Meine Lieblingsfarbe in unserem Ozean - Natalie Erlach - E-Book

Meine Lieblingsfarbe in unserem Ozean E-Book

Natalie Erlach

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Beschreibung

Ein kleines bisschen Verlieben war okay. Ein bisschen Verlieben tat nicht weh Kalea ließ ihr verhasstes Leben als New Yorker High Society Tochter und Influencerin hinter sich, um in Shore Mana Schildkröten zu retten. Malio schmiss für seinen heimlichen Traum das Jurastudium. Als er beim Surfen versehentlich eine Schildkröte verletzt und in Kaleas Rettungsstation platzt, ist das Chaos vorprogrammiert. Kalea ist pleite und steht vor dem Ruin. Dazu lassen ihre skrupellosen Eltern nichts unversucht, um sie zur Rückkehr zu zwingen. Kalea steht schon bald vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens und Malio scheint ihre letzte, emotionale Rettung zu sein. Inmitten von Zweifeln und Problemen zaubert er Kalea das Lächeln zurück aufs Gesicht. Während milder Sommerabende umgeben von Musik und Wellenrauschen versteht sie, was Freiheit wirklich bedeuten kann. Aber wird sie auch bereit sein, Hilfe anzunehmen?

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Seitenzahl: 533

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Originalausgabe

© 2024 reverie in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Kapitelvignette designed by rawpixel.com / Freepik

Covergestaltung von Emily Bähr

Coverabbildung von Zamurovic Brothers, pics five, detchana wangkheeree, Ron Dale / Shutterstock

Icons von UIcons / Freepik

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783745704150

www.reverie.de

Widmung

Für alle, die ihre Augen schließen, wenn sie Sonnenstrahlen an der Nase kitzeln. Für alle, die sich eine Muschel ans Ohr halten, um das Meer zu hören. Für alle, die nicht wegschauen.

Prolog

Kalea – New York City

Manhattan war sowieso nie mein Zuhause gewesen, dachte ich, während ich in einem Bus saß, der mich mit seinen dreckigen Sitzen und zwielichtigen Gestalten aus dieser eiskalten Hölle rettete. Ich lehnte den Kopf gegen die fleckige Scheibe. Meine Perücke verrutschte und die strohblonden Strähnen kitzelten mich an der Nasenspitze. Es war Nacht und trotzdem trug ich eine Sonnenbrille, die teuerste aus Moms Sammlung, damit ich sie später zu Geld machen konnte. Seufzend schob ich sie auf meinen Kopf und atmete aus, wodurch das Glas beschlug und sich weitere Flecken abzeichneten. Angewidert verzog ich das Gesicht und rückte blitzschnell mit der Schläfe von der Scheibe ab, lehnte meinen Hinterkopf stattdessen gegen das dunkelblaue, muffig riechende Polster.

Auch nicht viel besser. Aber ich sollte mich früher oder später daran gewöhnen, denn das hier war von nun an mein neues Leben. Ich beugte mich über den freien Sitzplatz neben mir, auf dem ich abblockend meine Handtasche platziert hatte, und spähte stirnrunzelnd in den Gang zur Leuchtanzeige. Miami. Dieser Bus hatte zwei Tagesreisen vor sich, was für mich bedeutete, dass ich die nächsten achtundvierzig Stunden zumindest ein Dach über dem Kopf hatte. Keine Ahnung, wohin es mich verschlug, sobald ich in Florida war. Aber es ging immer weiter, oder?

Die strahlenden Lichter der Stadt, die um die Wette flimmerten, blendeten mich, und ich konnte es kaum erwarten, dieser glitzernden Scheinwelt zu entkommen. Fürs Erste tat es die Sonnenbrille, die ich mir seufzend zurück auf die Nase schob, denn ich würde mich auf keinem Fall der Gefahr hingeben, erkannt zu werden. Ich wollte nicht in der Klatschpresse landen, zumindest noch nicht. Spätestens in einer Woche würden Fragen die Runde machen. Doch spätestens in einem Monat würden auch die Letzten begriffen haben, dass Kalea Conteville der intriganten Welt der Reichen und Schönen, ohne mit der falschen Wimper zu zucken, den Rücken gekehrt hatte.

Denn ab heute würde ich, Kalea Conteville, ein ganz neues Leben führen. Eines, das ich mir ausgesucht hatte.

Kapitel 1

Kalea

Sechs Jahre später.

»Komm schon, Kleine. Mach es mir nicht so schwer.« Meine nackten Unterarme berührten die kühle Metalloberfläche des in die Jahre gekommenen Behandlungstisches. Ich trommelte zögerlich mit den Fingerspitzen über den gemusterten Panzer von Peanut. Frustriert stöhnend legte ich den Kopf auf den Tisch und genoss die Abkühlung. Der Deckenventilator über uns surrte vor sich hin und schaffte es zu meinem Bedauern nicht annähernd, die tropische Zimmertemperatur zu regulieren.

»Peanut«, murmelte ich erschöpft. »Wenn du nicht endlich herauskommst, musst du eben für immer hierbleiben. Ja, du hast richtig gehört. Für immer!« Unaufhörlich tippelten meine Finger ihren Panzer auf und ab. »Ich meine es ernst! Peanut, bitte«, flehte ich und hoffte, sie durch die stetige Berührung dazu zu bewegen, ihren Kopf herauszustrecken. Unechte Karettschildkröten hörten unglaublich schlecht und reagierten am ehesten auf Erschütterungen und Kontakt. Im Normalfall taten das alle. Bis auf Peanut. Sie war ein höchst eigensinniges Exemplar, das mir graue Haare bescheren würde.

»Du weißt, dass sie dich nicht versteht, ja?« Ich zuckte erschrocken zusammen und stieß mir gleichzeitig das Knie am Tischbein an, woraufhin Peanut ordentlich durchgerüttelt wurde. Florence, meine beste Freundin, war ungewohnt lautlos in den Raum geschlichen und strahlte mich unschuldig an.

»Ach tatsächlich, Miss Marple?« Mürrisch rieb ich mir die schmerzende Stelle, richtete mich auf und zeigte mit dem Daumen über meine Schulter zur dickköpfigen Schildkröte. »Sie kommt nicht raus, dabei muss ich dringend ihre Wunde checken.«

»Kalea?« Florence wies zum Tisch.

»Ja?« Stirnrunzelnd folgte ich ihrem Fingerzeig. »Du Biest«, schimpfte ich lachend über die dickhäutige Verräterin, die natürlich ausgerechnet jetzt schaulustig aus ihrer Höhle kroch.

»Sie liebt mich eben«, trällerte Flo, formte ein Herz mit ihren Händen und warf der Schildkröte einen Luftkuss zu.

»Bild dir mal nichts ein.« Ich verdrehte die Augen. »Peanut ist einfach eine kleine Sadistin und freut sich, wenn jemand Schmerzen leidet.«

»Du bedauernswertes Baby«, zog sie mich auf und strich mir über die Schulter. »Ich düse los, meine Schicht im Coconight beginnt bald, kommt ihr zurecht?«

»Na klar, ich danke dir!« Mit angehaltenem Atem und so behutsam wie möglich untersuchte ich Peanuts Blessur. Sie war vor schätzungsweise vier Monaten in ein Fischernetz geraten und am Auge verletzt worden, weshalb Dr. Garcia, der hiesige Tierarzt, es hatte entfernen müssen. Erleichtert stellte ich fest, dass die Wunde ein weiteres Stück zugewachsen war. Eine Last fiel von mir ab, von der mir nicht bewusst gewesen war, dass sie mich erdrückt hatte. »Ein Glück«, schluchzte ich und fuhr ihr mit der Handfläche über den Panzer. »Weißt du, Peanut, für eine weitere Operation hätte ich nicht genug Geld.« Statt zu antworten, zog sie erneut den Kopf ein, was mir ein Lächeln entlockte. »Sei doch nicht beleidigt. Du weißt, dass ich für dich sogar getragene Unterwäsche verkaufen würde.« So weit war es bisher glücklicherweise nicht gekommen. Aber für meine Schützlinge würde ich alles tun.

»Na komm, ich bringe dich nach draußen, zurück in deine Suite.« Geübt griff ich mit beiden Händen unter Peanuts Panzer. »Wenigstens bist du nicht so fett wie Donut«, ächzte ich, als ich das Tier anhob, und entschuldigte mich in Gedanken bei Donut. Er war eines unserer größten Meeresschildkrötenmännchen und dermaßen schwer, dass ich ihn nicht ohne fremde Hilfe aus dem Wasser heben, geschweige denn tragen konnte. Mit der Schulter drückte ich mich gegen die weiß lackierte Holztür, durch die man in den weitläufigen Innenhof des Geländes gelangte. Dort standen die Wassertanks, die temporären Behausungen für unsere schuppigen Bewohner. Die hellen Fliesen auf dem Boden erinnerten eher an ein Freibad oder eine toskanische Finca als an eine Rettungsstation für Tiere.

