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Jakob Wassermann

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Beschreibung

In Jakob Wassermanns Werk 'Mein Weg als Deutscher und Jude' reflektiert der Autor über seine Identität als deutsch-jüdischer Schriftsteller im beginnenden 20. Jahrhundert. Durch eine Mischung aus Autobiografie und politischer Analyse diskutiert Wassermann Themen wie Assimilation, Antisemitismus und Nationalismus. Sein literarischer Stil ist geprägt von einer tiefen Introspektion und einer klaren, prägnanten Sprache, die den Leser direkt anspricht. Wassermanns Werk steht im Kontext der zunehmenden Spannungen zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Gemeinschaften in Deutschland zu seiner Zeit. Er setzt sich kritisch mit den Vorurteilen und Konflikten auseinander, denen er als Teil beider Welten gegenüberstand. Wassermanns Buch bietet daher nicht nur persönliche Einblicke in sein eigenes Leben, sondern auch eine wichtige historische Perspektive auf die komplexe jüdische Identität im deutschen Kontext. Leser, die sich für jüdische Literatur, Autobiografien und die deutsche Geschichte interessieren, werden von Wassermanns Werk fasziniert sein und durch seine eindringlichen Erzählungen bereichert werden.

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Jakob Wassermann

Mein Weg als Deutscher und Jude

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0839-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
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Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not und Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischesten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

Es verlangt mich, Anschauung zu geben. Da darf denn nichts mehr gelten, was mir schon einmal als bewiesen gegolten hat. Auf Beweis und Verteidigung verzichte ich somit überhaupt, auf Anklage und jede Art konstruktiver Beredsamkeit. Ich stütze mich auf das Erlebnis.

Unabweisbar trieb es mich, Klarheit zu gewinnen über das Wesen jener Disharmonie, die durch mein ganzes Tun und Sein zieht und mir mit den Jahren immer schmerzlicher fühlbar und bewußt worden ist. Der unreife Mensch ist gewissen Verwirrungen viel weniger ausgesetzt als der reife. Dieser, sofern er an eine Sache hingegeben ist oder an eine Idee, was im Grunde dasselbe besagt, entringt sich nach und nach der Besessenheit, in der das Ich den Zauber des Unbedingten hat, und Welt und Menschheit kraft einer angenehmen und halbfreiwilligen Täuschung dem gebundenen Willen in den Transformationen der Leidenschaften zu dienen scheinen. In dem Maße, in dem die eigene Person aufhört, Wunder und Zweck zu sein, bis sie zuletzt ein kaum gespürtes Zwischenelement wird, gleichsam Schatten eines Körpers, den man nicht kennt, noch erkennen kann, in dem Maße wächst die Schwierigkeit und Gefährlichkeit des Lebens mit und unter den Menschen, sowie der geheimnisvolle Charakter alles dessen, was man Realität und Erfahrung nennt.

Weg- und Merkzeichen bleiben letzten Endes wenige, auch bei der genialsten Rezeption. Es hängt von der Breite des Schicksals ab, wieviel unvergeß- und unverwischbare Spuren es in der Seele hinterläßt.

1

Inhaltsverzeichnis

Ich bin in Fürth geboren und aufgewachsen, einer vorwiegend protestantischen Fabrikstadt des mittleren Franken, in der es eine zahlreiche Gemeinde gewerbs- und handelstreibender Juden gab. Das Verhältnis der Zahl der Juden zur übrigen Bevölkerung war etwa 1:12.

Der Überlieferung nach ist es eine der ältesten Judengemeinden Deutschlands. Schon im neunten Jahrhundert sollen dort jüdische Siedlungen bestanden haben. Vermehrung und Blüte trat wahrscheinlich erst zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein, als die Juden aus dem benachbarten Nürnberg vertrieben wurden. Später wendete sich auch vom Rhein her ein Flüchtlingsstrom der aus Spanien verjagten Juden nach Franken, und unter ihnen vermute ich meine Vorfahren mütterlicherseits, die im Maintal in der Nähe von Würzburg seit Jahrhunderten dorfansässig waren, so wie die von väterlicher Seite in Fürth, Roth am Sand, Schwabach, Bamberg und Zirndorf.

Beziehung zu Boden, Klima und Volk muß also den Generationen, die durch dreißig oder vierzig Jahrzehnte hier hausten, in Fleisch und Bein übergegangen sein, obgleich sie diesen Einflüssen entgegenstrebten und als Fremdkörper vom Volksorganismus ausgeschieden waren. Drückende Beschränkungen, wie das Matrikelgesetz, das Verbot der Freizügigkeit und der freien Berufswahl waren noch bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Kraft. Der Vater meiner Mutter, ein Mann von Bildung und edler Anlage, verblutete an ihnen. Daß finsterer Sektengeist, Ghettotrotz und Ghettoangst dadurch immer frische Nahrung erhielten, versteht sich am Rande.

