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Meine Mutter setzte alles auf eine Karte - und diese Karte war ich. Die Geschichte von Erich Kästner und seiner Mutter ist eine besondere: "Meine Mutter war mein bester Freund", sagte er über sie. Und sie wusste: "Mein Sohn verschweigt mir nichts." Tatsächlich war der kleine Erich seiner Mutter Lebenselixier sowie Schutzengel. Auch in späteren Jahren versuchte er, ihr beides zu sein - und sich trotzdem ganz behutsam ein wenig von ihr zu lösen. Seine Mutter war ihm Freundin, Reisekameradin, Beraterin in Liebesdingen wie in Modefragen, erste kritische Leserin seiner Manuskripte und - heutzutage unvorstellbar - unermüdliche Instandhalterin seiner Wäsche, auch als Kästner längst in Berlin lebte. Es war eine innige Beziehung von beiden Seiten, nicht immer leicht, aber stets von Liebe geprägt. Die große Kästner-Kennerin Sylvia List hat jetzt die schönsten Gedichte, Geschichten und Briefe versammelt, die Erich Kästner seiner Mutter - und allen anderen Müttern - gewidmet hat. Damit ist dieses Buch nicht nur eine ebenso hochvergnügliche wie bewegende Geschichte von Mutter und Sohn in Wort, Reim und Bild - es ist auch ein ideales Geschenk zum Muttertag, zum Geburtstag oder zu jeder anderen Gelegenheit, um den Müttern dieser Welt auf liebevolle und charmante Art und Weise "Danke" zu sagen.
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Seitenzahl: 221
Ich gehöre wirklich nicht zu denen, die erst zu spät bemerken, was eine Mutter bedeutet.An Ida Kästner, Leipzig, 6. November 1926
Erich Kästner hatte eine so innige Beziehung zu seiner Mutter wie kaum jemand sonst: »Es ist so schön, daß wir einander lieber haben als alle Mütter und Söhne, die wir kennen, gelt? Es gibt dem Leben erst den tiefsten heimlichen Wert und das größte verborgene Gewicht. Auch wenn man vor Arbeit keine Zeit hat, an den andern zu denken – im Unterbewußtsein herrscht immer diese unendliche Sicherheit, daß der andere da ist.« So unverstellt wie in diesem Brief vom 10. Januar 1929 äußerte Erich Kästner seine zärtliche Liebe für seine Mutter selten, aber dass sie ihm so nahstand wie kein anderer Mensch, versuchte er ihr immer wieder zu sagen und zu zeigen. Rührend, wenn der 26-jährige Student aus Leipzig schreibt, Weihnachtsgeschenke seien zwar etwas Schönes, »aber ich glaube, Muttchenbesuch ist noch schöner«, oder ihr, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, klarzumachen versucht, wie wichtig ihm die gemeinsamen Reisen sind.
Ida Kästner liebte ihren Sohn über alles. Sie kannte »kein Glück außer meinem«, heißt es im Neujahrsbrief Kästners vom 30. 12. 1926, und »ihr Leben galt mit jedem Atemzuge mir, nur mir« in Als ich ein kleiner Junge war. Und der Sohn vergalt ihr diese Liebe und Hingabe, so gut er vermochte, unablässig bemüht, »eines der besten Söhnchen zu sein«, ein Mustersohn eben, so wie er seiner Mutter zuliebe ein Musterschüler gewesen war.