Aber das war mir schon seit dem Tag gleichgültig gewesen, als ich das heruntergekommene Gelände vor über zwei Jahren das erste Mal betreten hatte, mit nichts weiter als einer Idee. Ich hatte nur Augen gehabt für das Potenzial, das es bot, sah die Rettungsstelle, die ich mit meinen eigenen Händen, aus eigenem Antrieb, ohne Hilfe, errichten wollte, schon vor mir. Blauäugig wie ich gewesen war, hatte ich den Mietvertrag unterzeichnet, und wenn ich an all die Tiere, all die Meeresschildkröten dachte, die ich bisher gerettet hatte, konnte ich meinen Entschluss von damals nicht bereuen. Wären da nur nicht die offenen Rechnungsberge, die ich zu erklimmen versuchte. Die staatlichen Zuschüsse waren wie die wenigen Spendengelder nur ein Tropfen auf heißem Stein, und ich wusste, dass ich nicht mehr lange die Augen vor dem schrumpfenden Kontostand verschließen konnte.

Mit müden Muskeln stieg ich die schmalen Stufen an der Außenseite eines der größeren Wasserbehälter empor, um Peanut hineinzusetzen. Sofort paddelten ihre putzigen Arme und Beine los und in einem Wirbel schwebte sie hinab. »Schlaf gut.« Ich winkte ihr hinterher und setzte mich für einen Augenblick auf den verblichenen Wannenrand, der einst hellblau gewesen war. Mein Blick heftete sich auf meine gebräunte Haut und die blonden Härchen, die von der Sonne ausgebleicht waren. Jedes Mal, wenn ich meine Fineline-Tattoos betrachtete, musste ich lächeln. Meine Eltern würden toben, wenn sie sähen, dass ich auch nur ein einziges hätte. Tja, und mittlerweile zierten einundzwanzig zarte Symbole, Schriftzüge und Bilder die verschiedensten Stellen meines Körpers. Sie standen dafür, wer ich war. Und dafür, wer ich nicht mehr war. Für meine Ziele, Träume und Ängste und für die Erinnerungen, die mir wichtig waren. Wichtig genug, um für immer einen Platz auf meiner Haut zu erhalten. So wie das winzige, zarte B, das meinen linken Ringfinger schmückte.

Gedankenverloren zeichnete ich mit der Hand Kreise auf der Wasseroberfläche und genoss die sanfte abendliche Brise, die mir durch die schulterlangen Haare wirbelte und den Schweiß in meinem Nacken und auf den Armen trocknete. Hier draußen bei den Schildkröten war ich am liebsten. Ich beobachtete gern, wie sie herumschwammen und von Tag zu Tag Fortschritte machten. Die meisten waren zu uns gekommen, weil sie verletzt gefunden worden waren, einige hatten Tumore, und wir halfen ihnen, nach der Operation zu genesen. Mein Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn ich eine von ihnen leiden sah.

Genau jetzt war meine liebste Zeit des Tages, denn ich befand mich in einem Dazwischen. Die Sonne strahlte nicht mehr ihr Einhundert-Watt-Lächeln, doch die laue, klamme Nacht war auch noch nicht hereingebrochen. Alle hilfsbedürftigen Schildkröten waren für heute versorgt und schwammen friedlich umher, wogegen auf mich der unbequemste Part des Tages wartete: der Blick in den Briefkasten.

Ich hatte mir frühzeitig angewöhnt, damit bis zum Feierabend zu warten, denn so versaute es mir nicht den Tag. Allein für all das hier verantwortlich zu sein, konnte erdrückend sein, und nicht selten fragte ich mich, ob ich der Leitung überhaupt gewachsen war. Wie man eine gemeinnützige Organisation über Wasser hielt, hatte ich leider nicht während meines Meeresbiologie-Studiums in Honolulu gelernt. Doch jetzt gönnte ich mir zunächst eine ruhige Viertelstunde auf dem Beckenrand, die Hände im kühlen Nass und die Nasenspitze gen Himmel gerichtet.

Nie in meinem Leben hatte ich einen schöneren Abendhimmel gesehen als hier auf Hawaii. Das Hellblau, das abgelöst wurde von zarten Gelb- und Rosatönen, die sich gemächlich zu kräftigem Pink und Orange entwickelten, ehe der gesamte Himmel von einem Meer aus Violett und Dunkelblau verschluckt wurde. Zu selten nahm ich mir die Zeit, in den Sternenhimmel zu schauen, was daran lag, dass ich vor Erschöpfung vorher einschlief.

Meine Tage waren lang, anstrengend und immer wieder aussichtslos. Dennoch bereute ich zu keiner Stunde die Entscheidung, meinen alten Lebensstil hinter mir gelassen zu haben. Ich bedauerte nicht, meine Familie und die Freunde verlassen zu haben, die mir keine Träne hinterherweinten. Sie führten ein Leben, das ich nicht ertrug. Ich war der glitzernden Scheinwelt entkommen und hatte all die Sicherheiten gern gegen diese Freiheiten eingetauscht. Am Ende des Tages war ich trotz der Menge an Sorgen glücklicher, als meine Eltern es jemals waren. Denn wie vieles andere auch konnte man Glück nicht mit Geld kaufen. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, all dem finanziellen Druck entkommen zu können, der mich seit Monaten zu Boden zu drücken drohte. Manchmal, ganz selten, war da eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich fragte, ob es nicht einfacher wäre, trotz alledem einfach aufzugeben.

Kapitel 2

Malio

»… Es ist sieben Uhr, ihr wisst, was das bedeutet …«

»Ja, ja, Deacon. Du nervst.« Müde klappte ich den Karton zu, aus dem ich wie in Trance quietschbuntes Kinderspielzeug hervorgezogen hatte. Ich hängte es an den Außenaufsteller, obwohl es mir widerstrebte. Wann war unser Surfshop Koa’s Wave nur zu solch einem Ramschladen geworden? Ich erinnerte mich an all das Holzspielzeug aus meiner Kindheit, das Dad und Grandpa selbst hergestellt hatten.

»… worauf wartet ihr? Schnappt euch euer Brett und ab in die Wellen …«

Grinsend schüttelte ich den Kopf, stemmte mich vom Boden hoch und lief herüber zum Kassentresen, um das Radio auszuschalten. »Aye, aye, Deac.« Ich kannte Deacon, den Mann zur Radiostimme, seit dem Kindergarten, und genauso lange waren wir befreundet. Er war der Einzige, der wusste, warum ich mitten im Semester zurückgekehrt war. Fast ein Jahr vor meinem Abschluss.

Routiniert schob ich die Außenaufsteller zurück in den Verkaufsraum, verriegelte die Eingangstür und schloss die Kasse ab. Der beste Part des Tages stand in den Startlöchern, denn viele Touristen machten sich zum Abendessen auf in ihre Hotels und Pensionen, was hieß, dass wir Einheimischen den Strand für ein paar Augenblicke fast für uns hatten, ehe er wieder belagert wurde. Jeden Tag schenkte uns Hawaii zwei sogenannte Golden Hours, eine in der Früh und eine am Abend, in denen der Himmel im prächtigsten Goldorange leuchtete. Ich konnte mir nichts Schöneres auf der Welt vorstellen, als in diesen Stunden auf den Wellen zu reiten.

Im hinteren Areal unseres Shops zog ich mich um und schnappte mir das Surfbrett, das mein ganzer Stolz und gleichzeitig größter Ansporn war. Es erinnerte mich jeden Tag an mein Ziel, und ich war mir sicher, dass ich es irgendwann erreichen würde.

Mit den Fingerspitzen fuhr ich die filigranen Schnitzereien in der Oberfläche des Holzes nach. Ich hatte das Board vor vielen Jahren aus altem Koa hergestellt, dem traditionellen Holz für Surfbretter und Kanus aus Hawaii. Dieses hier war mein Allererstes, und es bedeutete mir die Welt, denn damit hatte sich mein Traum geformt.

Der Weg vom Koa’s bis zum Strand dauerte keine zwei Minuten. Neben dem Shop gehörte meiner Familie die Surfschule, in der all meine Freunde von Dad das Surfen gelernt hatten, als wir Kids gewesen waren. Mom behauptete lachend, ich wäre mit einem Surfbrett auf die Welt gekommen. Gruselige Vorstellung. Aber es schien was dran zu sein, denn ich erinnerte mich nicht mehr an eine Zeit davor.

Heute war ein perfekter Sommertag gewesen und ich begrüßte den lauwarmen Wind, der mir durch die Haare fuhr und den wohltuenden Duft des Meeres zu mir herantrug.

Ich legte das Brett neben mir in den nahezu weißen Sand und setzte mich, die Arme um meine Knie geschwungen. Mit geschlossenen Augen hörte ich dem Wind zu, dem Wellenrauschen und den vereinzelten Möwen im nahegelegenen Hafen, die sich garantiert um irgendwelche Fischreste kloppten. Ich genoss das warme Gefühl auf der Haut, den salzigen Geruch in der Nase und nahm wahr, wie all der Stress des Tages aus meinem Körper wich. Ich brauchte nicht mehr als das Meer, den feinen Sand zwischen den Zehen und mein Surfbrett, um Glück zu empfinden. Jeden Tag um diese Zeit schob ich sämtliche Zweifel und Ängste von mir und fokussierte mich einzig und allein auf diesen Moment. Er war mir heilig, und auch wenn ich sonst gern unter Menschen war, brauchte ich diese tägliche Auszeit, um nicht den Kopf zu verlieren. Denn den Rest des Tages quälte mich die Frage, ob meine frühzeitige Rückkehr ein Fehler gewesen war, ob ich falsch entschieden hatte.

