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»Als kleines Mädchen wurde ich Zeugin davon, wie die Welt, die ich liebte, durch sinnlosen Hass zerstört wurde und verschwand – und mit ihr meine beste Freundin Anne.«
Hannah Pick-Goslar war einst die beste Freundin von Anne Frank. Sie überlebte den Holocaust und erzählt in diesem Buch ihre Geschichte: Die Geschichte einer Kindheit in Amsterdam und der jugendlichen Unschuld unzertrennlicher Freundinnen. Aber auch eine Geschichte von Flucht, Schmerz und letzten Augenblicken. Doch Hannah Pick-Goslars Memoiren schildern nicht nur das unvorstellbare Leid, das ihr widerfahren ist, sondern zeichnen auch das bewegende Leben einer starken Frau nach, die sich nach ihrer Befreiung in Israel ein neues Leben aufbaute. Ihr Buch ist ein einzigartiges Zeitzeugnis, ein intimes Porträt ihrer Freundschaft mit Anne Frank und zugleich ein beeindruckender Beweis für die anhaltende Kraft von Liebe, Hoffnung und die Macht der Erinnerung.
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Seitenzahl: 464
»Als kleines Mädchen wurde ich Zeugin davon, wie die Welt, die ich liebte, durch sinnlosen Hass zerstört wurde und verschwand – und mit ihr meine beste Freundin Anne.«
Hannah Pick-Goslar war einst die beste Freundin von Anne Frank. Sie überlebte den Holocaust und erzählt in diesem Buch ihre Geschichte: Die Geschichte einer Kindheit in Amsterdam und der jugendlichen Unschuld unzertrennlicher Freundinnen. Aber auch eine Geschichte von Flucht, Schmerz und letzten Augenblicken. Doch Hannah Pick-Goslars Memoiren schildern nicht nur das unvorstellbare Leid, das ihr widerfahren ist, sondern zeichnen auch das bewegende Leben einer starken Frau nach, die sich nach ihrer Befreiung in Israel ein neues Leben aufbaute. Ihr Buch ist ein einzigartiges Zeitzeugnis, ein intimes Porträt ihrer Freundschaft mit Anne Frank und zugleich ein beeindruckender Beweis für die anhaltende Kraft von Liebe, Hoffnung und die Macht der Erinnerung.
Hannah Elisabeth Goslar wurde am 12. November 1928 in Berlin geboren. 1933 floh ihre Familie aus Deutschland und emigrierte nach Amsterdam. Dort lernte Hannah Anne Frank kennen, die bis zur Trennung der beiden ihre Nachbarin, Schulkameradin und beste Freundin war. 1943 wurden die Goslars in das Durchgangslager Westerbork gebracht. 1944 kamen sie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Hier trafen Hannah und Anne kurz vor Anne Franks Tod ein letztes Mal aufeinander. Hannah und ihre Schwester Gabrielle waren die einzigen Überlebenden der Familie Goslar und gehörten zu den jüngsten Überlebenden von Bergen-Belsen. Hannah Goslar emigrierte 1947 ins britische Mandatsgebiet Palästina, wurde Krankenschwester und gründete eine Familie. Sie wohnte zuletzt in Jerusalem und engagierte sich als Holocaustüberlebende für die Aufklärung jüngerer Generationen und für die Aufrechterhaltung von Anne Franks Vermächtnis. Hannah Pick-Goslar verstarb kurz vor Fertigstellung ihres Buches Ende Oktober 2022 im Alter von 93 Jahren.
www.penguin-verlag.de
Hannah Pick-Goslar und Dina Kraft
Meine Freundin Anne Frank
Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »My Friend Anne Frank« bei Rider (Ebury Publishing, Penguin Random House UK).
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Anmerkung des Verlags:
Die Zitate aus der persönlichen Korrespondenz zwischen Otto Frank und Hannah Pick-Goslar wurden mit der freundlichen Genehmigung von Ruth Goslar in der deutschen Fassung von »My Friend Anne Frank« abgedruckt.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch meistens die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet.
Copyright © Hannah Pick-Goslar 2023
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagfoto Vorderseite: Anne Frank Fonds, Basel
Umschlagfoto Rückseite: Anne Frank Fonds, Basel / Getty Images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-30445-4V001
www.penguin-verlag.de
Inhalt
Prolog
1. Berlin
2. Amsterdam
3. Neue Freunde
4. Neuankömmlinge
5. Besatzung
6. Nachbeben
7. Die Schlinge
8. Deportation
9. Westerbork
10. In der Schwebe
11. Bergen-Belsen
12. Anne
13. Der »Verlorene Zug«
14. Befreiung
15. Beterschap
16. Schweiz
17. Geister
18. Das Gelobte Land
Nachwort
Dank der Co-Autorin
Dank von Hannah Pick-Goslars Familie
Elegie für Hannahs und Annes Mitschülerinnen und Mitschüler
Auswahlbibliografie
Bildnachweis
Über die Autorinnen
Prolog
Frühling, Jerusalem 2022
Gott sei Dank kann ich noch immer den Weg vor meiner Tür sehen, der von lila Bougainvilleen, Palmen und Tontöpfen mit pinkem und weißem Springkraut gesäumt ist. Es beruhigt mich zu wissen, wer auf dem Weg zu meiner Tür ist und wer nur vorbeigeht. Von diesem Stuhl, auf dem ich inzwischen die meiste Zeit verbringe, im Wohnzimmer meiner Gartenwohnung, blicke ich durch ein großes Fenster hinaus und kann sehen, wie meine Verwandten und Freunde den Weg herunterkommen.
Am meisten freue ich mich, wenn ich jeden Nachmittag um Punkt 16:15 Uhr Tali kommen sehe. Meine jüngste Enkelin ist inzwischen selbst junge Mutter. Nie hat sie weiter als fünf Gehminuten entfernt von mir gewohnt. Selbst nach ihrer Hochzeit bestand sie darauf, in der Nachbarschaft zu bleiben. Sie will in meiner Nähe sein, sagt sie. Brauchst du doch nicht, erwidere ich, ohne selbst überzeugt zu sein. Zum Glück weiß Tali es besser.
Wir haben eine Art gemeinsame Sprache, die ohne Worte auskommt. Schwer zu sagen, warum, aber ich merke, dass sie mich versteht und ich sie. Sie war noch ein Kleinkind, als an einem regnerischen Nachmittag ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Ich sprang als eine Art Ersatzmutter ein, um meine Tochter Ruthie, ihre Mutter, zu entlasten, die dieser furchtbare Tag zur Witwe und alleinerziehenden Mutter von acht Kindern machte.
»Warte!«, ruft Tali ihrer ältesten Tochter Neta zu, deren Haare die Farbe von dunklem Honig haben, genau wie Talis. Sie ist ein hübsches, quirliges Mädchen von bald vier Jahren. Vorneweg hopst sie den Weg herunter, Tali trottet mit dem Kinderwagen hinterher. Darin sitzt ihre Jüngste, Shaked, die mitten während der Coronapandemie geboren wurde. Selbst im Lockdown schaute Tali jeden Tag vorbei, und wir unterhielten uns mit Abstand – ich vom Balkon, sie unten im Garten, einen Arm um Neta gelegt, Shaked in einem Tragetuch.
Die Türglocke läutet Sturm. Neta kommt hereingesegelt, in der ganzen Pracht ihres Vorschulalters offenbart sie sich mir und der Welt. »Savta!«, ruft sie, das ist hebräisch für Großmutter. Egal, was an diesem Tag los ist, ob es wieder schlechte Nachrichten aus aller Welt gibt oder sonst irgendwelche Not und Schmerzen, mir wird es warm ums Herz, wenn ich sie sehe, und ich lächle. Sie zeigt mir ein Bild, das sie gemalt hat, lauter Herzen und Luftballons, und dazwischen einzelne Mickey-Mouse-Aufkleber. Sie reißt die Augen auf, als ich ihr sage, dass Mickey Mouse und ich gleich alt sind, geboren vor dreiundneunzig Jahren, 1928. Und dann hockt sie sich zu meinen Füßen, und während sie ihr Legespiel ausbreitet, reisen meine Gedanken um beinahe neunzig Jahre zurück in die Vergangenheit.
Als ich ein Kleinkind war wie Neta, war ich gerade mit meinen Eltern nach Amsterdam gekommen, auf der Flucht aus Berlin, wo Hitler die Macht übernommen und meinen Vater von seinem Posten als Ministerialrat bei der preußischen Regierung während der Weimarer Republik entlassen hatte. Wir zogen in eine Vierzimmerwohnung in einer Wohngegend mit grünen Bäumen und sauberen Plätzen.
Eines Tages, nicht lange nach unserer Ankunft, ging ich an der Hand meiner Mutter einkaufen. Im Laden fiel meiner Mutter eine andere Frau auf, die auf Deutsch mit ihrer dunkeläugigen Tochter sprach; sie war ungefähr so alt wie ich. Die beiden Mütter kamen kurz ins Gespräch, lächelten sich an, sichtlich erleichtert, in der Fremde auf etwas Vertrautes zu treffen. Ich war ein schüchternes Kind und klammerte mich ans Bein meiner Mutter; ich war es nicht gewohnt, mit anderen Kindern umzugehen, aber doch neugierig auf dieses kleine Mädchen, das mir direkt in die Augen sah.