Ein Muttersöhnchen war Kästner darum nicht. Seine Mutter unterdrückte ihn ja nicht, im Gegenteil, sie förderte ihn und beförderte seine Selbstständigkeit, wo sie nur konnte, ließ z. B. bereits dem Siebenjährigen den Willen, allein für die Mutter einkaufen zu gehen (Frau Hebestreit spioniert). Schon sehr früh übernahm Ida Kästner die Rolle der besten Freundin und Kameradin – wunderbar beschrieben in Meine Mutter, zu Wasser und zu Lande. Die Kehrseite dessen war, dass sie ihren Sohn damit sehr früh in die Rolle des männlichen Partners drängte, eine Rolle, die er – zu Lasten seines Vaters – zunächst auch ganz naiv annahm. So wenn er sich – im Brief vom 23. 2. 1924 – etwas überheblich wunderte, dass er mit Teilzeitarbeit mehr verdiente als sein Vater mit ganztägiger Fabrikarbeit. Erst ganz allmählich und mit auch räumlich wachsender Entfernung erkannte und begriff der Mustersohn, dass selbst eine so innige, exklusive Zweierbeziehung sich mit den Jahren naturnotwendig verändern musste: Er wurde älter, seine Mutter aber wurde alt. »Das klingt einfacher, als es ist«, lässt Kästner 1935 in Emil und die drei Zwillinge die Großmutter in dem Ernsten Gespräch zu ihrem Enkel sagen. Und einfach war es sicher nicht. »Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins« – diese Klage Frau Fabians dürfte Kästner auch von seiner Mutter gehört haben.
Abnabelungsprozesse zwischen Eltern und Kindern, speziell zwischen Müttern und Söhnen, sind immer heikel, und umso schwieriger, wenn einem jemand wie Ida Kästner gegenübersteht. Kästner kannte seine Mutter viel zu gut und wusste, dass er nur ganz behutsam versuchen durfte, Abstand von ihr zu gewinnen, und er liebte sie auch viel zu sehr, um sie – für die die Mutter-Sohn-Symbiose das Naturgegebene war – durch schroffe Distanzierung aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Wie gefährdet seine Mutter war, hat Erich Kästner in Ein Kind hatKummer eindringlich beschrieben. Wir können nur ahnen, wie sehr ihn die Selbstmordversuche Idas traumatisiert haben. Noch viele Jahre später brauchte er nur zwei, drei Tage nichts von ihr gehört zu haben – einmal pro Tag war die Regel –, schon spürt man aus seinen Briefen die panische Angst, sie könnte wieder einen ihrer depressiven Momente haben. Auch das war ja einer der Gründe, warum er seiner Mutter täglich schrieb – sie auf diese Weise seiner Existenz und Liebe unablässig zu versichern und sie so vor jeder Beunruhigung und seelischen Belastung zu bewahren, deren schädliche Auswirkungen er in Kinderjahren zu fürchten gelernt hatte. Als bei Kriegsende 1945 die Postverbindung abriss und keine täglichen Sohnesbriefe mehr kamen, setzte Ida Kästners geistiger und seelischer Verfall rapide ein. Ihr Fühlen und Denken kreiste nunmehr fast ausschließlich um den angebeteten fernen Sohn, dem sie ununterbrochen schrieb, fast so wie in dem Lied einer alten Frau am Briefkasten. Aber diese Briefe waren zunehmend verwirrt, wie ihre Schreiberin auch, und schließlich übernahm der bis zum Schluss geistig klare Vater das Briefeschreiben.
Kästner schickte seiner Mutter fast alles, was er schrieb, und sie hob die Texte getreulich und stolzerfüllt auf. Die Romane schickte er ihr oft schon im Manuskript und bat sie um ihre Meinung. Ida Kästner muss eine durchaus kritische Leserin gewesen sein, kompetenter, als man vielleicht nach der Lektüre ihres Neujahrsbriefs vom 2. Januar 1927 annehmen würde. Aber anschaulich schreiben konnte auch sie. Die Briefe seiner Mutter, deren Sprache Kästner vermutlich durchaus amüsierte, haben ihn immer wieder dazu angeregt, ihren eigenwilligen, sprunghaften Stil liebevoll, wenn auch nicht ohne Ironie, zu imitieren, so in Frau Großhennig schreibt an ihren Sohn,Frau Stramm schreibt an das Wohnungsamt und Frau Fabian schreibt an ihren Sohn.
