Mein Weg vom Fegefeuer ins Paradies - Ewald Eggert - E-Book

Mein Weg vom Fegefeuer ins Paradies E-Book

Ewald Eggert

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Beschreibung

Mein Weg vom Fegefeuer ins Paradies erzählt die Geschichte eines Jungen, der 1952 auf einem Pachthof im Münsterland aufgewachsen ist. Ewald Eggert erlebte noch jene Zeiten auf dem Bauernhof, in denen mit Pferden gepflügt und im Winter mit der Dreschmaschine und vielen Helfern gedroschen wurde.

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Für Elis

Inhaltsverzeichnis

1 Die Familie

2 Unser Hof 1959

3 Mein Vater

4 Die Ernte und der Dreschtag

5 Ferien in Wuppertal

6 Die Runkel

7 Meine Kindheit

8 Der Winter und die Hausschlachtung

9 Die Schule, die Kirche, die Prügelstrafe und der Kirchturm

10 Weihnachten und der Nikolaus

11 Das Gipsbett

12 Der Kalte Krieg und „Dein Päckchen nach drüben“

13 Nochmal nach Wuppertal

14 Die „Flurbereinigung“

15 Der altberühmte Enniger Markt

16 „An unklaren Wassern“ und der Kinsey Report

17 Schulentlassung: Beamtenlaufbahn?

18 1966: Das Endspiel England gegen Deutschland

19 Das neue Mofa und wie man nicht tanken sollte

20 Die Ausbildung zum Karosseriebauer

21 Der „Beat Club“ und mit Jesus zum Amtsgericht

22 Profilia, die Sandkuhle und der Arbeitskreis

23 Das alternative Schützenfest

24 Die Vorbereitung der Afrika-Tour

25 Meine erste Afrika-Tour. Oktober 1974 bis April 1976

Von Enniger bis nach Spanisch Sahara

Durch Mauretanien und Senegal

Weiter nach Mali, Obervolta, Togo und Dahome

Von Nigeria nach Kamerun

26 Die „Möpi Rokuru Expedition“

27 Südwestafrika (Namibia) und die Apartheid

28 Südafrika-Tour und der Tafelberg

29 Die „Ostfriesland“

30 Die Postkäfer 1976

31 Das „Buschtaxi“ und die „Acht von der Tankstelle“

32 Der „Projektleiter“ und das große Missverständnis

33 Aus Eiche, Linde, Ibbenbürener Sandstein und der letzte Amerikaner

34 Die Fahrt nach Paris

35 Post vom Deutschen Konsulat

36 Der Unfall

37 Unter dem Birnbaum

38 Zu viert ein halbes Jahr durch Afrika

Der große Sandkasten

Die Sahelzone

Der König von Rey Bouba

Autos verkaufen in Afrika

Mandy und Gloria

39 Olympische Spiele in Moskau

40 Die Esch Rucksackente

41 Die Schuhfabrik

42 Wohnwagen fertigen im Akkord und der L 300

43 Atomsprengköpfe in Ennigerloh

44 „Café in Takt“ oder „Der Kreml“

45 Afrika-Tour mit Hubert

46 Ist Bio für uns eine Chance?

47 Die Hofübernahme

48 Der Biohof und die ersten Kinder

49 Pferderennen

50 Die „Wende“ und andere Schwierigkeiten

51 Der „Belarus Traktor“ und der Deal meines Lebens

52 Eggerts Tiefkühl-Service, Teil 1: Aus der Not geboren

53 39 Kinder

54 Eggerts-Tiefkühl-Service, Teil 2: Bio-Tiefkühl: die wohl letzte Marktlücke in Deutschland

55 Mit dem Tiefkühltaxi nach München, Paris und Stockholm

56 Eggerts Tiefkühl-Service, Teil 3: Ende gut alles gut

57 Rente mit 63

58 Down Under

Australien

Neuseeland

59 Der Hofverkauf

60 Das Paradies

1 Die Familie

Die Hölle war meine Kindheit nicht, der Himmel war sie aber wahrlich auch nicht. Demzufolge muss es das Fegefeuer gewesen sein. Im Fegefeuer bestand noch die Chance, aus diesem wieder rauszukommen, wenn man sich entsprechend verhielt. Wer lieb, artig, fleißig und gehorsam ist, kann den Himmel noch erreichen, hörte ich in meiner Kindheit häufig.

Ich hatte die Biografie von Yoram Fridman „Lauf Junge lauf“ und die Autobiografie von Wladyslaw Szpilman „Der Pianist – mein wunderbares Überleben“ gelesen. Zwei Biografien, die im Warschauer Ghetto spielten oder dort ihren Anfang nahmen. Die Protagonisten waren durch die Hölle gegangen und hatten irgendwie mit Glück überlebt. Wie mein Vater, der in Russland auf dem Weg zum Kaukasus an der Wolga Schreckliches erlebt hatte und zeitlebens schwer darunter litt.

Ich hatte es erst einmal besser, der Krieg war vorbei, die Zeiten hatten sich geändert, als ich 1952 in Enniger bei Münster auf einem Bauernhof geboren wurde. Mein Vater kam aus Münster-Handorf, 30km von Enniger entfernt. Er war 40 Jahre älter als ich, hatte sieben Geschwister und wuchs auf einem ähnlich großen Hof wie dem unseren auf. Landwirtschaftliche Lehre, private Handelsschule, Russlandfeldzug, dann folgte 1947 die Heirat mit meiner Mutter Johanna.

Da Heinrich, der Bruder meiner Mutter und einziger Junge in der Familie, 1945 während der letzten Kriegstage in Russland fiel, bekam sie den Hof, oder besser gesagt das Inventar. Der Hof selber war ein Pachthof und gehörte dem Studienfonds Münster. Meine Mutter hatte neben ihrem Bruder Heinrich noch sechs Schwestern, die auf unseren Hof geboren wurden.

Tante Paula und Tante Tine wohnten und arbeiteten bei uns auf dem Hof. Wie viele Frauen in dieser Zeit waren sie alleine, ohne Chance, einen Mann zu bekommen. Millionen junge Männer waren im Krieg gefallen und so konnten natürlich Millionen junge Frauen keinen jungen Mann kennenlernen, da es schlichtweg nicht genug potentielle Partner für alle gab.

Tante Tine arbeitete im Haushalt bei meiner Mutter. Sie war eine kleine, liebe und fromme Frau, die außer Arbeiten und Beten nicht viel erlebte. Aus Enniger, einer 2.700 Seelen Gemeinde, ist sie so gut wie nie herausgekommen. Einmal in Jahr fuhr sie mit meiner Mutter nach Münster ein Kleid oder Kostüm kaufen, fast immer in Blau. Eine Runde durch den Münster Zoo und zum altberühmten Enniger Markt am zweiten Mittwoch im Juli, das waren auch schon die Höhepunkte ihres Lebens.

Damit, ein Dach über dem Kopf und satt zu essen zu haben, waren viele in den fünfziger Jahren, wie auch Tante Tine, schon zufrieden. Da unser Hof „nur“ fünf Schlafzimmer hatte, aber neun Personen beherbergte, schlief ich die ersten Jahre bei Tante Tine und war auch tagsüber gerne in ihre Nähe. Sie hatte nicht die Sorgen wie meine Mutter und mein Vater, die einen Pachthof mit neun Personen durchbringen mussten. Sie tat ihre Arbeit, die meine Mutter ihr auftrug, und sie betete viel. Von ihr habe ich nie ein böses Wort gehört und ich mochte sie sehr.

Tante Paula war da schon ein anderes Kaliber. Sie arbeitete mit meinem Vater auf dem Hof und kümmerte sich um die Kühe. Von Tante Paula konnten wir Kinder auch schnell mal einen Schlag in den Nacken bekommen, wenn wir bei der Arbeit nicht so spurten, wie sie das wollte. Sie war resolut, weltoffener und hatte es mit der Kirche nicht so. Später heiratete sie den Mann ihrer verstorbenen Schwester Änne und zog nach Oelde. Daraufhin wurden die Kühe schnell abgeschafft, denn Kühe melken wollte Vater nicht.

Meine Mutter hatte noch drei weitere Schwestern, die auf den Hof geboren wurden und uns des Öfteren besuchten. Tante Gertrud, die mit Onkel Jupp, einem Bauunternehmer aus Westtönnen verheiratet war, sowie Tante Maria, die bei Tante Gertrud im Haushalt arbeitete und meine Patentante Tante Hedwig, die mit Onkel Karl in Wuppertal wohnte.

Als ich geboren wurde, waren schon zwei meiner Brüder auf der Welt, Heinrich und Ludger. Zwei weitere sollten noch folgen: Alfons und Hubert. Mit neun Personen saßen wir über viele Jahre am Tisch, Vater und Heinrich an den Tischenden.