Sie sollte meine allererste Freundin werden. Spielkameradin, Nachbarin und Mitschülerin. Unsere Familien freundeten sich an in ihrem schwierigen Leben als Flüchtlinge in einer neuen Stadt, und sie teilten ihre Sorgen, als Krieg und Besatzung und alles, was das für uns bedeuten sollte, unerbittlich näher rückten. Dieses so lebendige kleine Mädchen sollte das berühmteste aller Holocaustopfer werden. Ein vielschichtiges Symbol für all die Hoffnung und die großen Erwartungen, die in Hass und Mord untergingen. Ihre Geschichte, unsere Geschichte zu erzählen, sollte später zu einem Band werden, das mich fest an sie knüpfte und unsere Freundschaft am Leben hielt, als sie schon längst nicht mehr war. Doch von unserer ersten Begegnung an bis zu dem Moment, in dem sie kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag urplötzlich aus meinem Leben verschwand, um später auf merkwürdigste, tragischste Art und Weise flüchtig noch einmal aufzutauchen, war sie einfach nur meine Freundin, Anne Frank.
Kapitel 1
Berlin
In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich auf dem Parkett und sehe zu, wie ein paar Männer unser blaues Samtsofa zunächst in Decken und dann in braunes Papier packen. Sie verschnüren es, sodass es aussieht wie ein riesiges, unförmiges Geburtstagsgeschenk. Zu meiner Überraschung hieven sie es sich daraufhin auf die Schultern, tragen es, nicht ohne Mühe, durch die Wohnungstür nach draußen und hinterlassen da, wo das Sofa seit jeher gestanden hatte, einen großen Staubfleck. Ich frage mich, worauf wir nun sitzen sollen.
In anderen Zimmern wurden die Esszimmermöbel verpackt und die Bilder von den Wänden genommen, und es blieben noch mehr gähnend leere Stellen, an denen vorher unsere gesamte Einrichtung gestanden hatte. Sogar die Bronzebüste des preußischen Ministerpräsidenten und SPD-Granden Otto Braun, von dem ich ahnte, dass er ein wichtiger Mann war und Freund und Vorgesetzter meines Vaters, wurde in eine Holzkiste versenkt.
Meine Mutter – bei Weitem die Praktischere meiner Eltern – schwirrte durchs Haus und versuchte das Familiensilber zu sortieren. Unterdessen starrte mein Vater mit weit aufgerissenen Augen auf die geliebten Bücher in den Regalen an den getäfelten Wänden unseres Wohnzimmers. Einige hatte er sorgfältig in Kisten verstaut, aber viel, viel mehr standen noch auf den Regalen oder stapelten sich vor seinen Füßen auf dem Boden.
»Die kannst du aber nicht alle mitnehmen«, erklärte Mama ihm in leisem, sanftem Tonfall.
Wir bereiteten unseren Umzug aus unserer Berliner Wohnung, In den Zelten 21a, vor, gegenüber dem Tiergarten, an dessen gusseisernen Zäunen dicke gelbe Rosen wuchsen und in den meine Eltern mich zum Spielen ausführten und manchmal, um im Zoo die Elefanten zu bewundern. Wir verließen auch unser Land, aber das konnte ich mit vier Jahren noch nicht begreifen. Ich denke, ich wusste von den marschierenden Stiefeln, dem Lärm und den rot-schwarzen Fahnen, die in Berlin inzwischen ein häufiger Anblick waren. Und mir war schon aufgefallen, dass mein Vater – sonst ein viel beschäftigter Mann, der jeden Morgen aus dem Haus ging, um den Tag im Büro zu verbringen – jetzt den ganzen Tag zu Hause blieb. Doch meine Erinnerungen an unsere Berliner Wohnung sind sehr bruchstückhaft: das Knirschen meiner Schuhe auf den Kieswegen im Tiergarten, das Klirren in der Wohnung, wenn an der noch jungen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf der anderen Seite des Tiergartens die Glocken dröhnten, und die weichen Klänge unseres Flügels, wenn Mutter darauf spielte.
Unsere Wohnung, mein erstes Zuhause an einer baumbestandenen Allee, gibt es nicht mehr. Es wurde einige Jahre später von Bomben der Alliierten zerstört. Aber ich weiß, dass sie geräumig und elegant war, mit hohen Decken, dicken Perserteppichen und hölzernen Jugendstilmöbeln. Meine Mutter, Ruth (oder Rutchen, wie sie bei den Verwandten hieß), hatte ein Auge für schöne Dinge, und unsere Wohnung war voller Kunstwerke und edlem Porzellan. Im Haushalt hatte sie die Unterstützung einer Köchin und eines Dienstmädchens, und wir genossen ein bequemes, recht privilegiertes Leben.
Mama war Volksschullehrerin gewesen, aber als Gattin eines Regierungsbeamten und Angehörige der gehobenen Mittelschicht hatte sie der damaligen Konvention gemäß ihren Beruf schweren Herzens aufgegeben. Sie liebte die Arbeit mit Schulkindern, aber für eine verheiratete Frau, deren Mann sie ernähren konnte, galt es als unangemessen, einer alleinstehenden Frau eine Arbeitsstelle wegzunehmen. Mama setzte sich mit mir auf den Fußboden und spielte Spiele mit mir, ging in meinen Geschichtchen und Fragen über die Welt auf, die sie geduldig und ausführlich beantwortete. Ich sah gern zu, wie sie sich in eines ihrer maßgeschneiderten Seiden- oder Samtkleider warf und sich fertig machte für einen der vielen Ausgehabende – Konzerte, Kabarett, Empfänge und sogar Bälle, zu denen mein Vater als hochrangiger Regierungsbeamter eingeladen wurde.
Als langjähriges Einzelkind genoss ich alle Aufmerksamkeit meiner beiden Eltern. Ich glaube, sie führten eine glückliche Ehe, obwohl sie recht verschieden waren. Während meine Mutter, zwölf Jahre jünger als mein Vater, fröhlich und extrovertiert war, außerdem geistreich und eine gute Menschenkennerin, war mein Vater ernster und konnte besorgt, ja grüblerisch sein – aber zugleich nahm sein großes Charisma die Menschen für ihn ein. Er war der geborene Anführer und konnte andere mitreißen und ansprechen. Obwohl er ein Pessimist war – er selbst bezeichnete sich natürlich lieber als Realist – und dadurch dem stetigen Pragmatismus meiner Mutter eher entgegengesetzt, war er doch herzlich und in unserer Bekanntschaft für seine Hilfsbereitschaft beliebt. Seine Begabung für die Kommunikation, sei es schriftlich oder als Redner, brachte ihn in der Politik, die er sich als Betätigungsfeld ausgesucht hatte, sehr weit voran. Mit nie endender Geduld beantwortete er meine Fragen und gab mir stets das Gefühl, ich sei der wichtigste Mensch im Raum.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte mein Vater, Hans, eben sein Ökonomiestudium abgeschlossen und seine Laufbahn als Handels- und Wirtschaftspublizist begonnen. 1915 wurde er im Alter von fünfundzwanzig Jahren als Landsturmmann in das deutsche Heer eingezogen und an der Ostfront im Kampf gegen die Russen eingesetzt. Glücklicherweise wurde er ein Jahr darauf dem Stab des deutschen Hauptquartiers Ost im litauischen Kaunas zugewiesen. Später sagte er, wie dankbar er war, dass er nicht nur lebend, sondern sogar unverletzt aus dieser Zeit im eiskalten Schlamm der toddurchtränkten Schützengräben in Russland herauskam, wo so viele ihr Leben gelassen hatten.
In Litauen kam es zu zwei Ereignissen, die Vaters Leben verändern sollten. Erstens wurde er zu seiner Erleichterung vom Dienst an der Waffe befreit und brachte stattdessen seine journalistischen Fähigkeiten für den Krieg zum Einsatz; ins Auge gefallen war er damit keinem Geringeren als General Erich Ludendorff, dem gefeierten Kriegshelden dieser Zeit, der als »Gehirn« der deutschen Streitkräfte galt. Ludendorff gab ihm den Auftrag, eine litauische Zeitung herauszugeben, obwohl mein Vater über das Land nichts wusste und die Sprache nicht beherrschte. Noch Jahre später witzelte er: »Wahrscheinlich war ich der einzige Journalist der Welt, der seine eigene Zeitung nicht lesen konnte.« Stattdessen übersetzten litauischsprachige deutsche Soldaten, was er schrieb.