Ich öffnete im richtigen Moment die Augen, denn das Hellblau des Himmels hatte sich blitzschnell in ein Farbenmeer aus Orange und Pink verwandelt, das sich in den tosenden Wellen des Meeres spiegelte. Das Kribbeln in meinem Bauch breitete sich bis in die Fingerspitzen aus, und nach einem letzten tiefen Atemzug stand ich auf, befestigte die Leash an meinem Knöchel, schnappte mir das Brett und watete ins Wasser, wobei ich die anderen Menschen am Strand ausblendete. Wie immer zitterte und bebte ich im ersten Augenblick, was nicht an der Temperatur, sondern an der Vorfreude lag.

Ich lief der untergehenden Sonne am Horizont entgegen, bis ich das Brett aufs Wasser legte und mich bäuchlings darauf. Routiniert paddelte ich durch die ersten zwei Brechungslinien und setzte mich hinter der dritten aufrecht hin, um auf die nächste perfekte Welle zu warten. Als ich meine Chance kommen sah, richtete ich das Surfbrett zum Ufer und begann im Einklang mit der heranwachsenden Welle zu paddeln. Im passenden Moment sprang ich aufs Board, pendelte mein Gleichgewicht ein und surfte bis zum Strand, als hätte ich nie im Leben etwas anderes getan. Die Minuten auf dem Brett schenkten mir Freiheit, denn sobald ich eins mit der Welle wurde, war nichts anderes mehr wichtig.

Kapitel 3

Kalea

»Na dann wollen wir mal.« Mit enormer Anstrengung zog ich die schwere Holztür hinter mir ins Schloss. Seit ich die alte Auffangstation gemietet hatte, klemmte die Eingangstür, und es kam mir vor, als verzöge sie sich jeden Tag ein Stückchen mehr. Nur mit Gewalt gelang es mir, die Tür fest an mich zu ziehen, sodass es mir gleichzeitig möglich war, den Schlüssel herumzudrehen. »Et voilá.« Triumphierend nickte ich der Tür zu und klopfte die Handflächen aneinander ab, wobei der Schlüsselbund, den ich um meinen Ringfinger hielt, klimperte. Mit einem nervösen Stechen in der Magengegend quetschte ich mich zielstrebig zwischen der porösen Hauswand und dem direkt davor gepflanzten Busch hindurch, um zum Briefkasten zu gelangen. Ich hasste ihn. Noch nie hatte ich erfreuliche Post erhalten. Ohne Witz, kein einziges Mal. Der alte Kasten, dessen Scharniere schrill quietschten, sobald ich die Tür aufzog, rostete an einigen Stellen, und jeden Tag überlegte ich, ob ich ihn ersetzen sollte. Die Leere auf meinem Konto beantwortete mir diese Frage jedoch unmissverständlich.

»Großartig. Echt fabelhaft«, murrte ich und griff blitzschnell nach den Briefumschlägen, bevor sie herausfielen. »Einer hätte gereicht.« Seufzend schleuderte ich sie in den Rucksack, setzte ihn auf und tappte müde den schmalen Weg bis zum Tor entlang, an dem ich wie jeden Tag meinen Elektroroller geparkt hatte. Ich zwang mich dazu, nicht nach links und rechts zu sehen, denn das brauchte ich nicht, um zu wissen, dass es allerhöchste Zeit war, den Rasen zu mähen. Obendrein: Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal die spärlich bepflanzten Blumenbeete gegossen?

»Morgen«, versprach ich. Morgen würde ich eine halbe Stunde früher aufstehen, um mich vor Tagesanbruch darum zu kümmern. Vorausgesetzt, dass ich es bis dahin nicht wieder vergessen hatte.

Ich setzte meinen Helm auf, schob den Roller durch das Tor und warf einen Blick zurück auf das weiße Gebäude, von dessen Fassade schon die Farbe blätterte. Die Fenster waren schmuddelig, dass man kaum heraus-, dafür aber auch nicht ohne Weiteres hineinschauen konnte. Von den schiefen Fensterläden fing ich besser gar nicht erst an. Einzig das gigantische Schild über dem Eingang, auf dem der Name der Auffangstation stand, war neu und sah nicht aus, als würde es beim nächsten Sturm im Gebüsch landen. Im Busch, der dringend gestutzt werden musste. Turtles’ Inn. Mir gefiel der Gedanke, meine Schützlinge wie Hotelgäste statt wie Patienten in einem Krankenhaus zu behandeln.

Der Anblick des Turtles’ Inn unter dem bunten Abendhimmel motivierte mich jeden Tag. Ich riss den Blick los, ließ den leisen Motor an und fuhr den schmalen Weg herunter zur Straße, auf der zu dieser Zeit Trubel herrschte. In Shore Mana spielte sich das Leben am Strand und auf den Straßen ab. Trotzdem war es absolut nicht zu vergleichen mit New York City. Routiniert bog ich ein paarmal ab und erreichte keine zehn Minuten später die weitläufige Wohnanlage, wo ich vor zwei Jahren mein Zweizimmerappartement gekauft hatte.

Den Roller parkte ich direkt unter dem Küchenfenster auf der Wiese, da an dieser Stelle eine Außensteckdose angebracht worden war.

Meiner Meinung nach war ich in die schönste Anlage gezogen, die ich mir hätte vorstellen können. Überall war es grün, die Palmen wuchsen höher als die Häuser und John, der Gärtner, hatte es sich zum Lebensziel gesetzt, den kräftigsten Rasen O’ahus zu pflegen. Vielleicht sogar den schönsten ganz Hawaiis. Nein, ehrlich: Gegen den hier konnte der Central Park so was von einpacken.

»Hey, Meeresretterin«, rief meine Nachbarin Menina. Sie winkte mir mit einem quietschgelben Ofenhandschuh durch ihr Küchenfenster zu. Es befand sich gegenüber von meinem auf der anderen Seite der schmalen Treppe, die zu unserem gemeinsamen Eingang führte. Insgesamt gab es vier Wohnungen in jedem der Häuser dieser Anlage, was mir ausreichend Privatsphäre bot. »Hast du Hunger?«

»Und wie!« Gott, was liebte ich diese Frau. Wie auf Kommando knurrte mein Magen und ich warf ihr eine Kusshand zu, nachdem ich den Helm abgesetzt und auf den Sitz des Rollers gelegt hatte. Ich brauchte mich nicht zu sorgen, dass man ihn stahl, denn Shore Mana war eine vorbildliche Kleinstadt wie aus dem Bilderbuch.

Ich lief die Holztreppe hinauf. »Lilly, geh Kalea die Tür aufmachen«, rief Menina in ihre Wohnung und sofort hörte ich stürmisches Fußgetrappel.

»Hallo, Kalea«, begrüßte mich Meninas vierjährige Tochter mit einem breiten Grinsen, das die Lücke zwischen ihren Eckzähnen offenbarte. »Hast du wieder eine Schildtröte gerettet?«

Schmunzelnd nickte ich ihr zu und strich ihr über die dunklen Locken. »Kröte, Süße. Nicht Tröte. Und ja, habe ich tatsächlich.«

»Sag ich doch.« Lilly zuckte selbstbewusst mit den Schultern, griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her zur Küche. »Darf ich morgen mitkommen? Bitte, bitte, bitte?«, bettelte sie und hüpfte dabei auf und ab, wobei sie mir fast den Arm abriss. Ich stellte den Rucksack im Türrahmen ab, schüttelte den Klammeraffen von mir und schlurfte auf Menina zu, um sie mit einem kurzen Kuss auf die Wange zu begrüßen. Sie war zwar nur wenige Jahre älter als ich, dennoch empfand ich eine seltsame Geborgenheit in ihrer Nähe. Sie war Lehrerin an der hiesigen Highschool und strahlte etwas Mütterliches aus, wonach ich mich meine ganze Kindheit über gesehnt hatte.

»Lilian«, ermahnte ihre Mom sie lachend und entschuldigte sich bei mir mit einem Zwinkern. »Willst du denn morgen gar nicht in den Kindergarten?«

»Nö«, rief der Knirps aus.

»Aber morgen hat doch Kimo Geburtstag, möchtest du ihm nicht gratulieren?«

Lilly kämpfte sichtlich mit sich selbst. Nach längerem Warten nickte sie. »Ja, stimmt. Dann komme ich übermorgen mit, ja?«

Lachend schüttelte ich den Kopf und lief herüber zum Holzregal, um drei Gläser auf den Tisch zu stellen. »Wir werden sehen, okay?«

»Na gut«, schmollte Lilly und fasste nach ihrer Gabel, um damit auf den Tisch zu trommeln. »Kalea?«

»Ja?« Ich griff zur Glaskaraffe, die im surrenden Kühlschrank stand, und wandte ihr den Kopf zu.

»Tragen Babyschildtröten Windeln?« Ihr Blick war bitterernst und ich verkniff mir ein Lachen.

»Nein, sie brauchen keine Windeln.«

»Und wo machen sie hin?«

Hilfesuchend sah ich zu Menina, welche die Lippen aufeinanderpresste und grinsend eine Augenbraue hob. Ich schenkte ihr einen beleidigten Blick, der in etwa aussagte: vielen Dank für deine Unterstützung.

»Na ja«, stammelte ich. »Sie machen ehrlich gesagt überall dort hin, wo sie sich aufhalten.«

»Igitt, das ist eklig.« Entsetzt riss sie den Mund auf. »Ich würde meiner Babyschildtröte eine Windel ummachen.«

»Okay«, grinste ich, glücklich darüber, dass Lilly keine Haustiere besaß.