Heinrich heißt Heinrich, weil der im Krieg gefallene Bruder meiner Mutter Heinrich hieß. Ich heiße Ewald, weil der im Krieg gefallene Bruder meines Vaters Ewald hieß. Und Hubert heißt Hubert, weil der zweite Bruder meines Vaters, der im Krieg gefallen ist, Hubert hieß. So war das damals eben.

Vater, Mutter, Tante Paula und Tante Tine sprachen untereinander nur Plattdeutsch. Plattdeutsch ist kein Dialekt, sondern eine eigene Sprache. Nur mit uns Kindern sprachen sie Hochdeutsch. Mit den Nachbarn, beim Landhandel, mit den Verwandten oder in der Gaststätte sprachen meine Eltern ebenfalls nur Platt. Ich bin somit zweisprachig aufgewachsen, aber leider mit einer zweiten Sprache, die ich später so gut wie nie gebrauchen konnte.

Ganz vorne die Kinder: Heinrich, Alfons, Ludger und Ewald (1961)

2 Unser Hof 1959

Der Rentmeister stand vor dem großen Torbogen: „Den müssen wir unbedingt erhalten, das ist ein wunderschöner Torbogen.“ Der Architekt und mein Vater stimmten dem zu.

Der Torbogen muss aus einer mächtigen Eiche geschlagen worden sein. Er maß unten 40 cm Breite und war über vier Meter hoch mit einem großen Rundbogen, auf dem stand:

Wer auf Gott vertrauet, der hat wohl gebauet. Hermanus Kalwei genand Polling Elisabeth Malt Eheleute 1750

Unsere Bauernschaft heißt heute Pöling, da muss der Hermannus Kalwei genannt Polling 1750 wohl ein wichtiger Mann gewesen sein, dass eine Bauernschaft nach ihm benannt wurde. Der Rentmeister ging jetzt durch das Tennentor, er war der Chef des Studienfonds Münster, dem unser Hof und noch knapp 30 andere Höfe angehörten. Der Studienfonds wiederum gehörte dem Land Nordrhein-Westfalen.

Meine Eltern hatten den Hof langfristig gepachtet. Er wurde seit vielen Generationen von Mutters Seite aus bewirtschaftet. Ein Besitzer, keiner weiß genau wer, hat schließlich irgendwann an den Studienfonds verkaufen müssen. Der Rentmeister kam einmal im Jahr zur Hofbegehung und brachte dieses Mal, weil ein neuer Kuhstall gebaut werden sollte, einen Architekten vom Staatshochbauamt mit.

Das Haupthaus bestand aus der Tenne mit Pferdeställen sowie zwei Kammern für die Knechte, die aber jetzt leer standen. Hier befand sich auch unser Plumpsklo. Die Tür hatte oben ein Loch in Herzform. Dadurch wusste man, was sich hinter der Tür befand, und die Öffnung diente gleichzeitig natürlich als Lüftung. Im hinteren Teil stand ein Brett, das auf der linken Seite ein großes Loch für die Erwachsenen und rechts ein kleineres Loch für uns Kinder hatte. An der Seite hingen alte Zeitungen als Toilettenpapier.

Es gab außerdem eine große Küche, zwei Kellerräume, eine Diele, eine Stube und die „Gute Stube“, die nur zu bestimmten hohen Anlässen benutzt wurde. Oben im Haus befanden sich fünf Schlafzimmer und eine Badewanne mit einem Heißwasserboiler, der mit Eierkohlen beheizt wurde. Am Haupthaus angebaut war auf der linken Seite ein Schweinestall, der 1933 für 65 Schweine mit einer Waschküche und einer Mehlkammer gebaut worden war. Diese zwei Räume hatten oben in der Zwischenwand ein 40 cm mal 40 cm großes Loch, so dass man für diese zwei Räume nur eine Lampe brauchte, die mitten in dem Loch angebracht war.

Auf der rechten Seite des Haupthauses stand die Remise: ein 25 Meter langer Schuppen für den Trecker, das Auto und die Kartoffelsortiermaschine. Die Bockkarren, die Walze, die Harke und der Heuwender hatten eine spezielle Deichsel, damit man sie mit Pferden oder mit dem kleinen Trecker ziehen konnte. Die Kutsche kam nur noch beim Schützenfest zum Einsatz.

Hinter dem Haupthaus gab es noch eine Scheune, in der im Sommer die Ernte eingelagert wurde, um sie im Winter oder Frühjahr zu dreschen. In der Scheune war ebenfalls noch ein Hühnerstall für 50 Hühner untergebracht und hinter der Scheune stand ein Melkstall aus Holz für sechs Kühe, in dem wir Kinder uns oft aufhielten. Zwischen Scheune und Melkstall hatte Vater einen Bolzplatz mit Tor, im Garten eine Schaukel, eine ziemlich große Wippe sowie ein Karussell gebaut. Das Karussell war eine drei Meter hohe stabile Stange mit einer Achse oben, auf der ein Wagenrad mit Speichen befestigt war. Vier Speichen hatten eine Kette mit einem Holzbrett, auf das wir uns setzen konnten. Das Karussell verfügte über keinen Motor, einer musste daher immer schieben.

„Das neue Badezimmer bauen wir so in den neuen Kuhstall, dass Sie es von der Küche aus begehen können und eine zusätzliche Toilette, die vom Kuhstall aus zu begehen ist“, sagte der Architekt, der schon ziemlich genaue Vorstellungen hatte, wie alles gebaut werden sollte. Ich stand dicht an dem Hosenbein meines Vaters. Er wusste, dass hier unbedingt etwas gemacht werden musste. Ein Plumpsklo hatten 1959 nicht mehr viele, aber er wusste auch, dass er immer ein Drittel der Bausumme mittragen musste. Das stand beim Studienfonds im Pachtvertrag, den ich später ebenfalls unterschreiben sollte.

Hof Eggert Ende 1959 vor der Flurbereinigung

Auf der rechten Seite der Tenne lagen drei Pferdeställe. „Wie viel Pferde haben Sie, Herr Eggert?“ – „Zwei“, entgegnete Vater. Tekla, ein Belgier Kaltblut, stand im Stall, zwei Ställe standen leer. Tante Paula war mit Hans, einem Warmblut Wallach, auf der Wiese zum Harken. „Wir kriegen nächstes Jahr einen neuen Trecker, dann brauchen wir keine Pferde mehr“, meinte mein Vater. „Ja, man muss mit der Zeit gehen, ohne Maschinen geht es heute nicht mehr. Unsere Höfe stellen alle nach und nach auf Traktoren um“, sprach der Rentmeister in Hochdeutsch.

Er betonte seine Sätze gekonnt, er war gut gekleidet und man merkte, dass er hier der Chef war. Die Pferde sollten weg? Auf Hans konnten wir reiten. Sollte der etwa auch weg? Ich hatte einige Fragen, aber auch gelernt, dass Kinder nicht dazwischenreden, wenn sich Erwachsene unterhalten.

Mutter und Tante Tine hatten in der Küche viel zu tun. Es wurde schwer aufgefahren, wenn der Rentmeister kam. Als Vorspeise gab es eine Rinder-Kraftbrühe. Die Hauptspeise bestand aus Kartoffeln aus unserem Garten, Spargel, Schweinebraten mit Soße und Salat. Als Nachtisch gab es Herrencreme, eine Münsterländer Spezialität: ein cremig-sahniger Vanillepudding mit dunkler Schokolade und Rum. So ein Essen gab es sonst nur zu Weihnachten und für uns Kinder sowieso nicht. Spargel ist nichts für Kinder, sagte meine Mutter immer. Ich dachte damals, er sei für Kinder ungesund. Heute weiß ich, dass er für fünf Kinder einfach zu teuer gewesen wäre.

Nach dem Essen gingen sie durch den großen Garten. So ziemlich alle Gemüsesorten wuchsen bei uns: Bohnen, Erbsen, Spinat, Rhabarber, aber auch Himbeeren, Stachelbeeren, Salat, Kirschbäume, Pfirsichbäume, Apfelbäume usw. Was Obst und Gemüse betrifft, waren wir somit ziemlich autark.

Die Besichtigung ging weiter, wir standen jetzt im Brotbackraum mit einem großen doppelstöckigen Brotbackofen, der jeden zweiten Tag zum Einsatz kam. Tante Paula backte leckere große Brote, aus denen auch die Knabbeln gemacht wurden.

Der Rentmeister und der Architekt waren auch gekommen, um zu modernisieren und um den Hof wettbewerbsfähig zu halten. So fiel auch hier die Entscheidung: Der Brotbackofen muss raus, eine Melkkammer mit Melkanlage für den neuen Kuhstall kommt rein. Wie gut hätte ich 30 Jahre später diesen super Brotbackofen für unseren Hofladen gebrauchen können. Aber ich war noch zu klein, kapierte das meiste nicht und den Hof bekam ohnehin der älteste Sohn.