Im weiteren Verlauf des Kriegs entwickelte sich Ludendorffs erfolgreiche Militärstrategie zur Katastrophe, als er alle Versuche, einen Status-quo-Frieden zu schließen, unterlief und später regelrecht abwürgte. Sein ehrgeiziges Siegesstreben in den letzten Phasen des Kriegs scheiterte. Als Nachkriegsdeutschland unter der Last der ihm auferlegten Kriegsschuld und der »Schande« des Versailler Vertrags litt, der den Krieg für die Deutschen aufs Schlimmste beendete – Gebietsverluste, Reparationszahlungen, die es niemals würde stemmen können, und eine Hyperinflation mit nachfolgender Hungersnot –, räumte Ludendorff keinerlei eigene Fehler ein. Stattdessen verbreitete er die »Dolchstoßlegende« und machte für die deutsche Niederlage vor allem die Juden verantwortlich, die sich angeblich während des Kriegs von innen heraus gegen Deutschland verschworen hatten. Befangen in seinen Verschwörungstheorien, war er einer der ersten Unterstützer Adolf Hitlers in der deutschen Elite. Er meinte, damit Deutschland sich erholen könne, sei ein umfassender weiterer Weltkrieg nötig, der ein neues Deutsches Reich jenseits aller bisherigen Vorstellungen erschaffen würde. Ludendorffs Aktivitäten verhalfen Hitler zum Aufstieg, mit katastrophalen Folgen für meine Familie und alle europäischen Juden. Im Ersten Weltkrieg dürfte Ludendorff hingegen, indem er ihn vom Schlachtfeld holte, meinem Vater das Leben gerettet haben.
Das zweite Ereignis, das meinen Vater veränderte und sich erheblich auf ihn und damit auch auf das Leben meiner Familie auswirkte, bestand darin, dass er während seiner Zeit in Osteuropa in Kontakt zum orthodoxen Judentum kam und sich dafür begeistern ließ. Mein Vater war als Bankierssohn vollständig assimiliert aufgewachsen und hatte praktisch keinerlei Beziehung zur jüdischen Tradition. An Weihnachten gab es in seiner Familie sogar einen Christbaum samt Kerzenschein. Zwar war er auch in Deutschland schon frommen Juden begegnet, sicherlich auch einigen aus Osteuropa, doch ich denke, wie die meisten säkularen deutschen Juden dürfte er sie entsprechend den damaligen Vorurteilen eher negativ beurteilt haben – als rückständig, laut, unmanierlich. Damals kündigten viele westeuropäische Juden gerade alles, was mit dem jüdischen Ritus in Zusammenhang stand, auf und heirateten so häufig wie nie zuvor Nichtjuden; manche nutzten gar die christliche Taufe als Mittel zum beruflichen Fortkommen und als Garant dafür, nicht länger antisemitischen Schmähungen und Gewalttaten zum Opfer zu fallen. Dass mein säkularer Vater nun das orthodoxe Judentum für sich entdeckte, war also höchst ungewöhnlich. Trotzdem begeisterte er sich während seiner Dienstzeit im polnischen Białystok für die Herzlichkeit und menschliche Nähe der chassidischen jüdischen Gemeinden und ihre Kultur. Er begegnete Rabbinern, lernte Hebräisch und traf auf große, warmherzige, fromme Familien; und das veränderte seine Haltung zur Religion für sein ganzes restliches Leben. Zum ersten Mal lernte er zu beten, sang geistliche Lieder, ging zur Sabbatfeier und blieb zum Sabbatmahl in bescheidenen, aber eng verbundenen Familien, deren Gesang und Spiritualität ihn überwältigten. Er beschloss, auch selbst zum praktizierenden Juden zu werden.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland trat mein Vater 1919 der SPD bei; als entscheidende Kraft der entstehenden Weimarer Republik hoffte man dort auf das Aufkeimen einer neuen demokratischen Kultur. Er wirkte an Verhandlungen für eine neue preußische Regierung mit und wurde zum Leiter der Pressestelle des preußischen Staatsministeriums und zum Ministerialrat ernannt. Bei seinen Kollegen genoss er hohes Ansehen, man lobte sein hohes Maß an Tatkraft, Sachkenntnis und sein gutes Gedächtnis, das in politischen Auseinandersetzungen oft sehr dienlich war. Er war stolz, Deutscher zu sein, und einer der hochrangigsten jüdischen Regierungsbeamten – und wahrscheinlich der einzige praktizierende Jude. Wurde er samstags zu einer Sitzung in sein Büro nahe des Reichstags einbestellt, konnte er zu Fuß dorthin gehen, ohne das Sabbatgesetz zu brechen. In seinem prunkvollen Büro mit den hohen Decken las er täglich eine Seite des Talmuds, eines Kompendiums rabbinischer Lehrtexte zur Auslegung des jüdischen Gesetzes über die Jahrhunderte. Sonntags ging er ins Büro, um seine Post zu lesen und sich einen Überblick über die Korrespondenz der Woche zu verschaffen. Manchmal nahm er mich mit: Ich erinnere mich, wie ich an seiner Hand auf dem Weg dorthin war.
Mein Vater hatte einen privilegierten Einblick in die internen Geschehnisse der Regierung und des Landes, und er schäumte vor Empörung, als Reichspräsident Paul von Hindenburg, der einstige General und Kriegsheld, seinen Beratern nachgab, die meinten, wenn Hitler Reichskanzler würde, werde das dessen Ego befriedigen und es möglich machen, dass hinter den Kulissen kühlere Köpfe regierten. »Wie blind sie alle sind!«, wetterte Papa.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde mein Vater zunächst »beurlaubt«. Der Grund dafür wurde nie schriftlich festgehalten, aber es war bekannt, dass er sich im Radio und in Zeitungsbeiträgen dafür ausgesprochen hatte, dass die Demokratie unbedingt gerettet werden musste. Vermutlich machte ihn auch sein Judentum zu einer einfachen, frühen Zielscheibe zu Beginn von Hitlers Aufstieg in die deutsche Regierung. Zeitgleich mit ihm verloren auch mehrere andere jüdische Staatsbeamte ihre Posten. Viele seiner Genossen in der SPD, die von den Nazis verboten wurde, wurden gemeinsam mit der gesamten politischen Opposition verhaftet. Einige von ihnen kamen ins fünfhundert Kilometer entfernte Konzentrationslager Dachau bei München.
Im April 1933 ergingen Gesetze, die Juden und alle erklärten NS-Gegner aus Regierung und Verwaltung ausschlossen. Einige versuchten dagegen zu klagen. Während der Prozesse bekundeten sie lautstark ihr Deutschtum, viele verwiesen auf ihren bereitwillig geleisteten Staatsdienst und einige auf ihr Eisernes Kreuz, mit dem sie für ihren Einsatz im Weltkrieg ausgezeichnet worden waren. Viele der hunderttausend jüdischen Kriegsteilnehmer hatten sich bewusst freiwillig gemeldet in der Annahme, dieses eindeutige Bekenntnis, ihr Leben dem Vaterland darzubieten, würde ihnen endlich vollständige Anerkennung und Integration verschaffen. Doch ihre Plädoyers blieben ein einsamer Protest und verhallten ungehört in einer Welt, in der die Vernunft bereits im Niedergang begriffen war.
Ich war natürlich zu jung, um zu begreifen, welch furchtbare Veränderungen unser Land in meinen frühesten Lebensjahren heimsuchten. Und ich weiß, dass meine Eltern versucht hätten, mich vor allen Ängsten zu schützen. Doch ich spürte ihre Besorgnis; ich wurde sehr anhänglich und wollte nicht mehr alleine schlafen. Meist drang der Lärm der Veränderung aus dem Radio, begleitet in der Regel von einem Zischen meiner Mutter, Papa solle es leiser stellen, damit ich es nicht hörte. Doch 1933, in unserem letzten Jahr in Berlin, drang das Getöse des politischen Aufruhrs auch durch mein Kinderzimmerfenster, und für meine Eltern wurde es immer schwerer, wie gewohnt weiterzuleben.
Als Erstes kamen die lärmenden Posaunen, Klarinetten und marschierenden Stiefel der SS-Männer: Ein Fackelzug durch Berlin feierte Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, dazu ertönten Gesänge über Soldaten einer »neuen Zeit«, die ihr Blut dem »Rassenkampf« weihten. Die Fackeln zogen durch die Straße unten wie ein leuchtender Fluss und beschienen die wogenden Hakenkreuzfahnen, weiß und schwarz auf rotem Hintergrund.
Dann, wenige Wochen später im Februar 1933, erwachten wir vom Heulen der Sirenen und Feuerwehrautos. Der Himmel war hell erleuchtet und von Qualm erfüllt: Der nur fünf Minuten zu Fuß entfernte Reichstag brannte. Ich lief zu meinen Eltern, aber meine Mutter versuchte, mich – mitsamt meinen Fragen – schnell ins Bett zurückzuscheuchen. Ich kann mir nur vorstellen, wie meinem Vater das Entsetzen im Gesicht stand und mit welcher Betroffenheit er wohl versuchte, die Symbolkraft der in Flammen stehenden Demokratie zu erfassen.