»Ich habe Hunger, Mommy«, wechselte sie das Thema und wies mit der Gabel fordernd auf ihren leeren Teller, was mir ein Lachen entlockte.

Ich setzte mich neben sie, deutete auch auf meinen Teller und grinste Menina an. »Ja, ich ebenfalls.«

»Ihr seid unmöglich«, lachte diese, holte eine dampfende Glasform aus dem Ofen und sofort war der Raum erfüllt vom würzigen Duft der Gemüselasagne.

»Himmlisch!« Ich hielt Menina Lillys Teller hin, damit sie diesen zuerst belud. »Danke.« Ich zwinkerte ihr zu, als sie mir auftat, und versenkte die Gabel gierig im Essen.

Eine halbe Stunde später, in der ich vielen weiteren von Lillys Fragen ausgesetzt gewesen war, schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf. Ich trat ein und warf den Schlüssel in die Holzschale auf der Kommode, die ich übernommen hatte. Sie war alt und schäbig, dass sie schon wieder ein Blickfang war. Ich liebte sie extrem. Vermutlich gefiel sie mir besonders gut, weil ich mir den konsternierten Blick meiner Mutter vorstellte, wenn sie wüsste, dass sie viele Vormieter gehabt hatte. Eines Tages würde ich ihr erzählen, dass ich in Secondhandläden shoppte. Einfach, um sie auf die Palme zu bringen. Vorausgesetzt, dass ich jemals wieder mit ihr sprach.

Missmutig öffnete ich meinen blaugrauen Rucksack, um die Briefe herauszuholen. Er war aus altem Plastik hergestellt, das in Hawaii aus dem Wasser gefischt worden war. Vielleicht sollte ich Dad einen zu Weihnachten senden. Ich verdrehte zermürbt die Augen. Mit freundlichen Grüßen aus dem Meer, von seiner missratenen Tochter, die es wagte, nicht seinen, sondern ihren eigenen Traum zu leben.

»Na?«, sprach ich zu den Briefen, es waren vier an der Zahl. »Wer will zuerst?« Ich warf sie auf den niedrigen Couchtisch aus gebeiztem Kiefernholz und ließ mich aufs dunkelgrüne Sofa fallen. Mit geschlossenen Augen griff ich nach einem, als zöge ich ein Los, und riss ihn auf. Tierarztrechnung. Okay, die durfte warten, denn Dr. Garcia war da kulant. Auf diese folgten drei weitere Rechnungen: für die Reparatur einer der Salzwasseranlagen, die höher war als eine Monatsmiete der Rettungsstation. Dann eine Vorkassezahlung, die ich direkt überweisen sollte, sonst bekämen die Schildkröten bald kein Futter mehr, und zu guter Letzt die monatliche Stromrechnung.

»Was für ein Tag«, stöhnte ich gedämpft und warf die drei Rechnungen, die warten mussten, auf einen Stapel, der schon bedrohlich wankte. Es war ein Wunder, dass mir der Strom in der Auffangstation nicht längst abgedreht worden war.

Kapitel 4

Malio

»Hey.« Ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Türrahmen der Küche, damit meine Mom nicht erschrak. Lächelnd wackelte ich mit den Augenbrauen und zeigte auf einen Topf, aus dem es betörend nach Kulolo, hawaiianischem Pudding aus Taro und Kokosnuss, duftete. »Habe ich etwa Geburtstag?«

»Sei nicht albern.« Lachend drehte sie sich zu mir um und zeigte auf einen Stapel Geschirr. »Trag das lieber rüber.«

Ich zählte, alles gab es viermal. »Beehrt uns die Prinzessin heute?«

»Malio«, donnerte Mom und feuerte mir ein Geschirrtuch gegen den Hintern. »Sie steckt in …«

»… einer Phase. Ja, ja«, unterbrach ich sie kopfschüttelnd.

»Geh duschen und bring dann deine Schwester mit runter«, befahl sie mir barsch und stemmte die Hände in die Hüfte. »Das Essen ist in fünfzehn Minuten fertig.«

Ich trottete los, hielt in der Bewegung inne und drehte mich zu ihr um. »Diese Strenge solltest du bei deiner Tochter an den Tag legen, Mom. Ich bin erwachsen. Mich musst du nicht mehr erziehen.«

»Los«, erwiderte sie und zeigte zum Esszimmer herüber.

Wenn sie mich auf diese Weise ansah, rieselte es mir eiskalt den Rücken hinab. Ich setzte ein seufzendes Lächeln auf und schluckte die Widerrede herunter. Mit Mom zu diskutieren war sinnlos, sie erinnerte an einen Terrier, der sich festbiss. Ihr Temperament hatte sie leider an meine jüngere Schwester Noelani vererbt. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Mom bei ihr klein beigab. Aber sie behandelte Noelani anders als mich damals. Mom ließ sie einfach gewähren, als wäre all ihre mütterliche Strenge bei mir verpulvert worden.

Vermutlich hatte sie Angst, Lani könnte die Biege machen, da diese eh keinen Hehl daraus machte, dass Shore Mana sie anödete. Wenn man mich fragte, war das ohne jeden Zweifel eine Frage der Zeit. Beim Gedanken daran zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich brauchte dringend eine eigene Wohnung, um Abstand zu gewinnen. Dass ich aufs Neue hier gestrandet war, sollte nur eine Übergangslösung sein. Tagtäglich in Moms und Dads neugierige Gesichter zu blicken, brach mir beinahe das Herz, denn ich war noch nicht bereit, ihnen zu erzählen, warum ich zurückgekommen war. Warum ich alles in den Sand gesetzt hatte.

Nachdem ich den Tisch gedeckt hatte, stieg ich still die Treppe in den ersten Stock hinauf. Der dicke, hellblaue Teppich, der auf den Stufen und außer im Bad in jedem Raum des Obergeschosses verlegt war, dämpfte meine Schritte, und so hörte Noelani mich nicht.

Ihre Tür stand ein Stückchen offen, sodass ich nicht anders konnte, als hineinzublicken. Sie posierte in Sport-BH und knallengen Leggings vor dem Spiegel und filmte sich mit ihrem Smartphone dabei. War das ihr Ernst?

»Was soll das Gehabe, Lani?« Ich schob ihre Tür auf.

»Verpiss dich!« Genervt warf sie den Kopf in den Nacken und wedelte mit den Händen, um mir zu suggerieren, dass ich besser abdampfte. Sie hatte die umwerfend tiefgrünen Augen unserer Mom und die olivfarbene Haut von Dad geerbt. Meine Schwester war bildschön und sich dessen mehr als bewusst. Und nun drehte sie irgendwelche Videos und staubte damit kostenlose Geschenke ab. Nach wie vor war mir schleierhaft, warum Mom ihr Einverständnis für diesen Influencermist gegeben hatte.

Ich ließ meinen Blick durch ihr Zimmer gleiten und blieb an einem Stapel achtlos geöffneter Kartons hängen. Ohne auf ihren Einwand einzugehen, lief ich darauf zu und fischte eine Karte daraus hervor.

Hey Noelina, danke, dass du unsere neue Kollektion bewirbst. XOXO

»Was soll das sein?« Mit gerunzelter Stirn wedelte ich mit der 0815-Grußkarte herum.

»Was willst du, Malio?«, fragte meine Schwester, als ich keine Anstalten machte, mich wieder zu verziehen. Mit hochgezogener Augenbraue und gespitzten Lippen stemmte sie eine Hand in die Taille. Für diese großspurige Haltung würde ich ihr am liebsten einen Eimer eiskalten Wassers über die makellos geglätteten Haare kippen, damit sie sich kringelten wie Würmer im Regen.

»Weiß Mom, dass du dich so filmst?«

»Ich bin kein Kind mehr«, erwiderte sie trotzig. »Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich bin verpflichtet, den Job zu beenden.«

Lachend bewarf ich sie mit der peinlichen Karte des Kleidungsherstellers. Sie zuckte nicht mal mit der Wimper, als sie an ihrer Schulter abprallte.

»Alles klar, Noelina«, spottete ich. »Anscheinend bist du ihnen ja äußerst wichtig, wenn sie sich nicht einmal die Mühe machen, deinen Namen richtig zu schreiben.«

»Du hast ja keine Ahnung«, knurrte sie.

»Das Essen ist gleich fertig, lass Mom bitte nicht warten«, befahl ich ihr und zeigte mit dem Daumen hinter mich, die Treppe herunter.

»Du hast mir nichts zu sagen.«

»Doch, das habe ich, und das weißt du.«

»Ach ja?« Angriffslustig verschränkte sie die Arme vor der Brust.

Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Geh einfach runter, Lani.« Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ ich ihr Zimmer, wobei ich die Tür sperrangelweit geöffnet ließ.

Irgendetwas war in der Zeit geschehen, in der ich fort gewesen war. Manchmal machte ich mir ungeheure Vorwürfe, dass ich nicht zu Hause war, als ihre Wandlung ihren Anfang genommen hatte. Ich fragte mich, ob ich etwas hätte ändern können. Gegangen war ich, als sie ein Teenager geworden war.

Was war geschehen, dass sie fast drei Jahre später zu dieser schimmernden Glamourwelt gehören wollte, die sie zerkauen und unverdaut wieder ausspucken würde?

Noelani und mich trennte ein Jahrzehnt. Mom und Dad hatten sich sehnlichst ein zweites Kind und ich mir einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Erst als sie es aufgegeben hatten, war Mom schwanger geworden, und ich vermutete, dass sie Noelani genau aus dem Grund alles durchgehen ließen und sie nicht streng erzogen wie mich damals. Weil sie ihr kleines Wunder war.