Wir gingen weiter in die Waschküche. Hier fand alle vier Wochen der große Waschtag statt. Eine hölzerne Waschmaschine, aber schon mit Elektromotor, stand in der Ecke, daneben der Schweinepott, in dem die Kartoffeln für die Schweine gekocht wurden. Hier musste auch etwas getan werden. Wir gingen aber sofort weiter, weil der Architekt nur für die baulichen Maßnahmen zuständig war. Zwölf Kühe statt sechs sollten in dem neuen Kuhstall Platz haben.

Der Architekt hatte die Pläne für den neuen Kuhstall dabei und steckte die Maße auf der Freifläche ab. Mein Vater brachte seinen Schwager, meinen Onkel Jupp, ins Spiel. Hochbau Josef Hering aus Westtönnen bei Soest war ein sehr großer Bauunternehmer mit 150 Mitarbeitern und seine Frau Gertrud war die Schwester meiner Mutter. Er baute eigentlich nur große Mehrfamilienhäuser, Kirchen, die in den fünfziger Jahren sehr viel gebaut wurden, oder Schulen und hatte unter anderem die kanadische Kaserne in Soest gebaut.

Dann war die Begehung des Hofes schließlich beendet. Sie tranken noch einen Kaffee und fuhren anschließend wieder nach Münster. Im nächsten Jahr wurde der Kuhstall mit Badezimmer von Onkel Jupp gebaut. Das neue Badezimmer hatte eine Badewanne, eine Dusche, ein WC, einen Gas-Wassererhitzer, ein Waschbecken und eine Klopapierrolle mit Klopapier. Das Klopapier war einlagig und grau, aber der Hintern wurde nicht mehr der Druckerschwärze ausgesetzt. Was für ein Luxus!

Zum Hof gehörten noch 140 morgen Pachtland, das in viele kleinen Ackerflächen, Wiesen und Weiden aufgeteilt war, und außerdem eine Kuhle, die als Feuerlöschteich diente.

An der Straße direkt vor unserm Hof stand ein Transformator-Häuschen, das uns mit Strom versorgen sollte, was aber nicht immer klappte. Abends im Winter, wenn es früh dunkel wurde und alle im Stall relativ viel Strom benötigten, gingen oftmals die Lampen aus. Erst begannen sie zu flackern und dann gingen sie schließlich ganz aus. Eine große und zwei kleinere Petroleumlampen standen immer bereit, sodass wir nichtsdestotrotz weiterarbeiten konnten. Das schöne Transformator-Häuschen wurde 1960 abgerissen und durch ein verzinktes Stahlgerippe mit einem Transformator, der oben sichtbar eingebaut war, ersetzt.

Der neue Trafo war wirklich hässlich, hatte aber richtig viel Power und wir konnten unsere Petroleumlampen einmotten. Es ging vorwärts im Münsterland.

Schützenköng 1952: Alfons, der I. Eggert und Maria, die IV. Herbort

3 Mein Vater

Als Ludger in die Schule kam, musste ich Vater „helfen“. Der Älteste, der noch nicht in der Schule war, half immer morgens bei Vater mit. Einen Kindergarten gab es für uns noch nicht und Mutter hatte auf die beiden kleinen, Alfons und Hubert, aufzupassen. „Hol mal die Zange“, „Halt mal das Brett fest“, „Hol mal die Nägel, aber nicht die kleinen, die großen, die dahinterstehen.“ Ich brachte ihm die mittlere Größe, da musste er doch noch selbst los und sie holen. Es gab immer etwas zu reparieren. Ich war gerne bei meinem Vater zum „Helfen“. Hier wurde die Grundlage für mein handwerkliches Geschick gelegt, welches für viele meiner späteren Projekte wichtig war.

Ich fragte ihn „ein Loch in den Bauch“ und bekam vernünftige Antworten, die ich meistens verstand. „Was ist Export?“

„Wenn wir Autos nach Holland verkaufen. Und wenn die Holländer uns dafür Tomaten bringen, das ist dann exportieren.“

„Aber wir haben doch die Tomaten bei uns im Garten.“

„Ja ja, aber fürs Ruhrgebiet.“ „Ruhrgebiet?“

„Das sind zehn große Städte, die dicht zusammen liegen und Zechen haben, da kommt die Kohle weg.“

Ich löcherte weiter: „Was heißt D-Zug?“ – „Durchgangszug“, war die knappe Antwort. „Aha.“ Mit der Antwort hätte ich bei Günter Jauch 16.000 Euro gewonnen.

Wir hatten mal wieder den Selbstbinder zu reparieren, der mittlerweile ständig kaputt ging. „Warum kriegen wir keinen neuen Selbstbinder?“ – „Ein Selbstbinder ist teuer und demnächst kommen die Mähdrescher.“ – „Mäh…drescher. Was ist ein Mähdrescher?“, fragte ich weiter. „Da wird das Korn sofort auf dem Feld gedroschen“, war seine Antwort. Ich konnte mir ihn noch nicht so richtig vorstellen und hatte auch noch nie einen Mähdrescher gesehen, aber er sollte schon bald kommen und die Arbeit auf dem Bauernhof grundlegend verändern.

*

Ein paar Jahre später ging ich dann zur Schule und mein kleiner Bruder Alfons wurde mein Nachfolger als Vaters „Helfer“. Der Krieg war zwar seit einiger Zeit beendet, aber mein Vater litt immer noch sehr unter dem Erlebten. Er hatte einen Großteil seiner Jugend in Russland und beim Militär verbracht. Da ich viel mit meinem Vater zusammen war und er diese Erinnerungen verarbeiten musste, kam das Thema Russland öfter zur Sprache. Im Trecker-Schuppen hingen die Stiefel, mit denen er durch die Wolga geschwommen war. So erfuhr ich, dass er damals für sechs Pferde verantwortlich gewesen war, die eine Kanone zogen. Dass er mit nassen Säcken, die er in einem nahen gelegenen Bach tränkte, das Kanonenrohre kühlen musste. Dass er bei der Heeresgruppe Süd eingeteilt war und dass sie zu den Ölfeldern im Kaukasus wollten. Dass sie, um Panzersperren zu bauen, dicke Bäume in einem Meter Höhe absägten und den oberen Stamm dazwischen fallen ließen. Mich interessierten Panzer. „Panzer und moderne Fahrzeuge hatten hauptsächlich die Waffen-SS“, erklärte mein Vater.

Die Filme, die heute gezeigt werden, geben ein falsches Bild wieder, denn man sieht so gut wie nie Pferde. Im Kino sieht man Panzer, Lastkraftwagen, Jeeps und Motorräder mit Beiwagen. Das ist für die Leinwand wohl interessanter. Die Söhne von den Bauernhöfen kamen zu den Pferden, 750.000 Pferde kamen im Zweiten Weltkrieg allein in Russland zum Einsatz. Das waren weitaus mehr als motorisierte Fahrzeuge.

Ich erfuhr auch, dass mein Vater durch Granatsplitter schwer verletzt worden war. Die Wunde am Hinterkopf hatte er durch Kratzen und Verunreinigungen nicht heilen lassen, um das nächste Gefecht nicht mitmachen zu müssen und möglichst lange im Lazarett zubleiben. Ich konnte die lange Narbe am Nacken und am Hinterkopf gut sehen. Auf meine Frage, warum er das alles mitgemacht hat, antwortete er kurz und knapp: „Deserteure wurden erschossen.“

„Ein Russe stand einmal hinter einer Hecke und beobachtete uns und wir haben so getan, als ob wir ihn nicht sehen.“ – „Warum hat der nicht geschossen?“, fragte ich. – „Die wollten uns nur beobachten und uns auskundschaften. Wenn ein Schuss gefallen wäre, dann wären bei uns die Sirene losgegangen und eine ganze Kompanie hätte bei denen aufgeräumt.“

Aus diesen vielen Puzzleteilen konnte ich mir langsam ein Bild machen. Es war natürlich ein unvollständiges Bild, alle schrecklichen Erlebnisse hatte er mir ja nicht erzählt. Es hörte sich für mich mehr nach einer Abenteuerreise an. Bald sollte ich mehr erfahren.