Neue Feuer brannten im Mai. Um »Deutschland zu reinigen«, hatten Studenten gemeinsam mit Professoren bestimmt, welche Bücher »undeutsch« waren und aus den Bibliotheken des Landes entfernt und verbrannt werden sollten. Die Druckwerke wurden in Lastwagen und Autos gestopft, junge Leute trugen sie stapelweise auf den Opernplatz zwischen der Staatsoper und der Universität und warfen sie ins Feuer. In unserer Wohnung konnten wir den Qualm riechen, der von den vielen Tausenden Bänden aufstieg.
* * *
Überall in Deutschland stellten sich jüdische Familien dieselben unmöglichen Fragen wie meine Eltern – was sollen wir tun? Wovon sollen wir leben? Ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Vernunft wieder die Oberhand gewinnt? Oder müssen wir die Heimat verlassen? Wohin können wir? In einem Land, in dem Protest mit Konzentrationslager bestraft wurde, standen nichtjüdische Oppositionelle – darunter Schriftsteller und Künstler – vor einem ähnlichen Dilemma und gehörten zu den Ersten, die flohen.
Es war unglaublich schmerzhaft für meine Mutter und meinen Vater, sich der immer unausweichlicheren Wahrheit zu stellen, dass wir würden weggehen müssen. Meine Mutter litt besonders unter dem Gedanken, ein Land zu verlassen, das sie innig liebte. Sie genoss in vollen Zügen das lebendige Berliner Kultur- und Geistesleben, die Konzertsäle, Kunstmuseen, den Austausch über Bücher und Ideen. Meinen zweiten Vornamen Elisabeth hatte sie für mich ausgesucht, um damit Goethe zu huldigen, den sie so vergötterte wie alle in Deutschland. Meine beiden Eltern waren Produkte der liberalen, intellektuellen deutschen Zwischenkriegszeit, die von den vorausgegangenen hundertfünfzig Jahren zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz für Juden geprägt war. Unsere Wohnung war ein Bindeglied zwischen deutscher Philosophie und Literatur einerseits und der jüdischen Tradition andererseits; unter den Büchern, die mein Vater so widerstrebend in Kisten packte und von denen er manche nie wiedersehen sollte, befanden sich Abhandlungen zu deutscher Politik und Literatur und jüdisches Gedankengut. Einige davon hatte er sogar selbst geschrieben.
Doch mein Vater befürchtete, dass ihn seine frühere Regierungstätigkeit sowie seine warnenden und kritischen Worte gegenüber dem Nationalsozialismus in Radio und Presse als Staatsfeind brandmarkten und dass er eine Verhaftung zu befürchten hatte. Im Vertrauen auf seine nüchterne, realistische Urteilskraft sah er aber auch ganz einfach für seine jüdische Familie keine Zukunft in Deutschland, wo unter der Oberfläche so viel Feindseligkeit und Gewaltbereitschaft brodelten. Meine Familie war in Deutschland über tausend Jahre lang zu Hause gewesen. Meine Vorfahren waren Rabbiner, Philosophen, Journalisten, Ökonomen, Professoren, Juristen, Bankiers und Lehrer gewesen. Doch ich sollte, als ich 1928 zur Welt kam, die letzte in meiner Familie sein, die dort geboren wurde. Wir waren dort nicht mehr in Sicherheit.
Meine weitere Verwandtschaft verteilte sich wie so viele deutsch-jüdische Familien in der ganzen Welt. Mama war die mittlere von drei Geschwistern, die alle eng miteinander verbunden und ihren Eltern gleichermaßen ergeben waren. Dass die Klees sich so nahestanden, machte die Entscheidung nur noch schwerer. Ihre Eltern wollten in Deutschland bleiben, genau wie die Mutter meines Vaters; sie konnten sich nicht vorstellen, in einem fremden Land ganz von vorne anzufangen. Doch der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Hans, Jurist wie sein Vater, überlegte lange, wohin er gehen sollte, und entschied sich schließlich für die Schweiz, um dort weiterhin auf Deutsch als Jurist tätig sein zu können. Ihrer Schwester, meiner Tante Eugenie, wurde im Berliner Institut für Krebsforschung gekündigt, obwohl sie eine führende Expertin auf dem Gebiet der Gewebezüchtung war. Sie und ihr Ehemann Simon Rawidowicz versuchten dringend, im Ausland in der Forschung unterzukommen, gingen zunächst ins englische Leeds und später nach Chicago, bevor sie sich in Boston niederließen.
Schließlich fiel die Entscheidung: Wir drei würden nach England gehen. Mein Vater hatte sich in London eine Stelle bei Unilever gesichert. Und so wurde unsere Berliner Wohnung leer geräumt, bis nur noch unsere Stimmen durch die kahlen Räume hallten. Am Tag unseres Aufbruchs hatten meine Eltern wahrscheinlich die Boykotte im Ohr, die Szenen, wenn die Braunhemden auf offener Straße Leute verprügelten, und die Aufmärsche und Gesänge der Nazis; ich dagegen dachte hauptsächlich an meinen geliebten Tiergarten. Als ich mich zum letzten Mal von dem Park abwandte, hörte ich lachende Kinder beim Fangenspielen. Beladen mit Koffern und Kisten fuhren wir zum Bahnhof und stiegen in einen Zug nach Hamburg, den ersten Zwischenhalt auf unserer Reise nach England.
* * *
Unter einem bleiernen Himmel kamen wir wohlbehalten nach London. Diese Metropole mit acht Millionen Einwohnern, doppelt so viele wie in Berlin, ihre Bebauung aus Kalk- und Backstein und der Umstand, dass wir nur wenige Bekannte und keine Verwandten dort hatten, waren überwältigend. Zum Glück sprachen meine beiden Eltern Englisch, meine Mutter allerdings fließender – sie war sehr sprachbegabt und konnte auch Französisch, Griechisch und Latein. London war die Hauptstadt des Britischen Empire, und so sah ich zum ersten Mal Gesichter aus der ganzen Welt und begaffte staunend die Schiffe aus Asien, der Karibik und Afrika, die die mächtige Themse hinaufdampften.
Als ausgebildeter Ökonom hatte Papa eine solide Anstellung bei der Firma Unilever angeboten bekommen. Dennoch sollten wir nur kurz in England bleiben. Erst nach der Ankunft in London und dem Antritt seiner Stelle erfuhr er, dass er auch samstags arbeiten musste, am jüdischen Sabbat.
»Bei meiner Beamtenstellung in Deutschland wurde meine Sabbatruhe respektiert, aber nicht hier in England?«, schimpfte er außer sich vor Erregung, als er Mama davon berichtete.
Als er seinen Arbeitgeber wissen ließ, dass er nicht gewillt war, das Arbeitsverbot am jüdischen Sabbat zu missachten, wurde sein Vertrag aufgelöst.
Für meinen Vater bedeutete ein praktiziertes Judentum weit mehr als die tiefe Spiritualität, die ihn prägte. Es bedeutete, sich vollständig an die Mitzwot (hebräisch für Gebote) zu halten, und das Sabbatgebot war eines der wichtigsten. Erst durch die Befolgung dieser Regeln und Rituale sah er ein Ziel, einen Weg hin zu einem guten, sinnerfüllten Leben. Diese Werte, die für ihn sein Judentum ausmachten, konnte und wollte er nicht aufgeben, auch wenn sie manchmal nur sehr mühsam umzusetzen waren.
Es war eine verhängnisvolle Entscheidung, deren weitere Folgen wir niemals hätten absehen können. England war sicher und sollte es auch bleiben. Das europäische Festland dagegen wurde immer gefährlicher, je stärker die Nationalsozialisten ihre Vorherrschaft ausbauten. Doch bei all seiner Umsicht und seinem Verständnis für die aktuelle Politik konnte mein Vater unmöglich ahnen, was uns bevorstand. Niemand konnte das Grauen vorhersehen, das wenige Jahre später über uns hereinbrechen sollte. Und so zogen wir weiter, diesmal nach Amsterdam, um dort Zuflucht zu finden.
Kapitel 2
Amsterdam
»Neutral« ist ein Wort, das wohl die wenigsten Fünfjährigen kennen – doch ich kannte es.
Bereits 1934 wurde von einem erneuten Krieg gemunkelt, doch wie die Schweiz waren auch die Niederlande während des gesamten Ersten Weltkriegs neutral geblieben. Egal, was passierte, beruhigten sich alle, neutrale Länder werden nicht in Kriege verwickelt und geraten ganz bestimmt nicht unter feindliche Besatzung. Die Niederländer hatten den Ruf, fair und liberal zu sein, und in ihrem Land gab es keinen tief verwurzelten Antisemitismus wie sonst so oft in Europa. Wichtig war auch, dass es eine direkte Grenze zu Deutschland gab. Damit war die Heimat so nah, dass meine Mutter und ich meine Großeltern und andere Verwandte und Freunde besuchen konnten, die dortgeblieben waren (während mein Vater der Meinung war, für ihn sei selbst ein Besuch zu riskant). Ich denke, es waren diese Gründe, die meine Eltern dazu bewogen, als neue Heimat für ihre kleine Familie die Niederlande zu wählen. In Amsterdam konnten wir unauffällig abwarten, bis der Wahnsinn hoffentlich von selbst verging. Besonders meine Mutter hoffte weiter, dass wir nur vorübergehend im Exil waren und irgendwann wieder heimkehren konnten.
