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Ein namenloser Autor erzählt die Geschichte eines Künstlers, eines Revolutionärs, zweier Nachbarinnen und deren Blumen. Mit liebevollem Blick fürs Absurde beobachtet der Protagonist seine Umgebung - selbst wenn er zu Hause sitzt. Zum Beispiel den Bewohner des gegenüberliegenden Gebäudes, der ein Künstler sein muss. Schließlich beginnt dieser Künstler die Texte des Autors zu lesen und rät ihm, eine Geschichte zu schreiben, die verständlich ist. Doch der Autor interessiert sich vor allem für seine Nachbarin, die plötzlich spurlos verreist. Dann taucht der Revolutionär auf, der von Freiheit und Konsumgesellschaft spricht, was die neue Nachbarin daneben und unzeitgemäß findet und das sie trotzdem in dessen Arme treibt. Der Autor macht sich auf die Suche nach seiner, der ersten, Nachbarin. Sie treibt ihn in die Welt hinaus, nach Berlin, Hamburg und endlich nach Paris. Martin Felder präsentiert mit "Die Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär" einen Debütroman mit viel Esprit und Wortwitz. Sein Buch ist formal und inhaltlich ebenso gewagt wie gelungen. Lassen Sie sich darauf ein.
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Seitenzahl: 89
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Martin Felder
ROMAN
Ich beobachte einen Vogel. Er stößt sich vom Rasen ab, fliegt zwischen den Bäumen empor zum Sims meines Fensters. Hier fällt er einfach um und bleibt liegen.
Irgendeiner stört mich immer, wenn ich an den Rosen meiner Nachbarin rieche. Vor zwei Tagen war es der Briefträger mit dem misstrauischen Blick. Gestern die Schwester der Nachbarin, eine bedrohlich weiße Handtasche aus Leder hing an ihrer Schulter. Zum Glück hat sie mich nicht gesehen. Heute ist es ein zufälliger Passant. Er bringt mich von allen in die schwierigste Situation.
Der junge Mann gegenüber ist eigenartig. Er schläft am Tag und ist in der Nacht wach. Ich sehe ihn nur am Morgen. Wenn er die Rollläden hinunterkurbelt, bleich und sichtlich ermüdet. Ich bin sicher, er arbeitet in der Nacht. Aber wirklich wissen kann ich es natürlich nicht, weil ich nachts schlafe. Vielleicht ist er auch Künstler. Ich kenne einige Künstler, und die schlafen meistens am Tag. Am Abend gehen sie dann aus, trinken viel, und wenn sie nach Hause kommen, setzen sie sich an die Arbeit.
Schaue ich aus dem Küchenfenster, sehe ich eine riesige Baustelle. Seit einem Jahr marschieren Männer mit orangefarbenen und gelben Helmen auf. Sie graben, bohren, schweißen und machen Dinge, für die ich nicht einmal Worte habe. Ich habe mir letzte Woche einen dieser gelben Helme besorgt. Nachts bin ich auf die Baustelle gestiegen, mit einer Taschenlampe ausgerüstet. Neben dem Zementmischer habe ich ein Exemplar gefunden. Seither stehe ich morgens um sechs Uhr auf. Ich trinke einen Kaffee, aus dem Küchenfenster blickend. Um sieben tauchen die Männer auf. Ich setze mir den Helm auf, wie sie, und mache mich an die Arbeit.
Ich stehe vor dem Kiosk am Bahnhof und betrachte Zeitschriften. Ein Herr stellt sich neben mich und verlangt Zigaretten. Gleichzeitig erscheint ein alter Mann und beginnt, weil er nicht gleich bedient wird, vom Krieg zu erzählen. Er sagt, das seien noch andere Zeiten gewesen. Man habe sich tapfer gewehrt. Und oft habe man zu wenig zu essen gehabt.
Dann informiert er sich über Kaugummis. Er will den Unterschied wissen zwischen Schpiermint, Menthol, Fruht und Zitrone. Ich versuche, ihm so gut wie möglich beizubringen, dass Schpiermint etwas fröhlicher schmecke als Menthol, dass aber Menthol auch gut sei, dass Zitrone etwas saurer zwischen den Zähnen liege als Fruht. Die beiden Letzteren unterschieden sich von den zwei Ersteren dadurch, dass sie einen größeren Speichelfluss im Mund provozierten. Er sagt, dann nehme er Zitrone.
Seit ich den Helm habe, stehe ich um sechs Uhr auf. Ich habe festgestellt, dass Punkt halb zehn alle Maschinen stillstehen, die Helme aufgehängt werden und die Arbeiter im Café auf der anderen Straßenseite verschwinden. Heute gehe ich mit. Zwar finde ich an ihrem Tisch keinen Platz mehr, aber gleich daneben ist einer frei.
Die Kühe reißen mit ihren rauen Zungen das Gras ab. Sie sehen alle gleich aus. Ich stoße mich nachdenklich vom Ast und flattere davon.