Es war Sonntagmittag. Ich saß in der Küche, meine Mutter war am Herd, Ludger stand bei ihr, als Vater etwas später als sonst von der Sonntagsmesse und dem Frühschoppen nach Hause kam. Er hatte etwas mehr getrunken als sonst. Ich glaube, der Stammtisch hatte an diesen Tag bereits über Russland gesprochen. Er konnte sein Geheimnis heute nicht länger für sich behalten. „Die Russen hatten uns angegriffen, drei Tage und Nächte wurden wir beschossen. Die schossen mit Granatwerfern, Artillerie, Panzern und der Stalinorgel ohne Unterbrechung aus allen Rohren. Fünf Meter neben mir flog eine Granate in den Boden, die Splitter flogen uns um die Ohren, einer bei mir in den Kopf. Russische Flugzeuge luden ihre Bomben ab und warfen sie auf unsere Stellungen. Wir hatten Schutzgräben ausgehoben, die uns gegen die Splitter schützen sollten, was sie nicht mehr taten. Stundenlang rasten Granaten mit Geheul aus der Stalinorgel auf uns nieder. Nur wenige haben überlebt. Ganze Kompanien, Bataillone und Regimenter wurden ausgelöscht.“ Er sprach von tausenden toten Soldaten, die er mit dem Rest der Truppe zusammentragen musste. 300 Meter lang, sechs Mann hoch. Zum besseren Verständnis sagte er: „von hier bis Wiesbrock (unser 300 Meter entfernter Nachbar) sechs Mann hoch haben wir die Toten gestapelt, sechs Mann hoch“, wiederholte er.

Mutter schob Ludger durch die Tür in die Diele und sagte zu meinem Vater: „Das kannst du doch den Kindern nicht erzählen.“ Vater wurde jetzt leiser und mit Tränen in den Augen sprach er von den russischen Scharfschützen in den Baumkronen, von Partisanen, von vermintem Gelände, den Sümpfen mit Mückenschwärmen, dass sie Pferdefleisch aßen, von der Kälte, den Läusen und der Gelbsucht.

Mein Vater sprach davon, dass sie am Ende des Krieges unter Hunger litten, dass der Nachschub nicht mehr funktionierte und dass sie sich oft selbst versorgen mussten, zu den Höfen gingen und mit geladenem Gewehr und unter Androhung des Erschießens die Schweine von den russischen Bauern aus dem Stall holten.

Ich war geschockt. Alle im Raum Anwesenden waren geschockt. Mein Bild vom Krieg hatte sich schlagartig geändert. Eigentlich war ich zu jung für diese Geschichte, ich war damals 12 oder 13 Jahre alt. Aber es war die Wahrheit. Ich kann ihn heute verstehen, er schleppte alles mit sich allein herum. Keiner half ihn dabei, mit den schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden.

Heute wird schon bei einem Autounfall psychologische Hilfe angeboten und das ist auch richtig so. Aber warum wurden diese Männer so allein gelassen? Keiner kümmerte sich um sie. Es gab eine Kriegsgräberfürsorge, jedes kleine Dorf bekam ein Kriegerdenkmal für die Helden, die fürs Vaterland den Heldentod gestorben waren. Aber wer half diesen Männern, mit dem, was sie erlebt hatten, fertig zu werden? So gut wie keiner half, sie mussten sich selbst therapieren. Wenigstens der Wirt hörte ihnen zu.

Mein Vater war kein Freiwilliger, er hätte viel lieber sechs Jahre früher einen Bauernhof mit fünf Kindern gehabt, statt 3.000 Kilometer von der Heimat entfernt Menschen zu erschießen, die ihm nichts getan hatten. Er wurde gezwungen, nach Russland zu gehen. Wer sich weigerte, wurde erschossen oder zu mindestens sehr, sehr hart bestraft.

Ich forschte später nach, sah Filmdokumentationen, las Bücher und Autobiografien, die sich ungefähr an den Orten ereigneten, wo im Krieg mein Vater war. Ich stieß auf Biografien von Soldaten, die ebenfalls hunderte und tausende Tote zusammentragen mussten, die die Stalinorgel erlebt hatten und die von Granatsplittern getroffen worden waren, die Minen, Hunger und Kälte kannten. Als ich diese Biografien las wurde mir klar, dass mein Vater uns an jenem Sonntagmittag auch wieder schonte und nicht alle schrecklichen Details erzählte, die er erlebt hatte. Die Biografen wollten wahrheitsgemäß alles schreiben und kein wichtiges Detail auslassen. Schonungslos schrieben einige von ihnen alles auf. So erfuhr ich, was die Soldaten und mein Vater wirklich mitgemacht hatten. Die wenigsten toten Soldaten traf ein sauberer Schuss. Die meisten wurden von Granatsplittern oder Bombensplittern getroffen. Diese rissen tiefe Wunden, sie zerfetzten die Körper geradezu. Fleischbällchen, Gehirnmasse, Körperteile flogen durch die Luft. Gedärme quollen aus ihren Bäuchen. Dazu die markerschütternden Schreie der Verwundeten. Und dann mussten die Überlebenden auch noch diese zerfetzten Kameraden stapeln, sechs Mann hoch.

In drei Etappen erfuhr ich, was mein Vater in Russland wirklich alles erlebt hatte.

Mit 16 Jahren schloss ich mich der aufkommenden Friedensbewegung an und tat mein Möglichstes, damit so etwas nie wieder passieren würde. Ich ließ keine Friedensdemonstration aus, um denen, die gerade an der Macht waren, zu zeigen: Wir machen keinen Krieg mehr mit.

4 Die Ernte und der Dreschtag

In den Fünfzigern wurde das Getreide mit einem Selbstbinder geschnitten. Er übernahm das Mähen des Getreides sowie das Bündeln und Binden der Getreidehalme zu Garben. Die gebundenen Garben legte der Mähbinder auf dem Feld ab.

Vater fuhr den Trecker, eins von uns Kindern saß hinten auf dem Selbstbinder und musste bei Bedarf einen Hebel ziehen und ansonsten aufpassen, dass alles glatt lief, was allerdings nur selten der Fall war. Oft knotete der Knoter nicht, sodass die Garben lose auf dem Feld lagen. Oder das Stroh kam zu dick und alles verstopfte. Da unser Trecker keine Zapfwelle hatte, musste die ganze Maschine über die Räder vom Selbstbinder angetrieben werden. Wenn es feucht war – und es war oft feucht, wir hatten ja noch keine Drainage auf den Feldern – dann rutschten die Räder durch und die Maschine konnte nicht arbeiten.

An den Sommertagen beim Getreideschneiden waren alle auf dem Feld: Vater, Mutter, Tante Paula und wir Kinder. Tante Tine kam nachmittags mit zwei großen Kannen Kaffee und Streusel-, Apfel- oder Pflaumenkuchen. Der Kaffee war natürlich sogenannter Muckefuck (Getreide-Ersatzkaffee), Lindes oder Karo. Echten Bohnenkaffee gab es nur, wenn Besuch kam.

Im Idealfall legte der Binder die gebundenen Garben ab, dann wurden sie zum Trocknen in Hocken zusammengestellt. Nach drei Tagen ohne Regen konnte man die Garben dann einfahren. Tekla, unser Pferd (ein Belgier), zog den Leiterwagen. Hinterm Leiterwagen war ein Kinderwagen angebunden, in dem mein kleiner Bruder lag. Wo sollte er auch sonst hin? Wir waren ja alle auf dem Feld.

Mit einer langen Forke schmiss mein Vater die Garben hoch zu uns. Wir schnappten sie und stapelten sie im Verbund immer höher, bis der Wagen voll war. Zum Schluss kam ein Tau längs über das Stroh, damit wir es heil nach Hause bekamen. – Dies war noch vor der Flurbereinigung. Die Feldwege waren damals sehr schlecht und ich erinnere mich, dass mindestens zweimal ein Fuder umgekippt ist. – Zuhause angekommen, mussten die Wagen in der Scheune wieder abgeladen werden. Dort blieben die Garben, bis man Korn brauchte und ein Dreschtag angesetzt wurde.

Wenn die Garben vom Feld geholt waren, war aber noch längst nicht Schluss. Das Feld wurde mit einer Harke, die vom Pferd gezogen wurde, noch einmal gründlich abgeharkt, um auch noch die letzten Ähren zu bekommen. Wenn das letzte Feld abgeharkt war und das letzte Fuder mit Blumen und Fahnen geschmückt nach Hause fuhr, wurde mit den Nachbarn und viel Schnaps „Harkemei“ gefeiert.

Harkemei 1955 auf Hof Eggert (Vater oben ganz links, Tante Tina ganz rechts)

Im Winter wurde dann das Getreide gedroschen. Der Lohnunternehmer fuhr seinen Dreschkasten vor unsere Scheune. Rohre wurden bis zur Kornkammer verlegt. Der Dreschkasten, gebaut von „Buschhof“ in Ahlen, wurde mit Flachriemen von einem Trecker angetrieben. Der Lohnunternehmer hatte wie viele zu dieser Zeit eine Gehbehinderung aus dem Krieg. Er kaute gerne Kautabak und war unter Rommel in Ägypten im Krieg gewesen und wie die meisten ziemlich stolz darauf. Als er den Dreschkasten aufgebaut hatte, war er mit der Arbeit fertig. Beim Dreschen selber half er nicht und kontrollierte nur ab und zu die Maschine und hatte auch mal Zeit für uns Kinder. Er erzählte uns, was er in Ägypten alles erlebt hatte. „In Afrika war es so heiß, wir haben Spiegeleier auf unseren Panzer gebraten!“

Boa, das muss da ja heiß gewesen sein! Ich war begeistert von seinen Erzählungen, ich liebte die Wärme und den Sommer. Vielleicht ist hier der Grundstein für meine Zuneigung zu Afrika gelegt worden. Heute weiß ich, dass die Geschichte mit dem Spiegelei nicht stimmen kann, aber damals war ich schwer beeindruckt.