So kam es, dass am 20. Dezember 1933 die Stadt Amsterdam die Ankunft meines Vaters beurkundete, indem sie Goslar, unseren Familiennamen, in ausladender Schreibschrift auf einem Anmeldeformular festhielt. In der Zeile darunter folgte Vaters vollständiger Name mit dem Datum seiner Ankunft und der Adresse des Hotels, in dem er für diese ersten Wochen abgestiegen war, während er versuchte, sich zu orientieren und ein weiteres Mal in einem neuen Land Fuß zu fassen; wir waren unterdessen bei meinen Großeltern in Berlin. Drei Monate später ergänzte ein Standesbeamter den vollständigen Mädchennamen meiner Mutter, Ruth Judith Klee, gefolgt von meinem Namen und unserem Ankunftsdatum: 19. März 1934. Ein simples Blatt Papier, ein Stückchen Bürokratie. Für uns aber sollte es alles ändern.
Als meine Mutter und ich in Amsterdam aus dem Zug stiegen, begann gerade die Tulpenblüte. Wir stolperten mit unseren Schuhen über das Kopfsteinpflaster, und wir versuchten, den flitzenden Fahrradfahrern auszuweichen. Nach der wochenlangen Trennung von meinem Vater war ich überglücklich, dass wir drei wieder vereint waren. Ich fühlte mich geborgen an der Hand meiner beiden Eltern. Dann ließ ich doch los und lief voraus, vergaß mich kurz in dem goldenen Licht, das auf der Gracht lag und die Spiegelung der dahingleitenden Boote vergrößerte. Doch dann spürte ich, wie meine Mutter plötzlich meinen Arm zurückriss, weil ich zu nahe an die Wasserkante herantrat. Ich erschrak, und meine Ruhe war dahin.
»Wir sind hier im Jerusalem des Westens«, erklärte mein Vater und versuchte dabei, begeistert zu klingen, während wir die ersten Schritte als Familie in Amsterdam gingen.
Er hoffte darauf, dass dieses Jerusalem nur ein Zwischenstopp auf dem Weg ins echte Jerusalem war, das beinahe dreitausend Kilometer östlich in der Levante lag. Damals florierte der Zionismus, eine Bewegung mit dem Ziel, Juden dort eine Heimstätte zu verschaffen, wo in biblischen Zeiten das Land Israel gelegen und vor zweitausend Jahren ein jüdischer Staat existiert hatte. Die Zionisten sahen darin eine Antwort auf Jahrhunderte des Exils und des Kampfes in der Diaspora: eine sichere Zuflucht und eine Bewegung für eine Neugeburt des Judentums. Doch vor dem Hintergrund arabisch-jüdischer Spannungen machten die Briten, denen damals das sogenannte Mandatsgebiet Palästina unterstand, Juden die Einwanderung zunehmend schwer. Um ein Visum zu erhalten, brauchte man Zeit, Glück und Geld. Mein Vater erfuhr, er müsse beträchtliches Kapital nachweisen, um ein Visum auch nur beantragen zu können, und dieses Kapital hatte er nicht.
Obwohl der Vater meiner Mutter, Alfred Klee, ganz wie mein Vater selbst ein führender Kopf der deutschen Zionistenbewegung war, beteiligte Mama sich nicht an den Träumen ihres Manns, in den Nahen Osten zu emigrieren. Sie hatte als Zwanzigjährige gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern eine Familienreise ins britische Mandatsgebiet unternommen und dort mit eigenen Augen gesehen, wie beschwerlich die jüdischen Pioniere in den ersten Kibbuzim und Siedlungen hausten. Es war kein leichtes Leben, und sie hatte umgehend beschlossen, dass das nichts für sie war.
»So hart kann ich nicht arbeiten«, sagte sie nur halb im Scherz.
Nach Monaten der Ungewissheit boten zumindest die Häuser aus Natur- und Backstein und die Brücken im dichten Amsterdamer Straßen- und Grachtennetz sicheren Halt. Noch behaglicher und geborgener fühlte sich die Rivierenbuurt (niederländisch »Flussviertel«) an; so hieß unser Viertel im Süden der Stadt zwischen dem Fluss Amstel und zwei großen Grachten, in dem die meisten Straßen – auch unsere – nach niederländischen Flüssen benannt waren.
Wir stiegen die Stufen zu unserer neuen Wohnung über einer Treppenflucht am Merwedeplein 31 hinauf. Mein Vater öffnete die großen Fenster im Wohnzimmer, die auf den Platz hinausgingen. »Willkommen zu Hause!«, verkündete er. Es war viel kleiner als unsere Berliner Wohnung. Keine hohen Decken mehr, kein ausladender Balkon, keine zusätzlichen Zimmer. Auch ein Dienstmädchen oder eine Köchin gab es nicht, die meiner Mutter im Haushalt geholfen hätten. Für die Gattin eines hohen preußischen Regierungsbeamten, die immer Haushaltshilfen gehabt hatte, war das völliges Neuland.
Durch die Fensterfront sah ich unten auf einen dreieckigen Sandplatz, dessen Ränder von einer niedrigen Hecke und Blumenbeeten begrenzt waren und auf dem Kinder unterschiedlichen Alters spielten und Fahrrad fuhren. Die Wohnhäuser rundum bestanden alle aus dem gleichen hellbraunen Backstein wie unseres, manche waren allerdings, als wir ankamen, offenbar noch im Bau. Mit Zement, Gips und Ziegeln beladene Lkws parkten an Straßenecken, und staunend sah ich Bauarbeiter hoch in der Luft über Gerüstplanken laufen. Überragt wurde das Viertel von einem zwölfstöckigen Hochhaus. »Das höchste Gebäude in ganz Holland – und das bei uns!«, prahlten Nachbarn. Schon bald nannten wir es wie jedermann »de Wolkengrabber«.
Als wir Anfang 1934 ankamen, waren wir die zehnte jüdische Familie aus Deutschland, die in unserer Straße einzog. Und dabei waren wir nur der Anfang einer Flutwelle von Juden, die immer verzweifelter nach einer Zuflucht suchten. Irgendwann bekam die Straßenbahnlinie 8, die unser Viertel mit dem Judenviertel im Stadtzentrum verband, den Spitznamen »Jerusalemlinie«, und die Linie 24 zwischen der Beethovenbuurt, wo sich ebenfalls viele deutsche Flüchtlinge niederließen, und dem Stadtzentrum hieß »Berlin Express«. Es gab auch jüdische Immigranten russischer, belgischer und tschechischer Herkunft. Die Weltwirtschaftskrise hatte die Niederlande nicht verschont, und einige Wohnungen hatten seit ihrer Fertigstellung vor zwei Jahren leer gestanden. Bei unserem Vermieter waren also deutsch-jüdische Flüchtlinge wie wir gern gesehen, die wir dringend Wohnraum brauchten und uns die relativ hohen Mieten, die für diese als luxuriös geltenden Wohnungen mit fließendem Warmwasser und Zentralheizung verlangt wurden, leisten konnten.
In unseren ersten Tagen vor Ort konzentrierte Mama sich darauf, auszupacken und unsere neue Bleibe wohnlich zu machen. Sie holte die dunkelgrüne Tagesdecke hervor, die schon in Berlin auf dem Bett meiner Eltern gelegen hatte, dazu den mit demselben Stoff gepolsterten Sessel. An die Wand im Wohnzimmer hängte sie einen Van-Gogh-Druck mit einem rot-schwarzen Fischerboot auf einem Streifen Sand, an den sanft die Wellen des Mittelmeers schlugen. Sie sagte, so wirke der Raum größer. Im Rückblick frage ich mich, ob sie sich vielleicht auch mit diesem Boot identifizierte, gestrandet an einem Ort, den sie nicht ausgesucht hatte, kauernd im Zwischenraum, auf der unsichtbaren Linie zwischen Meer und Küste.
Eine gläserne Flügeltür trennte das Ess- vom Wohnzimmer. Unsere elegante Nussbaum-Esszimmergarnitur traf nie aus Deutschland ein; stattdessen aber die Terrassenmöbel für eine Terrasse, die wir nicht mehr hatten. So aßen wir also an diesem Rattantisch auf dazu passenden Stühlen mit weißen Kissen mit winzigen roten Blumen. Jede Woche kaufte meine Mutter Blumen und stellte sie in eine weiße Keramikvase, eine ihrer vielen geschmackvollen Gesten in unserem Leben. Und ich verliebte mich sofort in mein neues Zimmer, fasziniert von meinem Schrankbett, das sich jeden Morgen nach dem Aufstehen zwischen zwei eingebaute Bücherregale hochklappen ließ.
