13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Maike Brunk ist die »Hafenschnackerin«. Seit 14 Jahren zeigt sie ihren Fahrgästen die verborgenen Ecken des einzigartigen Hamburger Hafengebiets, jenseits der Standard-Touren. Sie hat ihre große Leidenschaft Hamburg zum Beruf gemacht. Im ersten Leben war sie IT-Beraterin, gut bezahlt, aber wenig erfüllt. Kurzentschlossen wirft sie hin und orientiert sich um – und hat es nie bereut. Heute präsentiert sie auch den alteingesessenen Hamburger*innen auf ihren Elbinsel-Touren noch Neues und hat sich gut etabliert. Beim G20-Gipfel ist sie diejenige, welche die Partner*innen der angereisten Politiker*innen durch den Hamburger Hafen führen darf. Maike Brunk nimmt uns in ihrem Buch mit zu ihrem Sehnsuchtsort. Sie schippert mit uns durch den Hamburger Hafen und eröffnet uns einen neuen Blick auf die Stadt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 300
Das Tor zur Welt
Der Abend davor
Mein Weg aufs Wasser
Seegang
Landgang
Orientierungslos
Lichtzeichen
Land in Sicht
Stürmische Zeiten
Anpacken
Leinen los
Aller Anfang ist schwer
Gegenwind
Sichtbar werden
An der Hafenkante
Drunter durch
Backsteine
Zukunftsmusik
Fischmarkt, Schlepper und Lotsen
Schlepperballett
Willkommen in Hamburg, Megaboxer
Feine Gesellschaft
Kulinarisches
Drama, Baby
Tunnelblick
Rasante Rundfahrt
Anruf vom Auswärtigen Amt
7. Juli 2017
First Ladies and Gentlemen
Aufatmen
Entdeckungstour
Hier gleich die nächste Abfahrt
Hamburgs wilder Osten
Heimatbucht
An de Alster, an de Elbe, an de Bill
Alles anders
Zuversicht
Ahoi!
Danke
Was immer du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es jetzt. Kühnheit trägt Genius, Macht und Zauber.
John Anster, inspiriert von Goethe
Hamburg. Die meisten Menschen verbinden damit die Landungsbrücken, Speicherstadt und HafenCity, große Pötte, den Fischmarkt, die Alster und die Elbe. Kreischende Möwen, plätscherndes Wasser, das Tuckern vorbeiziehender Schiffe und immer eine frische Brise, die um die Nase weht. Ein Sehnsuchtsort für viele. Seit 2007 ist der Hamburger Hafen mein Anker und ganz persönliches Tor zur Welt.
»Und was machen Sie im richtigen Leben?«
Diese Frage höre ich ständig. Offenbar ist es für viele Menschen schwer vorstellbar, dass ich meinen Lebensunterhalt mit Hafentouren verdiene. Fahrgäste sehen meinen Beruf als ausgefallenes Hobby oder besondere Leidenschaft. Damit liegen sie ganz richtig, aber ich bin tatsächlich hauptberuflich selbstständig im Hafen unterwegs.
Hamburg begeistert mich immer wieder aufs Neue, vor allem der Hafen. Diese Begeisterung teile ich gern in der Ausrichtung und Moderation abwechslungsreicher Touren. Der Hafen bildet meine Lebensgrundlage, mein altes Leben habe ich an den Nagel gehängt. Über fünfzigtausend Menschen konnte ich inzwischen an Bord begrüßen, davon erstaunlich viele Hamburger, die ihre Stadt aus einem neuen Blickwinkel kennenlernen wollten. Meine Liebe für die Stadt und den Hafen geht weit über die touristischen Sehenswürdigkeiten hinaus, besonders gern nehme ich Gäste mit auf Entdeckungsreise in unbekannte Ecken.
Wie bin ich als nordfriesisches Lehrerkind im Hafen gelandet? Ist ein Studium der Wirtschaftsinformatik dazu wirklich nötig, und wie kam es, dass das Auswärtige Amt ausgerechnet mich für das Begleitprogramm des G-20-Gipfels auswählte?
Auf Basis einer wahren Schnapsidee fand ich den idealen Job und blicke seitdem voller Vorfreude und Spannung auf Begegnungen, Begebenheiten und Herausforderungen jedes neuen Tages.
Willkommen an Bord!
Diese Marketingidee war großartig, geradezu genial. Das musste einfach wie von selbst funktionieren. Ich würde im Handumdrehen Gäste für den kommenden Tag akquirieren. So dachte ich zumindest.
Es war der Abend vor meiner ersten selbst organisierten Hafentour im Frühsommer 2007. Alles war gut vorbereitet: Ich hatte eine traditionelle urige Hafenbarkasse, also eins von diesen alten kleinen Schiffen, gechartert und mit dem Schiffsführer eine interessante Fahrtroute abgestimmt. Die Barkasse würde für einen kulinarischen Zwischenstopp an einem idyllischen Biergarten anlegen, und für die Rückfahrt hatte ich einen dieser typischen Stadtrundfahrt-Cabrio-Doppeldeckerbusse gebucht. Die Tour würde zunächst unter der Köhlbrandbrücke hindurchführen und später obendrüber hinweg – mit einem atemberaubenden Ausblick über den Hamburger Hafen. Ich war davon überzeugt, dass die verschiedenen Hafenansichten meine Gäste begeistern würden. Sie sollten einen neuen Blick auf Hamburg bekommen und mit der Elbinsel Wilhelmsburg eine weitgehend unbekannte Ecke der Stadt kennenlernen. Wilhelmsburg war ein sozial schwacher Stadtteil, dem für die nächsten Jahre dank dort stattfindender Internationaler Bauausstellung und Planung einer Gartenschau ein großer Aufschwung prophezeit wurde. Ein interessanter Stadtteil im Wandel.
