Meine Schwester - Bettina Flitner - E-Book

Meine Schwester E-Book

Bettina Flitner

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Beschreibung

Kann ein Buch einen Lebensschmerz überwinden? Ja. Als die Fotografin Bettina Flitner vor einigen Jahren vom Suizid ihrer geliebten Schwester erfuhr, waren die ersten Reaktionen Schock, Lähmung und Verzweiflung. Doch dann entschied sie sich zum Erzählen. Das Ergebnis ist ein tief bewegender, meisterhafter Text, ein Buch der Befreiung. Mit einem an der Fotografie geschulten, unbestechlichen Blick, voller Hingabe, Witz und Traurigkeit erzählt Bettina Flitner die Geschichte einer innigen Geschwisterbeziehung: eine Kindheit der 70er Jahre, die Jahre auf der Waldorfschule, die Erinnerung an die charismatischen Großeltern, darunter ein berühmter Reformpädagoge, der Vater ein Kulturmanager und Exponent des links-liberalen Bildungsbürgertums der alten BRD, ein Jahr in New York, die Ferien auf Capri, die ersten Liebesabenteuer in der Pubertät. Und dann die Risse: die Überforderung der Kinder durch das Leben der Eltern im Zeichen sexueller Libertinage, die Flucht der Mutter in die Depression, die unerfüllbaren Berufserwartungen der Eltern an die Töchter. Bettina Flitners Buch ist ein bewundernswert mutiger Schritt, sich den Gespenstern der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen, sich von diesen zu befreien und so den Tod geliebter Menschen verarbeiten zu können. Ein Buch über ein Thema, das für viele Menschen immer noch von Tabus und Schweigen besetzt ist.

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Seitenzahl: 302

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Bettina Flitner

Meine Schwester

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Bettina Flitner

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Textbeginn

Dank

Inhaltsverzeichnis

Der Telefonanruf kam abends gegen 22 Uhr. Eine Freundin aus Wien war zu Besuch, sie hatte gerade ihre Mitbringsel ausgepackt. Zwei Oberteile, von einer Modemacherin. Ich zog meins sofort über, ein hauchdünner moosgrüner Hoodie. Genau meine Farbe, extra für mich angefertigt. »Sie ist Fotografin«, hatte die Freundin der Designerin gesagt und etwas »schickes Sportliches« bestellt. Sie saß auf dem Sofa und betrachtete zufrieden mich und Alice, die etwas »elegantes Schwarzes« bekommen hatte, wie wir uns in der großen Wohnzimmerscheibe spiegelten. Während wir uns noch hin- und herdrehten – Wie fällt es? Was zieht man drunter? klingelte das Telefon.

Es war Thomas, der Mann meiner Schwester. Er schrie und schluchzte ins Telefon. Er hatte meine Schwester im Bad gefunden, als er um halb zehn nach Hause gekommen war. Sie lag da neben der Waschmaschine. Er hatte sofort den Notarzt gerufen. Aber die hatten nur noch das Fenster aufgemacht. Das machen sie immer so.

Inhaltsverzeichnis

*

33 Jahre vorher. Ich halte den Hörer in der Hand. Mein Vater ist am Telefon, er sagt: »Tina, Mami ist tot.« Dann hat sie es also wirklich getan, denke ich.

Inhaltsverzeichnis

*

Ich zog sofort den Hoodie aus, versuchte zu verhindern, dass er den Geruch der Erinnerung annahm. Seltsam, dachte ich, während ich den moosgrünen Stoff über den Kopf zog. Seltsam, dass ich in diesem Moment daran denke. Ich wusste im gleichen Augenblick, dass ich ihn nie wieder tragen würde.

Ich spürte, wie ich auf unterste Betriebstemperatur hinunterschaltete. Der Katastrophenmodus lief. Das geht automatisch. Diesmal war ich es, die bei meinem Vater anrufen musste. Es klingelte einmal, es klingelte zweimal, es klingelte dreimal, es klingelte viermal, es klingelte fünfmal, es klingelte sechsmal. Der Anrufbeantworter sprang an. »Ich bin im Moment nicht da, aber was Sie mir auf das Band sprechen, höre ich mir später an.« Ich hatte diese Ansage viele Male gehört. Mein Vater ist oft unterwegs, auch mit seinen 89 Jahren. Die Stimme war fröhlich. Ich bat ihn, mich zurückzurufen. Für meinen Vater war die Welt noch in Ordnung.

Wenn wir früher in unserem weißen VW Käfer zu meinen Großeltern fuhren – ich saß immer hinter meinem Vater, meine Schwester immer hinter meiner Mutter –, gab es manchmal auf der Gegenfahrbahn einen Unfall. Dahinter stauten sich bereits die ersten Autos. Wir fuhren an den stehenden Wagen vorbei, dann an denen, die gerade abbremsten, und dann kamen die, die noch unbeschwert unterwegs waren. Je weiter wir fuhren, desto mehr wurde ich zur Zeitreisenden. Ich konnte in die Zukunft der anderen blicken. Noch ahnen sie nichts, dachte ich, wenn uns die Unwissenden in voller Fahrt entgegenkamen. In 30 Sekunden werden sie es erfahren.

