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Eigentlich gibt es nichts zu lachen in der Pariser Banlieue. Paul, genannt Polo, ist ziemlich klein, hässlich, weiß und arm. Seine Mutter klebt krank und bewegungslos vor dem Fernseher, die ältere Schwester sorgt sich um ihre Fingernägel und träumt davon, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. In der Schule sind alle cooler als Paul und wenn schon nicht reich, dann wenigstens arabisch, jüdisch oder schwarz. Mit dem Vater, der sich nie beklagt und alle Demütigungen mit geradem Rücken wegsteckt, kann Paul gut reden - und schweigen. Von Priscilla erzählt er lieber nichts und auch nicht von Sylvie, die seinen Kopf und seine Hände beschäftigen … Auch dass er sich längst nicht mehr um den Staub auf den Büchern kümmert, sondern begonnen hat, sie zu lesen, behält Paul vorerst für sich. Saphia Azzeddines erzählt leichthändig und schnell eine liebevolle Vater-Sohn- Geschichte voller Situationskomik und Galgenhumor. Ein unterhaltsamer, ironischer Bildungsroman über das bittere Leben am gesellschaftlichen Rand, der fest daran glaubt, dass nichts verloren ist, solange man Bücher hat.
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Seitenzahl: 154
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Saphia Azzeddine
Roman
Aus dem Französischen von Birgit Leib
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
E-Book-Ausgabe 2015
© 2009 Éditions Léo Scheer© 2015 für die deutsche Ausgabe:Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 BerlinAlle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4179 8Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3270 3.
Was tut ein vierzehnjähriger Pariser Vorstadtjunge aus prekären Verhältnissen abends in der Bibliothek? Er hilft seinem Vater, der den Lebensunterhalt der Familie als Putzkraft verdient, und wischt Staub von den Büchern. Hin und wieder schlägt er eines auf, lernt neue Wörter und lacht sich kaputt.
Eigentlich gibt es nichts zu lachen in der Pariser Banlieue. Paul, genannt Polo, ist ziemlich klein, hässlich, weiß und arm. In der Schule sind alle cooler als er und wenn schon nicht reich, dann wenigstens arabisch, jüdisch oder schwarz. Mit dem Vater, der sich nie beklagt und alle Demütigungen mit geradem Rücken wegsteckt, kann Paul gut reden – und schweigen. Von Priscilla erzählt er lieber nichts und auch nicht von Sylvie, die seinen Kopf und seine Hände beschäftigen … Auch dass er sich längst nicht mehr um den Staub auf den Büchern kümmert, sondern begonnen hat, sie zu lesen, behält Paul vorerst für sich.
Saphia Azzeddine erzählt leichthändig und schnell eine liebevolle Vater-Sohn-Geschichte voller Situationskomik und Galgenhumor. Ein unterhaltsamer, ironischer Bildungsroman über das bittere Leben am gesellschaftlichen Rand, der fest daran glaubt, dass nichts verloren ist, solange man Bücher hat.
Meiner Mutter, Faïza, der Besten Meiner Schwester, Cadige, der Zweitbesten Meiner Freundin Tania, der Drittbesten
Bald kenne ich genug Wörter, die Angst machen, um gute Widmungen schreiben zu können.
Mein Vater ist Putzfrau. Nach der Schule greife ich ihm oft unter die Arme. Damit wir früher nach Hause kommen. Und auch, weil er mein Vater ist. Ich poliere, ich putze, ich scheuere, ich sauge Staub, sogar in den Ecken. Klein und schmal, wie ich bin, komme ich überall hin. Aber ich lerne auch was. Ein Wort pro Woche. Nicht irgendwelche. Die Wörter, die Angst machen. Die arroganten, die hochgestochenen, die überheblichen, die transzendenten, bei denen du dich bis auf die Knochen blamierst, wenn du ihren Sinn nicht kennst. Die, die sich drei Konsonanten hintereinander leisten wie obskur. Oder sogar vier wie abstrakt. Und das ist nicht mal ein Schreibfehler.