Nur eines fehlte mir noch für meine Tour: zahlende Fahrgäste. Ich hatte hohe Kosten, aber bis zum Vorabend der Tour tatsächlich nur einen einzigen Gast, der Geld für sein Ticket bezahlt hatte. Ich hatte die Dame über eine Zeitungsanzeige in einem lokalen Wochenblatt für meine Tour interessieren können. Leider hatte die Schaltung der kleinen Annonce mehr gekostet, als dieses eine verkaufte Ticket für die Jungfernfahrt einbrachte. Natürlich hatte ich der Dame als meiner ersten zahlenden Kundin auch noch großzügig Rabatt eingeräumt. Schließlich war das hier der Beginn von etwas ganz Großem. Das mit dem Premierenkundenrabatt hielt ich für ein unschlagbares Argument, nur leider hatte diese Idee mit nur dieser einen Kundin als Resultat offenbar nicht gezündet.
Ich hatte den ganzen Nachmittag mit einer kühlen Schorle in der Hand auf der Terrasse unterm Sonnenschirm gesessen und gegrübelt. Wo in Hamburg würde ich auf viele begeisterte Menschen treffen, die ich so kurzfristig noch als Kunden für meine morgige Tour gewinnen konnte? Gedanklich ging ich alle mir bekannten Touristen-Hotspots durch, als meine Freundin anrief. Wir kennen uns schon aus der Studienzeit in Kiel, hatten einige Jahre zusammen Basketball gespielt und schon viel gemeinsam durchgestanden. Marion ist bis heute eine meiner engsten Vertrauten. Ihre Eltern waren Ärzte, sie glaubt an das Gute in den Menschen, feiert gern und steckt mit ihrem lauten Lachen alle an. Ihr Job in der Finanzbehörde scheint so gar nicht zu ihrem lebenslustigen Wesen zu passen. Wir hatten uns bei einer Infoveranstaltung für Erstsemester in der Unibibliothek kennengelernt und waren uns gleich sympathisch.
»Hey, Maike, wir wollen nachher noch was trinken gehen, bist du dabei?«
Ich zögerte kurz. Das Angebot auf Ablenkung von meinem Problem schien sehr verlockend.
»Ich weiß nicht, Marion, ich habe immer noch keine zahlenden Gäste für die Tour morgen und bin gerade echt verzweifelt.«
»Ach was, nun komm schon, uns fällt doch immer was ein. Wir quatschen nachher einfach ein paar Leute auf dem Kiez an, da sind doch immer Touristen, die was erleben wollen.«
In meinem Kopf hakten sich Engelchen und Teufelchen unter und schauten mich erwartungsfroh an. Natürlich, das könnte die Lösung sein. Meine Stimmung stieg schlagartig.
»Also gut, ich bin dabei, Treffpunkt wie immer?«
»Jo, Marko legt heute wieder auf.«
In Gedanken war es ganz einfach und glasklar: Natürlich würde ich meine potenziellen Fahrgäste für den kommenden Tag am ehesten auf dem Kiez finden. Rund um die Reeperbahn hatte sich in den vergangenen Jahren eine gute Theater-, Restaurant- und Klubszene entwickelt, die für jeden Geschmack und jedes Alter Angebote bereithielt. Menschen jeglicher Herkunft und sozialer Schichten tummelten sich dort Abend für Abend. Ich musste nur die Richtigen finden und sie von meinem Tourangebot überzeugen.
Mit meinen Freunden war ich zu dieser Zeit häufig zum Feiern unterwegs, wir waren Stammgäste im Herz von St. Pauli, einer bei Hamburgern wie Touristen gleichermaßen beliebten Lokalität am Spielbudenplatz. Sie verfügte über gemütliche Sitzecken und eine große mittige Tanzfläche, die meist gut gefüllt war. Wir hatten uns einige Monate zuvor mit Marko, dem DJ, angefreundet, und unsere gut gelaunte Runde, die meist aus acht bis zehn Personen bestand, sorgte immer ordentlich für Stimmung.
An diesem Abend verabredeten wir uns für halb zehn. Die große Party startete im Herz von St. Pauli immer erst, wenn es schon auf Mitternacht zuging, wir wollten jedoch sichergehen, dass wir unseren Stammtisch in der linken Ecke am Fenster bekamen. Von dort hatte man das Treiben sowohl im Laden selbst als auch draußen im Blick.
Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, hier irgendwo so ganz nebenbei ein paar Fahrgäste für den kommenden Tag aufzuspüren. Meine Freunde sprachen mir Mut zu. Die Halbliterbiergläser klirrten über dem Tisch zusammen, alle stießen auf meine Mission an. Marion trank wie immer Sekt, ich hielt mich heute an Apfelschorle. Ich wollte auf keinen Fall potenzielle Fahrgäste mit einer Alkoholfahne ansprechen und verschrecken.
»Die können doch gar nicht an dir vorbei.«
»Rede einfach so viel wie sonst und lächle sie an, dann wird das schon.«
»Hey, die werden ganz sicher anbeißen.«
Meine Freunde waren sich einig, dass es klappen würde.
Mir war etwas mulmig zumute, als ich mich mit klopfendem Herzen auf den Weg machte, um wildfremde Menschen auf der Straße anzusprechen.
Unser Stammlokal lag in einem der alten Flachbauten auf dem Gelände der sogenannten Esso-Häuser am östlichen Ende des Spielbudenplatzes, gleich am Beginn der Reeperbahn. Die Esso-Häuser hatten ihren Namen von einer kultigen Tankstelle auf dem Gelände, die vermutlich mehr Umsatz mit Sprit für Menschen als für Autos machte, da sie strategisch gut lag und preiswerte alkoholische Getränke verkaufte. Das dort angebotene Bier- und Spirituosensortiment war beachtlich, und ich hatte nie zuvor eine Tankstelle mit Security-Mitarbeitern gesehen. Inzwischen wurden sowohl die Tankstelle als auch die Häuser abgerissen, hier soll neu gebaut werden. Der Kern der Partyszene traf sich auch damals schon ein paar Hundert Meter weiter am Hans-Albers-Platz und auf der Großen Freiheit.