Als ich geboren wurde, zwei Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, war für die deutschen Juden der bürgerliche Tag längst angebrochen. Im Parlament kämpfte die liberale Partei bereits für die Zulassung der Juden zu den Staatsämtern, eine Anmaßung, die auch bei den aufgeklärtesten Deutschen Entrüstung hervorrief. »Ich liebe die Juden, aber regieren will ich mich von ihnen nicht lassen«, schrieb zum Beispiel ein Mann wie Theodor Fontane damals an einen Freund.

Von Pferch und Helotentum spürte ich also in meiner Jugend nichts mehr. Auf der einen Seite hatte man sich eingelebt, auf der andern sich gewöhnt. Wirtschaftlicher Aufschwung begünstigte die Duldsamkeit. Ich erinnere mich, daß mein Vater bei irgendeiner Gelegenheit mit freudiger Genugtuung sagte: »Wir leben im Zeitalter der Toleranz!« Das Wort Toleranz machte mir in Gedanken viel zu schaffen; es flößte mir Respekt ein, und ich beargwöhnte es, ohne daß ich seine Bedeutung begriff.

In Kleidung, Sprache und Lebensform war die Anpassung durchaus vollzogen. Die Schule, die ich besuchte, war staatlich und öffentlich. Man wohnte unter Christen, verkehrte mit Christen, und für die fortgeschrittenen Juden, zu denen mein Vater sich zählte, gab es eine jüdische Gemeinde nur im Sinn des Kultus und der Tradition; jener wich vor dem verführerischen und mächtigen modernen Wesen mehr und mehr ins Konventikelhafte zurück, in heimliche, abgekehrte, frenetische Gruppen; diese wurde Sage, schließlich nur Wort und leere Hülse.

Mein Vater war kleiner Kaufmann, dem es auf keine Weise wie den meisten seiner Glaubens- und Altersgenossen gelingen wollte, Reichtümer zu erwerben. Er hatte in Geschäften eine unglückliche Hand. Er war ein wenig Phantast und hatte immer seine fixe Idee, die ihn der Biegsamkeit der Geldmacher beraubte. Er träumte von großen Spekulationen und großen Unternehmungen, aber was er angriff, schlug fehl. Seine Geistesrichtung war die sentimental-freiheitliche, laues Nachzüglertum der Märzrevolution, das seine verwässerten Tendenzen ins neue Reich getragen hatte. Ich entsinne mich aus meiner Kindheit eines leidenschaftlichen Disputs zwischen ihm und einem seiner Vettern über Ferdinand Lassalle, von dem er wie vom Gottseibeiuns sprach; aber ich entsinne mich auch, daß er manchmal am Abend rührende Lieder zur Gitarre sang. Das war noch in der guten Zeit, als ihn die Sorgen noch nicht gebrochen hatten. Er liebte Schiller und sprach mit Hochachtung von Gutzkow. Auf einer seiner Reisen hatte er in einem thüringischen Badeort zusammen mit Gutzkow an der Gästetafel gespeist; er erzählte oft mit Stolz davon, und in späteren Jahren, als meine Kämpfe um den Schriftstellerberuf ihn erbitterten, sagte er mir einmal, um vermessene Ambitionen zurückzuweisen, als deren Beute er mich sah: »Was bildest du dir ein? Einen Gutzkow kannst du doch nie erreichen!«

Mitte der achtziger Jahre gründete er eine Fabrik in kleinem Stil, mit geringem Kapital, das er mühselig zusammengeborgt hatte, aber mit großen Hoffnungen. Nach wenigen Jahren machte er Bankrott und wurde dann Versicherungsagent, eine Tätigkeit, die trotz unermüdlicher Anstrengung ihn mit den Seinen kaum über Wasser hielt und ihn außerdem mit dem Gefühl einer gescheiterten Existenz belud. Er hat sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet; als ich, dreißigjährig, den Sechsundfünfzigjährigen für einige Wochen zu Gast bitten konnte, zeigte er eine beständige stumme Verwunderung, und beim Abschied sagte er zu mir: »Es waren die ersten Ferien meines Lebens!« Nach Hause zurückgekehrt, starb er, acht Tage nachher.

Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie war eine Schönheit, von blondem Typus, sehr sanft, sehr schweigsam. Es wurde mir oft erzählt, daß Fremde, die sich in der Stadt aufhielten, durch den Ruf ihrer Schönheit neugierig gemacht, sie zu sehen begehrten. Es wurde mir auch erzählt, daß ihre Jugendliebe ein Christ gewesen sei, ein Maschinenmeister aus Ulm. Es sind noch Briefe von ihr vorhanden, in denen eine kindlich-volkshafte Schwermut atmet, Poesie der Traurigkeit. Ich entsinne mich noch gut, welche Bestürzung ihr unerwarteter Tod hervorrief, und wie die halbe Stadt ihrem Sarg zum Friedhof folgte.

Beide Menschen, mein Vater und meine Mutter, obwohl gegeneinander sehr verschieden geartet, hatten ein Gemeinsames darin, daß sie ihrer Zeit nicht gemäß waren. Sie kamen von der Romantik her, der Vater als geistiger Spätling, die Mutter im Gemüt davon verdunkelt und beschwert. Bei der Mutter äußerte es sich naturhaft und führte eine tragische Lebensstimmung herbei, beim Vater drang es in das Motorische und war von einem grundlosen, alle Sachverhalte verhängnisvoll verschleiernden Optimismus begleitet, der ihm Enttäuschung über Enttäuschung brachte und seinen Mut und seine Kraft zerstörte.

2

Inhaltsverzeichnis

Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonders nahe, da ich herausfühlte, daß sie weniger die Person als die Gemeinschaft trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein giftiger Blick, abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende Verächtlichkeit, das war alltäglich. Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten.

Das zunächst nur als Andeutung. Was die Gemeinschaft anlangt, so fühlte ich mit ihr keinerlei tieferen Zusammenhang. Religion war eine Disziplin und keine erfreuliche. Sie wurde von einem seelenlosen Manne seelenlos gelehrt. Sein böses, eitles, altes Gesicht erscheint mir noch jetzt bisweilen im Traum. Sonderbarerweise habe ich selten von einem humanen oder liebenswürdigen jüdischen Religionslehrer gehört, die meisten sind kalte Eiferer und halb lächerliche Figuren. Dieser, wie alle, bläute Formeln ein, antiquierte hebräische Gebete, die ohne eigentliche Kenntnis der Sprache mechanisch übersetzt wurden, Abseitiges, Unlebendiges, Mumien von Begriffen. Positiven Ertrag gab nur die Lektüre des Alten Testaments, aber auch da fehlte die Erleuchtung, vom Gegenstand wie vom Interpreten her. Vorgang und Gestalt wirkten im Einzelnen, Episodischen, das Ganze zeigte sich starr, oft absurd, ja unmenschlich und war durch keine höhere Anschauung geläutert. Vom Neuen Testament brach bisweilen ein Strahl herüber wie Lichtschein durch eine verschlossene Tür, und Neugier mischte sich mit unbestimmtem Grauen. Jene ewigen Bilder und Mythen befruchteten meine Phantasie erst, als ich in ein privates, sozusagen psychologisches Verhältnis zu ihnen treten konnte, ein Prozeß, der sie individualisierte, im Sinne der Aufklärung geistig machte, oder im Sinne der Romantik stofflich, je nachdem, in jedem Falle von der Religion ablöste.

Um den Gottesdienst war es noch übler bestellt. Er war lediglich Betrieb, Versammlung ohne Weihe, geräuschvolle Übung eingefleischter Gebräuche ohne Symbolik, Drill. Der fortgeschrittene Teil der Gemeinde hatte eine moderne Synagoge gebaut, eines jener Häuser im quasi-byzantinischen Stil, wie man in den meisten deutschen Städten eines findet, und deren parvenühafte Prächtigkeit über die fehlende Gemütsmacht des religiösen Kultus nicht hinwegtäuschen kann. Mir war da alles hohler Lärm, Ertötung der Andacht, Mißbrauch großer Worte, unbegründete Lamentation, unbegründet, weil im Widerspruch mit sichtbarem Wohlleben und herzhafter Weltlichkeit stehend; Überhebung, Pfafferei und Zelotismus. Die einzige Erquickung waren die deutschen Predigten eines sehr stattlichen blonden Rabbiners, den ich verehrte.

Die Konservativen und Altgläubigen hielten ihren Dienst in den sogenannten Schulen ab, kleinen Gotteshäusern, oft nur Stuben in einer entlegenen Winkelgasse. Da sah man noch Köpfe und Gestalten, wie sie Rembrandt gezeichnet hat, fanatische Gesichter, Augen voll Askese und glühend im Gedächtnis unvergessener Verfolgungen. Auf ihren Lippen wurden die strengen Gebete, Anruf und Verfluchung, wirklich, die lastbeladenen Schultern sprachen von generationenalter Demut und Entbehrung, die ehrwürdigen Gebräuche wurden in entschlossener Hingabe buchstabentreu erfüllt, die Erwartung des Messias war ungebrochener, wenn auch dumpfer Glaube. Aufschwung war auch unter ihnen nicht, Trost oder Innigkeit, oder Glanz oder Menschlichkeit, oder Freude, aber Überzeugung und Leidenschaft war unerbittliche Regel und Gemeinschaft.