Ich rief Raffi an, den einzigen Freund und ehemaligen Lebensgefährten meiner Schwester. Er wohnte nicht weit von meinem Vater entfernt. Ich bat ihn, sich bereitzuhalten, um zu meinem Vater zu fahren, sollte es nötig sein. Der war noch genau eine Stunde lang auf der Gegenfahrbahn. Dann rief er zurück. Ich sagte: »Es ist etwas Furchtbares passiert.« Er schwieg. Und dann sagte er: »Das glaube ich nicht. Das muss ein Irrtum sein.« Ich sagte: »Nein.«

Wir packten ein paar Dinge für die morgige Reise zusammen. Die Freundin aus Wien stand im Bad. »Standet ihr euch nahe?«, fragte sie. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Nein, sagte ich. Und ja. Ich registrierte, dass sie bereits die Vergangenheitsform verwendete. So schnell ging das. Jetzt sprang der Seismograf an. Ich kannte ihn schon. Er ist zuverlässig und zeichnet alles haargenau auf: jede noch so kleine Bemerkung, jede noch so kleine Bewegung. Wer sagt was. Und wann. Ich registriere ganz genau, wie schnell sich jemand meldet. Mit welchen Worten. Die richtigen und die falschen Töne. »Wie traurig.« Oder »Herzliches Beileid.«

Alice war da. Sie trug mich durch diese Nacht. Am nächsten Morgen fuhren wir um sieben Uhr früh mit dem Zug nach Hamburg. Wir saßen im letzten Wagen. Immer wieder stand ich auf, um mit Thomas, dem Mann meiner Schwester, zu telefonieren. Durch das Rückfenster sah ich die Schienen stetig kleiner werden und am Horizont verschwinden. Das Geräusch des Fahrens. Die vorbeiziehenden Bäume. Sie sind schon in der Gegenwart verschwommen. Die Gegenwart war nicht mal eine Sekunde lang.

Ein älterer Mann saß uns gegenüber. Er schaute mich immer wieder an. Sein Blick war mitfühlend. Er hatte etwas gespürt und Alice gefragt, als ich hinten auf der Plattform stand. Er war Pfarrer, und als wir ausstiegen, sagte er: »Ich bete für Sie.« Ich winkte ihm durch die Scheibe zu. Er winkte zurück.

Wir saßen auf der Terrasse meines Vaters. In seinem Elternhaus, hier ist er aufgewachsen. Mein Vater hatte Kuchen gekauft und Tee gemacht und die Blaudruck-Tischdecke aufgelegt, die ich nur von Ostern kenne. Im Garten fingen die Wildblumen gerade an zu blühen. Thomas saß neben mir, auf der anderen Seite Raffi und seine Freundin Dana. Wir hatten niemanden informiert. Es gab niemand anderen. Wir fünf, mein Vater, Raffi, Thomas und ich mit Alice waren ihre einzigen engeren Kontakte.

Wir saßen da. Jeder von uns versuchte, sich zu erinnern. Was? Hätte man? Wann? Wissen? Müssen? Was war los in den letzten Tagen, Wochen, Monaten? Diese hoffnungslose Suche fängt immer mit einem Zuletzt an. Wer hat sie zuletzt gesehen? Wen hat sie zuletzt angerufen? Was hat sie zuletzt gesagt? Zuletzt. Das letzte Mal. Es ist endgültig.

Dann kamen mein Cousin Ansgar mit seiner Frau und eine weitere Cousine dazu. Beide aus der Familie meines Vaters. Ansgar ist Arzt. »Natürlich gibt es da eine familiäre Vorbelastung«, sagte er. »Das hat eine genetische Komponente. Und entweder man erbt dieses Gen oder nicht.« Mir schien, als wollte er uns trösten. Dass es sozusagen vorbestimmt gewesen sei, unausweichlich. Eine Krankheit.

»Du hast es offenbar nicht geerbt«, wandte sich mein Vater beschwörend an mich. Aber wie war es bei meiner Schwester?

»Ja«, sagte Thomas, »sie hatte immer im Frühjahr diese leichten Traueranfälle.« Mein Vater und ich sahen uns an. Vor uns hatte sie das in den letzten Jahren verborgen.

Da waren sie wieder. Die schwarzen Raben. Meine ganze Kindheit und Jugend über waren sie da. Sie kündigten sich nicht an. Sie näherten sich langsam, aber unaufhaltsam. Und dann waren sie da, ließen sich draußen auf den Bäumen nieder. Sie warteten, bis es so weit war. Und mit einem Schlag waren sie im Haus. Sie setzten sich überallhin, in die Küche, an den Esstisch, auf das Sofa. Sie waren im Flur, auf der Treppe und im Badezimmer. Sie saßen da, und sie blieben. Wie lange sie bleiben würden, wusste man nie. Einen Monat. Drei Monate. Oder länger?

Sosehr man sich auch bemühte, man konnte die schwarzen Raben nicht verscheuchen. Das konnte nur der Mensch, den sie umflatterten. Schaffte er es, waren sie eines Tages weg. Sie flogen genauso überraschend fort, wie sie gekommen waren. Dann schwirrten sie draußen noch eine Weile umher, bevor sie ganz verschwanden. Und man hoffte jedes Mal, dass man sie nie wieder sehen würde.

Ich weiß bis heute nicht, wie es sich anfühlt, wenn man von ihnen umflattert wird. Aber ich weiß genau, wie es aussieht. Wenn sie den anderen langsam und unaufhaltsam umzingeln. Wenn sie ihre Kreise immer enger ziehen. Wenn der andere Stück für Stück in dem schwarzen Schwarm verschwindet. Der Schwarm schluckt alles. Geräusche, Farben, Luft. Nichts dringt mehr rein, nichts mehr raus. Ich konnte es jahrelang sehen. Bei meinem Großvater. Bei meiner Tante. Bei meinem Onkel. Bei meiner Mutter. Später habe ich es oft fotografiert, bei anderen Menschen.