Ich wollte mein Glück erst mal nebenan versuchen, vor dem Eingang zum Operettenhaus. In diesem renommierten Haus auf der Reeperbahn wurde gerade das Musical MAMMA MIA! gespielt. Abend für Abend strömten gut gelaunte Menschen in das Theater und kamen mit einem regelrechten Strahlen im Gesicht und begeistertem »Here we go again« auf den Lippen wieder heraus. Mit Vorstellungsende wandelte sich der verlassene Bürgersteig vor dem Theater in einen bunten, lauten Boulevard. Vernahm man vorher nur die gedämpfte Musik entfernter Kneipen, so tanzten die Musicalgäste plötzlich die breiten Treppen am hell erleuchteten Theatereingang herunter. Ein fröhliches Stimmengewirr, Gelächter und spontane Gesangseinlagen füllten die Abendluft.
»Take a chance on me«, trällerte eine fünfköpfige Damengruppe offenbar rheinländischer Frohnaturen zu meiner Rechten. Sie hatten sich für diesen Abend ordentlich in Schale geworfen, und ihr Glitzer-Make-up funkelte im Lichterschein. »The winner takes it all«, schmetterte ein kleiner untersetzter Herr im luftigen Trenchcoat zu meiner Linken.
Das waren sie. Meine perfekten Gäste. Genau diese gut gelaunten, positiven Menschen mit Interesse an Kultur und einem Verständnis dafür, dass gutes Entertainment auch sein Geld wert war. Die wollte ich auf meiner Tour. Und zwar morgen.
Nicht so recht bedacht hatte ich, dass die Musicalbesucher etwas abgelenkt waren. Sie hatten den Kopf voll mit ABBA-Songs, schnatterten unentwegt mit ihren Begleitungen und träumten von der wunderschönen Liebesgeschichte mit Happy End, deren Zeuge sie gerade geworden waren.
»Money, money, money, must be funny, in the rich man’s world«, schoss es mir passend durch den Kopf.
Um mich herum warf man sich im Gehen Jacken über, sortierte die gerade im Foyer ergatterten CDs, bedruckten Kaffeetassen und Programmhefte in winzige Rucksäcke oder kramte in riesigen Handtaschen nach dem Autoschlüssel oder dem Telefon.
Kaum jemand nahm Notiz von mir. Dabei bin ich mit meinen fast 1,90 Meter eigentlich nicht zu übersehen. Die Menschen strömten zuhauf aus dem Theatereingang und mischten sich schnell mit Passanten. Ganz in der Nähe liegt die U-Bahn-Station St. Pauli, aus der zu dieser Uhrzeit im Minutentakt feierlustige Gäste für die Nacht auf die sündige Meile sprudelten.
Ich sammelte mich kurz und überlegte. Ich hatte ein schönes großes Werbeplakat vorbereitet, da mussten die Leute doch zumindest neugierig stehen bleiben. In der Oberstufe an meinem Gymnasium in der nordfriesischen Heimat hatte ich erfolgreich Plakate für unser Schulfest gemalt, da würde das hier bestimmt auch funktionieren. Ich hatte sogar einen meiner gerade erst ergatterten Hafenpläne geopfert, ihn zurechtgeschnitten und auf Pappe geklebt. Mit dunkelblauem Marker hatte ich die wichtigsten Informationen dazugeschrieben und das Ganze mit durchsichtiger Schulbuchklebefolie professionell konserviert. Schließlich bin ich Lehrerkind und somit von Natur aus talentiert im Plakatbasteln.
Ich hielt also das überdimensionierte Schild im Arm und gesellte mich mutig auf wackligen Beinen mitten in die gerade aus dem Operettenhaus strömende Menschenmenge. Erst hielt ich das Plakat etwas schüchtern ungefähr auf Kniehöhe. So diente es jedoch eher als Stolperfalle, das war kontraproduktiv. Immer wieder stieß jemand im Vorbeigehen dagegen, warf mir einen entschuldigenden Blick zu oder rollte die Augen. Ich hätte mich gern in Luft aufgelöst.
»Reiß dich zusammen, Maike, wenn du deine eigene Firma aufbauen willst, musst du dich auch zeigen!«, maßregelte ich mich selbst.
Ich vernahm rechts und links Gesprächsfetzen.
»Wow, hast du die tolle Schlaghose von Donna gesehen?«
»Hach, Benny war immer schon mein Jugendschwarm.«
»Ich mochte Agnetha!«
»Ja, ich hatte alle ABBA-Poster und -Alben.«
Alle schienen völlig begeistert vom Musical und irgendwie auf einer Nostalgiewelle entrückt. Im Publikum überwog der Anteil von Frauen zwischen zwanzig und fünfzig deutlich. Die Damen waren gut gelaunt, teilweise leicht beschwipst und sehr ausgelassen. Viele würden wohl noch in einer der Bars rund um den Hans-Albers-Platz oder auf der Großen Freiheit die Nacht zum Tag machen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, hielt mein Schild hoch und sprach kleine Gruppen direkt an: »Hallo, möchten Sie morgen mal den Hamburger Hafen ganz neu kennenlernen?«
Keine Reaktion.
»Hey, seid ihr schon mal mit einem Cabrio-Doppeldeckerbus über die Köhlbrandbrücke gefahren?«
»Moin, habt ihr morgen Lust auf eine außergewöhnliche Tour?«
Außer einem schnellen mitleidigen Lächeln erhielt ich kaum Aufmerksamkeit. Hier war offenbar nichts zu holen.
»Darling, can’t you hear me, S.O.S.«, tönte es in meinem Kopf. Es wollte einfach nicht klappen. Ich grübelte, wie ich doch noch jemanden begeistern könnte, aber war innerlich schon dabei, aufzugeben. Vielleicht war mein Akquiseversuch hier der vollkommen falsche Ansatz. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Plötzlich entdeckte ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Und wäre am liebsten im Boden versunken. Ich spürte, wie ich rot anlief und meine Beine weich wurden. Ich zog instinktiv den Kopf ein und nahm das Schild runter.