Transzendent war das Wort von letzter Woche. Es bedeutet »zu keiner Wirklichkeitsordnung gehörend, jedmögliche Erfahrung überschreitend« , und der Beispielsatz hieß: »Im Angesicht der Widrigkeit flüchtete er sich für gewöhnlich in die Betrachtung transzendenter Ideen.« Das Wort dieser Woche heißt zwangsläufig Widrigkeit. Keine Zeit zum Nachschlagen: Mein Vater schimpft mit mir und erinnert mich daran, dass ich in der Stadtbibliothek von Saint-Thiers-lès-Osméoles bin, um zu putzen und nicht, um zu lesen. Und wenn ich rechtzeitig zum Fußballgucken zu Hause sein will, dann soll ich besser meinen Arsch bewegen! Ich klappe also das Wörterbuch zu und mache mich wieder daran, das Regal »Anouilh-Balzac« abzustauben. Abstauben habe ich vor einem Jahr gelernt, als ich angefangen habe, Überstunden mit meinem Vater zu machen. Da ich das Wort putzen nicht besonders mochte, habe ich nach Synonymen gesucht, die weniger… wie soll ich sagen? weniger hart sind, die weniger scheuern. Mit einem solchen Wort wird dir der Staub zum Freund.
Zwischen den Taschenbüchern und den gebundenen Büchern, den bebilderten und den schlichten Buchdeckeln gab es Milliarden von Wörtern. Manche davon waren längst gescheitert, andere hatten viele erschüttert. Ich hatte Lust, sie auszuprobieren. Diese ganzen Bücher, wie sie da eines neben dem anderen militärisch, senkrecht und gerade aufgereiht standen, starrten mich an und forderten mich jedes Mal heraus, wenn ich an ihnen vorüberging, als wüssten sie, dass ein Kerl wie ich es sich niemals erlauben würde, sie zu stören. Das hat mich genervt. Meine Kumpels waren nicht da und konnten sich nicht über mich lustig machen, also habe ich eines aufgeschlagen und mich erdreistet, ein paar Zeilen darin zu lesen. Dann eine Seite. Ich habe auch andere aufgeschlagen. Einmal habe ich ein ganzes Buch gelesen.
Ich habe gelernt, dass ein Mann sich vierhundert Seiten Zeit lassen kann, um einer Frau zu sagen, dass er sie liebt. Vierhundert Seiten vor dem ersten Kuss, dreihundert vor einer Umarmung, zweihundert, um es zu wagen, sie anzusehen, hundert, um es sich einzugestehen. In Zeiten, wo man eine SMS verschickt, wenn man Lust zum Vögeln hat, finde ich das außergewöhnlich, schwindelerregend, verrückt, unfassbar, extravagant, wahnsinnig, grandios … So war das, beim Putzen habe ich Wörter gelernt. Immerhin …
Letztes Jahr war ich in der 8b. Und derzeit bin ich in der 8f. Ich bin sitzengeblieben. Weil meine Hausaufgaben nicht gut waren und weil ich im Aufsatz so Sachen geschrieben habe wie »heimtückisch plagte er seine Geliebte mit lüsternem Frohsinn«. Das war natürlich Quatsch. Ich habe die Wörter alle durcheinander entdeckt. Völlig ungeordnet. Lehrer haben es aber gern ordentlich. Dieses Jahr arbeitet mein Vater also doppelt so viel, weil ich ihm halb so viel helfe. So bleibe ich nicht noch mal hängen, hat er gesagt.
Ich räume zerkaute Füllerdeckel, bekritzeltes Papier und vergessene Tintenkiller aus den Pulten und lerne das Wort Widrigkeit: »Unheil, Unglück, Ungemach, Zustand dessen, der sie erleidet«. Ich stecke wirklich in der Patsche. Zudem habe ich die Klos noch nicht geputzt. Als ich den Putzmittelwagen bis zur Herrentoilette schiebe, kommt mir eine lustige Idee beim Gedanken daran, was mich erwartet. Ich sage mir, dass ein Mann, egal welche überheblichen, arroganten, hochgestochenen und transzendenten Wörter er gebraucht, trotzdem nicht ins Loch trifft.