Mein Vater wollte, dass wir so schnell wie möglich Fuß fassten, und schwärmte von der Buchhandlung um die Ecke, der Handvoll Cafés und Läden in Fußnähe. Doch wir befanden uns in einer grünen, ruhigen Gegend am Stadtrand, wo es weder elegante Geschäfte oder Kaufhäuser an hübschen Alleen gab noch Kaffeehäuser an von Menschen wimmelnden Plätzen wie vor unserer Berliner Haustür. Meine Mutter erholte sich nie von ihrem Heimweh nach ihrer Geburtsstadt. Das überschattete für sie auch diesen ersten Tag des Neuanfangs in Amsterdam, an dem wir nach diesen Monaten der Trennung endlich wieder alle drei vereint waren, obwohl sie sich sehr bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, mein Vater vierundvierzig. Sie hatte ihr Leben in Berlin geliebt und freute sich nicht auf den Neubeginn. Begeistert war er auch nicht, aber er sah so schwarz für eine Zukunft in Deutschland, dass es ihm vermutlich leichter fiel, nicht in die Sehnsucht meiner Mutter zu verfallen nach dem, was sie beide bis vor Kurzem noch als ihre Heimat geliebt hatten. Heute frage ich mich, wie viel ich von den Sorgen meiner Eltern als frisch Vertriebene überhaupt mitbekam.
Das erste Hindernis war das Erlernen der niederländischen Sprache. Für Mama, die Sprachen so liebte, war das kehlige Niederländisch eine »Halskrankheit, keine Sprache«. Einerseits ähnelte es dem Deutschen, andererseits führte eine nur leicht unterschiedliche Wortstellung zu völlig anderen – manchmal komischen – Bedeutungen. Meine Eltern waren anfangs verwirrt, wenn sie Schilder lasen, die auf Niederländisch etwas ganz anderes bedeuteten als auf Deutsch. Zum Beispiel hing an der Haustür ein Schild mit dem Hinweis, Besucher sollten bei ihren Gastgebern bellen – auf Niederländisch bedeutet das »läuten«. Anfangs waren wir fast beleidigt: Ging man etwa davon aus, wir würden bellen wie Hunde?
Außerdem hatten die meisten Niederländer an ihrer Tür ein Schild hängen, um Handelsvertreter abzuweisen: Aan de deur wordt niet gekocht, also »An der Tür wird nichts gekauft«. Wir Deutschen dagegen dachten spontan an Hausflure mit Kochstellen. Solche Missverständnisse heiterten unsere ersten Tage in Amsterdam auf. Doch leider blieb es für mich bei ungefähr diesem Umgang mit dem Niederländischen, bis ich mit der Schule anfing.
Mama fand sich allmählich im Viertel zurecht, lernte, welche Läden welche Nahrungsmittel und Haushaltsprodukte verkauften, um unsere neue Wohnung zu putzen und in Schuss zu halten. Für jemanden wie sie, die ihren Haushalt nie selbst geführt hatte, war allein das schon eine Herausforderung; aber obendrein war sie ein Neuankömmling und tat das in einer fremden Sprache, die sie noch nicht beherrschte. Ganz allmählich erweiterte sie ihre Kochkünste und wurde eine kompetente, wenn auch nie selbstverständliche Köchin.
Eines Morgens ging ich mit meiner Mutter zum Einkaufen. Ich liebte es, Hand in Hand mit ihr hinauszugehen und wieder ein Stück unserer neuen Umgebung zu erkunden. Vor einem Regal im Laden hörten wir deutsche Stimmen und reckten die Köpfe. Eine Mutter sprach mit ihrer kleinen Tochter. Die beiden Mütter begannen sich zu unterhalten, man hörte ihnen die Erleichterung an, dass sie hier in der Fremde jemand Vertrauten gefunden hatten.
Das kleine Mädchen mit dem dunklen Pagenkopf und ich beäugten einander schüchtern. Wir sagten kein Wort. Ich war anderen Kindern gegenüber zurückhaltend, trat einen Schritt zurück, versteckte mich halb hinter meiner Mutter, klammerte mich an ihren Rock. Doch das kleine Mädchen und ich starrten einander in gemeinsamem Schweigen und einer gewissen tröstlichen Verbundenheit in die Augen.
Kapitel 3
Neue Freunde
An guten Tagen war ich schüchtern, aber an meinem ersten Kindergartentag in der 6e Montessorischool in der Niersstraat war ich buchstäblich in Panik. Beim Verlassen unserer Wohnung weinte ich, und obwohl ich normalerweise ein gehorsames Kind war, versuchte ich, mich an der Türklinke festzuklammern, und bettelte, zu Hause bleiben zu dürfen. Monatelang war ich hauptsächlich in Gesellschaft meiner Mutter oder anderer Erwachsener gewesen. Außerdem sprach ich fast kein Wort Niederländisch.
»Es reicht, Hanneli«, ermahnte mich Mama (Hanneli nannten mich meine meisten Verwandten) und löste meine Finger von der Tür. »Es ist immer schwer, etwas Neues anzufangen. Wir gehen jetzt, und du wirst sehen, es wird alles gut.«
Unter weiteren aufmunternden Worten gingen wir unsere Straße hinunter bis zu einem dreistöckigen Backsteingebäude mit schmalen raumhohen Fenstern in der Fassade. Ich begriff, dass dies der Ort war, an dem meine Mutter mich alleinlassen würde, und das Herz rutschte mir in die Kniekehlen. Ich wimmerte, aber sie brachte mich mit einem Blick zum Schweigen, der mir sagte, dass sie keine Mätzchen mehr dulden würde. Sie öffnete das große hölzerne Schultor, und drinnen umklammerte ich Mamas Hand noch fester und schleifte meine Füße langsam über die gefliesten Flure, obwohl ich damit Schrammen in meine neuen Lacklederschuhe machte.
Wir betraten ein Klassenzimmer, in dem eine Menge Kinder waren, die alle extrem beschäftigt aussahen. Einige saßen an kleinen Tischen und spielten mit Holzklötzen; andere malten Buchstaben oder saßen auf Matten und übten zu schreiben. Mein Blick fiel auf ein Mädchen mit glänzenden dunklen, beinahe schwarzen Haaren. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil es mir den Rücken zuwandte. Es spielte mit einem silbernen Glockenspiel. In diesem Moment drehte es sich um und sah mich an. Auf einen Schlag erkannten wir einander. Es war das Mädchen aus dem Eckladen! Augenblicklich fielen wir einander in die Arme wie seit Langem getrennte Schwestern, und deutsche Sätze flogen hin und her, knüpften in kürzester Zeit ein enges Band zwischen uns. Mein verkrampfter Bauch lockerte sich; meine Angst schmolz dahin, und ich lächelte.
»Ich heiße Annelies. Du kannst mich Anne nennen«, sagte das Mädchen.
Als zwei kleine Mädchen, die beide kein Niederländisch konnten, waren wir froh, einander zu finden, und ich merkte nicht einmal, wie meine Mutter sich erleichtert zur Tür hinausschlich. Anne war auch neu in der Schule. Ihre Familie war vor Kurzem aus Frankfurt eingetroffen. Wir hatten beide liberal eingestellte Eltern, die befunden hatten, der moderne Montessori-Ansatz, bei dem die Kinder frei ihrer eigenen Neugierde nachgehen sollten, sei richtig für uns. Wir waren nicht in Klassenstufen eingeteilt, sondern lernten sehr kindzentriert, und jede wählte den Lernstoff nach eigenen Interessen selbst aus.
Ich war sofort überwältigt von Anne, dieser ersten Freundin, wenngleich ich auch schnell begriff, dass wir sehr verschieden waren. Ich zog gern die Schultern hoch, legte den Kopf schief und überlegte, was ich sagen wollte, falls ich überhaupt etwas von mir gab. Den Umgang mit anderen Kindern war ich nicht gewohnt, und ich ließ mich leicht einschüchtern. Ich war schlaksig und groß für mein Alter. Anne hatte olivfarbene Haut und war etwa einen Kopf kleiner als ich – dünn wie ein Strich, fast zerbrechlich wirkend, mit großen, funkelnden dunklen Augen, die, wenn sie lachte, mitzulachen schienen. Doch ihre zarte Gestalt stand im Widerspruch zu ihrer großen Persönlichkeit. Sie hatte immer Ideen für neue Spiele parat und war die geborene Anführerin. Sie war selbstbewusst, auch im Umgang mit Erwachsenen. Sie fragte Erwachsene alles; eigentlich war es so, als würde sie andauernd Fragen stellen. Ich staunte nur, wie ihr so viele einfielen. Als wir uns kennenlernten, trug sie ihre dunkelbraunen Haare in einem kurzen, zur Seite gekämmten Bubikopf. Auch ich hatte kurze Haare wie damals die meisten Mädchen in unserem Alter, aber meine waren kastanienbraun und leicht gewellt. Manchmal steckte meine Mutter sie mit einer großen Spange seitlich fest. Ich sorgte aber immer dafür, dass meine Haare meine Ohren bedeckten. Ich hasste meine Ohren, weil ich sie zu groß fand.