Inhaltsverzeichnis

*

Es ist Mittagszeit. Alles schläft. Meine Schwester und ich schleichen über die Dielen. Meine große Schwester geht voran. Sie setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, nach links und dann wieder nach rechts. Wir bewegen uns durch den Gang wie durch einen reißenden Bach, müssen die knarrenden Stellen vermeiden, hangeln uns von einem Stein zum anderen. Plötzlich hält meine Schwester an, sie hebt die Hand. Wie festgefroren steht sie vor mir. Auch ich erstarre. Wir lauschen. Nichts regt sich. Weiter, winkt sie. Und macht einen kleinen Satz nach links. Ich mache das Gleiche.

Sie weiß genau, welche Planken wir meiden müssen, wie wir unbemerkt und trockenen Fußes durch den Strom kommen. Wie ein kleinerer, schmalerer Schatten folge ich ihr. Hier müssen wir ganz dicht neben der Scheuerleiste an der Wand entlanggehen und dann wieder einen Sprung nach rechts. Meine Schwester vorweg, ich hinterher. Dann sind wir endlich an dem großen weißen Schrank angekommen.

Was jetzt kommt, ist Millimeterarbeit. Die Tür darf nur sehr langsam geöffnet werden, sodass weder Ami und Api, unsere Großeltern, aufwachen, noch Hedi in der Küche Verdacht schöpft. Das Knarzen und Quietschen der Türe muss sich ganz natürlich mit den alltäglichen Geräuschen vermischen, mit dem Atem und dem Räuspern des alten Hauses. Das Türenöffnen ist mein Part. Stück für Stück ziehe ich die linke Tür des Schrankes auf, im Gleichklang mit Hedis Schritten auf dem Steinboden unter uns. Wenn sie läuft, bewege ich die Tür, wenn die Geräusche stoppen, verharre auch ich.

Dann hören wir Hedis Schritte die Treppe hinunterlaufen. Sie geht einkaufen. Wir warten noch, bis wir die Eingangstür ins Schloss fallen hören, dann öffnen wir mit einem Schwung den Schrank. Wir setzen uns davor und schauen hinein in den großen dunklen Raum, in die Erinnerung der anderen. Der Schrank ist voll davon. Verstaut in Koffern und Kisten.

Ich greife ein grünes Fotoalbum und schlage es auf. Schwarz-weiße Bilder mit gezackten Rändern. Unsere Großeltern und andere, unbekannte Menschen mit weißen Sommerhüten sitzen an einer gedeckten Kaffeetafel und lächeln uns an, im Hintergrund das lang gestreckte Gebäude mit den vielen Giebeln und Balkonen, das Sanatorium unserer Großeltern in Schlesien. Unsere Mutter, ein dünnes Mädchen von sechs Jahren, auf einer sonnenüberfluteten Wiese. Ihre vier Brüder dahinter, daneben ihre acht Jahre ältere Schwester. Unsere Mutter in weißem Kleid und mit eingedrehten Locken, ihre Schwester streng mit Wollrock und Pullover. Die Schöne und die Kluge, wie unser Großvater, Api, immer sagt.

Alte Tennisschläger, Schlittschuhe, Kleidung. Meine Schwester angelt eine Mädchenbluse und hält sie vor sich. Wem gehörte sie? Unserer Mutter, ihrer Schwester?

Ganz hinten im Schrank steht ein Koffer. Ein kleiner Puppenkoffer, rot mit weißen Punkten. Das verrostete Schloss lässt sich nur schwer öffnen. Vier Gegenstände liegen darin. Ein kleiner grauweißer Stoffhund, Glasperlen, eine Schnur, ein Kaleidoskop aus Pappe. Was ist mit dem Stoffhund, den Glasperlen, der Schnur, dem Kaleidoskop verbunden? Wem gehört diese Erinnerung? Durch wessen Blick öffnet sich der Raum dahinter?

Ich nehme das Kaleidoskop und halte es an mein Auge. Der Schrank, der Koffer, meine Schwester. Alles zersplittert in viele kleine Scherben. Zwanzig Schränke, zwanzig Koffer, zwanzig Schwestern. Aus wie vielen Splittern setzt sich ein Leben zusammen, ein Mensch, eine Geschichte? Und wer hat die Dinge in den kleinen roten Koffer gepackt?

 

 

 

Es ist früher Abend. Ami, unsere Großmutter, ist mit dem Abendessen beschäftigt. »Es ist schon sechs Uhr, er wartet«, hatte sie gesagt und mich aus der Küche geschoben. Ich klopfe an Apis Schlafzimmertür. Herein. Ich betrete das Zimmer. Api, mein Großvater, steht am geschlossenen Fenster und schaut aus dem Dunkel hinaus in den Sommer. In dem Raum stehen immer noch die schweren Möbel seiner Mutter, die bis vor Kurzem hier lebte. Auf der Stirnseite der Schreibtisch aus der Gründerzeit mit den Geheimfächern. Zwischen den beiden hohen Fenstern die geschwungene Kommode aus Kirschholz, darüber der fleckige Spiegel.

Api wartet. Er wird mir und meiner Schwester gleich aus der Odyssee vorlesen, wie jeden Abend. Noch steht er reglos am Fenster. Auf der Kommode hatte meine Urgroßmutter Helene immer die Geleeeier liegen. Wenn wir nach einem Besuch abfuhren, stand sie oben an dem rechten efeuumwachsenen Fenster und warf erst Kusshände, dann grüne und gelbe Geleeeier nach unten. Sie war Hofdame in Potsdam gewesen, Hofschranze, wie meine Mutter sagte, und wurde von ihrem Sohn Mamazel genannt. Mamazel war stets perfekt geschminkt und frisiert, trug schwarze Seide mit Rüschenkragen bis zum Kinn. Dazu eine lange Perlenkette mit einem Knoten. Sie sprach am liebsten Französisch und war immer höflich und liebenswürdig. Meiner Schwester und mir brachte sie etwas bei, von dem sie der festen Überzeugung war, eine Dame sollte es in Perfektion beherrschen: den Hofknicks.