»Oh nein, das kann nicht wahr sein«, schoss es mir durch den Kopf. Wie groß war bitte die Wahrscheinlichkeit, dass mir ausgerechnet hier an diesem Abend in diesem Moment mein früherer Chef mit seiner Familie in die Arme lief? Ich traute meinen Augen kaum.
Zum Glück war es nicht der Chef, der mich gerade erst, wenige Wochen zuvor, vor die Tür gesetzt und mir damit den im Nachhinein besten Tritt meines Lebens verpasst hatte. Aber auch diesem hier, dem sehr netten Geschäftsführer einer meiner früheren Arbeitgeber, wäre ich jetzt doch lieber nicht begegnet. Der wohnte doch in der Nähe von Köln. Was machte er ausgerechnet an diesem Abend hier in Hamburg?
Ich versuchte, ein souveränes Lächeln aufzusetzen. Er schaute zunächst ungläubig von mir zu meinem Plakat, war aber vermutlich durch all die ABBA-Songs noch high genug, um nicht zu realisieren, dass er in mir mal größeres IT-Vertriebler-Potenzial gesehen hatte. Er war ein typischer Mittfünfziger-Geschäftsmann, trug wie immer einen dunklen Anzug, das dunkle Hemd kaschierte geschickt den leichten Bauchansatz, und ich musste schmunzeln, als mir neben den grauen Schläfen wieder die lustigen Härchen auf seinen Ohren auffielen. »Pinseläffchenohren« hatten meine Kollegin und ich immer hinter seinem Rücken dazu gesagt.
»Maike, was machen Sie denn hier?«
»Klaus, das ist ja eine Überraschung, Sie hier zu sehen. Wie war das Musical?«, versuchte ich abzulenken.
»Das war super, aber was ist denn das da für ein Plakat? Jobben Sie hier für einen Touranbieter?«
Ich bemühte mich, lässig zu wirken und meine frische Selbstständigkeit professionell darzustellen.
»Das ist meine eigene Firma, ich biete jetzt ganz neue Touren im Hamburger Hafen an, in Ecken, die man sonst nicht zu sehen bekommt. Per Barkasse und mit einem Doppeldeckerbus.«
Klaus schaute irritiert. Ob wegen meines gewagten Jobwechsels oder meiner Touridee konnte ich nicht sofort erkennen.
»Ach, da sieht man doch immer das Gleiche. Der Hafen ist spannend, aber ist doch egal wo wir mitfahren.«
Ja, von wegen.
»Nein, schauen Sie mal hier, ich fahre ganz woanders lang, die Tour dauert drei Stunden, und wir machen einen Zwischenstopp. Es gibt noch so viel zu entdecken.«
Ich hielt Klaus mein Werbeplakat mit der eingezeichneten Fahrtroute für den kommenden Tag unter die Nase und erklärte meine Tour. Was hatte ich zu verlieren? Die Anzahl meiner zahlungswilligen Kundschaft für den folgenden Tag lag weiterhin bei eins. So leicht gab ich nicht auf, ich kam langsam in vertriebliche Höchstform und war von meinem Angebot überzeugt. Das Ziel hatte ich direkt vor Augen: Klaus und seine Familie sollten morgen an Bord kommen. Seine Frau schaute freundlich interessiert, die Teenagertochter summte derweil ABBA-Melodien vor sich hin.
Es half aber alles nichts, sie hatten schon Tickets der Konkurrenz erworben. Es blieb beim freundlichen Plausch, und die Familie verabschiedete sich.
»Viel Erfolg für die Idee und gutes Durchhaltevermögen!«
Ich war niedergeschlagen. Meine Motivation schwächelte, der Elan war weg. Ich hatte mir das so schön ausgemalt. War sicher, hier mindestens zehn Kunden zu finden und die nachmittags schnell noch ausgedruckten Jungfernfahrt-Sonderrabatt-Ticketschnipsel unters Volk zu bringen. Ich hatte nicht mal die Chance gehabt, meine Tour richtig zu präsentieren. Vielleicht war das alles doch nur eine Schnapsidee. In den vergangenen Wochen hatte das mit der Akquise schon nicht geklappt, was sollte der heutige Abend da retten können? Mittlerweile hatten die meisten Musicalbesucher das Theater verlassen, nur einige standen noch in Grüppchen zusammen und berieten vermutlich den weiteren Verlauf des Abends.
Ich schlurfte niedergeschlagen zum nächsten Mülleimer. Hier auf St. Pauli wurde schon so mancher Traum begraben. Traurig warf ich die Ticketschnipsel weg und sah dem morgigen Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Vertrieblich hatte ich versagt. Oder war zu naiv gewesen. Oder beides. Immerhin hatte ich etwas gewagt. Dennoch war mir nicht mehr nach Feiern zumute.
Mit dem Schild unter den Arm geklemmt stand ich vor dem Herz von St. Pauli. Ich wollte eigentlich nur noch nach Hause. Durch die Scheibe beobachtete ich meine Freunde, die bester Stimmung waren. Marions Freund sang gerade aus vollem Herzen einen Coldplay-Song mit und schwenkte andächtig sein Bier dazu, ein paar von uns entdeckte ich auf der Tanzfläche. Marion erblickte mich und winkte mir hektisch zu. Sie gestikulierte mir aufmunternd, dass ich reinkommen sollte.
»Na gut, aber nur um mich schnell zu verabschieden«, dachte ich bei mir.
Drinnen war es inzwischen sehr voll geworden, im Eingangsbereich herrschte Gedränge, ich erkannte die Rheinländerinnen, die gerade noch vor dem Theater gestanden hatten. Vermutlich würde einer der nächsten bei DJ Marko eingehenden Musikwünsche mit ABBA zu tun haben. Er nickte mir von seinem Pult neben der Bar aufmunternd zu, als er mich entdeckte. Ich hatte ihm vorhin von meinem Plan berichtet.