*

Vater und Tante Paula mit zwei Frauen aus Schlesien waren beim Dreschen dabei und zwei Männer aus der Nachbarschaft halfen uns ebenfalls. Zum Dreschen brauchten wir sechs Leute, zwei schmissen die Garben oben in die Dreschmaschine, einer bediente den Höhenförderer, der das Stroh zum Balken beförderte und zwei wurden gebraucht, um das Stroh zu packen. Vater kümmerte sich auf der Kornkammer um die Körner, die mit Luft durch die Rohre geblasen wurden. Das war neu. Bisher mussten die Körner in 100-kg-Säcken von der Dreschmaschine zum Kornboden hochgetragen werden. Ich hatte später mit 50-kg-Säcken zu tun. Die waren schon schwer, sehr schwer. Mit den 100-kg-Säcken den ganzen Tag die Treppen hoch, das war wahrlich Schwerstarbeit, die Bauern oder Knechte leisten mussten. Die neuen Maschinen wie dieses Körner-Gebläse erleichterten die Arbeit auf dem Bauernhof erheblich.

Mein Bruder Alfons und ich mussten ab und zu mit der Schnapspulle rund gehen und den Helfern einen einkippen. Das war beim Dreschen üblich. Zwei Wacholder für jeden, manche hielten das Glas aber auch dreimal hin. Die machten wir dann auch alle voll, wir waren ja schließlich nicht knickerig. Im Keller haben wir uns dann selbst einen genehmigt. Schmeckte zwar scheußlich, aber man musste ja alles mal probieren.

Zum Schluss kamen immer mehr Ratten zum Vorschein. Die Ratten fanden in der Scheune ideale Bedingungen vor: Die Körner waren ja noch in den Garben, sie hatten also immer zu fressen. Das Stroh war gut, um Nester zu bauen, sie hatten es dort warm. Jetzt, wo das Fach mit den Garben beim Dreschen immer niedriger wurde, gingen die Ratten natürlich mit nach unten. Die Männer banden sich die Hosenbeine zu. Sie wussten, dass die Ratten in ihrer Not dort gerne rein krochen und sich festbissen.

Das brauchten wir damals nicht zu machen, wir hatten vom Frühjahr bis zum Herbst kurze Hosen an, meistens eine speckige Lederhose mit Hosenträger. Oder kurze Stoffhosen, die Mutter und Tante Paula genäht hatten. Lange Hosen gingen bei uns schnell kaputt, meistens an den Knien und man benötigte für diese zudem mehr Stoff.

Ich hatte auch einen Knüppel in der Hand. Ich glaube, mein Vater wollte, dass wir alles mitbekommen und dass wir nicht verweichlichen. Er hätte uns ja kurz wegschicken können, um etwas zu holen. Aber nein, wir standen zwischen den Erwachsenen und schlugen bei Bedarf auch zu. Nur noch ein Arbeiter bediente die Maschine, wir anderen gingen mit Knüppeln auf die Ratten los. Manche konnten entkommen, doch über 30 Ratten wurden erschlagen. Es war schon eine grausame Aktion, die aber zum Leben auf dem Bauernhof in den fünfziger Jahren dazu gehörte. Es gab damals noch kein wirklich wirksames Rattengift. Wie hätte man sonst mit dieser Plage fertigwerden sollen?

Die Weibchen sind bereits nach sechs Wochen geschlechtsreif, haben eine Tragedauer von 21 Tagen und bekommen dann zwischen 10 und 15 Junge. Nach der Geburt sind sie spätestens nach vier Tagen erneut paarungsbereit und bekommen nach drei Wochen den nächsten Wurf. Der Bauer musste also zwingend aktiv werden, wollte er seine Ernte durch den Winter bringen. Ab 1960 konnten wir dann endlich Rattengift im Landhandel kaufen, worüber ich sehr froh war.

5 Ferien in Wuppertal

In den ersten Ferien, die ich hatte, fuhr ich für vier Wochen zu meiner Patentante, Tante Hedwig, und zu Onkel Karl nach Wuppertal. Onkel Karl war viel älter als Tante Hedwig und brachte seinen Sohn Karl-Heinz aus erster Ehe mit. Er war Beamter bei der Deutschen Bundesbahn und für die Sicherheit zuständig.

Die Fleischwarenfabrik Herbort in Enniger, die auch unsere Schweine bekam, belieferte Lebensmittelläden in ganz Nordrhein-Westfalen und auch in Wuppertal. Als mein Vater 1952 Schützenkönig in Enniger wurde, nahm er die Frau des Fleischwaren-Fabrikanten zur Schützenkönigin und der Chef war auch mit auf dem Thron. So konnte er das jetzt gut regeln, dass ich auf der Tour nach Wuppertal mitgenommen wurde.

So weit war ich alleine noch nie gefahren. Ich bekam ein Paket Butterbrote, eine Bierflasche mit Bügelverschluss, in dem Apfelsaft war, von Äpfeln, die ich selber gepflückt und mit Mutter nach Hasselmann in Vorhelm zum Pressen gebracht hatte. Und zwei Apfelsinen. (Orangen hießen damals Apfelsinen) Die gab es selten, die musste meine Mutter ja kaufen.

Der LKW war ein moderner Hanomag, der den Motor nicht mehr wie bisher üblich in einer langen Haube vor der Kabine hatte, sondern im Fahrerhaus unter einer Abdeckhaube, auf der ich mit einem Kissen drauf saß. Zu dritt fuhren wir auf die Autobahn, die aus Betonplatten bestand und alle paar Meter eine Dehnungsfuge hatte, die man deutlich spürte, aber das Kopfsteinpflaster am gerade fertiggestellten Kamener Kreuz war noch schlimmer. Ab Hagen fuhren wir über Landstraßen nach Wuppertal und luden zwischendurch die Würste ab, oft eine große Dose mit leckerer Knackwurst, wie wir Kinder sie Heiligabend vor der Bescherung bekamen.

Wuppertal selber lag 1958 noch an keiner Autobahn. In der Stadt nahm der Verkehr so zu, dass mitten in der Stadt die normalen Vorfahrtsregeln nicht mehr reichten. Ein Polizist, ganz in weiß mit schwarzen Handschuhen regelte den Verkehr. Er stand in einer schwarz-weiß gestreiften Tonne, die auf einem Podest stand und drehte sich mit ausgebreiteten Armen immer zu denen, die halten mussten. Dann ging ein Arm hoch, für den Wechsel, er machte eine 90 Grad Drehung und breitete die Arme wieder aus, jetzt musste die andere Straße in beiden Richtungen warten. Einer huschte noch durch und wir mussten hart bremsen. „Du blöder Wichser!“, schimpfte der Fahrer. Mein Wortschatz wurde wieder um ein Wort erweitert. Wichser kannte ich noch nicht, konnte aber in Verbindung mit „blöder“ eigentlich nichts Gutes sein.

„Den Verkehr regeln, das möchte ich auch nicht den ganzen Tag machen!“ sagte der Beifahrer. Der Fahrer meinte, „der wird bald arbeitslos, demnächst kommen die Ampeln, bei den vielen Autos ist das anders gar nicht mehr zu regeln. Hab mir jetzt auch ein Auto gekauft, eine BMW Isetta, wir fahren nächsten Sommer nach Italien, nach Rimini!“ „Isetta ist doch kein Auto, vorne einsteigen wo gibt es denn so was und mit der kleinen Nussschale willst du über die Alpen?“, fragte der Beifahrer „Bis doch nur neidisch! Friedrich Ebertstraße 247, wir sind da“, beendete der Fahrer das Gespräch.

*

Ein großes Schild „Lederhandlung Karl Tölle“ hing über seinem Laden. Onkel Karl kam aus dem Laden, ich kannte ihn, er hatte uns einmal besucht, er war klein und rauchte eine Zigarre. „Da ist ja unser Ewald! Wollt ihr einen Kaffee trinken?“, sprach Onkel Karl die beiden an. „Nein danke, wir stehen hier ganz schlecht, die Autos hupen schon, wir müssen weiter, bis in vier Wochen“, sagte der Fahrer, winkte und fuhr los.