Bald kenne ich genügend Wörter, die Angst machen, um mich an Autoren zu wagen, die Angst machen. Solche, bei denen man nie weiß, ob das c vor dem k kommt oder eben nicht, solche, bei denen man nicht weiß, ob sich der Name mit einem z oder mit einem s schreibt, solche, die Männer waren, aber einen Frauennamen hatten und solche, die Frauennamen hatten und … Frauen waren. Obwohl Colette gegen Ende ihres Lebens doch eher wie ein Mann ausgesehen hat.
Das Fußballspiel hat angefangen, mein Vater ist mit Korridor B fertig, und ich bin bei den Frauen durch. Die treffen auch nicht. Aber ihr Pimmel ist zugegebenermaßen nicht so flexibel wie unserer, deshalb wische ich ihre Pisse immer mit größerer Nachsicht weg.
Wie war doch gleich mein Wort für nächste Woche? Ah ja, Ungemach …
Die Firma meines Vaters hat ein gutes Mittel zur Zerstreuung ihrer Angestellten gefunden. Alle ein oder zwei Monate ändert sich der Einsatzort. So wechselt mein Vater von einer Bibliothek zu einem Gemeindefestsaal und von Büroräumen zu Nachtklubs: Jedes Mal eröffnet sich ihm eine neue Welt. Und mir auch, wenn ich ihn begleite. Er kommt spät heim. Er sagt immer:
– Du machst dir kein Bild, was ich die Nacht nich alles gesehen hab, mein Polo! (Ich heiße Paul.)
Und dann legt er sich ins Bett meiner Schwester im selben Zimmer wie ich, weil meine Schwester im Bett meiner Mutter und also im Elternschlafzimmer schläft. Er beklagt sich nicht darüber, denn meine Mutter ist gelähmt und hässlich. Eigentlich glaube ich, dass es meiner Mutter ganz recht ist, gelähmt zu sein. Sie tut den lieben langen Tag nichts außer fernsehen und Sudoku spielen, mit Lösungsteil hinten. Mein Vater hat den Herd auf ihre Höhe runtergesägt, damit sie uns von Zeit zu Zeit Crêpes backen oder meine Lieblingsravioli aus der Dose aufwärmen kann.
Aber sie macht nichts. Außer zappen. Zeitschriften durchblättern. Psychotests über Sex und Liebe ausfüllen. Und sich über die Cellulitis von einem Star am Strand freuen. Als ich sieben war, hatte sie einen Unfall auf dem Weg zur Arbeit. Von dem Tag an habe ich alleine gebadet. Auch wenn die Badewanne niedrig ist. Eigentlich die richtige Höhe, als hätte der Hersteller daran gedacht, dass eine gelähmte Mutter doch ihren Sohn baden können muss. Ich vergesse zwar immer, mir die Kniekehlen, Ohren und Knöchel einzuseifen, aber ich rieche gut nach Aloe Vera. Zumindest steht das auf der Verpackung. In echt habe ich noch nie Aloe Vera gerochen. Meine Mutter kämmt mich nur und zieht den Scheitel so gerade wie möglich. Seitlich. Sie sagt, das sieht seriöser aus für die Schule.
An jenem Tag hat sie mit meiner Schwester für den Schönheitswettbewerb zur Wahl der Miss Mirabelle geübt. Im Idealfall wäre meine Schwester gerne schwarz gewesen. Pech gehabt, sie ist weiß. Sehr weiß. Weißlich. Man sieht alle ihre Adern. Wenn wir am Tisch sitzen, mache ich immer den gleichen Witz:
– Lass mal bitte die Küchenrolle rüberwachsen, Elfenbeinerin!