Mit dem unhandlichen Schild über meinem Kopf kämpfte ich mich bis in unsere Ecke vor. Die Luft war bereits stickig, es roch nach verschüttetem Bier. Meine Freunde nahmen mich herzlich in Empfang – ich hatte sie gebeten, nicht mitzukommen, da ich zu unsicher war, wie mein Werbeauftritt laufen würde. Dass es so eine Pleite wurde, hatte ich nicht erwartet.
Nun denn, es nützte ja nichts, ich erzählte, was passiert war.
»Hey, das macht doch nichts, das bedeutet gar nichts«, versuchte Marion mich aufzuheitern.
»Mach dir nichts draus, das waren einfach die falschen Leute. Lass den Kopf nicht hängen. Komm, trink erst mal was mit uns.«
Wir stießen auf den morgigen Start meines neuen Lebens an. Das Vertrauen in meine Geschäftsidee kam zurück, wenn auch erst mal eher zögerlich. Alle Freunde versprachen, morgen mit an Bord zu sein, dazu noch Familie und weitere Bekannte. Die einzige zahlende Dame würde hoffentlich nicht bemerken, dass sie eine Pionierin war.
Mein selbst gebasteltes Plakat verbrachte den Rest des Abends gut sichtbar hinter dem DJ-Pult bei Marko, vielleicht wurde ja noch jemand neugierig. Ich musste lächeln, wann immer ich in die Richtung hinübersah. Weit nach Mitternacht fuhren wir mit der U-Bahn nach Hause. Mein Plakat und ich. Voller Vorfreude auf den nächsten Tag. Und voller Zuversicht, dass die Entscheidung für eine Selbstständigkeit im Hamburger Hafen mir Glück bringen würde. Das Tor zu einer neuen Welt und meinem neuen Leben stand offen.
Leinen los!
Ich bin weit oben im Norden Deutschlands aufgewachsen, in Nordfriesland, in einem kleinen Dorf namens Ostenfeld nahe der »Grauen Stadt am Meer« – Husum. Ostenfeld liegt zwölf Kilometer landeinwärts, fast mittig zwischen Husum und Schleswig. Die Landschaft ist flach, kein Hügel stört den Weitblick. Auf den Feldern sieht man manchmal Kühe, häufig Schafe und mittlerweile unzählige Windräder. Die Bäume und Büsche auf den Knicks, so nennen wir die Feldumrandungen, sind windgeschoren, das heißt, sie neigen sich nach Osten und wachsen auf der Ostseite deutlich üppiger, da in Nordfriesland meist Westwind herrscht. Als Friese arrangiert man sich von Beginn an mit dem feuchten, windigen Klima. Es ist ja, wie es ist. Von Nieselregen und Windböen lassen wir uns den Tag nicht verderben.
Meine Eltern trafen sich bei einer Tanzveranstaltung während des Studiums in Kiel, verliebten sich und zogen bald nach ihrer Hochzeit nach Nordfriesland. Meine Mutter brachte als Lehrerin an der Grundschule über Jahrzehnte so gut wie dem ganzen Dorf das Lesen und Schreiben bei, mein Vater war Berufsschullehrer in Husum und engagierte sich sehr in der dörflichen Gemeindearbeit. Bis heute ist ihre Telefonnummer dreistellig, das hat sich auch trotz zwischenzeitlichem Anschluss des Dorfes an das Glasfasernetz nicht geändert.
Ich wuchs mit zwei jüngeren Brüdern auf, Gerald und Malte. Gerald war nur knapp ein Jahr jünger als ich. Mit zwei Jahren erkrankte er schwer an einer Hirnhautentzündung und wurde in der Folge gehörlos. Für unsere Familie war das ein erschütternder Einschnitt, fast ein Jahr lang drehte sich durch die Krankheit alles um die Genesung meines Bruders. Als große Schwester lernte ich schnell, selbstständig zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Unsere Familie erlernte die Gebärdensprache, zusätzlich entwickelten Gerald und ich unsere eigene Sprache, jenseits der regulären Handzeichen. Wir stritten und liebten uns wie alle Geschwisterkinder und hatten eine schöne Kindheit auf dem Lande mit unendlichen Stunden draußen in der Natur und im Handballverein in der benachbarten Sporthalle. Die Kenntnis der Zeichensprache kam mir später in so mancher Lateinklausur zugute. Ich brachte meinen engsten Freundinnen das Fingeralphabet bei, und so konnten wir uns entspannt hinter dem Stuhlrücken Worte buchstabieren, ohne dass die Klassenaufsicht es mitbekam.
Als Gerald und ich acht und neun Jahre alt waren, wünschten wir uns ein Geschwisterchen. Im darauffolgenden Jahr wurde Malte geboren. In den ersten Jahren betüdelte ich mein kleines Brüderchen wo es nur ging. Mein wachsendes Bedürfnis auszugehen, kollidierte jedoch bald darauf mit der Pflicht, auch mal auf den Kleinen aufzupassen. Inzwischen ist der »Kleine« mir deutlich über den Kopf gewachsen und hat eine eigene Familie. Außerdem ist er – wer hätte das gedacht – Lehrer geworden. Malte lebt ebenfalls in Hamburg, und wir treffen uns regelmäßig.
Im Jahr 2017 starb Gerald mit nur 44 Jahren als junger Familienvater in Hamburg an einem bösartigen Hirntumor. Wir hatten zeitlebens eine besondere Verbindung. Er lebt weiter in unseren Herzen und in seinen beiden süßen Töchtern, deren Patentante ich bin.
Wann immer sich die Gelegenheit bot, war ich von klein auf im oder auf dem Wasser unterwegs. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wir fuhren früher oft zum Baden an die Nordsee oder an den nahe gelegenen Fluss Treene, außerdem lag das Freibad im Heimatdorf gleich nebenan. Mein Vater stammt aus Hamburg, wir besuchten regelmäßig meine Großeltern im Stadtteil Blankenese. Ein Kinderbild zeigt mich mit vier Jahren mit strahlenden Augen und voller Enthusiasmus auf meiner ersten großen Hafenrundfahrt in Hamburg. Auf einem anderen Bild stehe ich mit sehnsüchtigem Blick an der Kaikante. Doch meine Hafenkarriere war noch in weiter Ferne.