Anne und ich stellten vergnügt fest, dass wir auch ganz in der Nähe voneinander wohnten. Unsere Häuser lagen nämlich nebeneinander und besaßen jedes die gleiche Betontreppe, die zur Eingangstür hinaufführte. Ich brauchte weniger als eine Minute, um von meiner Wohnung nach unten zu springen und zu Annes hinüberzulaufen. Ihre Wohnung lag eine Etage höher als unsere, ich klingelte also an der Messingglocke, sie öffnete, und dann hielten wir uns am cremeweißen Geländer fest und hüpften die steile hölzerne Innentreppe hinauf, die in einen Flur mit hellblau gemusterter Tapete führte.
Bald gingen wir die zehn Minuten zur Schule jeden Tag gemeinsam, manchmal auch mit Annes großer Schwester Margot, die drei Jahre älter war als wir. Sie war außergewöhnlich klug und freundlich und viel ernster als Anne. Obwohl ich jünger war, behandelte sie mich nie von oben herab. Wie herrlich, eine Schwester zu haben, dachte ich. Margot ging in eine traditionellere Schule, die Jekerschool in der Jekerstraat, nur ein paar Blöcke von unserer Schule entfernt.
Mit der Hilfe geduldiger Lehrerinnen und weil wir Kinder unbedingt dazugehören wollten, lernten Anne und ich täglich neue Wörter und Sätze auf Niederländisch. Sehr schnell beherrschten wir die Sprache fließend (und neckten unsere Eltern mit ihren Aussprachefehlern). Doch anders als Anne behielt ich immer einen leichten deutschen Akzent. Mit der Zeit fühlten wir uns wie niederländische Mädchen. Unsere Freundinnen kamen aus ganz unterschiedlichen Milieus, einige waren Holländerinnen, darunter auch einige Jüdinnen. Andere waren Flüchtlinge wie wir. Doch über die Unterschiede zwischen uns dachten wir nicht viel nach, und wir spürten sie auch nicht. Unsere Erinnerungen an Deutschland trübten sich. Wir ließen uns schnell auf unser neues Land ein und wollten um jeden Preis so sein wie alle anderen.
Bald fanden Anne und ich eine Möglichkeit, wann immer wir wollten von unseren Wohnungen aus miteinander zu kommunizieren. Dazu brauchten wir nur den Kopf aus dem Vorderfenster zu strecken und einander zu rufen – ich aus dem zweiten Stock, sie aus dem dritten.
»An-ne!«, rief ich in einem speziellen Singsang aus dem Fenster, wenn es morgens Zeit zum Aufbruch war. Als Erkennungsmelodie erwählten wir die niederländische Nationalhymne, damit wir wussten, wer nach draußen rief, wenn wir uns zum Spielen treffen oder einander besuchen wollten. Allerdings tat sich Anne schwer mit dem Pfeifen, weshalb sie die Melodie manchmal einfach trällerte. Nach dem Pfeifkonzert trafen wir uns unten auf dem Fußweg zu unserem zehnminütigen Schulweg. Währenddessen plapperten wir pausenlos.
»Hanneli, hast du schon von dem neuen Popeye-Film gehört?«, fragte Anne zum Beispiel, und dann erzählte sie mir die vollständige Handlung des Films, den sie am Wochenende mit ihrer Familie gesehen hatte. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter sich wegen ihrer neuesten Beschwerden Sorgen machte – sie blieb ziemlich häufig krank zu Hause –, oder von ihrer Vorfreude auf einen bevorstehenden Besuch einer ihrer Großmütter. Sie redete mehr, ich hörte mehr zu, aber es ging auch sehr viel hin und her.
Sehr gern übernachteten wir beieinander, und Anne brachte dann einen kleinen Koffer mit. Ich weiß noch, wie sie auf meinem Bett saß, sich die Haare bürstete und – obwohl wir noch so jung waren und unsere Ausflüge sich hauptsächlich auf die paar Meter zwischen unseren Wohnungen und dem Schulweg beschränkten – davon sprach, dass sie die Welt bereisen wollte.
Als Einzelkind, das sich immer Geschwister wünschte, sah ich zu Margot auf. Ich fand sie hübsch mit ihren großen, glänzenden Augen und ihrer hellen Haut. Als sie später eine Brille brauchte, fand ich, dass die sie nur noch raffinierter aussehen ließ. Sie strahlte eine stille, ruhige Freundlichkeit aus und war sehr hilfsbereit. Zu gern hätte ich eine große Schwester wie sie gehabt. Sie tat sich leicht mit dem Lernen, war diszipliniert und ruhig, viel introvertierter als die geistreiche, redselige Anne. Und sie war sportlich, später sollte sie rudern und eine gute Schwimmerin werden. Mit dem intensiven Interesse eines Einzelkinds beobachtete ich, wie Margot in ihrer Familie die Rolle der Friedensstifterin übernahm. Sie war extrem gehorsam und widersprach ihren Eltern nie. »Anne, mach langsam, entspann dich«, drängte sie, wenn Anne sich aufregte. Margot war der Liebling ihrer Mutter (und Anne der ihres Vaters) und wollte Frieden und Ruhe bewahren, weil sie wusste, dass ihre Mutter das schätzte.
Gleich nachdem ich Anne kennengelernt hatte, wusste ich, dass sie liebend gern im Mittelpunkt stand. Sie sprühte vor Lebendigkeit und erhellte jeden Raum. Doch da ich selbst ein zurückhaltendes Kind war, bewunderte ich auch Margots ruhigere Anmut und Gefasstheit. Ich wollte wie Margot sein: klug, hübsch, gutherzig. Auch gefiel mir, wie sie Anne manchmal in Schutz nahm. Sollte ich jemals selbst eine große Schwester werden, nahm ich mir vor, so zu sein wie Margot.
Anne hatte sehr großes Selbstvertrauen, viel mehr als ich. Manchmal stritten wir – nichts Ernstes, typisches Kindergezänk, das Minuten später vergessen war –, aber mit ihrer starken Meinung und ihrer Energie strengte sie mich manchmal sehr an, denn ich war gewohnt, dass es zu Hause ruhig zuging und ich nur von Erwachsenen umgeben war. Manchmal verlor Anne beim Spielen die Fassung, besonders wenn sie nicht gewann. Sie war so aufgeweckt und viel weniger blind gehorsam als ich. »Gott weiß alles, aber Anne weiß alles besser«, scherzte meine Mutter, wenn ich wieder einmal eine Geschichte über Annes Besserwisserei mitbrachte.
Eines Tages auf dem Weg zur Schule bogen Anne und ich um eine Ecke und sahen plötzlich Stühle und Tische in der Luft baumeln. Mit offenen Mündern sahen wir zu, wie sie aus den Fenstern der Wohnung schwebten, in der ein Mädchen namens Juliane wohnte. Auch sie kam aus einer deutsch-jüdischen Familie und lebte jetzt am Merwedeplein. Unsere Eltern erklärten, dass die Menschen in Holland mithilfe von Seilen umzogen und schwere Möbel durch die Fenster wuchteten. All die schmalen Häuser standen nämlich auf Pfählen erhöht, weil alles, was auf Meereshöhe lag, hochwassergefährdet war. Für uns war es ein großes Spektakel. Julianes Familie zog nach New York. »Ihr solltet auch nach Amerika kommen«, drängte Julianes Mutter Edith.
* * *
Während meine Freundschaft mit Anne enger wurde, näherten sich auch unsere Familien immer stärker an. Häufig kamen sie zum Sabbatmahl oder zu jüdischen Feiertagen wie Passah zu uns, und Silvester verbrachten wir jedes Jahr bei Franks; die Erwachsenen unterhielten sich bis spät in die Nacht, und wir Kinder versuchten, so lange wie möglich aufzubleiben. Neujahr bei Franks wurde eine Tradition, und immer schlief ich dann bei ihnen. Ich war sehr gern in ihrer Wohnung am Merwedeplein 37, Wohnung 2. Sie hatte eine besonders elegante Note mit ihren grünen Samtvorhängen, den Perserteppichen in Rot- und Rosttönen, und immer duftete etwas aus der Küche süß herein. Frau Frank, Annes Mutter, war eine begnadete Bäckerin. Für mich roch die Wohnung nach Vanille und Büchern.
Frau Frank mit ihrem matronenhaften braunen Haarknoten war freundlich, vielleicht eine Idee zu zurückhaltend gegenüber uns Kindern. Meine Mutter und sie kamen sehr gut miteinander aus und freuten sich, dass Anne und ich uns so gut verstanden, »wie Schwestern«, sagten sie gern. Sie waren beide zwölf Jahre jünger als ihr Mann und hatten beide furchtbares Heimweh nach Deutschland und ihren Familien dort. Ich weiß, dass Frau Frank auch unter dem Verlust ihres relativ bequemen früheren Lebens litt, genau wie meine Mutter, besonders weil ihr Mann immer so viel arbeitete.