Ich stand vor dem Haus, guckte nach links, verschiedene helle Häuser ohne Lücken, rechts Haus an Haus soweit ich schauen konnte, auch ohne eine Lücke, in der unteren Etage alles Ladenlokale. Ich schaute nach oben: fünf Fenster übereinander. Wahnsinn: so was hatte ich noch nicht gesehen. Ich drehte mich um. Auf der gegenüberliegenden Seite eine Halle aus rotem Backstein noch höher als das fünfstöckige Haus auf dieser Seite. Links konnte ich ganz hinten das Ende der Fabrikhalle sehen, rechts kam nach 300 Metern eine Kurve, aber das Gebäude ging immer noch weiter. An einer Stelle war das Backsteingebäude mehr als doppelt so hoch und da stand das riesige Bayer-Kreuz oben drauf.

Enniger hatte auch Fabriken, die größte war die Fleischwaren Fabrik Herbort, aber das Bayer-Werk war riesig. Dazwischen die Straße mit Autoschlangen in beide Richtungen, dazu die Straßenbahn und der Oberleitungsbus, Feuerwehr- und Polizeiautos mit Blaulicht und tatütata, tatütata. Die Autos hupten, bremsten und fuhren wieder an. Die Straßenbahn ratterte und klingelte ziemlich laut, als sie an der Haltestelle hielt, die vor der Lederhandlung war. Alles musste über die B7, die Friedrich Ebertstraße, fahren.

Diese Großstadt die 1958 415.000 Einwohner hatte, aber noch keine Autobahn. So viel Verkehr hatte ich noch nicht gesehen.

Wuppertal war aber eine ganz andere Welt. Zu Hause im Pöling fuhren vier bis fünf Autos, zwei oder drei Trecker am Tag und ab und zu ein Pferdewagen, auch mal ein Motorrad oder ein Tempo-Dreirad an unserem Hof vorbei. Vater und Mutter wollten, dass ich mal was anderes kennenlernte, es war aber ganz, ganz was anderes, der Unterschied war gewaltig. Der Verkehr war so laut, man konnte kaum ein Wort verstehen.

Tante Hedwig stand in der Tür. „Eine gute Fahrt gehabt?“ „Ja, aber ganz schön laut da draußen!“ „Da wirst du dich schnell dran gewöhnen. Hast bestimmt Hunger, gleich gibt es was zu essen, Karl Heinz kommt auch gleich.“ Dann gab es Abendbrot, Karl Heinz hatte mich freundlich begrüßt und saß mit am Tisch. Es wurde nicht gebetet.

„Wat wolls auf dein Bütterken?“ Oh je, Hochdeutsch war das nicht, was Karl Heiz gerade sagte, richtig Plattdeutsch aber auch nicht, irgendein Mischmasch, aber ich habe ihn verstanden. „Mit Käse!“ Ich war müde, Tante Hedwig hatte mir ein Bett auf dem Chaiselongue gemacht, so eins hatten wir zu Hause auch, darauf machte Vater seine Mittagspausen.

Tante Hedwig weckte mich zum Frühstück. „Wir frühstücken zusammen und dann muss ich gleich zum Zoo arbeiten und ich bring dir eine Monatskarte mit, dann kannst du morgen auch zum Zoo fahren. Gehe jetzt runter zu Onkel Karl, der ist schon im Laden.“ Tante Hedwig war Kassiererin im Wuppertaler Zoo, machte die Arbeit schon seit einigen Jahren.

Onkel Karl hatte gerade einen Kunden, der zwei Absätze für schwarze Herrenschuhe haben wollte. Die Absätze kamen in eine Tüte und kosteten 90 Pfennig. Beim Rein- und Rausgehen klingelte es, weil eine kleine Glocke durch die Tür bewegt wurde.

„So, da zeig ich dir mal unser Lager.“ Vier große Stapel lagen da, einen Meter hoch mit Rinds- und Kalbsleder, Schweinsleder, Lamm-, Ziegen- und Hirschleder und die kleineren Lederstücke lagen in den Regalen. Alle Stärken von 0,4 mm bis 5,5 mm. Im Verkaufsraum standen viele Maschinen zum Leder schneiden, nähen, kleben, pressen und zum Löcher stanzen. „Gleich, wenn, die im Bayer-Werk Mittagspause machen, dann kommt Walter Schmitz, mein bester Kunde“. Walter Schmitz reparierte Schuhe für die Mitarbeiter von Bayer und kaufte bei Onkel Karl das Material ein.

Dann kam Walter Schmitz. Onkel Karl stellte uns gegenseitig vor. „Da haste jetzt ja Hilfe“, sagte Walter Schmitz und hatte eine Liste: 12 Absätze für Stöckelschuhe, die ganz kleinen, zwei Tuben Kleber, ein Stück Rindsleder zwei Millimeter dick. Die lange Liste wurde abgearbeitet. „Hat deine Frau die Strümpfe fertig? Habe wieder 20 Nylons zum Reparieren mitgebracht und schreib alles auf die Rechnung “, war von Walter Schmitz zuhören. „Die fertigen Nylons liegen vorne an der Tür – sind 14 Stück“, sagte Onkel Karl.

Nylonstrümpfe waren Ende der Fünfziger der absolute Renner, aber auch ziemlich teuer und gingen relativ schnell kaputt, sie bekamen eine Laufmasche. Durch einen Riss im Faden geht eine Masche kaputt, die da drunter liegende Masche hat dann auch keinen Halt mehr. Und so geht das Spielchen weiter bis nach unten. Für 10 Pfennige je Laufmasche nahm Tante Hedwig mit Hilfe einer kleinen Maschine, in der eine elektrische Häkelnadel war, die Maschen wieder auf und befestigt sie, sodass die Laufmasche, bis auf die Verankerung oben, nicht mehr sichtbar war. Abends nach Feierabend und wenn sie frei hatte reparierte sie die Nylonstrümpfe und verdiente sich so noch ein Paar Mark dazu. Durch Walter Schmitz vom Bayer-Werk hatte sie immer gut zu tun. Bayer hatte über 1.000 Frauen beschäftigt, die fast alle Nylonstrümpfe oder Strumpfhosen trugen.

*

Ich erkundete jetzt die Gegend. Neben der Lederhandlung war ein Blumenladen, ein Porzellangeschäft, eine Metzgerei, ein Tabakwarenladen, ein Fahrradgeschäft und ein Kolonialwarenladen.

Hinter dem Haus ging der Berg steil hoch bis zum fünften Stock, vom Fenster bis zum Felsen waren es unten nur einen Meter, oben etwas mehr. Oben war der Berg bedeckt mit Himbeer-, Brombeer- und Blaubeersträuchern. Licht kam nur von vorne in der Wohnung rein. Es war ein enges Tal, neben der Wupper ging nach ein paar Metern der Berg sofort hoch. Um Häuser zu bauen, musste man den vorderen Teil vom Berg abtragen. Ich ging zum zweiten Stock und zum dritten Stock, dazwischen war eine Toilette für beide Wohnungen. Im vierten und fünften Stock das gleiche, eine Toilette für zwei Wohnungen.

„Ich habe die Monatskarte für den Zoo, Onkel Karl zeigt dir morgen den Weg, danach kannst alleine zum Zoo kommen“, sagte Tante Hedwig. Am nächsten Tag, ein Samstag, der Lederladen war nachmittags zu, gingen wir am Bayer-Werk entlang. Am Ende der langen Halle war die Schwebebahn Haltestelle „Westende“.

Der Bahnhof lag hoch über der Wupper. Wir gingen die Treppe hinauf, Onkel Karl kaufte zwei Karten und dann kam sie auch schon, die Schwebebahn. Sie sah so ähnlich aus wie der Triebwagen, mit dem wir nach Münster fahren konnten und den wir „Pängelanton“ nannten, nur dieser „Pängelanton“ hatte die Räder oben unter der Decke. Sie war für diese schmale und lange Stadt ideal. Bis auf wenige Stadtteile, wo sie in zehn Meter Höhe über die Straßen fährt, schlängelte sie sich über der Wupper. 80.000 Fahrgäste fuhren jeden Tag mit der Schwebebahn auf der 13 Kilometer langen Strecke.

Die Wuppertaler Schwebebahn war 1901 gebaut worden und war die erste motorisierte Hängebahn der Welt und der Zeit weit voraus. An diesen Nachmittag war die Schwebebahn ziemlich voll. Die Türen gingen automatisch auf, wir gingen rein, kamen aber nicht weiter, weil wenig Platz war. Die Tür ging wieder automatisch zu, aber mein zweites Bein war noch draußen. Ich spürte an meinem Bein die Türen, es tat aber nicht besonders weh, weil sie sofort wieder auseinandergingen. Ich wusste im Moment gar nicht was eigentlich los war. Die Tür ging schon wieder zu und wieder auseinander und wieder zu und auseinander. „Bitte die Tür frei machen“, kam es aus einem Lautsprecher, „bitte die Tür frei machen.“ Ein Mann machte etwas Platz damit ich ganz rein konnte. Die Tür ging jetzt richtig zu und die Schwebebahn konnte endlich fahren.