In unserer Kindheit waren Gummi- und Tretboote hoch im Kurs. Wir hatten zwei Gummiboote, in denen unsere Eltern Gerald und mich regelmäßig auf der Treene herumpaddeln ließen. Ab einem Alter von ungefähr acht Jahren fuhr mein Vater uns mit dem Auto ein paar Kilometer flussaufwärts und setzte uns dort ab, um uns nach gut drei Stunden stromabwärts im Nachbardorf wieder einzusammeln. Da es damals keine Handys gab, bekam ich zwanzig Pfennig mit auf den Weg und vermeldete unsere erfolgreiche Ankunft jeweils über die örtliche Telefonzelle. In heutiger Zeit wäre das wohl undenkbar. Unsere aufregenden Paddelreisen hatten entlang grasbewachsener Deiche und durch im Wasser stehende Kuhherden geführt. Die Herausforderung war, erfolgreich um die großen Tiere herumzumanövrieren. Wir hatten uns vorgestellt, die Kühe seien Seeungeheuer und wir Wikinger auf Beutezug. Einmal stülpten wir ein T-Shirt über eines unserer beiden Paddel und »segelten« majestätisch an den bedrohlichen Ungeheuern vorbei. Wir hatten reichlich Fantasie und vor allem viel Spaß. Dass die Wikinger die Treene tatsächlich früher von der nahe gelegenen Stadt Haithabu aus genutzt hatten, um zur Nordsee zu gelangen, wurde mir erst viele Jahre später bewusst. Die Gummiboote reisten einige Jahre lang auch mit in den Familienurlaub, und wir paddelten damit über viele wilde Seen und Flüsse. Dass ich in Freizeitparks wie dem HANSA-PARK oder LEGOLAND am liebsten Schiffschaukel, Wildwasserbahn und Tretboot fuhr, versteht sich wohl von selbst.
Unzählige Schiffe in meinem Leben waren aus Papier und selbst gefaltet. Ich liebe es, Papiere aller Art zu falten, ob Zeitungsseite oder Bonbonpapier, alles wurde schon immer im Handumdrehen zu einem Schiff geformt. Wenn wir uns bei Renovierungsarbeiten im Studentenalter aus Zeitungsseiten Hüte bastelten, um die Haare zu schützen, trug ich mitunter ein Faltboot auf dem Kopf. Auch heute noch hängen in meiner Küche zwölf bunte Miniaturpapierboote in einem Bilderrahmen, die meine Freundin Marion mir jüngst zugedachte. Die Faltleidenschaft besteht weiterhin.
Meine Eltern sind seit ich denken kann Segler. Ich fand zu dieser Art der Fortbewegung leider bis heute keinen richtigen Zugang. Im Erwachsenenalter machte ich zwar einen Segelschein auf der Hamburger Alster, zähle mich jedoch eher zu den Schönwetter- und Flautenseglern, wenn überhaupt. Sobald sich ein Segelboot im Wind bei mehr als drei Windstärken nur ganz leicht zur Seite neigt, melden sich umgehend meine inneren Alarmglocken und versetzen mich in den Überlebensmodus. Meine Pupillen werden groß, Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, und die Atmung wird hektisch. Ich mag das nicht, meine Hände suchen dann umgehend Halt, und ich hoffe inständig, dass dieser Törn bald vorüber sein möge. Die fröhlichen Gesichter meiner erfahrenen Mitsegler, die erst bei aufkommendem Wind so richtig Freude am Segeln haben, können mich dabei leider nicht beruhigen.
Meine Mutter erzählt immer gern von dem Moment, als ich auf einem Familiensegeltörn mit großen Augen »Ist das normal?« fragte, als wir uns erstmals etwas zur Seite neigten. Meine Eltern lachten damals nur, während mein Innerstes zu rebellieren begann. Mein Vater versuchte, mich zu beruhigen: »Maike, du kannst uns und unserer Segelerfahrung da schon vertrauen und auch dem Boot selbst. Das hat einen Kiel und richtet sich dadurch immer von selbst wieder auf, da kann gar nichts passieren.«
Ich war zu dem Zeitpunkt bereits über dreißig Jahre alt und verfügte eigentlich über ein gutes physikalisches Grundverständnis, aber es war nicht mehr viel zu retten. Mein Vertrauen in Segelboote ist leider bis heute gestört. Unnötig zu betonen, dass es mir sehr entgegenkam, als bei meiner Segelscheinprüfung auf der Alster der Wind mit gerade mal zwei Windstärken über das Wasser hauchte. Wir brauchten gefühlt eine Stunde, um von unserem Liegeplatz auf der westlichen Alsterseite zum Prüfort auf die gegenüberliegende östliche Seite zu gelangen, eine Entfernung von etwas mehr als einem Kilometer. Die Manöver wurden im Zeitlupentempo gefahren, ich bestand die Prüfung und war erleichtert.
Zu großen motorisierten Schiffen hingegen hatte ich immer viel Vertrauen. Ich konnte nicht oft genug mit der Fähre von Hamburg nach Harwich in England hin und her schippern, und kein Sturm war mir zu groß – da konnte mich wenig erschüttern. Das erste große Schiff, auf dem ich mitgefahren bin, war die PRINZ HAMLET, da war ich neun Jahre alt.
In den Achtzigerjahren ging es mit unserer Familie zweimal in den Urlaub nach England, beide Male erfolgte die Anreise mit der Fähre von Hamburg aus über die Nordsee. Für meine Brüder und mich war es ein großes Abenteuer, das ganze Schiff zu erkunden, die Treppen hinauf- und hinunterzustürmen und durch die langen Gänge zu rennen. Unsere Familienkabine befand sich jeweils unter dem Autodeck, ganz unten im Rumpf des Schiffes. Sie hatte kein Fenster, man hörte gedämpft das Dröhnen der Maschinen und hatte den ganz typischen Duft der Schiffsmotoren in der Nase. Dafür lag man da unten recht ruhig, das Schiff bewegte sich kaum merklich, auch wenn draußen hoher Seegang herrschte. Immer fiel im Hintergrund irgendwo eine schwere Metalltür zu, ich mochte diese besondere Atmosphäre und fühlte mich im Schiffsbauch geborgen. Auch bei späteren Überfahrten wählte ich häufig eine dieser unten gelegenen Kojen.