Dazu gehört eine ganze Inszenierung. Meine Schwester und ich stehen vor Mamazels Zimmer und klopfen. Von innen ruft sie »Entrez!«, worauf wir nacheinander das Zimmer betreten. Mamazel steht an der Kommode in kerzengrader Haltung, ihr roter Kirschmund lächelt uns huldvoll an. Sie nickt leicht. Das bedeutet, wir dürfen uns nähern. Gehen wir einfach auf Mamazel zu, ohne das Nicken abzuwarten, müssen wir erneut vor die Türe.

Erst ist meine Schwester dran, als die zweieinhalb Jahre Ältere. Sie streckt ihre Hand aus, sodass Mamazel die ihre darauf ablegen kann. Dann geht meine Schwester auf einem Bein mit tiefem Knicks nach unten, während das andere Bein einen Halbkreis nach hinten beschreibt. Als sie mit dem Kopf auf der Höhe von Mamazels Hand landet, haucht sie einen angedeuteten Handkuss. Auf keinen Fall darf der Mund die Hand berühren. Ich tue es ihr nach. Wenn wir die ganze Suite fehlerfrei bewältigt haben, klatscht Mamazel entzückt in die Hände und ruft: »Excellent!«

1968, während in Paris und Berlin die Barrikaden brannten, lernten meine Schwester und ich den Kratzfuß.

Seit Mamazel tot ist, schläft Api in diesem nahezu unveränderten Raum im ersten Stock des Hauses. Er steht jetzt am Fenster. Gleich links neben der Zimmertür befindet sich die mit einem weißen Vorhang abgetrennte Waschecke. Dahinter der Waschtisch und darüber der metallene weiße Medikamentenschrank. Normalerweise ist er verschlossen, nun steckt der Schlüssel in dem Schloss der mit einem roten Kreuz bemalten Türe. Er steht sperrangelweit auf und verströmt einen giftigen Geruch.

Der Medikamentenschrank ist im schnellen Wechsel voll, leer und wieder gefüllt mit: Cortison, Schlafmitteln, Tranquilizern, Aufputschmitteln und Antidepressiva. Api ist Arzt, er hat lange das Sanatorium in Schlesien geleitet und hat jetzt eine Praxis in Celle. Er kann sich Rezepte selber ausstellen. Zum ersten Mal nehme ich diese Körperhaltung bei ihm wahr. Das Stehen und das Aus-dem-Fenster-Sehen. Ein Blick, der nicht nach außen und nicht nach innen geht, sondern ins Nichts. Von den Raben weiß ich da noch nichts. Ich hole Api zum Vorlesen ab.

Wenig später sitzen meine Schwester und ich in Apis Arbeitszimmer auf den hohen Stühlen. Die Sitzflächen sind aus hartem, eng gewebtem Stoff und kratzen, wenn man kurze Hosen anhat. In unseren Rücken haben wir bestickte steife Kissen, wir sitzen aufrecht. Api hat uns gegenüber Platz genommen und hält das Buch auf den Knien. Jeden Tag um sechs Uhr abends ein Kapitel aus der Odyssee. Jeden Tag um die gleiche Zeit sitzen meine Schwester und ich auf den hohen Stühlen und irren mit Odysseus über die Meere.

Wir treffen auf den Kyklopen, den einäugigen Polyphem. Wir sind dabei, wenn Odysseus sich an den Mast binden lässt und er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verschließt, damit sie nicht von dem Gesang der Sirenen verführt werden. Manchmal ist Api so gerührt von dem, was er liest, dass seine Stimme bricht. Meine Schwester schaut mich dann an und lässt ihr Kinn zittern. Ich muss ein Lachen unterdrücken.

Gestern hat mich Api vom Baum runtergeholt. Ich hatte hoch oben in der Abendsonne zwischen den grün-roten Zweigen gesessen und Kirschen gegessen. Beim Essen hatte ich mitgezählt, während ich auf den Garten, den kleinen Bach dahinter und das Landgericht schaute. Ich zähle oft. Auf Autofahrten rechne ich die Zahlen auf den Nummernschildern der vorbeifahrenden Wagen zusammen. So lange, bis sie sich durch vier teilen lassen. Ich hüpfe auf dem Gehsteig in jede vierte Platte. Ich packe in meinen Koffer genau 24 oder 28 oder 32 Gegenstände. Api hatte unten gestanden und besorgt nach oben geblickt. Er wartete, bis ich wieder unten auf der Erde ankam. Ich hatte 418 Kirschen gegessen und 418 Kerne nach unten gespuckt. 418. Jetzt wird alles gut. Die Vier ist meine magische Zahl. Vier Personen hat unsere Familie, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich. Das soll immer so bleiben. Und 418 kann man durch vier teilen. Es wird sich noch vieles ändern, das Einzige, das immer so bleiben wird, ist, dass ich nicht rechnen kann.

Meine Mutter und mein Vater waren in dem weißen VW Käfer mit meiner Schwester und mir nach Celle gefahren und hatten uns bei Ami und Api, den Eltern meiner Mutter, abgegeben. Die beiden sind zu zweit in die Sommerferien gefahren, nach Griechenland. Sie versuchen, ihre Beziehung zu retten, ihre jahrelange Ehe-Odyssee. Vielleicht ist der Auslöser für diese Reise das hundertste »Kinder, jetzt reißt euch mal zusammen« meiner Großmutter Ami gewesen. Vielleicht war es auch eine beiderseitige Erschöpfung.