Flüchtling zu sein, ist nie einfach, vor allem nicht für Mütter, denen die Verantwortung zufällt, den Haushalt und die kleinen Kinder zu organisieren, und Mama und Frau Frank waren einander eine Stütze für praktische und moralische Fragen. Sie konnten einander das Herz ausschütten, welche Last es war, den Einkauf, die Wäsche und das Kochen zu bewältigen, ohne die Haushaltshilfen, die sie von zu Hause gewohnt waren. Alles war neu und verwirrend. Die Hausaufgaben ihrer Kinder verstanden sie nicht; der Umgang mit kulturellen Unterschieden war schwierig, und ihr deutscher Akzent im Niederländischen war unüberhörbar. Sie verströmten die deutsche Neigung für Ordnung und gutes Benehmen und wollten, dass wir Beethoven, Bach und die deutsche Dichtung genauso liebten wie sie. Mir fiel auf, dass die Mütter in unserem Leben von einer gewissen Traurigkeit umgeben waren – meine Mutter, Frau Frank und auch Frau Ledermann, die Mutter unserer guten Freundin Sanne. Ihre Sehnsucht konnte man fast riechen.
Familie Ledermann war mit ihren beiden Töchtern etwa zur gleichen Zeit aus Berlin geflohen wie wir. Herr Ledermann war vor dem Gedanken anfangs zurückgeschreckt. Er hatte in Berlin eine florierende Anwaltskanzlei und vertrat große Unternehmen; und eine Anwaltstätigkeit ist schwierig, wenn man die Landessprache nicht beherrscht und sich in den Gesetzen eines Landes nicht auskennt. Beiden Ledermanns widerstrebte es zudem, auf ihre Wochenendausflüge in Museen, edle Restaurants und zu Konzerten zu verzichten, doch Ilse Ledermann, die geborene Holländerin war und in den Niederlanden Verwandte hatte, drängte ihren Mann Franz dennoch, nach Amsterdam zu gehen. Ein Schwager von Frau Ledermann arbeitete als Journalist für eine niederländische Zeitung. 1924 war er als Reporter zum Hitler-Prozess entsandt worden, in dem dieser in München wegen Hochverrats verurteilt wurde. Hitlers Ausfälligkeiten im Gerichtssaal, seine wütenden Schmähreden und vielleicht sogar noch mehr die Tatsache, dass die Richter nicht einmal versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen, hatten bleibenden Eindruck auf ihn gemacht. Er war sicher, dass Hitler jetzt, da er an der Macht war, seine Drohungen gegen die Juden wahr machen würde. Er nannte Hitler eine unaufhaltsame Gefahr. »Geht weg«, drängte der Reporter die Familie, genauso wie Frau Ledermanns übrige niederländische Angehörigen. Als stolzer Deutscher hatte Herr Ledermann den Gedanken an Emigration weiter abgelehnt, bis die Boykottgesetze der Nazis Anwälten die Ausübung ihres Berufs praktisch unmöglich machten, und er nachgegeben hatte.
Die Familie war in eine Wohnung ganz in der Nähe des Merwedepleins gezogen, in die Parallelstraße namens Noorder Amstellaan. Frau Ledermann musste sich an das Leben ohne Kindermädchen für ihre zwei kleinen Töchter und ohne Köchin und Dienstmädchen erst gewöhnen. Als Pianistin hatte sie in ihrer großen Berliner Wohnung zwei Flügel besessen, doch beide wurden vor dem Umzug nach Amsterdam verkauft. Auch ihr Mann machte Musik, und sonntags hatten sie früher in ihrem Wohnzimmer klassische Konzerte organisiert.
Herr Ledermann und mein Vater beschlossen, von unserer Wohnung aus zu zweit ein Beratungsbüro für Flüchtlinge zu betreiben, in dem meine Mutter als Sekretärin assistierte. Die beiden Männer saßen an den Enden eines Schreibtischs und reichten einander Dokumente hin und her. Meine Mutter war die Einzige, die ihre Briefe abtippen konnte, ihre schwarze Schreibmaschine thronte in unserem Wohnzimmer und wurde nur für den Sabbat weggeräumt. Hauptsächlich unterstützten sie jüdische Flüchtlinge aus Deutschland dabei, sich in Amsterdam niederzulassen. Sie halfen ihnen, ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Belange zu ordnen, vor allem beim Verkauf von Immobilien in dem einen Land und dem Erwerb von Eigentum im anderen. Mein Vater brachte seine Kenntnisse in Handel und Wirtschaft ein, Herr Ledermann sein juristisches Fachwissen. Drei Jahre lang ging Herr Ledermann noch einmal zur Universität, um einen niederländischen Anwaltstitel zu erwerben – wir alle waren unglaublich stolz und beeindruckt. Zu seinem Abschluss organisierte ihm seine Familie ein großartiges Fest.
Mein Vater brachte es nicht über sich, für ihre Dienste große Honorare zu verlangen, denn jeder spürte die finanziellen Belastungen in jenen umwälzenden Zeiten, weshalb Herr Ledermann und er nur mäßig verdienten. Für meinen Vater war diese Arbeit damals aber die einzige Einkommensquelle. Ich hätte gern ein Fahrrad oder Schlittschuhe gehabt wie Anne und meine anderen Freundinnen, aber meine Eltern hatten kein Geld übrig für derlei Dinge, die unter unseren neuen Lebensumständen als Luxus galten. In einem neuen Land zurechtzukommen, war für all unsere Familien ein Kampf; allerdings wurden die Unterschiede zwischen uns und unseren holländischen Freundinnen abgemildert, weil die Niederländer selbst sehr zur Sparsamkeit neigten. Sie scheuten Protzerei und vermieden es, über Geld zu reden.
Die holländischen Juden, die wir kennenlernten, empfanden sich selbst als sehr holländisch und wussten mit »uns« nichts Rechtes anzufangen. Zwar waren sie entsetzt von der politischen Gewalt und der Verfolgung, die jüdische Familien wie meine zur Flucht nach Holland getrieben hatten, aber gleichzeitig fürchteten sie, dass das empfindliche Gleichgewicht gestört würde mit dem sie selbst sich in der niederländischen Gesellschaft akzeptiert fühlten; das galt besonders für die vermögenden und etablierten Juden, die häufig Sepharden waren. Eine gewisse Abneigung herrschte auch bei einigen niederländischen Juden vor, besonders den Angehörigen der Arbeiterklasse (viele davon hatten osteuropäische Wurzeln), weil sie das Gefühl hatten, die deutschen Juden würden sie als unkultiviert und ungebildet verachten. Und als immer mehr Flüchtlinge kamen, befürchteten manche, deren lautere, direktere Art könnte das Gleichgewicht stören, das sich in der zurückhaltenden, bescheidenen niederländischen Gesellschaft austariert hatte. Obwohl der Antisemitismus in der niederländischen Kultur historisch weniger verbreitet gewesen war als in anderen Teilen Europas, war er unterschwellig doch ein Stück weit vorhanden. Insgesamt trugen also die holländischen Juden wenig dazu bei, den Zustrom der deutschen Juden zu integrieren, weshalb die Beratung durch meinen Vater und Herrn Ledermann sehr wichtig war. Sie halfen vielen Menschen in unserem Umfeld, und diese Hilfe blieb auch später unvergessen.
Während mein Vater und Herr Ledermann ernsthaft und viel beschäftigt mit ihrer Arbeit und den Ereignissen in Deutschland waren, war Herr Frank ein ganz anderer Mensch. Er machte etwas her mit seinen 1,80 Meter Körpergröße, seinem grau melierten Schnurrbart und den funkelnden Augen, die er Anne vererbt hatte, und er war ein Vater, der sich beim Schlafengehen ans Bett seiner Kinder setzte und mit ihnen Geschichten ausdachte. Wir alle liebten ihn; er war für uns etwas ganz Neues – ein Vater, der stets zugänglich war, uns nicht verscheuchte, um Zeitung zu lesen oder sich um materiellere Geschäfte zu kümmern. Frau Frank verlor manchmal die Geduld, vor allem mit Anne, die viel Aufmerksamkeit forderte, aber Herr Frank liebte ihre nie endende Neugier und schien sich mit ehrlichem Vergnügen anzuhören, was wir Kinder zu sagen hatten. Außerdem konnte er wirklich albern sein. Anne und mir brachte er ein Nonsens-Lied bei, von dem er behauptete, es sei Chinesisch; wir glaubten ihm jahrelang.
Jo di wi di wo di wi di waja, katschkaja,
Katscho, di wi di wo di,
Wi di witsch witsch witsch bum!
Wir bettelten, er solle es uns wieder und wieder vorsingen. Das Lied war einer unserer Insiderwitze, über die wir auch noch lachten, als wir älter waren. Eine andere Tätigkeit, die wir aus irgendeinem Grund liebten, bestand darin, ihm zuzusehen, wie er sich ein großes Glas Bier eingoss. Wir sahen den Schaum über den Rand aufsteigen und warteten, dass er überlief – aber dazu kam es nie.