Der Mann von gegenüber taucht auf. Er sieht sehr verschlafen aus. Ich blicke auf die Uhr. Während er sich an den Tisch der Frau mit dem Hinterkopf setzt, frage ich ihn, ob es nicht noch etwas früh sei. Er kommt zu mir hin und wirft einen Blick auf meine Uhr. Dann sagt er, ich hätte recht, und geht.
Ich habe die Blumen meiner Nachbarin heute mit Blumen aus verschiedenen anderen Gärten verglichen. Ich bin über Türen gestiegen, über Zäune, habe Gartenzwerge umgestoßen. Nirgends kamen die Blumen auch nur annähernd an die Blumen meiner Nachbarin heran. Auch wenn einige vielleicht etwas besser rochen.
Draußen heult eine Sirene. Ich eile zum Fenster in der Küche und blicke auf die Baustelle hinunter. Die Arbeiter stehen mit ihren gelben und orangefarbenen Helmen im Kreis und einer liegt am Boden. Er wird von zwei Pflegern in den Krankenwagen getragen. Ich nehme den Helm ab und drücke ihn an meinen Bauch. Eine dieser weißen Pflegerwesten würde mir auch vieles erleichtern.
Die dünne Frau geht jetzt schon zum vierten Mal an der roten Parkbank vorbei. Wie auffällig, dass ich jedes Mal dasitze.
Der Künstlernachbar will einige Texte lesen, die ich geschrieben habe. Als er fertig ist, sagt er, es wäre gut, wenn ich eine Geschichte schreiben würde, die verständlich ist. Ich beschließe, ihm einen Gefallen zu tun.
Der Hund trippelt. Seine Herrin im Pelzmantel verwirft die Hand: Sie fühlt sich hinterhergezogen. Ein Auto braust vorbei. Fellhaare bewegen sich.
Seit ich weiß, dass der Nachbar meine Geschichten lesen wird, stelle ich mir vor, wie er die Stirn in Falten legt und sich nachdenklich räuspert. Dann komme ich selten über die erste Zeile hinweg.
Ich schreibe einen Text, den ich ihm zum Lesen gebe, schreibe ich und gebe ihn ihm.
Ein Mann, dessen Name niemand aussprechen kann, geht in ein Restaurant, das niemand sehen kann. Er bestellt ein Bier, das niemand trinken kann, beschimpft den Wirt, der niemanden bewirtet, und sagt, es sei eine Zumutung. Erstens werde man in diesem Restaurant nicht bedient, zweitens sei das Bier nicht trinkbar. Der Wirt ist erstaunt, dass ein Gast in sein Restaurant, das niemand sehen kann, getreten ist. Weil er trotz der Gewohnheit, niemanden zu bewirten, ein freundlicher Mensch ist, will er ihm die Sache erklären. »Herr¼…«, beginnt er und stellt erstaunt fest, dass ihm der Name des Mannes nicht über die Lippen geht. Er verstummt. Der Gast verlässt fluchend das Lokal und kehrt nie mehr zurück.
Wenn ich die Leute am Bahnhof beobachte, fällt mir auf, dass alle ein Ziel haben. Ich selbst muss ihnen dabei wohl eigenartig vorkommen. Denn ich bin nur hier, um sie zu beobachten. Das ist kein richtiges Ziel, und ich glaube, dass man mir das ansieht.
Der Arbeiter hat seinen Fuß im Gips. Er sagt, er habe, als es geschah, einen Helm getragen. Ich erkläre ihm, dass ich vom Küchenfenster auf die Baustelle sähe. Dann frage ich, ob es ihm etwas ausmache, wenn ich aus dem Schrank im Flur einen dieser Pflegeranzüge mitnähme.
Heute hat mich die Nachbarin mit den Blumen zum ersten Mal gegrüßt, flüchtig.
Ich sehe aus dem Spiegel und stelle fest, dass ich gepflegt aussehe.
Ich streife mir manchmal die weiße Pflegerweste über, die ich aus dem Schrank im Spital gezogen habe, und kombiniere sie mit dem gelben Helm der Baustelle. Ich habe festgestellt, dass mir dann bemerkenswerte Gedanken kommen.
Ich habe ein neues Lieblingswort: Stieglitz. Ich habe lange vergeblich nach einer Möglichkeit gesucht, es in einem kurzen Text zu platzieren.
Der Arbeiter im Spital meint zu mir, genauer gesagt hätte ich eigentlich den ganzen Tag überhaupt nichts gemacht. Ich sage, er wisse nicht, wie recht er habe.
Die Frau des Arbeiters heißt Laura und ist mir nicht wohlgesonnen.
Der Arbeiter im Spitalbett zieht die Mundwinkel zu den Ohren, als ich es ihm erzähle: Auf seiner Baustelle wird gerade das zweite Stockwerk gebaut. Sie sind jetzt fast auf meiner Höhe.