Hier bei Ami und Api ist die Welt noch in Ordnung. Die einzige Konstante, die sich auch über die Jahre nicht verändert. Meine Schwester und ich werden hier immer wieder zu einer unzertrennlichen Einheit, hier bringt uns nichts auseinander. Bei unseren Eltern ist es anders. Da muss man Position beziehen, mal für die eine, mal für die andere Seite.

Bei Ami und Api wohnen meine Schwester und ich zusammen in einem Zimmer, nicht getrennt wie zu Hause. Ein kleines Zimmer unter dem Dach. Die Etage teilen wir uns mit Hedi. Hedi war schon immer da. Seit 1913. Sie hat schon in Wölfelsgrund, in Schlesien, meine Großmutter und deren Geschwister aufgezogen und dann, später in Celle, meine Mutter mitsamt den fünf Geschwistern.

Der Tag beginnt mit einem ausgedehnten Frühstück mit Ami. Mein Großvater ist schon aus dem Haus und in seiner Praxis verschwunden. »Kinder, jetzt wird’s gemütlich«, sagt Ami und holt die HB aus ihrem Versteck im Eckschrank. Ihre Finger mit den dunkelroten Nägeln ziehen eine Zigarette aus der orange-gelben Schachtel. Genüsslich inhaliert sie den Rauch und bläst ihn durch ihre Nasenlöcher wieder aus. Eingehüllt in den Qualm und mit ihrem scharfen Profil sieht sie aus wie Winnetou. Ihr einst dunkles Haar ist von grauen Fäden durchzogen und zu einem Knoten zusammengebunden.

Heute Morgen ist eine Karte von unseren Eltern gekommen. Die Postkarte aus Griechenland war eine Woche unterwegs und ist bedeckt mit der großen Handschrift meiner Mutter. Sie schreibt an den »lieben Vati und die liebe Mutti«, der Ton ist höflich. Unterschrieben, wie alle Briefe an ihre Eltern, mit »Eure dankbare Gisela«. Die Sonne scheint, und das Meer ist blau. »Das hört sich doch gut an«, ruft Ami aufgeräumt und klatscht in die Hände.

Sie greift zu Stift und Papier. Meine Schwester und ich schauen uns über den Tisch an. Jetzt kommt sie, die Frage: Was möchtet ihr heute Mittag essen? Kassler mit Sauerkraut und Sahnesoße! Das Schreiben des Einkaufszettels. Wir sehen zu, wie die altmodische steile Schrift langsam den Zettel mit unseren Essenswünschen bedeckt. Noch einen letzten Kaffee, noch eine letzte Zigarette. Dann kann es losgehen.

Ami setzt sich ihren grünen Turban auf, eine fertige Haube aus Baumwolle, die vorne geschlungen ist. Sie rückt ihn vor dem Spiegel am Eingang zurecht und überprüft den Sitz ihrer langen diamantenen Ohrgehänge. Sie steckt die längliche Brosche mit den beiden Vorderzähnen eines Hirsches aus den schlesischen Wäldern an, ihr Vater hat ihn vor 70 Jahren geschossen. Sie haben im Laufe der Jahre eine gelbliche Farbe angenommen. Die Schachtel HB landet in ihrer Handtasche. Sie klaubt den Autoschlüssel von der Ablage, und los geht’s.

Wir warten vor der Garage, die beiden grünen Holztüren stehen auf. Wir hören den BMW starten. Meine Schwester zieht mich rasch beiseite. Da springt der BMW schon mit einem Satz aus seiner Hütte. Wir rollen durch die Einfahrt, vorbei an dem zerbeulten Schild: Arztausfahrt, bitte freihalten. Meine Schwester behauptet, Ami würde bei jedem zweiten Mal dagegenfahren. Und Api jedes Mal. Ami ist die zweitschlechteste, aber Api ist unbestritten der schlechteste Autofahrer der Welt.

Meine große Schwester hatte mich am Tag zuvor in ein von ihr erdachtes umfangreiches Sicherheitskonzept eingeweiht. »Das Schlimmste, das uns passieren kann«, hatte sie gesagt, »ist, dass bei einem eventuellen Aufprall das Glas splittert und unsere Gesichter zerschneidet.«

Sie hatte eine Schulung anberaumt, die während des Mittagsschlafes unserer Großeltern in Apis Arbeitszimmer stattfinden sollte. Als ich Punkt 14.30 Uhr eintraf, hatte sie schon alles vorbereitet. »Willkommen zur Operation Hase«, sagte meine Schwester mit ernstem Gesicht. Sie hatte die beiden hohen Stühle so gestellt, dass sie einander gegenüberstanden, und wies mir den rechten zu. Ich setzte mich. Kerzengerade saß ich auf der Stuhlkante und schaute sie an. Was hatte meine große Schwester vor?

Sie nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz und griff zu den steifen Kissen der Odyssee. »Diese beiden Kissen«, sagte sie und machte eine bedeutungsvolle Pause, »diese Kissen werden unsere Rettung sein.« Sie nahm eines und legte es auf ihren Schoß.