Kapitel 5

Kalea

»Oh, verdammte Axt!« Fluchend lief ich den Weg vom Roller zur Eingangstür des Turtles’ Inn entlang. Mit einer Hand fischte ich die Schlüssel aus meiner Jeansshorts und schirmte mit der anderen den Blick ab, damit der knöchelhohe Rasen mich nicht erspähte und verhöhnte. Okay, das war albern. Erwartungsgemäß war es mir nicht bis heute morgen in Erinnerung geblieben, früher herzukommen, um den Garten auf Vordermann zu bringen.

»Miss?« Eine tiefe Stimme ließ mich innehalten. Verwundert wandte ich mich zum Zaun um.

»Suchen Sie mich?«

Was benötigte der Mann zu einer Uhrzeit von mir, zu der halb O’ahu schlief? Und was stimmte nicht mit ihm, dass er mich Miss nannte?

»Ich habe einen wichtigen Brief für Sie, Miss.« Miss. Schon wieder. Zögernd trat ich auf ihn zu, wobei ich mir beunruhigt von innen auf die Wangen biss. Zuerst hielt ich ihn für einen Kurier, doch je näher ich ihm kam, desto unsicherer war ich mir. Den Letzten hatte ich in New York gesehen. Und dieser Mann trug einen tiefschwarzen Anzug über einem schwarzen Hemd, als wollte er mich durch sein bloßes Auftreten einschüchtern.

»Muss ich den annehmen?« Ich witzelte nervenschwach, denn alles in mir wehrte sich dagegen, das Schreiben zu berühren.

»Ja, Miss.« Ohne die Miene zu verziehen oder mir ein klitzekleines Lächeln zu schenken, nickte er. Was für ein seltsamer Miesepeter.

»Wow, Sie sind wohl aus New York«, nuschelte ich und riss ihm energisch den Kugelschreiber aus der Hand, um etwas auf sein Blatt zu kritzeln, das nicht im Entferntesten wie meine Unterschrift aussah. Eine vielleicht nicht ganz legale Sicherheitsmaßnahme, die ich mir irgendwann unbewusst angeeignet hatte. Doch so konnte ich wenn nötig abstreiten, das Dokument selbst unterschrieben zu haben.

»Ich bin aus Ohio, Miss«, sagte er, warf den Stift zurück in seine Tasche und hielt mir auffordernd den Brief hin. »Haben Sie einen schönen Tag.«

Mein Blick heftete sich auf den Absender und schlagartig gefror mein Innerstes zu Eis. Das Blut, die Muskeln, alles. Bank of Shore Mana. »Den haben Sie mir versaut«, erwiderte ich flüsternd und wandte mich ab, ohne ihn zu verabschieden. Beherrscht setzte ich einen Fuß vor den nächsten, den Blick starr auf das Papier zwischen meinen Fingern gerichtet. »Bitte nicht«, hauchte ich den Tränen nahe, steckte den Schlüssel schroff ins Schlüsselloch und ruckelte an der Tür.

Nachdem ich zweifach gegen sie getreten und mit der Faust gegen sie gedonnert hatte, öffnete sie sich widerwillig. Ich feuerte den Brief ungeöffnet auf den Schreibtisch. Was auch immer darin stand, ich würde es ohnehin nicht in den nächsten zwei Stunden lösen. Vermutlich auch nicht in den nächsten zwei Tagen oder Wochen, versuchte ich mir einzureden. Den Rucksack stellte ich auf den Drehstuhl und kramte mein Smartphone daraus hervor. Ohne darüber nachzudenken, entsperrte ich das Display und starrte die wenigen Icons darauf an. Keine Ahnung, warum ich es eingeschaltet hatte. Mir hatte niemand geschrieben und ich hatte vor sechs Jahren meine Social-Media-Accounts gelöscht.

Wie durch einen unsichtbaren Faden gezogen, landete mein Daumen auf der Kontaktliste. Er kreiste über Basilton. Tief durchatmend stellte ich das Smartphone aus, schüttelte den Kopf über mein schwaches Verhalten und ließ das Handy zurück in den Rucksack plumpsen. »Du musst allein zurechtkommen«, schalt ich mich. Basilton war nicht verpflichtet, mich zu retten, wo er mich schon deckte. Das wäre zu bequem gewesen, und zu allem Überfluss … egal. Es war falsch, bei jedem Problemchen zu erwägen, ihn anzurufen. Doch war es nicht leicht, alte Gewohnheiten abzulegen. Wenn ich diese starke, unabhängige Frau sein wollte, die ich vor Augen sah, musste ich auch so handeln. Dazu gehörte, ohne Hilfe zurechtzukommen.

Mit zu Fäusten geballten Händen warf ich dem Brief vernichtende Blicke zu, doch zu meinem Bedauern fing er kein Feuer oder löste sich in Luft auf. »Ach, was solls.« Ungestüm riss ich ihn auf und entfaltete das Blatt Papier mit eiskalten und vor Angst zitternden Fingern. Letzte Mahnung. »Nein«, schluchzte ich, schubste meinen Rucksack achtlos vom Drehstuhl, um mich stattdessen auf diesen fallen zu lassen. »Nein, nein, nein.« Ich begriff, was es hieß, eine letzte Mahnung zu erhalten, und zählte stirnrunzelnd, wie viele ich ignoriert hatte.

Mir blieben keine drei Monate, um die Mietschulden zu begleichen, bevor der Räumungsbescheid ins Haus flatterte. Der von einem Kurier aus Ohio persönlich vorbeigebracht wurde. Wenn ich genauer darüber nachdachte, erschien mir sein Auftreten mit jeder verstrichenen Sekunde ungewöhnlicher. Wurden solche Schreiben nicht normalerweise einfach von der Post zugestellt? Aber das änderte nun auch nichts mehr an meiner Situation.

»Was soll ich nur tun, Basilton?« Meine Stimme brach, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als von ihm in die Arme geschlossen zu werden. Selten hatte ich mich so machtlos gefühlt wie in diesen Sekunden.

Kapitel 6

Malio

»Ach komm, du bist absolut machtlos!« Noelanis zischende Stimme drang mir unter die Haut, und sie entriss sich meinem lockeren Griff, als hätte ich sie gefesselt.

»Wo warst du?« Mein gedämpfter Tonfall hallte von den Wänden des schmalen Eingangsbereichs unseres Hauses wider. Wie jeden Tag hatte ich den Wecker früh gestellt, damit ich pünktlich zum Sonnenaufgang, zur Golden Hour, mit dem Surfbrett am Strand war. Ich liebte die Ruhe, liebte es, wach zu sein, wenn alle anderen schliefen und sich nur vereinzelte Frühaufsteher-Touristen zum Strand aufmachten, um den Sonnenaufgang für ihre Reise-Fotobücher einzufangen.

Doch die Ruhe war heute wie verflogen gewesen, als ich statt Fred, dem Waschbären, der regelmäßig unsere Mülltonnen durchwühlte, meiner Schwester Noelani im Eingang begegnet war.

»Das geht dich nichts an, du Vogel.« Sie rieb sich übertrieben über das Handgelenk und simulierte, dass ich sie zu fest angepackt hätte.

»Du bist fünfzehn. Und ob es mich etwas angeht«, donnerte ich eine Nuance energischer.

Noelani riss die Augen auf und starrte atemlos die Treppe hinauf, lauschte, ob sich jemand regte, doch Moms monotones Schnarchen, das diese vehement abstritt, drang zu uns herunter. »Halt die Klappe!« Fordernd ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Ihr Smartphone, das sie an einer albernen Kette trug, schaukelte umher.

»Wo. Warst. Du?« Ich bemühte mich nicht mehr, unsere Eltern nicht zu wecken. Denn mal ehrlich, wer hatte hier Scheiße gebaut? Meine verzogene Schwester oder ich?

»Ist ja gut«, nuschelte sie ein bisschen undeutlich.

»Hast du getrunken?« Ich setzte einen Schritt auf sie zu, um an ihr zu riechen. Geschickt wich sie mir aus und brachte so viel Abstand zwischen uns, wie es im schmalen Vorraum möglich war.

»Das geht dich auch nichts an«, erwiderte sie risikobereit. Ich stöhnte, denn das war mir Antwort genug. Meine perfekte Welle würde heute ohne mich brechen.

»Noelani«, seufzte ich unnachgiebig, streckte den Arm aus und zeigte zum Sofa. »Geh dich hinsetzen.«

»Warum?«

»Setz dich bitte hin«, bat ich sie angespannt. Mit jeder Sekunde stieg mein Puls. Selten war ich so frustriert und ungeduldig gewesen wie in diesem Augenblick. Doch meine Schwester bewegte sich keinen Millimeter.

»Soll ich dich eigenhändig hintragen oder setzt du dich in Bewegung?«

»Fass mich an und ich schreie«, drohte sie.

»Was?« Ich schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch gewann von Sekunde zu Sekunde an Absurdität. »Ich dachte, du willst nicht entdeckt werden.«

Ihr fiel keine Erwiderung ein.

»Du bist betrunken, Lani.« Die Ruhe in meiner Stimme, zu der ich mich zwang, schien sie zu verunsichern. »Was du hier treibst, wird schiefgehen. Dich nachts rausschleichen, was denkst du dir dabei?«

»Ich bin alt genug. Bald sechzehn!« Trotzig reckte sie das Kinn vor und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Die Haare fielen ihr über die Schultern.

