke schwarzer Asche auf sie nieder, die ihr in Nase und Augen drang. Sie musste husten und schluckte dabei etwas von dem Kohlenstaub. Keuchend und mit tränenden Augen richtete sie sich wieder auf und drehte sich wutentbrannt zu Mrs. Rathbone um.

„Nun … die Kaminkehrer haben das Problem wohl gelöst“, meinte die ältere Frau schulterzuckend. Sie war hager, hatte eine spitze Nase und dünne schwarze Haare, die sie unter ihrer Haube streng zurückgebunden hatte. Obwohl sie keine Miene verzog, sah Tory unverhohlene Schadenfreude in ihren Augen funkeln.

„Ja“, stimmte Tory ihr mühsam zu. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um ihrem Ärger Einhalt zu gebieten. „Es sieht ganz so aus.“ Sie wandte sich auf dem Absatz um und wollte das Zimmer verlassen. Ihre Hände und ihr Gesicht waren schwarz von Ruß. Da sie seit Tagen vom Pech verfolgt schien, überraschte es sie nicht im Geringsten, dass sie plötzlich wieder dem Earl gegenüberstand. Er lehnte sich an den Türrahmen, und seine Schultern bebten vor Lachen.

Sie warf ihm einen Blick zu, der jeden anderen Mann sofort in die Flucht geschlagen hätte. „Ich weiß zwar, dass Sie mein Dienstherr sind, aber ich rate Ihnen trotzdem inständig, jetzt jede Bemerkung zu unterlassen!“

Wütend eilte Tory an ihm vorbei, und er musste einen Schritt beiseitetreten, um zu vermeiden, dass Ruß auf sein perfekt sitzendes nussbraunes Jackett gelangte. Sich nur mit Mühe das unverschämte Grinsen verbeißend, schaute er ihr nach.

Während sie sich in ihrem Zimmer umzog, verwünschte sie innerlich ihren Stiefvater, der sie und Claire erst in die Lage gebracht hatte, in der sie sich nun befanden. Einen Moment brauchte sie, bevor sie sich wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass sie zurück an ihre Arbeit gehen mochte.

Timmons, der Butler, schien der Einzige unter den Bediensteten des Earl of Brant zu sein, auf den sie sich verlassen konnte. Aber er war ein zurückhaltender und höflicher Mensch und ihr bei ihren Problemen mit dem Personal deswegen keine große Hilfe.

Allerdings wusste Tory, dass sie es alleine schaffen konnte. Durch nichts würde sie sich dazu bewegen lassen, ihre Anstellung aufzugeben, auch nicht durch die heimtückische Mrs. Rathbone.

Eine Viertelstunde später hatte Cord sein Arbeitszimmer wieder für sich allein. Die Kaminkehrer waren in einen anderen Teil des Hauses gegangen, und Mrs. Rathbone tat gut daran, ihnen dicht auf den Fersen zu folgen. Zwar war er sich nicht sicher, ob sie dafür verantwortlich war, dass seine Haushälterin plötzlich ganz in Ruß und Asche gehüllt vor ihm stand; es schien ihm jedoch sehr wahrscheinlich.

Obwohl ihm die Vorstellung, dass die kleine Temple Probleme mit ihrer Arbeit und dem Rest des Personals haben könnte, nicht gefiel, musste er schmunzeln, als er sich an die Szene erinnerte. Ihre Augen hatten in ihrem von Kohlenstaub geschwärzten Gesicht hell geleuchtet und ihn erbost angefunkelt.

Die anderen Dienstboten schienen ihr wirklich das Leben schwer zu machen, aber er schätzte Victoria Temple so ein, dass sie ihre Probleme alleine lösen wollte und nicht wünschte, dass er eingriff. Er musste sich eingestehen, dass ihn ihre Ausdauer und ihre Unabhängigkeit beeindruckten. Nicht zum ersten Mal machte er sich Gedanken über ihre Vergangenheit, denn es war offensichtlich, dass sie und ihre Schwester nicht als Dienstboten geboren worden waren. Vielleicht würde sich das Rätsel eines Tages lösen.

Währenddessen hatte Cord Wichtigeres zu tun, als über seine Hausangestellten nachzudenken, ganz gleich, wie sehr sie seine Neugier wecken mochten. Heute Nachmittag hoffte er, von dem Matrosen Legg mehr über den möglichen Aufenthaltsort seines Cousins zu erfahren. Die Sorge um Ethan ließ ihn nicht mehr los, und er war entschlossen, jede Fährte zu verfolgen, die ihn zu ihm führen konnte.

Nachdenklich sah er auf das Schachbrett, das in einer Ecke seines Arbeitszimmers stand. Seit bald einem Jahr hatte er die Figuren nicht mehr angerührt. Die beiden Männer hatten sich angewöhnt, die Zeit ihrer Trennung während Ethans Seereisen mit einer Partie Schach zu überbrücken. In seinen Briefen teilte Ethan seinem Freund den Zug mit, und Cord tat dasselbe in seinen Briefen. Obwohl sie ebenbürtige Gegner waren, hatte Cord schon zwei der drei Partien, die sie auf diese Weise in den Jahren gespielt hatten, gewonnen.

Im laufenden Spiel hatte Cord zuletzt mit der Dame gezogen, doch sein Brief an Ethan war unbeantwortet geblieben. Das Schachbrett erinnerte ihn jeden Tag an das Verschwinden seines Cousins, und Cord hatte angeordnet, dass die Figuren bis zu Captain Sharpes Rückkehr nicht berührt werden durften. Er seufzte und fragte sich, wann das wohl sein mochte …

Sobald er sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, versuchte er, nicht mehr an Ethan zu denken, sondern sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Aber es dauerte nicht lange, bis seine Gedanken wieder abschweiften und er sich an die Szene erinnerte, die sich vorhin in seinem Arbeitszimmer ereignet hatte.

Er musste lächeln, als ihm aufging, dass seine Haushälterin tatsächlich die Unverschämtheit besessen hatte, ihm einen Befehl zu erteilen – und dass er so unvernünftig gewesen war, sich ihr nicht zu widersetzen.

Wenigstens der Zustand des Hauses machte Fortschritte, und die Böden im Erdgeschoss glänzten so sehr, dass Tory sich darin spiegeln konnte. Wenngleich es mühsam war, die Dienstboten dazu zu bewegen, ihren Anordnungen zu folgen, hatten sie in den letzten Tagen doch schon einiges an Arbeit geschafft.