Wenn man Kästners Briefe an seine Mutter liest, erst recht, wenn man sie laut liest, wundert einen nicht, dass dieser Mann Dialoge schreiben konnte. Er trainierte das Schreiben mündlicher Redeweise ja täglich! Und zum Mündlichen, zur gesprochenen Sprache, gehören auch die ungezählten Koseformen, all die Söhnchen, Muttchen, Kleidchen, Mützchen, Scheinchen … Aus den Dialekten sind uns diese Koseformen vertraut – das Jungchen, Büble, Buebele, Buberl usw. –, in den slawischen Sprachen sind sie Legion. Wenn Kästner schreibt: »Geh in den Großen Garten, setz Dich zu Pollender ins Sönnchen …« (22. 6. 1927), dann könnte hier der slawische Sprachgebrauch abgefärbt haben. Böhmen ist von Dresden schließlich keine fünfzig Kilometer entfernt.
Noch ein Wort zu den »Scheinchen«, die Kästner so gern seiner Mutter schickte: Bargeldlose Überweisungen waren damals noch mit viel Aufwand verbunden und darum unüblich. Größere Summen zahlte man auf der Post ein, und der Geldbriefträger brachte sie dann dem Empfänger. Und kleinere Summen legte man eben der Einfachheit halber den Briefen bei.
Eng mit seiner Mutter verbunden ist auch Erich Kästners – unter Schriftstellern wohl einzigartige – hingebungsvolle Beschäftigung mit dem Thema Wäsche, diesem unvermeidlichen Bestandteil des Hausfrauenalltags. »… mein Herz hängt an all den Zeremonien, die schmutzige Wäsche in frische, glatte, duftende Stücke zurückverwandeln. Wie oft hatte ich meiner Mutter bei fast jedem Handgriff geholfen! Die Wäscheleinen, die Wäscheklammern, der Wäschekorb, die Sonne und der Wind auf dem Trockenplatz beim Kohlenhändler Wendt in der Scheunhofstraße, das Besprengen der Betttücher, bevor sie auf die Docke gerollt wurden, das Quietschen und Kippen der elefantenhaften Mangel, das Zurückschlagen und Abfangen der Kurbel« beschreibt er liebevoll »die ganze weiße Wäschewelt« im Nachwort zu Als ich ein kleinerJunge war. Und das diesem Thema gewidmete Gedicht Begegnung mit einem Trockenplatz schließt mit den Zeilen »Oh, ich erinnre mich an alles sehr / genau und will es nie vergessen«. In der so rührenden wie beklemmenden Geschichte Mama bringt die Wäsche zählt Kästner all die Wäscheteile auf, »die Bettwäsche, die Oberhemden, die gestickten Taschentücher«, die seine Mutter ihm allweihnachtlich geschenkt hatte und die nun im Bombenfeuer ebenso verbrannt waren wie die »stolze Schenkfreude, die sie nach jeder großen Wäsche immer wieder neu hineingeplättet hat«. Die strapaziösen Waschtage Ida Kästners und die Wäsche, die zwischen Mutter und Sohn hin- und hergeschickt wird, sind ständiges Thema in den Briefen, aber auch in Gedichten wie Frau Großhennig schreibt an ihren Sohn und Ein Buchhalter schreibt seiner Mutter. Vor dem Zeitalter der Waschmaschine war dieses Heimschicken der Schmutzwäsche durchaus üblich, in manchen Haushalten gab es dafür sogar kleine Koffer, für die beide Seiten, die wäschebenutzende wie die wäschewaschende, einen Schlüssel hatten.
Von den gemeinsamen Reisen Ida und Erich Kästners handeln die Gedichte Junggesellen sind auf Reisen und Abfahrt. Wichtiger waren aber noch die gegenseitigen Besuche, die in vielen Texten thematisiert sind – angefangen von der frühen Geschichte Karl der Faule, in der der Spätaufsteher Kästner sich über sich selbst mokiert, über Gedichte wie Stiller Besuch,Die Heimkehr des verlorenen Sohnes und die Episode Mutter Fabian zu Besuch in Berlin bis hin zu der fast grotesken Kriegsszene Gänsebraten aus Dresden und schließlich … und dann fuhr ich nach Dresden, der Beschreibung des ersten Wiedersehens mit den Eltern nach 1945. Dass ausnahmslos alle Mütter finden, sie sähen ihre erwachsenen Kinder viel zu selten, führt Kästner exemplarisch vor in Eine Mutter zieht Bilanz.