Keiner außer mir versteht diesen Witz, aber ein erklärter Witz ist kein Witz mehr, die sollen sich selber durchwursteln. Sie macht sich afrikanische Zöpfe, aber ihre rosa Kopfhaut scheint durch. Sie lässt nicht locker und kräuselt sie, um mehr Volumen zu bekommen, aber das hilft auch nicht, meine Schwester ist eben durch und durch Französin. Ich vermute schwer, dass sie sich einbildet, durchs Vögeln mit sämtlichen Schwarzen der Cité ein bisschen Farbe abzubekommen. Aber alles, was an ihr hängenbleibt, ist ihr Ruf als billige Nutte. Sie lernt auch afrikanischen Tanz im Verein, aber sie hat nicht den richtigen Hintern dafür. Ihrer hängt nach unten anstatt nach oben anzuschwellen. Sie tut es mit viel Herzblut, aber sie hat die Beine der Weißen, die eben aufs Gehen und nicht aufs Zouk-Tanzen programmiert sind.
Sie hatte mich gebeten, ihr einen kleinen Vorstellungstext für die Wahl zu schreiben. Denn die Jury will sichergehen, dass die Mädels nicht nur hübsch, sondern auch intelligent sind.
– Sag doch: »Im Moment mache ich eine Ausbildung zur Kosmetikerin, aber mir schweben noch ganz andere Projekte vor. Als Tochter meiner Region, wo Tradition und Moderne eng verbunden sind, bin ich eine aufgeweckte junge Frau von heute, und wenn ich gewinne, werde ich als Miss engagiert für die Region eintreten.«
– Schon, aber ich bin nicht wirklich Kosmetikerin. Ich klebe falsche Fingernägel auf, mache französische Maniküre …
– Dann sag doch: »Im Moment bin ich im Bereich der Fingernagelprothetik tätig, aber mir schweben noch ganz andere Projekte vor.«
– Oh ja, das ist gut. Pro was noch mal?
– Fingernagelprothetik.
– Ja, super. Das klingt nach Medizin und so …
Sie ist ins Schlafzimmer gegangen und hat mit meiner Mutter geübt, die ihr so groteske Anweisungen gegeben hat wie »lass den Mund immer halb geöffnet, das wirkt geheimnisvoll« oder »sag nie nein, sag ja, aber…« oder »eine kleine Träne vergießen hat noch nie geschadet«. Durch die angelehnte Tür habe ich gehört, wie sie sich mit Wörtern rumgeschlagen haben, deren Sinn ihnen völlig abging.
– Polo, um zu sagen, dass man ein bisschen schüchtern ist, sagt man da »ich bin sittsam« oder »ich bin schamhaft« ?
– Weder das eine noch das andere, da sagt man »ich bin ein Wonnemädchen«.
Ich bin aufgestanden, um ihnen zu erklären, dass Wonnemädchen der passendste Begriff ist, weil er gleichzeitig sittsam und schamhaft, zurückhaltend und lebensfreudig bedeutet, lebenshungrig eben … Sie hat es brav in ihr Miss-Lehrbuch geschrieben. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, es nachzuprüfen. Ich sehnte den Tag herbei, an dem sie mit halbgeöffnetem Mund antworten würde: »Ich bin ein Wonnemädchen, und als Tochter meiner Region bin ich eine aufgeweckte junge Frau von heute.« Mir war klar, dass sie, wenn sie gewinnen sollte, allen Zweitligafußballern einen blasen würde, denn als Tochter ihrer Region hat meine Schwester eine Vorliebe für Leckereien …
Als mein Vater nach Hause gekommen ist, habe ich ihm Fischstäbchen mit Pommes im Backofen gemacht. Meine Schwester hat den Tisch gedeckt und dabei ihren Text geprobt. Er ist zu meiner Mutter rein und hat ihr gewohnheitsmäßig einen Kuss gegeben, bevor er sich aufs Schlafsofa im Wohn-Esszimmer fallen ließ. Der Platz ist bei uns ein Dauerproblem. Er hat seinen Teller verlangt und ist mit der Fernbedienung in der Hand eingeschlafen. Sein Mund stand halboffen, aber aus anderen Gründen. Nicht um geheimnisvoll auszusehen. In ein paar Stunden musste er wieder los, um irgendwo zu putzen.