»Jede von uns hat ihr Kissen während der gesamten Autofahrt auf den Knien liegen«, sagte sie und wies mit der Hand auf das ihre wie eine Stewardess, die den Passagieren vor einem Flug die Sicherheitsbestimmungen erläutert. »Sobald eine von uns die Gefahr kommen sieht, löst sie sofort den Alarm aus. Dann gehen wir beide in Hockstellung und pressen die Kissen auf unsere Gesichter.«

Was mit Gefahr gemeint war, brauchte sie eigentlich nicht zu sagen. Der Wagen von Ami und Api war ständig zerbeult. Irgendetwas stand zu ihrer beider Entrüstung immer im Weg. Aber meine Schwester fuhr trotzdem fort, als müsse sie die Sicherheitsbestimmungen ordnungsgemäß zu Ende führen: »Egal, ob es ein anderes Auto, eine rote Ampel, ein Baum oder ein Hirsch ist, der Alarm muss mittels Codewort rechtzeitig ausgelöst werden.«

Ich nickte. Alles, was meine Schwester sagte, war einleuchtend. So war es immer gewesen, so war es auch jetzt. »Und wie lautet das Codewort?«, fragte ich. »Hase«, sagte meine Schwester bestimmt. Sie stand auf und stellte ihren Stuhl neben meinen. Eine erste Übung sollte gleich jetzt stattfinden. »Wir sitzen jetzt auf den Rücksitzen des Autos«, führte mich meine Schwester ein. Und dann fuhren wir auf einer Landstraße. »Hase!«, rief meine Schwester unvermittelt. Ich beugte mich nach unten und drückte mein Gesicht auf das harte kratzige Kissen. »Sehr gut!«, befand sie. Das Training war beendet.

Die Fahrt heute ist nur kurz, und meine Schwester entscheidet, dass für die innerstädtischen Fahrten keine Kissen nötig sind. Fünf Minuten später sind wir in der Stadt. Wir spazieren nacheinander in alle Celler Stammläden meiner Großmutter. In der Fleischerei wird das Kassler eingepackt, und die Enkelinnen von »Frau Doktor« bekommen eine Fleischwurstscheibe in die Hand gedrückt. Danach geht es zu Huth. In dem 1851 gegründeten »Colonialwarenladen« steht Herr Schwanitz in seinem blütenweißen Kittel vor den bis zur Decke reichenden Holzregalen. »Herr Schwanitz, mein Bester«, sagt Ami zu dem unbeweglich soignierten Herrn mit den akkurat nach hinten gekämmten grauen Haaren. Und dann lässt sie sich von Herrn Schwanitz Kaffee, Schokolade und Kekse einpacken. Die Enkelinnen bekommen an der Kasse je ein Sahnebonbon.

Danach geht es zu Kaffee Kiess am Großen Plan. Wir nehmen auf grün gestreiften Samtsitzen Platz und bestellen Königin-Pastete und Kakao mit Sahne. Ami zündet sich eine HB an. Von den Fensternischen hat man eine gute Sicht auf den Großen Plan, den Hauptplatz von Celle mit den malerischen Fachwerkhäuschen und dem geruhsamen Vormittagstreiben einer Provinzstadt.

Ami sitzt mit dem Rücken zu dem großen herrschaftlichen Haus gegenüber, mit weißen Säulen und rosa Anstrich. In diesem Haus lebte Viva, die langjährigen Geliebte unseres Großvaters. Viva, die einige Monate vor unseren Großeltern aus Schlesien geflohen war, hatte dieses stattliche Haus erworben. Als im März 1946 Ami und Api mit Hedi und den Kindern nach vielen Wochen Flucht in abgerissener Kleidung und voller Läuse in Celle ankamen, zogen sie bei Viva in ein großes Zimmer ein. Api scheint mit Viva zusammengewohnt zu haben, Ami und Hedi mit den Kindern, so erzählte es uns später unsere Mutter. Die uns Kindern so stark scheinende Ami hat das anscheinend stoisch hingenommen.

Für Ami war die Flucht aus Schlesien ein Abschied von allem. Sie ließ ihr Elternhaus zurück. Das Sanatorium ihres Vaters mit Villen und Parks und auch das Tafelsilber blieben im dunklen Tal von Wölfelsgrund am Fuße des Riesengebirges zurück.

Es war der Besitz ihrer Familie gewesen, bevor Api sie, eine Cousine zweiten Grades, geheiratet hatte. Er hatte das Sanatorium im »Luftkurort Wölfelsgrund« zuletzt geleitet. Bei Kriegsende war das große Gelände Unterkunft und Lazarett für 2.000 geflohene Menschen geworden. Und Api hatte die medizinische und alltägliche Versorgung sichergestellt. Erst spät waren unsere Großeltern ausgewiesen worden und in den Westen gegangen.

Ami sprach noch in unserer Zeit vom »Zusammenbruch«. Es hieß in der Familie, dass sie früh in die Partei eingetreten sei. Dass sie beim Einmarsch der Nazis in die Tschechoslowakei mit Blumen an der Grenze am Straßenrand gestanden und gejubelt habe. Im Gegensatz zu Api. »Kümmerlich.« Das war sein Wort für die Nazis. »Da stand der kümmerliche Gauleiter in seiner kümmerlichen Uniform.« Jetzt sitzt Ami vor uns, mit ihren roten Fingernägeln, dem roten Lippenstift und dem grünen Turban. Wie eine »deutsche Frau« sieht sie nicht gerade aus. Sie zieht eine weitere HB aus der Schachtel, zündet sie an und bläst den Rauch durch ihre Winnetou-Nase wieder aus.

Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Damen mit kleinen Hüten auf dem Kopf und großen Tortenstücken auf den Tellern. Als Ami kurz aufsteht, um zu »verschwinden«, schaut meine Schwester erst mich an und wirft dann einen schnellen Seitenblick auf die beiden Damen. Ich beginne zu kichern, zwischen gespannter und ängstlicher Erwartung. Was hat meine Schwester vor? Sie steht auf und geht zum Nachbartisch. »Entschuldigen Sie die Störung, könnte ich mir vielleicht den Zuckerstreuer ausleihen?« Die Damen sind erfreut über das höfliche kleine Mädchen und reichen das Gewünschte mit einem Lächeln herüber.