Als die Frage nach meinen Ideen für die Zukunft und meinem Berufswunsch immer häufiger aufkam, war mir schnell klar, dass ich alles Mögliche, nur nicht Lehrerin werden wollte. Mütterlicherseits waren bei uns in der Familie alle Lehrer, meine Großeltern ebenso wie meine beiden Onkel und beide Tanten. Und meine Eltern. Mir allerdings bereitete der Gedanke, den ganzen Tag mit aufgedrehten Kindern und Jugendlichen zu verbringen, Unbehagen. Ich mochte die Dinge etwas geordneter. In der Grundschulzeit hatte ich noch mit großem Enthusiasmus meine armen Freundinnen und Freunde regelmäßig beim Spielen zum Diktat gebeten, aber mit zunehmendem Alter fühlte ich mich dem Lehrerdasein nicht gewachsen. Ich war zwar mit 13 schon so groß wie jetzt, also 1,88 Meter, aber auch immer die Jüngste in der Klasse, da ich schon mit fünf Jahren eingeschult wurde. Vor allem in der Pubertät war ich sehr schüchtern und zurückhaltend.
Das änderte sich, als in mir die Idee reifte, nach der zehnten Klasse für ein Schuljahr nach Amerika zu gehen. Ich hatte in einer Jugendzeitschrift darüber gelesen und war sofort Feuer und Flamme. Meine Eltern unterstützten diesen Wunsch von Beginn an, forderten aber auch, dass ich mich, soweit möglich, selbst um die organisatorischen Dinge kümmern sollte. Diese Verantwortung für mein eigenes Leben und vor allem die Erfahrung, es ein Jahr lang auf mich allein gestellt in einem anderen Land zu schaffen, prägten mich sehr und gaben meinem Selbstbewusstsein und -vertrauen einen großen Schub. Ich lebte in einer Gastfamilie und ging auf eine Highschool, aber niemand sprach Deutsch, und ich hatte nur vier Jahre Schulenglisch im Gepäck, da Latein meine erste Fremdsprache war. Das Jahr in den USA verschaffte mir ein breites Englischfundament, das mir bis heute hilft, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen und englische Tourmoderationen anzubieten.
Mein erstes einwöchiges Schulpraktikum absolvierte ich nach meiner Rückkehr aus Amerika in einem Husumer Reisebüro. Als 16-jährige Praktikantin durfte ich allerdings wider Erwarten keine Flüge buchen oder Urlaubsreisen testen, sondern sortierte eine Woche lang dicke Kataloge in Regale – also verwarf ich diesen Berufswunsch nach der Woche schnell wieder.
Ich nahm in der Schule an einer Berufsfindungs-AG teil und hielt die Augen in meinem Umfeld offen. Was für Berufe gab es eigentlich? Mein Großvater hatte sich neben seiner Lehrertätigkeit immer in der Gemeinde engagiert. Über viele Jahre veranstaltete er Tagesreisen für die örtliche Seniorengruppe, er plante, organisierte und moderierte in seiner Freizeit ganztägige Bustouren. Die Idee, selbst Gäste zu begrüßen und durch ein Mikrofon wichtige Informationen zu verbreiten, gefiel mir. Vielleicht war das Reiseleiterdasein meins? Mit meiner Oma schaute ich wann immer es ging gern das Traumschiff. Insgeheim träumte ich davon, mich wie Chefhostess Heide Keller in einer schicken weißen Uniform um die Gäste zu kümmern und für jedes Problem eine Lösung parat zu haben.
Viel später entdeckte ich während meiner Studienzeit in Kiel einen Aushang am Schwarzen Brett. Ein Veranstalter von Schülersprachreisen suchte neue Betreuer für seine Englandreisen. Im Alltag als Lehrerin konnte ich mir eine Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen nach wie vor nicht vorstellen, in der Freizeit wäre es aber bestimmt kurzweilig. Ich schrieb meine Bewerbung und erhielt schon zwei Tage später die Einladung zum Vorstellungsgespräch und kurz darauf die Zusage. In den folgenden Jahren jobbte ich mehrfach als Gruppenleiterin in England und lebte während der Zeit immer wieder bei derselben englischen Gastfamilie. Mein größtes Vergnügen war es, die Schüler schon ab Hamburg mit der Fähre zu begleiten. In den frühen Neunzigerjahren habe ich die Nordsee auf diesem Weg ein Dutzend Mal überquert. In diesem Job sammelte ich auch die ersten Erfahrungen mit Tourmoderationen, den Tücken von Busmikrofonen und damit, Gruppen bei Laune und im Zaum zu halten. Ohne mich dort genauer auszukennen, moderierte ich plötzlich Stadtrundfahrten durch die englische Hauptstadt. Ich war zwar als Neunjährige mit der Familie in London gewesen, fand damals aber zum Leidwesen meiner Eltern meine Micky-Maus-Hefte spannender als den Buckingham Palace. Als ich nun selbst moderieren sollte, kannte sich zum Glück der Busfahrer aus und gab mir an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten rechtzeitig Hinweise. Ich hatte glücklicherweise ein im Bus herumtollendes Publikum aus 11- bis 17-jährigen Schülern, die sehr gnädig mit mir als Anfängerin waren. Doch auch wenn mir dieser Job sehr viel Spaß machte, fand ich in den Folgejahren noch nicht den Dreh, mich beruflich in diese Richtung zu bewegen.