Meine Schwester und ich sind der Form halber am Tisch sitzen geblieben. Darauf bestehe ich immer. Ich will wenigstens einen Anschein von Familienleben, von geregeltem Beisammensein und ein klein wenig Disziplin aufrechterhalten. Einfach nur am Tisch essen, wie sie’s im Fernsehen und in den Deko-Magazinen tun, wie’s bei meinem Nachbarn Marwan und bei Millers in meinem Englischbuch gemacht wird. Ich versuche auch, Tischgespräche zu führen, wie sie in meinen Büchern vorkommen.
– Wusstest du, dass sich Primo Levi jeden Morgen mit seinem eigenen Urin gewaschen hat, um das Ritual der täglichen Reinigung auch im Lager aufrechtzuerhalten?
– Was?
– Um nicht zu vergessen, dass er ein Mensch ist, auch wenn er wie ein Hund behandelt wurde.
– Deinen Primo kenn ich nicht, aber prima für ihn.
Während sie sich halbtot lacht, hat sie angesichts des näher rückenden Wettbewerbs den Seelachs aus der kalorienreichen Panade rausgefieselt und ohne Salz gegessen.
– Sehr witzig!
– Muss voll eklig sein, sich mit der eigenen Pisse zu waschen.
– Nein, ganz im Gegenteil, es war mehr, um die Gesten der Morgentoilette beizubehalten, kapierst du das?
– Nein, aber das geht mir echt am Arsch vorbei.
– Sich mit seinem Urin waschen, damit er nicht vergisst, dass er ein Mensch ist …
– Verdammt, ist doch voll eklig, Polo, wir essen gerade.
– Ist überhaupt nicht eklig, sondern unglaublich.
– Unglaublich ist eher, dass ich hier bin und mir deinen Blödsinn anhöre …
Sie hat ihren Teller genommen und ist wieder zu meiner Mutter gegangen. Vor den Fernseher. Ins Bett. Voller Krümel. Stimmt, ich hatte das in der Bibliothek gelesen. Stimmt schon, dass ich mich auch gerne ausbreite. So Sachen sage, die sie ganz bestimmt nicht versteht. Mein neues Wissen ausprobiere. So dass sie es nicht checkt und hä? was? wieso? wer ist das? was heißt das? brabbelt. Ich mag es, sie bei Tisch zu belehren. Ihr zu sagen, dass wir uns wehren müssen, auch wenn der Fall unvermeidlich sein wird. Unser Fall. Mit aufgerichtetem Rücken und die Ellenbogen schön … eigentlich sind die Ellenbogen egal, Hauptsache, wir essen gemeinsam, oder fast.
Ich hätte mir gewünscht, dass meine Schwester mich unterstützt, um mich in dieser Familie weniger allein zu fühlen. Um zu retten, was zu retten ist. Den Schein zu wahren. Fürs Familienfoto eben. Jeden Abend stößt es mir doppelt sauer auf: gesättigte Fettsäuren im Teller und Scheißfamilie drumherum. Später werde ich getrennte Wohn- und Esszimmer haben, außerdem ein Sofa und ein separates Bett. Eine reizende Ehefrau in der Küche, die Kinder um den Tisch versammelt, ich werde das Feuer im Kamin anfachen und frisches Gemüse vom Markt als Beilage auf meinem Teller haben.
Entmutigt habe ich den Tisch abgeräumt und gespült. Zusammengewürfeltes Geschirr. Messer ohne Zacken, gefährliche Gabeln, schartige Gläser, zerkratzte Teller. Und fettige Schwämme. Der zweite Film würde gleich anfangen. Der Vorschau nach ist es ein französischer Film, in dem eine Frau nicht sicher ist, ob sie einen Mann liebt, der wiederum eine andere liebt, die in einen Mann verliebt ist, der einen Minderjährigen liebt. Kurz, keiner liebt keinen. Vom Werbejingle ist mein Vater aufgewacht. Kein Wunder, der Ton wird automatisch lauter, wenn die Werbung anfängt. Mein Vater hat den Mund wieder geschlossen und leere Kaubewegungen gemacht, er hat sich aufgerichtet und auf seine Armbanduhr gesehen. Es war Freitag, am nächsten Tag hatte ich keine Schule. Ich konnte ihm also helfen. Da es ihm unangenehm ist, mir sein Leben aufzudrängen, findet er immer ein Mittel, das Ding zu verharmlosen. Dieses Mal hat er gesagt:
– Na, mein Polo, du kommen mit oder nicht heut Abend?