Meine Schwester setzt sich mit dem Zuckerstreuer in der Hand wieder an unseren Tisch und grinst mich an. Blitzschnell dreht sie den Glasbehälter auf und entleert den gesamten Inhalt des Salzstreuers hinein. Dann reicht sie die Zucker-Salz-Mischung mit einem Lächeln zurück. »Auf Wiedersehen«, sagen wir im Chor, als wir uns mit Ami auf den Weg machen. »Und weiterhin guten Appetit«, ruft meine Schwester den Damen zu, die sich gerade noch einen Kaffee bestellt haben.

Auf der Rückfahrt schauen wir noch bei der Autowerkstatt vorbei. Irgendwie schließt die Kühlerhaube nicht mehr richtig, Api hatte den Wagen zuletzt im Einsatz. Der Meister will gerade in die Mittagspause. »Herr Heitmann, mein Bester«, sagt Ami, zieht die Schachtel HB aus der Tasche und schüttelt dem Mechaniker eine Zigarette entgegen. »Können Sie sich das mal rasch ansehen?« Der Beste kann.

Wir sind erleichtert, als Ami den BMW endlich in die heimische Garage bugsiert hat. Heute hat sie es geschafft, in dieser kurzen Zeit eine rote Ampel zu überfahren und einen Zebrastreifen zu übersehen. Dem empörten, zur Seite spritzenden Fußgänger hat sie bei hastig heruntergekurbelter Scheibe entgegengeschleudert: »Himmel, Arsch und Zwirn, können Sie nicht aufpassen!« »Aber Ami«, hat meine Schwester von hinten gerufen, »da war ein Zebrastreifen.« »Ja, und?«, knurrte meine Großmutter, als sei sie ganz allein im Riesengebirge unterwegs. Dann hat sie noch ein »Rotzlöffel« hinterhergebellt und Gas gegeben. Meine Schwester und ich haben uns auf dem Rücksitz auf die Unterlippe gebissen. Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel.

 

Am Mittag schließt Api die Praxis, sie liegt im Zentrum von Celle, nur 15 Fußminuten vom Haus meiner Großeltern entfernt. Er betritt Punkt 13 Uhr das Haus. Der Tag ist geordnet, die Regeln sind klar. Regeln, die meine Schwester und ich zufrieden akzeptieren. Gleichzeitig setzen wir uns immer wieder darüber hinweg, machen uns über sie lustig. Bei unseren Eltern gibt es keine festen Regeln. Da sind es eher wir, die versuchen, mit Bambusstäben ein wankendes Haus zu stabilisieren.

Hedi hat den runden Tisch im Esszimmer gedeckt, weiße Tischdecke, Stoffservietten, Silberbesteck und Messerbänkchen. Das Weinlaub-Porzellan, weiß, am Rand mit grünen Blättern verziert. Ich muss mich überwinden, die Stoffserviette auf meinen Schoß zu legen. Die Spuckeflecken gehen nicht raus, und sie riechen schlecht. Hedi geht mit der Suppenschüssel um den Tisch und füllt die Teller. Zuerst mein Großvater, dann meine Großmutter, dann wir Kinder. Hedi ist nun 70 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben bei Ami verbracht. Sie ist bei deren Heirat selbstverständlich in den neuen Haushalt mit eingezogen. Ab diesem Tag hat sie darauf bestanden, Annemarie zu siezen – und erst in den letzten Lebensjahren ist sie auf Drängen meiner Großmutter wiederstrebend zum Du zurückgekehrt.

Hedi verlässt geräuschlos das Esszimmer. Api faltet die Serviette auseinander und legt sie sich über die Beine. Er beginnt das Gespräch. Jeden Mittag sucht er ein Thema für das Tischgespräch aus. Heute wird die Odyssee rekapituliert. Bei der ersten Antwort dreht er meistens an seinem Hörgerät, so lange, bis ein helles durchdringendes Pfeifen ertönt. Und so können meine Schwester und ich unsere Antworten noch schnell gegenseitig korrigieren. Meine Schwester schaut mich an. »Der einäugige Riese heißt Kyklop«, wispere ich unter dem Pfeifen her.

Hedi betritt nach zehn Minuten wieder das Zimmer und räumt die Teller ab. Unseren Großvater fragt sie: »Suppt der Herr Doktor noch?« Sie hat ihn ihr Leben lang in der dritten Person angesprochen. Api legt den Löffel ab: »Es ist gut, Hedi, danke«, sagt er etwas matt. Er hat sich eine ganze Armada von Tabletten neben den Teller gelegt. Meine Schwester und ich springen auf, um Hedi beim Reintragen des zweiten Gangs zu helfen. Kassler mit Sauerkraut und Sahnesoße, solide schlesische Küche. Meine Schwester und ich schauen uns zufrieden über das Weinlaub-Porzellan hinweg an.

Inhaltsverzeichnis

*

Es kamen noch zwei, drei Menschen vorbei. Mal mit Blumen, mal einfach so. Die Blumen schienen mir seltsam, zu früh, irgendwie. Wir saßen in der warmen Frühlingssonne und versuchten diesem nicht Begreifbaren etwas Begreifbares abzuringen. Wir versuchten, uns zu erinnern, legten die Details in die Mitte des Tisches, Wichtiges neben Unwichtiges. Die letzte kleine Erinnerung. Dieses Zusammensitzen und Reden hatte etwas Tröstliches. Und doch war jeder mit sich allein. Ich suchte, wie alle am Tisch, den Moment, an dem ich die Zeitmaschine in den Rückwärtsgang hätte schalten können. Was? Hätte man? Wann? Tun? Müssen? Da war es wieder, fast auf den Tag genau wie vor 30 Jahren. Bei dem Tod meiner Mutter. Jetzt also meine Schwester.