Was war denn das gerade? Eine automatische Schiebetür hatte ich noch nie gesehen, unser Pängelanton hatte Türen zum Klappen, die man natürlich mit der Hand zumachen musste. Eine Schiebetür kannte ich, die hatten wir an der Scheune zum Hühnerstall, aber eine Tür, die automatisch wie von Geisterhand auf und zu ging und dann auch noch merkte, dass ein Fuß dazwischen war und sofort wieder auseinander ging und ein Lautsprecher, der uns sagte, was wir dann zu tun hatten, das war neu wie so ziemlich alles hier in Wuppertal. Ich lernte jeden Tag was Neues.

„Morgen wird’s nicht so voll sein, wenn du alleine fährst, und denk dran, nur eine Station“, ermahnte mich Onkel Karl. Wir stiegen aus und gingen die Tiergarten-Treppe hoch. Ich zählte 172 Stufen, einmal rechts, einmal links und wir standen vor dem Zoo.

Vier Kassenhäuschen, drei waren besetzt. Tante Hedwig saß am ersten Schalter und freute sich als wir kamen. „Haste dir den Weg gemerkt“ fragte sie. „Ja, ich glaub wohl“. „Wir gehen zusammen zurück, dann musst du nochmal gut aufpassen“. Onkel Karl kaufte eine Eintrittskarte und wir gingen dann durch den Zoo. Der war größer als der in Münster und es war sehr hügelig, wir waren ja im „Bergischen Land“ wie das Gebiet um Wuppertal heißt. Elefanten, Nashörner, Tiger, Löwen, Affen, alles was ein Zoo so hat, aber dann noch sehr große, weitläufige Gehege mit Zebras und Büffeln. Der Wuppertaler Zoo hatte viel Platz und war sehr grün mit Blumen, Sträuchern, Hecken und Bäumen.

Am Sonntag ging Tante Hedwig mit mir in die Kirche. Onkel Karl und Karl-Heinz blieben zu Hause. In Enniger war sonntags die Kirche brechend voll bei drei Messen. Beim Hochamt, der letzten der drei Messen, standen noch viele um das Taufbecken, weil die Bänke voll besetzt waren. Tante Hedwig hatte kein Gebetbuch und machte auch kein Kreuzzeichen. Es waren nur ein paar, meist ältere Leute in der Kirche. In Wuppertal war aber auch alles anders als in Enniger!

*

Wuppertal wurde 1943 in der Bombennacht vom 29. auf den 30. Mai von 719 Flugzeugen angegriffen und mit Spreng- und Brandbomben zerstört. Am Nachmittag fuhr Onkel Karl mit mir zu der letzten Straße, die noch nicht wieder aufgebaut war. Ich kannte Fotos von den im Krieg zerstörten Häusern, Straßen und Städten. Aber hier in Wuppertal konnte ich selbst 1958 noch einige Häuser sehen, die noch in Schutt und Asche lagen. Es war kein Zufall, dass wir hier waren, Onkel Karl wollte mir die letzten Zeugnisse des Krieges zeigen, bevor auch diese verschwunden waren. Erst 1947/48 begann die organisierte Enttrümmerung von Straßen und Grundstücken in Wuppertal. Die kostenlose Enttrümmerung von Grundstücken und Beseitigung von Ruinen durch die Stadt wurde erst Ende 1960 abgeschlossen. 6,3 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt wurden beseitigt, 8.500 Ruinen abgetragen, von denen ich die letzten zehn hier noch sehen konnte.

Onkel Karl fuhr dann mit mir zum Stadtteil Eskesberg zu einem großen Platz, wo dieser Schutt der Häuser über Jahre hin abgeladen worden war. Die guten Steine waren aussortiert, aber es war immer noch genügend Material, um Hütten zu bauen. Die offizielle Müllkippe von Wuppertal lag auch direkt daneben. Dieses Bild, wo Männer, Frauen und Kinder zwischen den Hütten auf den großen flachen Schutthaufen standen, gingen und spielten werde ich nicht mehr vergessen. Es waren Bilder, wie ich sie später in Afrika auf den Müllkippen der Slums in den Großstädten sehen konnte, aber im Münsterland hatte ich so etwas noch nicht gesehen.

Am nächsten Sonntag fuhr Onkel Karl mit mir zum Stadion, es war 1958 das letzte Steherrennen in Wuppertal. Das wollte er mir zeigen, und wir kamen, er als Rentner und ich als Kind, zum halben Preis ins Stadion. Das Fußballstadion lag direkt neben dem Zoo und hatte eine breite Bahn für Fahrradrennen, Motorradrennen und Steherrennen. Die um das Rasenfeld des Stadions herum angelegte 500 Meter lange und ziemlich breite Radrennbahn besaß zwei sehr hohe Steilkurven. Beim Steherrennen nutzte der Radrennfahrer den Windschatten eines knapp vorausfahrenden Motorrades. Um den Windschatten zu vergrößern, stand der Motorradfahrer während der Fahrt und erzielte dadurch ein deutlich höheres Tempo. Daher der Name Steherrennen. Die Fahrradfahrer rasten mit einem Motorrad-Schrittmacher ca. 100 Stundenkilometer schnell über die Bahn und brauchten, weil es Steilkurven waren, in den Kurven nicht zu bremsen.

Danach fuhren wir mit Tante Hedwig noch nach Barmen zum Hautbahnhof. Die gesamte Innenstadt war eine riesige Baustelle. Der Bahnhof selber war fast fertig, bei allen anderen Bauten wurde gerade begonnen oder sie waren halb fertig. Straßen, Brücken Treppen, Tunnel ‒ alles befand sich im Bau und verursachte das Verkehrschaos in Wuppertal.

Die Ferienzeit war jetzt vorüber, am nächsten Tag ging es wieder nach Hause. Beim Abendessen gab es Hähnchenschenkel. „Die Böllekes waan aber lecker“! Mir schmeckten sie auch. „Kanns even et Licht anknippen?“ Ich hatte mich gerade an das Kauderwelsch von Karl-Heinz gewöhnt, da ging es wieder nach Hause.

Zu Vater und Mutter, zu Tante Paula und Tante Tine, zu den vier Brüdern, den Pferden, den Kühen, den Schweinen und den Hühnern. Obwohl es mir sehr gut in Wuppertal gefallen hatte und ich hier so viel Neues erlebte, freute mich doch auf mein Zuhause.

6 Die Runkel

Feucht war sie, an der kleinen Wurzel hielt sich ein Wassertropfen, der aber schon so dick war, dass er gleich auf den lehmigen Boden fiel. Hellgelb schien sie in der schwachen Herbstsonne, die es nicht mehr schaffte, die nasse Runkel zu trocknen, die nach oben hin grau bis bräunlich wurde. Neben ihr lag eine rote Runkel, etwas dicker, gedrungener, auch etwas kürzer und unten klebte noch etwas feuchter Lehmboden. Unten hatte sie ein kräftiges Rot, der obere Teil, der im Sommer der Sonne ausgesetzt war, war deutlich blasser. Als Krone hatte sie diese langen, grünen Blätter, die während der Vegetationsphase zum Himmel zeigten, aber jetzt, wo wir sie gezogen hatten, schlaff und schon etwas welk am Boden lagen, um dann von uns mit einem Spaten abgetrennt zu werden. Sie lagen friedlich da und ich hätte sie auch nicht gehasst, wenn es nur diese zwei gewesen wären.

Es waren aber zigtausende Runkel, die jedes Jahr mit der Hand gezogen werden mussten und die meinen Rücken kaputt gemacht hatten. Vater, Tante Paula und vier Kinder, Hubert war noch zu klein, wir sechs hatten dann so etwa drei Tage für jeden Arbeitsgang zu tun. Es hatte geregnet, aber die Runkel mussten eingefahren werden, sie durften keinen Frost abbekommen und sie sollten noch in den Herbstferien geerntet werden.

Das Feld war dieses Jahr acht Morgen groß, maß 100 Meter mal 200 Meter. Es standen drei Runkel auf einen Meter. Das waren bei 200 Metern 600 Runkel in einer Reihe. Bei einen Reihenabstand von 50 cm waren es bei einem 100 Meter breiten Feld 200 Reihen. 600 Runkel in der Reihe mal 200 Reihen macht 120.000 Runkel. Durch 6 Personen geteilt sind es für jeden ca. 20.000 Runkel. Jede Runkel vereinzeln, jede Runkel hacken, jede Runkel aus dem Boden ziehen, bei jeder Runkel Blätter abstechen, jede Runkel aufladen. Und das alles mit der Hand!

Aber erst mal schön der Reihe nach.