Ein Thema ist in dieser Auswahl ausgeklammert: Ida Kästners Rolle als Ratgeberin in Liebesdingen, ein Thema, mit dem alle Biographen sich ausführlich befasst haben. Es gibt zu diesem Thema aber keine Texte Kästners, lediglich seine Briefe, denen sich nur in den seltensten Fällen die Reaktion seiner Mutter entnehmen lässt. Ida Kästners Briefe aus der Zeit vor 1945 gingen fast alle im Krieg verloren. Eine Ausnahme gibt es: ihre Briefe aus der Zeit, als Kästners Beziehung zu Ilse Julius in die Brüche ging. »Deine Briefe sind doch das einzige, was mich in dieser bösen Zeit, die ich durchmache, noch hochhält«, fleht Kästner seine Mutter an, ihm möglichst oft zu schreiben. Wie alle Klage- und Trostbriefe aus Phasen akuten Liebeskummers kranken aber auch diese an Wiederholungszwang, was die Lektüre etwas ermüdend macht. Um es mit Heine zu sagen: »Es ist eine alte Geschichte, / doch bleibt sie immer neu; / und wem sie just passieret, / dem bricht das Herz entzwei.« Das war auch bei Kästner nicht anders.
Es gibt nur wenige »Mutter«-Texte Kästners, die keinen Bezug zu Ida Kästner haben. Zu ihnen zählen das gesellschaftskritische Experiment mit Müttern und die Erzählung Zwei Mütter und ein Kind, in der die neue Stiefmutter sich auf sehr anrührende Weise bemüht, Kontakt zu dem um seine Mutter trauernden kleinen Mädchen zu finden. Auch für die Mutter von Lottchen und Luise hat Ida Kästner nicht Modell gestanden. Nur eines istwesentlich, die Erkennungsszene zwischen Mutter und Luise, ist eine Episode, die ich seit Kindertagen in- und auswendig kenne und trotzdem nie lesen kann, ohne einen Kloß im Hals zu haben.
Wegen der vielen Muttchenbriefe ergab sich die chronologische Anordnung der Texte fast von selbst. Darum haben auch einige Gedichte Eingang in diesen Band gefunden, die die Zeitumstände schildern, unter denen Kästner schrieb, berühmte Verse wie Möblierte Melancholie oder Große Zeiten und weniger berühmte wie Das Spielzeuglied oder Auf einer kleinen Bank voreiner großen Bank, Letzteres ein Text, der Kästners erstaunliche Aktualität deutlicher zeigt, als uns derzeit vielleicht lieb ist.
München, Winter 2010
Sylvia List
Es gibt Erinnerungen, die man, wie einen Schatz in Kriegszeiten, so gut vergräbt, dass man selber sie nicht wiederfindet. Und es gibt andere Erinnerungen, die man wie Glückspfennige immer bei sich trägt. (…) Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergessliche war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit.
Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war
Als ich ein kleiner Junge war, baute mein Vater noch keine lebensgroßen Pferde. Er wollte so viel Geld wie möglich verdienen, damit ich Lehrer werden konnte. Und er arbeitete und verdiente, so viel er vermochte, und das war zu wenig.
Deshalb beschloss meine Mutter, einen Beruf zu erlernen. Und wenn meine Mutter etwas beschlossen hatte, gab es niemanden, der es gewagt hätte, sich ihr in den Weg zu stellen. Kein Zufall und kein Schicksal wären so vorlaut gewesen! Ida Kästner, schon über fünfunddreißig Jahre alt, beschloss, einen Beruf zu ergreifen, und sie ergriff ihn. Weder sie noch das Schicksal zuckten mit der Wimper. Die Größe eines Menschen hängt nicht von der Größe seines Wirkungsfeldes ab. Das ist ein Lehrsatz und ein Grundsatz aus dem Kleinmaleins des Lebens. In den Schulen wird er nur selten erwähnt.
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