Mein zweites Praktikum während der Schulzeit führte mich auf eine Nordseeüberquerung der ganz besonderen Art. Ich war damals 18 und Schülerin im zwölften Jahrgang eines Husumer Gymnasiums. In den Osterferien wollte ich ein außerplanmäßiges Betriebspraktikum machen, um in ein mir unbekanntes Berufsbild hineinzuschnuppern.
Der jüngste Bruder meines Vaters war damals Schifffahrtskaufmann bei der Reederei Hamburg Süd. Ich interessierte mich für Logistik, für Warentransporte und die Schifffahrt und wollte gern selbst Eindrücke und Einblicke bekommen. Im Frühjahr 1990 rief ich meinen Onkel in Hamburg an.
»Hey, Martin, sag mal, kann ich vielleicht in den Ferien bei euch im Betrieb ein Praktikum machen? Und solange bei dir in Hamburg wohnen?«
Die Aktion war ein wenig mit der Tür ins Haus, aber wir hatten schon immer ein ganz gutes Verhältnis.
»Maike, wie schön von dir zu hören. Klar kann ich dir das Praktikum organisieren, das wird schon gehen. Aber warte mal, mir fällt da noch etwas Besseres ein: Willst du nicht direkt zu unserer Partneragentur in Schottland und dir die dortige Firma ansehen? Ich kann mal mit John, dem Chef dort, reden. Ich sag dir in den nächsten Tagen Bescheid.«
Mir fiel vor Freude die Kinnlade runter, meine Augen strahlten, und ich konnte mein Glück kaum fassen. Meinte er das ernst? Nach Schottland? Natürlich wollte ich! Wenn das klappte, würde ich Ostern nach Schottland fahren. Ich begab mich gedanklich sofort voller Vorfreude auf die Fähre.
Ein paar Tage später kam die telefonische Zusage durch meinen Onkel. Ich war begeistert und hüpfte vor Freude mit dem Telefonhörer in der Hand. Schottland – das klang herrlich. Vor meinem geistigen Auge malte ich mir die sanft geschwungenen grün-braunen Hügel der Highlands mit den endlosen Steinwällen und ein paar dazwischen trottenden Schafen aus. Dazu quietschte im Hintergrund Amazing Grace aus einem Dudelsack.
»Ich hab da noch eine Überraschung für dich«, fuhr mein Onkel fort. »Hättest du Lust, mit einem Containerfrachter von Rotterdam nach Schottland rüberzufahren? Zwei Übernachtungen auf dem Schiff, du wärst der einzige Passagier an Bord. Ich kenne einen Kapitän, der dich mitnehmen könnte.«
Mir fehlten kurz die Worte. Ich war überwältigt, das klang toll. Mein Onkel würde mich auf einer Dienstreise nach Rotterdam in seinem Auto mitnehmen, mich zum Hafen bringen, und ich würde auf einem Feeder, einem kleinen Containerschiff, als einzige Frau und als einziger Gast an Bord nach Schottland mitschippern. Meinetwegen konnte es sofort losgehen.
Mein Zielort war Grangemouth am Firth of Forth. Bei dieser Ortsbeschreibung musste ich an Evelyn Hamann denken, die in einem bekannten Loriot-Sketch als Fernsehansagerin ihre liebe Not mit zahlreichen komplizierten »Tie-äitsch«-Worten hat und sich fast die Zunge zu verknoten scheint.
Nach Grangemouth sollte die Reise also führen – ich hatte noch nie davon gehört, entdeckte es dann aber in meinem Schulatlas knapp nördlich der Linie zwischen Edinburgh und Glasgow. Der Firth of Forth ist der breite Mündungsbereich des Flusses Forth in die Nordsee. Am Südufer liegt die Kleinstadt Grangemouth mit ihrem Seehafen.
Die Schule bewilligte mir eine Verlängerung der Osterferien um eine Woche, somit hatte ich drei Wochen Zeit für mein Abenteuer. Wir sausten also am Tag der Abreise frühmorgens in gut fünf Stunden über die Autobahn von Hamburg nach Rotterdam, ich war unglaublich aufgeregt und fragte meinen Onkel während der Fahrt Löcher in den Bauch. Das hatte ich in den vergangenen Wochen natürlich auch schon reichlich getan. Er blieb ganz entspannt und beantwortete jede Frage.
»Wie geht das auf einem Frachter zu?«
»Wie viele Menschen sind da an Bord?«
»Wo werde ich in Schottland unterkommen?«
»Bekomme ich eine eigene Kabine?«
»Darf ich an Bord überall rumlaufen?«
Wir erreichten den Hafen, und ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben einen Frachter. Die Besatzung des Feeders GITTA bestand aus einem deutschen Kapitän, zwei polnischen Maschinisten und ungefähr zehn philippinischen Seeleuten. An Bord wurde Englisch gesprochen.
Mir wurde für die Dauer der Überfahrt die Krankenkabine mit einer sogenannten Schlingerkoje zugeteilt. Das Bett war so aufgehängt, dass die Schiffsbewegungen nicht zu spüren waren. Bei Verletzungen oder Krankheiten kann das sehr vorteilhaft sein. Der Kapitän zeigte mir persönlich meine Unterkunft und gab mir einen wichtigen Hinweis.
»Mädchen, schließ deine Kabine ordentlich ab, die Jungs hier an Bord haben ihre Frauen schon sehr lange nicht mehr gesehen.«
Ich schaute ihn mit großen Augen fragend an und nahm diesen Hinweis zuerst gar nicht richtig ernst. Trotz meines Schuljahres in Amerika war ich doch ein sehr unbedarftes Landei aus Nordfriesland und hatte natürlich keine Ahnung vom rauen Leben auf See. Vermutlich beherbergte man auf diesem Schiff nicht sehr häufig 18-jährige alleinreisende Schülerinnen.
An die Überfahrt mit dem kleinen Containerfrachter habe ich nur schöne Erinnerungen. Der Geruch im Schiffsinneren glich dem auf der Englandfähre. Eine kräftige Mischung aus Eisen und Schiffsdiesel. Dazu eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse auf den Gängen. Der Motor stampfte, und die Türen schlugen laut zu.