Ein witziger kleiner Grammatikfehler, um das Ganze herunterzuspielen, ein bisschen Humor, um das Desaster des Abends zu kaschieren. Ein Abend, der insofern ist wie sein ganzes Leben. Ich habe meinem Vater zugelächelt, damit er sich entspannt, und wie immer geantwortet:
– Ich kommen mit, ich kommen mit …
Ich liebe meinen Vater, aber es fällt mir schwer, ihn zu bewundern. Wenn ich ihn sehe, ist er oft auf allen Vieren, und in dieser Position fehlt es ihm zwangsläufig ein bisschen an Größe …
Dieses Mal haben wir Büroräume gereinigt. Großraumbüros, die nach einer Abschiedsfeier völlig verwüstet waren. Ein Angestellter hatte etwas Besseres gefunden, was für eine Freude. Der Boden war übersät von Luftschlangen und Champagnergläsern aus Plastik. Ein Spruchband aus Krepppapier lobte den langjährigen Freund Cédric, der uns allen fehlen wird. Aber es hatte nicht gereicht, Cédric hat trotzdem die Biege gemacht. Ich habe die Tröten, Girlanden und Königskronen eingesammelt. Die Figürchen, die in den Dreikönigskuchen versteckt waren, auch. Sie waren aus Kunstharz oder Gips und handbemalt. Meine Mutter sammelt sie seit jeher. Den Rest habe ich in einen großen Müllsack geworfen. Cédrics Büro war leer, bereit, einen anderen Angestellten zu empfangen, der es genauso gut machen sollte. Vielleicht sogar besser. Oder es wieder räumen würde.
In einem Papierkorb habe ich einen Brief mit ein paar Tränenspuren darauf gefunden. Béné hat Cédric aufgeschrieben, was sie alles an ihm schlecht fand. Sie warf sich vor, dass sie ihm geglaubt und gewartet hatte, geglaubt und gewartet und geglaubt … Sie hat ihm Hodenkrebs gewünscht und dass er sich ausbreiten soll. Denn da war sie sich sicher: dass eine ausgleichende Gerechtigkeit eines Tages alles wettmachen würde … Königliche Béné. Ausgleichende königliche Gerechtigkeit. Ich weiß nicht, ob er ihn gelesen hat oder ob sie ihn vorher weggeworfen hatte, aber fest stand, dass Cédric so ein verheiratetes Arschloch war, das Béné die ganzen Jahre über besprungen hatte, ohne seine Versprechen zu halten. Jetzt war er weg, und morgen würde sie den neuen Angestellten bezirzen und wieder auf die Schnauze fallen. Denn Béné ist bescheuert, das kommt von ihrem Namen.
Beim Staubsaugen habe ich sie mir in ihrem Apartment in einer codegesicherten Wohnanlage mit Blick auf den Park vorgestellt. Überall Duftkerzen, farbige Vorhänge, um ihr Alltagsgrau zu übertünchen, eine Katze als Seelentrösterin, Buddhas mit Gebetsketten, Photos, auf denen sie im Sonnenlicht mit ihren Freundinnen Grimassen schneidet, Deko-Bildbände und Sachbücher über misshandelte oder lebendig verbrannte Frauen, eine Flasche Rotwein, ein Gandhi-Gemälde im Warhol-Stil, Nudeln in Pimmelform für ein Späßchen am Samstag, einen an die komplette Programmpalette angeschlossenen Fernseher, denn Béné weiß nie, was sie will.