Kopfschüttelnd atmete ich durch. »Du bist ein Kind. Ein Teenager, und du gehörst nachts nicht auf die Straße.«

»Wenn es nach dir ginge, dürfte ich mein Zimmer gar nicht mehr verlassen.« Damit behielt sie ausnahmsweise recht.

»Lio? Lani?« Mom kam in ihren rosafarbenen Frotteesocken die Treppe herunter und band sich ihren traditionell hawaiianischen Pareo um, der schon meiner Grandma gehört hatte. »Was ist hier los?«

»Nichts. Ich wollte eben los: eine Runde joggen«, log meine Schwester dreist und wie aus der Pistole geschossen. Mir klappte die Kinnlade herunter.

»Ah, hab viel Spaß, Liebes«, nuschelte Mom und schlurfte schlaftrunken an uns vorbei zur Küche.

»Ist das dein Ernst, Mom? Noelani trägt Hackenschuhe.« Ich rieb mir mit den Handflächen übers Gesicht.

»Das sind High Heels, du Esel«, flüsterte meine Schwester in meine Richtung.

»Oh, hübsch«, kommentierte Mom, die sich über die Augen rieb. Sie drückte den Power-Knopf des Kaffeevollautomaten und es war, als weckte sie sich auch selbst dadurch auf. »Aber zieh sie bitte aus, bevor du das Haus betrittst.« Sie seufzte. »Wenn deine Großeltern sehen würden, wie du unsere Gepflogenheiten ignorierst.«

»Mom«, toste ich und lenkte das Gespräch wieder zum Wesentlichen. »Sieh sie dir an. Sieht sie aus, als wäre sie auf dem Weg nach draußen, um eine Runde zu joggen?« Ich deutete auf die silbernen Schuhe, das locker sitzende und weit ausgeschnittene, grüne Kleid.

Mom schluckte und wandte sich rasch ab, um eine Tasse, auf der das Logo des Koa’s prangte, aus dem Hängeschrank zu holen. »Nein. Ich bin nicht von gestern, Malio.« Betont langsam drehte sie sich zu uns um. Der erschöpfte Blick, den sie mir schenkte, sprach Bände. »Geh nach oben, Schatz«, bat sie Noelani seufzend und wies ihr mit ausgestrecktem Arm den Weg.

»Siehst du«, zischte diese mir im Vorbeigehen zwinkernd zu. »Ich sagte doch, du bist machtlos.« Siegessicher stakste sie davon, kickte ihre Schuhe achtlos von den Füßen und tippelte die Treppe hinauf, ohne den Anstand, die Schuhe ordentlich im Garderobenschrank zu verstauen.

»Malio, lass es mich erklären«, seufzte Mom und setzte zu einer Aussage an.

»Nein.« Ich schnitt ihr das Wort ab und entfernte mich rückwärts von ihr, wobei ich den Kopf schüttelte und die Hände neben mein Gesicht hob, die Handflächen zu ihr gewandt. Ich war enttäuscht, und das durfte sie sehen. »Das kann nicht dein Ernst sein, Mom. Ich …« Die Sprache blieb mir in der Kehle stecken, bis es schmerzte. Eine Mutter sollte niemals zu erschöpft sein, um ihr Kind zu beschützen. Ich wusste um ihre und Dads Probleme mit der Surfschule und dem Koa’s. Die laufenden Rechnungen zu begleichen, wurde immer schwerer, doch da sie versuchten, es geheim zu halten, blieb mir nichts weiter übrig, als den Ahnungslosen zu spielen. Sie hatten so viel für mich aufs Spiel gesetzt, und mir drehte sich der Magen um, wenn ich daran dachte, dass sie nicht einmal dann enttäuscht von mir wären, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Mom und Dad waren nicht ehrlich mit mir, doch leider war ich keinen Deut besser.

Kapitel 7

Kalea

Warum lösten sich Probleme nicht in Luft auf, wenn man sie lange genug ignorierte? Seitdem mir der Kurier den Brief übergeben hatte, waren Tage vergangen und mein Gemütszustand fuhr Achterbahn. Am Tag danach, als ich den ersten Schock verkraftet hatte, hatte ich das Schreiben aus meinem Blickfeld geschoben. Aus den Augen, nur leider alles andere als aus dem Sinn, wie ich feststellen musste. Tage später verfolgte mich die Angst vor den Konsequenzen, die gemeinsam mit dem Brief in mein Leben geflattert waren. Ich schloss abends im Bett die Augen und dachte an die verfluchte letzte Mahnung, und das Erste, das mir morgens in den Sinn kam, war ebendiese. Dass sie mich in meine Träume verfolgte, kam erschwerend hinzu.

Ich zog übernächtigt die Haustür hinter mir ins Schloss und lief die Stufen herunter, bis ich auf dem triefend nassen Rasen stand, der unter meinen Schritten schmatzte. Dieses Geräusch gehörte zu meiner Morgenroutine. John war ein früherer Vogel als ich und hatte die Grünflächen der Wohnanlage gegossen, bevor die Sonne komplett aufgegangen war. Zwei Häuser weiter stutzte er mit einer Heckenschere bewaffnet einen Busch zurecht und ich winkte ihm zu.

Ich setzte meinen Helm auf, klappte das abdunkelnde Visier hoch und schob den Elektroroller aus der Anlage, ehe ich auf der Straße aufsattelte und losratterte. Ich erlaubte mir, den lauen Sommerwind des Morgens, der sich kühl auf meiner Haut anfühlte, zu genießen. Es gelang mir, kurz mal wirklich zur Ruhe zu kommen, und diese paar Minuten hatten etwas von der Leichtigkeit in sich, nach der ich jahrelang gesucht hatte. Ich rollte über die Flurtle Alley, die parallel zur Strandpromenade verlief und in der man in den Morgenstunden, wenn Shore Mana seelenruhig schlief, den Ozean rauschen hörte. Zu selten verschlug es mich an den Strand, obwohl ich mir geschworen hatte, täglich ans Meer zu gehen. Stattdessen versuchte ich, nicht nur die Auffangstation, sondern auch meinen Kopf über Wasser zu halten.

Ich passierte das Oasis, den hiesigen und Flos Meinung nach nennenswerten Nachtclub der Stadt, aus dem zwei Touristen heraustorkelten und sich lachend die Bäuche hielten. Sofort war da wieder dieser Kloß in meinem Hals, denn seit ich New York verlassen hatte, hatte ich keinen Club mehr betreten, egal wie sehr mich das Oasis reizte. Flo ging dort gern tanzen, und meine Finger reichten mittlerweile nicht mehr aus, um aufzuzählen, wie oft sie mich angefleht hatte, mitzukommen. Das Besondere am Oasis war, dass es einen direkten Strandzugang hatte und alle paar Wochen legendäre Strandpartys stattfanden. Und doch war mir dieser Spot Shore Manas zu unsicher. Ich könnte erkannt werden oder gar fotografiert. Orte, zu denen viele Touristen gingen, mied ich lieber.

Ich konzentrierte mich wieder auf die Straße vor mir und genoss das Farbenmeer, das sich mir am hellblauen Himmel bot. Vereinzelte orange- und pinkfarbene Schleierwolken zogen an ihm entlang. Die morgendliche Golden Hour war der Grund, warum ich mich jeden Morgen zu unchristlichen Zeiten aus dem Bett quälte. Ich hatte in meinem Leben nichts Schöneres gesehen, und ein wenig entschädigte der Himmel, der in lodernden Pastellflammen stand, mich für all meine Sorgen.

Kapitel 8

Malio

Ich hatte ihn verpasst. Den besten Zeitpunkt, um in den Sonnenaufgang zu surfen. »Naive Schwester«, grummelte ich und zertrat eine grässliche Sandburg. Im nächsten Augenblick tat es mir leid und ich hoffte, dass das Kind, das sie gebaut hatte, abgereist war. Der klamme Sand unter meinen Füßen bescherte mir trotz der lauen Brise wie jeden Morgen eine Gänsehaut. Ich war den Weg vom Haus zur Surfschule gerannt und hatte mich in Windeseile in den kurzärmligen Wetsuit gequetscht.

»Ach, egal.« Ich hielt das Surfbrett unter dem Arm und entschied mich, eine schnelle Runde zu surfen. Wie sollte ich sonst die fiesen Gedanken und Gefühle loswerden, die in mir tobten, wenn nicht auf dem Board? Kurz schloss ich die Augen, ignorierte wie immer, dass der Strand sich bereits mit Touristen füllte, bevor ich den ersten Fuß ins Meer setzte. Still und heimlich dankte ich den Wellen, dass sie mich unversehrt gehen ließen.

Mit gesenkten Lidern konzentrierte ich mich auf das Tosen der ineinander brechenden Wellen, die ihren Weg zum Ufer fanden. Eine Woge folgte auf die Nächste, es war ein unaufhörliches Spiel der Natur. Ich atmete tief ein und sog den Duft von Algen, Sand und Salz in mich auf und stakste knietief ins Nass hinein. Das Brett berührte das schaukelnde Wasser und ich paddelte routiniert durch die Brechungslinien.

Ich schmeckte das Salz auf den Lippen und kniff die Augen zusammen, damit mir das Wasser, das von meinen Haaren tropfte, nicht hineinlief. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten mich an der Nasenspitze.