Im April wurden die Runkel mit einer Maschine in Reihen gesät. Der Reihenabstand betrug 50 cm, in der Reihe wurden erst mal viel zu viele Samen gesät. Nach etwa drei Wochen keimten die Runkelsamen und mit ihnen die ersten Unkräuter. Als die Runkelkeimlinge eine bestimmte Größe hatten, mussten wir zum ersten Mal auf den Acker. Alle ca. 33 cm sollte von den vielen jetzt schon größeren Keimlingen der Kräftigste stehen bleiben. Unsere Hacke war 16 cm breit, also zweimal hacken und man hatte automatisch ca. 33 cm Abstand in der Reihe. Natürlich mussten alle Unkräuter zwischen den zwei kräftigsten, aber noch kleinen Runkel, entfernt werden. Wenn es regnete, keimten natürlich wieder neue Unkräuter und zwei Wochen später mussten wir wieder los zum Unkraut hacken. Die Unkräuter standen auch mal ganz dicht an der Kulturpflanze und es passierte, dass auch mal diese mit der Hacke erwischt wurde. Dann war der Runkelabstand in der Reihe an dieser Stelle 66 cm statt 33 cm. Auf 66 cm keine Runkel, das sah nicht gut aus. Es war besser, wenn man keine Reihe direkt neben Vater oder Tante Paula hatte. Alfons und ich waren noch nicht so schnell wie die anderen, da kam man uns am Ende entgegen, so dass wir die nächsten sechs Reihen wieder zusammen starten konnten. Diese Aktion konnte je nach Witterung nochmal wiederholt werden. Irgendwann war die Runkel so kräftig, dass sich die Reihen schlossen und die Unkräuter ihr nichts mehr anhaben konnten. Nach dem letzten Hacken bekamen wir zur Belohnung eine Jahreskarte für das Freibad.

Im Sommer brauchten wir nicht zum Runkelfeld, die Runkel wuchsen ohne unsere Hilfe. Das Getreide musste jetzt geerntet werden.

Im Herbst ging es mit den Runkel weiter, sie mussten gezogen werden. Das war die schwerste Arbeit. Die Ernte war im Oktober, manchmal im November, oft war es nass und kalt. Dieses ständige Bücken verursachte Rückenschmerzen. Eine dicke Runkel wog zwei Kilogramm, die kleineren wogen 1,5 Kilogramm. Manche saßen fest im Boden. Mit Handschuhen fassten wir die Blätter und zogen die Runkel von zwei Reihen aus dem Boden und legten sie geordnet in einer Reihe ab. Wir wurden unten immer nass, weil sich das Wasser von Tau und Regen in den Blättern sammelte. Nachdem alle Runkel gezogen waren, mussten die Blätter abgestochen werden, mit einem speziellen scharfen Spaten. Die Runkel konnten jetzt auf eine Bockkarre aufgeladen werden. Wenn sie voll war, fuhr mein Vater mit unserem Pferd Tekla zum Hof. Wir luden die Runkel mit einer Forke, die drei Zinken hatte, jetzt auf die Bockkarre, die von unserem Trecker gezogen wurde. Ein „Güldner“, 28 PS, Baujahr 1946, 4 Ganggetriebe. Ohne Zapfwelle, ohne Hydraulik, ohne Anlasser. Der Motor musste noch mit einer Kurbel angeworfen werden, im Winter wurde der Motorblock mit einer Lötlampe vorgeheizt, sonst bekam man den Motor nicht ans Laufen.

Damit Alfons den Trecker fahren konnte, er war für das Runkelladen noch zu klein, wurden auf die Kupplung, auf die Bremse und auf das Gaspedal kleine Klötzchen geschraubt. Er saß ganz vorne auf dem Sitz und kam dann so knapp an diese drei Pedale. Runkelladen konnte man auch nur zu viert, weil man bei der kleinen Bockkarre sich sonst nur im Weg gestanden hätte. Wenn Vater mit dem Pferd wieder kam, hatten wir die Bockkarre voll und er fuhr dann mit dem Trecker zum Hof, um die Runkel abzuladen. Alfons nahm dann die Zügel vom Pferd und fuhr passend vor. So konnte Vater fast ohne Unterbrechung hin- und herfahren. Danach mussten die Runkelblätter noch für die Kühe auf die Weide gefahren werden. Wenn die Runkel in einer 1,2 Meter hohen Miete mit Stroh und Erde abgedeckt waren, waren wir erst mal fertig. Im Winter wurden die Runkel dann mit einer Maschine gereinigt, geschnitten und an die Kühe und an die Pferde verfüttert. Irgendwann setzte sich im Münsterland Mais gegenüber der Runkel durch. Der Mais konnte maschinell geerntet werden.

Oft wurden wir Kinder vom Bauernhof beneidet. Wir hatten viel Platz, waren in der Natur mit vielen Tieren und hatten sogar einen kleinen Wald vor unserer Tür. Aber jede Medaille hat zwei Seiten und auf der zweiten Seite waren die Runkel.

Keines von uns Kindern hatte irgendetwas dagegen, dass die Runkel aus der Mode kam. Mais war super und schonte den Rücken!

7 Meine Kindheit

Morgens gab es Knabbel (getrocknetes gebrochenes Weißbrot) und abends Pfannkuchen, im Herbst mit den Pflaumen, die wir Kinder gepflückt hatten. Knabbel aß man aus „Kümmchen“, (ähnlich einer Müslischale), in der die Brotstücke im „Muckefuck“, Kaffeeersatz, eingeweicht wurden, darüber kam eine Schicht Zucker. Wir konnten aber auch Brot nehmen mit Marmelade oder Rübenkraut. Wir Kinder machten einen Wettbewerb: wer als Erster mit dem Essen fertig war, wurde Kaiser, der Zweite König und der Dritte Schweinemajor. Schweinemajor wollte keiner werden, das schnelle Essen habe ich bis heute noch nicht abgelegt. Es war aber auch so, dass man im Sommer bei der Ernte oft wenig Zeit hatte und das Mittagessen in 15 Minuten erledigt sein musste, besonders wenn das Wetter schlechter wurde und man die Ernte schnell noch trocken einfahren wollte.

1958, eine Woche vor dem Schulanfang, konnte ich noch nicht Fahrradfahren. Das 28-Zoll-Damenrad, ein verrostetes Vorkriegsmodell von Tante Paula, war für mich viel zu groß. Unser Dorfschmied zog den Sattel aus der Stange und schweißte ihn vor der Stange mit einem Winkel wieder an. So konnte ich einigermaßen sitzen, aber der Lenker war viel zu hoch. Herbert, unser älterer Nachbarsjunge, übte zwei Nachmittage mit mir und dann konnte ich Fahrrad fahren.

Wir hatten unseren Freiraum, konnten Fußball spielen oder im Wald und am Bach herumtollen und mit den Brüdern und Nachbarskindern unsere Freizeit verbringen. Aber wir mussten auch arbeiten, jeden Abend im Stall sowieso, und ansonsten was gerade zu den Jahreszeiten gemacht werden musste. Wann immer wir Zeit hatten, spielten wir Fußball: einer war Uwe Seeler, einer Pele, der Torwart war Lew Jaschin. Wir spielten meistens zu Hause, Vater hatte uns ein Tor gebaut und Tante Tine hatte einen Ball gekauft. Um im Sportverein spielen zu dürfen, mussten wir damals zehn Jahre alt sein. Aus dem Dorf spielten manchmal ein Junge und seine Schwester bei uns mit. Seine Schwester konnte besser spielen als er, aber Mädchen durften 1960 noch nicht im Verein Fußball spielen.

Wie verknöchert die Fünfziger Jahre waren, insbesondere der DFB, zeigt das 1955 erlassene Verbot des Frauenfußballs. Die Vereine im DFB durften somit keine Frauenabteilungen gründen und auch keine Sportplätze zur Verfügung stellen. Im Beschluss vom 30. Juli 1955, der einstimmig gefasst wurde, hieß es: „Im Kampf um den Ball schwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Sittlichkeit und Anstand“. Erst am 31. Oktober 1970 wurde das Verbot aufgehoben.

*

Eine Gasleitung wurde gebaut. Beim Nachbarn auf dem Feld lagen hunderte Rohre, die einen so großen Durchmesser hatten, dass wir hindurchkriechen konnten. Das war für uns der optimale Spielplatz. Mit einer Erbsenpistole spielten wir in den Rohren Verstecken und Fangen. Es dauerte Monate, bis die Metertiefe Rinne gezogen war und die Rohre so nach und nach mit Spezialmaschinen in der Erde verschwanden.

Ich sparte fleißig für ein neues Fahrrad, zweigte was vom Taschengeld ab und beim Kartoffeln suchen konnte man beim Nachbarn sieben Mark pro Nachmittag verdienen. Bei der Jagd auf Hasen und Fasane gab es als Treiber fünf Mark am Nachmittag. Wir hielten Kaninchen, die wir für zwei oder drei Mark kauften, sie fütterten und wenn sie das passende Gewicht hatten, wurden sie von meinem Vater geschlachtet und ausgenommen. Mein Bruder Alfons und ich fuhren mit dem Fahrrad nach Ahlen und verkauf