Der verunfallte Arbeiter ist aus dem Spital entlassen worden. Er steht mit seinen Krücken am Rand der Baustelle.
Er sei zwar kein Autor, aber mit Kunst im Allgemeinen habe er Erfahrung, sagt mein Nachbar, dessen Rollläden den ganzen Tag geschlossen sind.
Ich steige auf den Dachboden und vergesse, was ich suchen will. Als ich es endlich in den Händen halte, fällt es mir immer noch nicht ein.
Als ich bei der Nachbarin zum Tee eingeladen bin, warte ich vor der Tür auf ihr verspätetes Kommen. Etwas später spielt sie Musik ab und wir verstehen uns beinahe.
Im Busfenster spiegeln sich die Gesichter der Menschen draußen.
Ein Mann hebt ihn auf und wirft den Blumentopf zurück zum Fenster, von dem er heruntergefallen ist.
Ich stehe im Garten der Nachbarin. Sie hat wenig Zeit, und wenn, dann nur kurz, deshalb klingle ich gar nicht. Ich versuche, ihre Blumen mit Plastiksäcken vor dem Hagel zu schützen. Für die Luft mache ich kleine Löcher.
Die Hunde seien damals viel größer gewesen, sagt sie bei einem Waldspaziergang, und die alten Damen kleiner.
Der Mann von gegenüber berichtet, eine Galerie wolle ihn ausstellen. Er habe zugesagt. Jetzt müsse er noch die Kunstwerke herstellen.
Kaminski und Karl beschließen, ein Rennen im Rückwärtslauf durch die Stadt zu machen. Sie rennen die Treppe vor dem Rathaus hinunter, trippeln den Fluss entlang, keuchen über die Straße vor dem Bahnhof, eilen an Bratwurstständen vorbei, schuhen zum See, tappen über die Tramgleise und kommen beim alten Elektrizitätswerk verschwitzt und genau gleichzeitig an.
Ein andermal gerne, aber im Augenblick seien seine Augen voller Ameisen und die Hände voller Spechte.
Ich bin im Zoo, gehe hin und her und werfe Maiskörner aus dem Käfig.
Die Fliege ist frontal in meine Hand gerast und hat sich den winzigen Kopf angeschlagen.
Ein Mann steht im Garten meiner Nachbarin und schnuppert schamlos und ohne schlechtes Gewissen an den Blumen.
In den Sonnenuntergang speien und Vögel nach Erdnüssen werfen.
Das Wort Radweg auf den Zehennagel schreiben, oder umgekehrt.
Vor dem Altersheim werden Cremeschnitten aus zwei Lastwagen getragen.
Ich habe heute ein Telefon aus Quark erfunden. Was noch fehlt, ist eine Möglichkeit, die Nummern einzugeben.
Eine Taube zuckt mit ihrem Köpfchen, bis ihre Beinchen sie über den Rasen transportiert haben.
Ein abgemagerter Hund leckt an der Betonwand. Das Hochhaus stürzt ein. Der Hund rennt davon.
Letzte Nacht hatte ich einen komischen Traum. Es gab darin sogar Glassammelstellen und eine Grünabfuhr.
Am Ast hängt ein Strick, mit dem sich eine Gruppe Efeu abseilt.
Ich solle mich nicht so oft mit ihren Blumen abgeben, meint die Nachbarin.
Im Fenster eines Hotels flimmert ein nackter Mann auf dem Bett.
Bald falle er in Ohnmacht, sagt einer und fällt in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kommt, sagt er, soeben sei er wieder zu sich gekommen. Doch bald falle er wieder in Ohnmacht.
Ein Hund mit Schuhen fragt mich, wo der Wald sei.
Ich habe versucht, den ganzen Tag kein Wort zu schreiben. Es wäre mir um ein Haar gelungen.
Im blauen Café treffe ich den Künstlernachbarn. Er sagt, er habe noch immer keine Bilder für die Ausstellung, und transportieren müsse er sie auch noch.
Ich schaue in den Spiegel und spiele das Spiel, bei dem der, der zuerst lacht, verloren hat.
Obwohl ich keinen Termin habe, bin ich pünktlich.
Im Garten meiner Nachbarin hüpfe ich einer Heuschrecke nach. Ich verfolge sie um das Haus herum, wieder nach vorn, durch die Tür hinein. In der Waschküche verliert sich ihre Spur vorläufig.
Was ich in ihrer Waschküche zu suchen habe, fragt mich meine Nachbarin und erwartet verständlicherweise eine schlüssige Antwort.
Im städtischen Schrebergarten schwappen die mit Bier gefüllten Schneckenfallen über.
Ein Mann schläft vor seinem Schrebergartenhäuschen ein. Der Regen löscht die Glut des Grills, die Bratwürste triefen.
Die Straße wird zum Sturzbach. Gartenzwerge, leere Kinderwagen und eingeschlafene Schrebergartenbesitzer treiben mit.