»Da«, flüsterte ich und entdeckte eine Stelle, aus der eine vollkommene Welle heraustreten könnte. Geübt legte ich mich bäuchlings auf das Brett und paddelte. Links, rechts, links, rechts. Die Welle formte sich, mein Paddeln beschleunigte sich, ein fließender Bewegungsablauf, über den ich nicht mehr nachdachte. Es gab nur das Wasser, das Holz unter mir, die Sonne hoch oben und mich. Ich war so klein, so unbedeutend zwischen dem Meeresgrund und der Himmelssphäre und doch war dies der Moment, der mich fühlen ließ, als wäre ich unbesiegbar. Im passenden Zeitpunkt stemmte ich mich hoch und sprang in einer fließenden Bewegung auf die Füße.

»Perfekt«, flüsterte ich mir zu, unterdrückte nur schwer ein Lächeln und jubilierte innerlich. Mir fiel es leicht, die Balance zu halten, und auch wenn man nie voraussehen konnte, wann die Welle brach, kannte ich keine Angst. Das Meer war nicht einfach ein lieb gewonnener Freund, der Ozean war meine Familie. Ich entschied, mich vom Wellengang bis zum Ufer tragen zu lassen, schoss pfeilschnell durch das brusthohe Wasser, das abflachte.

Das knisternde Gefühl in meinem Kiefer wurde jäh gestört, als ein dumpfer Knall gegen das Brett meine Konzentration unterbrach. Ich wusste nicht, wie mir geschah, schlagartig war überall um mich herum Wasser und ich fand die Oberfläche im ersten Augenblick nicht. Panik fuhr mir in die Knochen und im Versuch zu atmen schluckte ich Salzwasser, das meine Lunge in Flammen setzte. In einem Wirbel knallte ich auf den Boden, der mich achtlos zurückfederte, das Brett donnerte mir gegen den Kopf, dass ich Sterne tanzen sah. Das Salz biss mir in den Augen und brannte in der Speiseröhre, sodass mir speiübel wurde. Ich rief mir Dads wichtigsten Grundsatz in Erinnerung: Egal, was passierte: Ruhe bewahren. So schwer es mir auch fiel, hielt ich in der Bewegung inne, um meine Orientierung zurückzufinden, drückte meine Knie in den rettenden Sand unter mir und mich hoch, bis mein Kopf durch die Wasseroberfläche brach. Ich rang keuchend nach Atem und wusste nicht, ob ich darüber lachen oder weinen sollte, dass ich kurz davor gewesen war, im gerade mal hüfthohen Wasser zu ertrinken.

»Was zur Hölle!« Prustend schrie ich das Meer an, zog das Brett zu mir heran und hielt Ausschau nach dem Grund, der mich hat fallen lassen. Mein Blick heftete sich auf etwas Rundes, das von einer nach der anderen Welle hin und her gewogen wurde.

»Nein.« Erstickt blieb mir die Stimme weg, ich wuchtete mich auf das Surfbrett und paddelte auf das Objekt zu. »Nein, nein, nein, bitte nicht«, flehte ich und boxte aus Hilflosigkeit wutentbrannt ins Wasser, weil ich realisierte, was soeben geschehen war. »Sei nicht verletzt, bitte.« Ich sprang vom Board, griff nach der Schildkröte und rannte aus dem Wasser.

»Falls du tot bist, bring ich dich um!« Mit jedem Schritt wurde die Panik größer. Mein geliebtes Board zog ich an der Leash hinter mir her, was den Weg zur Surfschule enorm erschwerte. Ohne das Tier abzusetzen, befreite ich den Fuß von der Verbindungsleine und preschte los. Ich wusste, dass es nicht weit von hier eine Rettungsstelle für Meerestiere gab, und betete, dass sie geöffnet hatte und ich sie direkt fand. »Wehe du stirbst.«

Kapitel 9

Kalea

»Auf einer Skala von null bis zehn«, frustriert schleuderte ich einen Gummihandschuh in die Ecke, »wie scheiße kann ein Tag laufen?«

»Ja«, kam es prompt von Florence, die Mikroskopieplättchen für eine Untersuchung vorbereitete, wobei ihr fast die Augen zufielen. Garantiert hatte sie eine Nachtschicht in der Bar übernommen und war direkt zum Turtles’ Inn gekommen, ohne zu schlafen. Was würde ich nur ohne Florence tun? Sie war zwar meine beste Freundin, dennoch war es keine Selbstverständlichkeit, dass sie mir so hingebungsvoll half. Erst recht nicht bei der lausigen Bezahlung.

»Danke. Ich liebe es, wie du mich aufzubauen versuchst«, jammerte ich und ließ mich erschöpft auf den Drehhocker neben ihr fallen.

»Sorry!« Ihr schiefes Grinsen erreichte ihre Augen und sie drehte sich seufzend zu mir um. »Was ist denn los?« Bei dieser Frage lief es mir, trotz der vorherrschenden Saunatemperaturen, eiskalt den Rücken herunter. Florence war zwar im Bilde, dass ich mit einigen Zahlungen im Rückstand war, doch das wahre Ausmaß kannte sie nicht. Ich hatte die Befürchtung zu versagen, sobald ich die Worte laut aussprechen würde. Ich hatte immer alles mit mir selbst ausgemacht.

»Ach, ich habe nicht ausreichend geschlafen«, schwindelte ich und versuchte krampfhaft, nicht den Blick abzuwenden. Wer den Augenkontakt abbrach, wurde schneller als Lügner überführt. Das hatte ich mal irgendwo gelesen.

Florence zog eine Augenbraue hoch. »Und jetzt die Wahrheit, bitte.« Okay, es stimmte scheinbar nicht. Sie rollte näher zu mir heran, sodass sich unsere Knie berührten. »Ganz ehrlich, Kalea, ich sehe mir das nicht mehr länger mit an. Du siehst entsetzlich aus.«

»Ist das ein Kompliment? Danke.«

Kopfschüttelnd lachte sie. »Nicht so, du Witzbold. Du bist gestresst, ich sehe dich nur Ungesundes in dich hineinfuttern. Wann hast du zuletzt auf dich geachtet? Was ist los? Und warum greifst du ständig zu deinem Handy?«

Ertappt biss ich mir auf die Lippe. »Beobachtest du mich?«

Sie atmete stöhnend aus. »Nein, aber ich gehe auch nicht mit geschlossenen Augen durch O’ahu.«

»Fühlt sich aber nach Observation an«, murmelte ich.

Florence klopfte mir mit einer Faust auf den Kopf. »Manchmal bist du eine Nuss«, erklärte sie schulterzuckend, als ich sie entsetzt anblickte. »Ich wollte sichergehen, dass du nicht hohl bist.«

»Warum bin ich noch gleich mit dir befreundet?« Lächelnd rieb ich mir über die geschändete Stelle.

»Weil ich dich niemals verurteilen würde?«

Ich nickte. »Das muss es sein.«

»Gern geschehen.«

Ich ignorierte den Stich in meiner Magengegend und atmete tief durch. Auch wenn ich sie nie angelogen hatte, fühlte es sich so an.

Florence und ich kannten uns seit zwei Jahren. Sie war die erste Person gewesen, die hier in Shore Mana mit mir gesprochen hatte. An meinem allerersten Tag war mir das Appartement zu eng vorgekommen und ich hatte das Gefühl gehabt, nur am Strand Luft zu bekommen. Es war mitten in der Nacht gewesen, als ich im Sand saß, den Blick auf das Meer gerichtet, das außergewöhnlich still vor mir gelegen hatte. Meine Füße hatte ich in den kühlen, feuchten Sand gebohrt und den Tränen freien Lauf gelassen, denn es war ja niemand da gewesen, der mich hätte sehen können – nur allein hatte ich mich dort sicher gefühlt. Immer wieder gab es Tage, an denen meine Selbstzweifel und die Reue fast zu groß wurden, um sie zu ertragen. So auch in dieser Nacht am Strand vor zwei Jahren. Und dann war diese herzensgute Frau wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht, hatte sich wortlos zu mir gesetzt und mir ein Taschentuch gereicht. Ich war mir sicher, dass ich niemals wieder einen Menschen wie Florence treffen würde, sie war einmalig. Ich erinnerte mich genau, wie ihre bloße Anwesenheit mir Trost gespendet hatte, und das, obwohl sie eine Fremde gewesen war. Bis heute hatte sie nie gefragt, wo ich herkam. Für sie war nur wichtig, dass ich da war. Mehr als meinen Namen und Geburtstag kannte sie nicht aus meiner Vergangenheit, und ich liebte sie dafür, dass sie mir die Chance gab, ein komplett neues Leben aufzubauen.

»Also …« Räuspernd versuchte ich, die passenden Worte zu finden, die mich nicht wie eine Versagerin dastehen ließen. Ich hatte ihr vieles nicht anvertraut. Allem voran, wie pleite ich war. Mein früheres Leben hatte ich samt Status in New York gelassen. Von dem Geld, mit dem ich die schillernde Glitzerwelt verlassen hatte, hatte ich das Appartement gekauft. »Ich …« Ein schriller Ton drang aus den blechernen Lautsprechern über der Eingangstür zu uns herüber. »Die Klingel!« Ich sprang erleichtert auf.