In eine solche Schule mußte ich nach dem Tode meiner Mutter, als neunjähriger Knabe, jeden Morgen mit Sonnenaufgang, jeden Abend mit Sonnenuntergang, am Sabbat und an Feiertagen auch nachmittags ein Jahr hindurch gehen, um als Erstgeborener vor der Gebetsgemeinde das Kaddisch zu sagen. Zehn männliche Personen über dreizehn Jahren mußten zu dem Zweck versammelt sein, doch waren es meist alte, uralte Leute, die Übriggebliebenen einer früheren Welt. Es war hart, an Wintermorgen bei Schnee und Kälte, im Sommer um fünf Uhr und früher noch, eine Pflicht zu üben, die aufgenötigt und befohlen war, deren Bedeutung ich nicht begriff oder begreifen mochte. Es gab sich niemand die Mühe, sie dem Geist zu verklären und so die Gefahr zu bannen, daß durch die Befolgung eines als grausam empfundenen Brauches das Bild der Mutter, obschon nur vorübergehend, getrübt wurde. Dazu kam, daß im väterlichen Hause, besonders nach der zweiten Verheiratung des Vaters, von einer religiösen Bindung und Erziehung nicht die Rede war. Gewisse äußerliche Vorschriften wurden eingehalten, mehr aus Rücksicht auf Ruf und Verwandte, aus Furcht und Gewöhnung, als aus Trieb und Zugehörigkeit. Fest- und Fasttage galten als heilig. Der Sabbat hatte noch einen Rest seines urtümlichen Gehalts, die Gesetze für die Küche wurden noch geachtet. Aber mit der wachsenden Schwere des Brotkampfes und dem Eindringen der neuen Zeit verloren sich auch diese Gebote einer von der Andersgläubigen unterschiedenen Führung. Man wagte die Fessel nicht ganz abzustreifen; man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren. Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich ihrerseits hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen Tatbestand stützte. Wozu war man also noch Jude, und was war der Sinn davon? Diese Frage wurde immer unabweisbarer für mich, und niemand konnte sie beantworten.

Es war ein trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und bürgerlichen Dingen. Bei jedem Schritt nach vorwärts stieß ich auf Hemmnisse und Verschleierungen, nach keiner Richtung hin war offener Weg. Wenn ich sagte, daß ich von Pferch und Helotentum nichts spürte, so bezieht sich das natürlich nur auf die rechtliche Konstruktion des Lebens, auf das individuelle Sicherheitsgefühl, innerhalb dessen sich das Tun und Lassen des einzelnen Menschen reguliert. Sind diese beiden Faktoren einmal gegeben und zugestanden, so wird von ungleich höherer Wichtigkeit für ihn die Frage, wie er sich zur Allgemeinheit verhält und wie die Allgemeinheit zu ihm. Daraus erwächst ihm die Erkenntnis seiner Lebensaufgabe und, je nach der Entscheidung, die Kraft zu ihrer Erfüllung. An diesem Punkt begann denn auch mein Leiden.

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Inhaltsverzeichnis

Der jüdische Gott war Schemen für mich, sowohl in seiner alttestamentarischen Gestalt, unversöhnlicher Zürner und Züchtiger, als auch in der opportunistisch abgeklärten der modernen Synagoge. Erschreckend sein Bild in den Köpfen der Strenggläubigen, nichtssagend in den Andeutungen der Halbrenegaten und Verlegenheitsbekenner.

Wenn meine kindlich-philosophischen Spekulationen den Gottesbegriff zu fassen versuchten, einsames Denken und später Gespräche mit einem Freund, entstand ein pantheistisches Wesen ohne Gesicht, ohne Charakter, ohne Tiefe, Resultat von Zeitphrasen, beschworen allein durch das Verlangen nach einer tragenden Idee. In dem Maß, wie diese Idee sich als unbefriedigend erwies, sei es durch ihre Mittelmäßigkeit, sei es durch ihre geahnte Verbrauchtheit, geriet ich in einen nicht minder billigen und flüssigen Atheismus, der der Epoche noch gemäßer war, dieser Zeit heilloser Verflachung und Verdünnung, die mit verstandener wie mit mißverstandener Wissenschaft Idolatrie trieb und ihre ganze Gedankensphäre durch Bildung verfälschte.