»Du entkommst mir nicht«, trällerte Florence mir nach. Sie hatte recht. Ich konnte nicht auf ewig vor ihr verheimlichen, was los war, das wäre nicht fair. Aber wer auch immer vor der Tür stand, hatte mir Zeit verschafft, mir zu überlegen, wie ich Florence einweihte. Und vielleicht sogar Zeit, um eine Lösung für meine missliche Lage zu finden. Eine, die nicht den Namen Basilton trug.

Mit vor Aufregung schweißnassen Händen zog ich fest an der störrischen Tür, damit sie sich knarzend öffnete. Man sollte meinen, dass es mittlerweile Routine für mich war, neue Schildkröten aufzunehmen, doch wusste ich nie, was für ein Kerlchen auf meine Hilfe angewiesen war. Einmal hatte Mrs. Diaz, eine Seniorin, die zu sämtlichen Stadtveranstaltungen ihre berühmte Paella kochte, einen Korb voll verlassener Katzenbabys vorbeigebracht, weil sie gehört hatte, dass ich mich um Tiere kümmerte. Knapp daneben, aber mit Dr. Garcias Hilfe hatten sie alle ein Zuhause gefunden, und manchmal, wenn mir eine von ihnen in Shore Mana über den Weg tapste, ging mir das Herz auf.

»Hi.« Ein Mann in halblangem Wetsuit stand vor mir, eine Meeresschildkröte in den Armen. »Ich hatte einen Unfall.« Unfall? Oh fuck. Okay. Durchatmen. Ich hatte weder Geld noch Futter für eine weitere, schwer verletzte Schildkröte und hoffte, sie wieder entlassen zu können, nachdem ich sie durchgecheckt und beobachtet hatte.

Ich wies auffordernd in den Raum hinein, damit er eintrat. »Du oder sie?«

»Was?« Er runzelte die Stirn und erst jetzt fiel mir auf, dass er triefend nass war, weil ihm vereinzelte Tropfen von seinen Haarspitzen die Schläfen herabrannen. Und er war barfuß. Und rang nach Atem. Kam er direkt vom Strand?

»Pack sie bitte mit dem Bauch waagerecht«, bat ich ihn und er befolgte meine Anweisung, ohne zu murren. »Es kann fatale Folgen haben, eine Schildkröte zu lange aufrecht zu halten, die Organe rutschen nämlich nach unten oder sie ersticken, wenn Gewicht auf ihre Lungen drückt. Komm mit«, forderte ich ihn auf und führte ihn zum Behandlungstisch. »Leg sie ab.«

»Ich hab sie getroffen«, erklärte er atemlos und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

»Okay.« Ich wandte mich zur Schildkröte, die auf den ersten Blick keinen verletzten Eindruck erweckte. Gott sei Dank! Die Anspannung in mir machte einer vorsichtigen Erleichterung Platz. »Womit denn?«

»Mit meinem Surfbrett, nah am Ufer. Genau weiß ich nicht, was passiert ist. Sie muss gegen das Board geknallt sein. Oder das Brett gegen sie – was weiß ich denn?«

Florence tauchte hinter uns auf und griff sich ein paar Einweghandschuhe. »War da Blut?«

Behutsam fuhr ich mit der Handfläche den Panzer auf und ab, tippelte mit den Fingerspitzen auf ihm herum und lächelte meine beste Freundin an, weil sie sofort half.

»Es war im Wasser«, wiederholte er und ich erkannte einen Umschwung in seiner Stimme. Vor einem Moment war er verunsichert gewesen, jetzt wirkte sein Tonfall genervt.

»Blut würde man eindeutig sehen«, erklärte ich seelenruhig, bevor Florence eine schnippische Antwort gab. Ich liebte sie, doch manchmal war sie zu aufbrausend, und ich vernahm eine deutliche Schwingung in der Luft.

»Ich habe keine Ahnung, das Wasser hat alles verwirbelt. Ich denke nicht.« Er zeigte auf das Meerestier. »Sie bewegt sich nicht mehr. Warum rührt sie sich nicht?«

»Das ist nicht ungewöhnlich«, beruhigte ich ihn. Florence verzog hämisch einen Mundwinkel. »Schildkröten verstecken sich, sobald sie Gefahr wittern, und bewegen sich dann keinen müden Zentimeter.«

»Als hätten sie ihren persönlichen Panikraum immer dabei«, murmelte er und entlockte mir ein Grinsen.

»Zum neidisch werden, oder?« Ich riss meinen Blick von der Schildkröte los, schnippte mir den Gummihandschuh von der Hand und hielt sie ihm hin. »Hi, ich bin Kalea.«

»Malio. Hi.« In dem Augenblick, in dem sich sein Mund zu einem verwunderten Lächeln verzog, begann es in meinem Magen zu kribbeln. Es fühlte sich an, als tanzten mindestens zehn Schildkröten Cha-Cha-Cha meine Magenwände auf und ab. Das letzte und einzige Mal, dass dies geschehen war, lag viele Jahre zurück und war nicht einmal echt gewesen. Und das letzte Mal, dass ich Gefühle für jemanden hatte, als ich mich, aus welchen Gründen auch immer, auf jemanden eingelassen hatte, war nicht gut ausgegangen. Es hatte damit geendet, dass ich als Gespött aller die Stadt verlassen hatte.

Kapitel 10

Malio

Ich schaffte es kaum, das Lächeln auf meinem Gesicht zu unterdrücken, während ich vom Turtles’ Inn zum Koa’s lief. Kalea. Sie war mir nie in Shore Mana aufgefallen, was heißen musste, dass sie nicht von hier kam und in der Zeit hergezogen war, als ich in New York studiert hatte. »Kalea«, murmelte ich kopfschüttelnd und biss mir auf die Unterlippe. Der Name bedeutete Glück. Das ich echt gebrauchen konnte. Der Moment, in dem sie mir ihre Hand hingehalten hatte, hatte sich tief in mein Hirn gebrannt. Ihr beruhigendes Lächeln, das es nicht schaffte, ihren müden Blick zu übertünchen, hatte meine Panik im Keim erstickt. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, doch erkannte ich sofort ihre Kompetenz im Umgang mit dem Tier.

Irgendetwas an ihr faszinierte mich und ich konnte nicht sagen, ob es die Tattoos oder die hellbraunen Augen waren. Vielleicht war es die Art, wie sie ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz band. Ich seufzte und fuhr mir mit einer Hand über die Stirn, die mittlerweile von einer körnigen Salzschicht überzogen war. Schon möglich, dass es an ihrem Namen lag, denn für meine Eltern waren Namen und ihre Bedeutungen unvergleichlich wichtig und das war auf mich übergesprungen. Ich erreichte den Strandabschnitt, an dem unsere Surfschule und der Shop lagen, und schlurfte durch den Sand, der meine glühenden Fußsohlen kühlte. Mein Surfbrett lag dort, wo ich es zurückgelassen hatte. Mittlerweile hatte der Wind Sand darauf getragen. »Entschuldige, Kumpel«, nuschelte ich dem Board zu und lehnte es gegen die Hauswand. Ich pfriemelte am Reißverschlussring des Wetsuits herum, an dem ich immer den Schlüssel für die Surfschule befestigte, als Vorsichtsmaßnahme, damit ich ihn nicht im Meer verlor.

Die eiskalte Luft der Klimaanlage strömte mir entgegen, ließ mich frösteln und der Blick auf die Wanduhr über dem Info-Tresen verriet mir, dass mir kaum zehn Minuten blieben, bis die ersten Kursteilnehmer auftauchten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich während der heutigen Kurse konzentrieren sollte. Denn in meinem Kopf drehte sich alles um die Frage, wie es mir gelang, das Schildkrötenmädchen, wie ich sie heimlich nannte, wiederzusehen.

Kapitel 11

Kalea

»Ich hole dich später ab«, rief Florence im Gehen und zog die widerspenstige Eingangstür hinter sich zu, sodass mir keine Möglichkeit blieb, zu widersprechen. Obwohl ich nicht gern zu Touristenspots ging, würde sie es mir nicht durchgehen lassen, sie nicht ins Coconight zu begleiten. Mir graute es jetzt schon.

Seit Malio, der Typ im klitschnassen Wetsuit von heute Morgen, gegangen war, hatte mir Florence bei jeder Gelegenheit verschwörerisch zugezwinkert. Als hätte sie einen sechsten Sinn dafür, wenn ich jemanden … nett fand.

»Du brauchst einen Namen«, murmelte ich Malios dickhäutigem Sorgenkind zu und strich ihm dabei sanft über den Panzer. Er hatte sich einmal kurz aus seiner Höhle getraut, um mir ein Stück Salat aus den Fingern zu schnappen. Seine Scheu ließ mich lächeln und mein Herz wärmer werden, denn dieses kleine Kerlchen hier erinnerte mich wieder daran, warum ich Schildkröten so liebte. Es gab viele Gründe, die sie zu meinen Vorbildern machten, so seltsam das auch klang. Sie waren verständnisvoll und cool in jeder Lebenslage, blieben selbst inmitten von Chaos gelassen. Nicht umsonst wurde ihnen in vielen Kulturkreisen nachgesagt, dass sie unsere Welt auf ihrem Rücken trugen und Frieden brachten. Sie waren unglaublich stark und die Weibchen entschlossen, an den Strand zurückzukehren, an dem sie geschlüpft waren, selbst wenn sie dafür zehntausend Meilen zurücklegen mussten. Es gab sie bereits vor den Dinosauriern und ich würde alles in meiner Macht Stehende dafür tun, dass sie nicht ausstarben.