 

Das letzte Mal. Ich. Vor acht Tagen. Ich hatte mit ihr telefoniert, ich war im Auto, und die Verbindung riss immer wieder ab. Das Telefonat dauerte lange, sehr lange, wie immer mit ihr. Es dauerte die ganze 60 Kilometer lange Strecke und war noch nicht zu Ende, als ich ankam. Ich stand in der Garage, und wir redeten weiter. Ich sagte: »So, jetzt bin ich da.« Wir legten auf. Ich rief fünf Minuten später noch mal bei ihr an. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Jetzt hing ich wieder am Telefon. Ich war genervt, dass das Gespräch sich im Kreis drehte. »Warum habe ich nicht genauer hingehört? Warum war ich so ungehalten?«, fragte ich mich jetzt.

Das letzte Mal. Mein Vater. Er hatte sich vor sieben Tagen mit ihr zum Mittagessen getroffen, in einem chinesischen Restaurant, um die Ecke von ihrer Wohnung. Sie hatte es ausgesucht. Der Laden war leer und das Essen »sehr schlecht«. Der Abschied voneinander war flüchtig. »Ich bin einfach zur U-Bahn gegangen, ohne mich noch mal umzudrehen«, sagte er. »Ich hätte doch erkennen müssen, dass sie neben sich stand. Warum habe ich sie nicht einfach eingepackt und mitgenommen?«

Das letzte Mal. Raffi. Er hatte sie vor fünf Tagen in ein kleines tunesisches Restaurant eingeladen, dem er gerade eines seiner Bilder verkauft hatte, ein kleines Boot, das vor der Silhouette eines gigantischen Dampfers schaukelt. Raffi hatte einen Freund dazu geladen. Der hatte eine Creperie. Hatte er nicht einen Job für sie? »Ich wollte ihr eine Arbeit organisieren, irgendeine, damit sie nicht zu Hause herumsitzt.« Meine Schwester lehnte die angebotene Arbeit ab. »Warum habe ich nicht weiter versucht, etwas für sie zu finden …?«

Das letzte Mal. Thomas. Er war gestern Morgen, vor 32 Stunden, aus dem Haus gegangen. Sie hatte ihn gefragt, ob er nicht dableiben kann, bei ihr. Aber Thomas ist trotzdem zur Arbeit gegangen. Ein neuer Job, er wollte nicht zu spät sein. »Warum bin ich nicht noch geblieben?«, sagte er.

Die Gäste saßen bis zum frühen Abend mit uns zusammen. »Ich habe mich gefragt, wie es wäre, wenn du es gewesen wärst«, murmelte mein Vater, als wir das Geschirr spülten. Ein seltsames Gedankenspiel. Wäre es ihm lieber gewesen, wenn ich statt ihrer tot wäre? »Aber andersherum wäre es auch furchtbar«, fügt er dann doch noch hinzu. Ich lasse das Wasser über den weißen Teller mit den blauen Blumen laufen. Das Familiengeschirr, das noch meine Mutter gekauft hatte.

Entweder man wird geliebt, oder man wird geachtet. Das war ein Satz, den mein Vater früher oft gesagt hat. Liebe und Achtung schlossen sich in seiner Vorstellung aus. Man konnte nicht beides haben, man musste sich entscheiden. Wie musste man sein, um von ihm geliebt zu werden? Hilflos und abhängig? Und wie musste man sein, um von ihm geachtet zu werden? Selbstständig und unabhängig?

Warum bin ich hier, und meine Schwester ist nicht mehr da?

Inhaltsverzeichnis

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Wir sind wieder in Hannover, in unserem Reihenhaus, das von dem Arbeitgeber unseres Vaters zur Verfügung gestellt worden war. Unser Vater hat den kürzesten Arbeitsweg der Welt. Er geht aus dem Haus und ist drei Minuten später in seinem Büro. Er ist Jurist und arbeitet bei der Stiftung eines großen Autokonzerns, die sich für die Förderung von Forschung und Kultur einsetzt. Unsere Mutter ist Kindergärtnerin und arbeitet halbtags in einem städtischen Kindergarten.

Jeden Morgen werden wir von unserer Mutter oder unserem Vater mit dem weißen VW Käfer zum Maschsee gefahren. Wir gehen dann durch das Tor mit den abgerundeten Ecken. Die Ecken in der Waldorfschule dürfen auf keinen Fall eckig sein, sogar die Fenster von manchen Häusern sind abgeschrägt. Sie nennen es organische Architektur.

Auf dem Schulhof trennen sich unsere Wege. Meine Schwester geht nach links zu dem mehrstöckigen Gebäude für die Großen, sie ist schon in der dritten Klasse. Ich biege nach rechts ab zu dem Flachbau. Da sind die erste und die zweite Klasse untergebracht, auch meine, die Klasse 2a.

Ich gehe den Gang entlang, und da steht dann auch schon Frau Gallop an der Tür. Die Lehrerinnen und Lehrer begrüßen uns jeden Tag mit Handschlag, jeden Einzelnen. Ich habe eindeutig mehr Glück mit meiner Klassenlehrerin als meine Schwester. Frau Gallop ist mit einem Briten verheiratet und spricht ein Englisch, das von Ironie und Humor durchzogen ist. »Good morning, my dear«, sagt sie und zwinkert mir zu. Sie unterrichtet mich auch in Englisch, man lernt es in der Waldorfschule ab der ersten Klasse. Meine Schwester wird zur gleichen Zeit von Herrn Timm begrüßt. Herr Timm ist ein 100-prozentiger. 100 Prozent deutsch und 100 Prozent Waldorf. Er trägt jeden Tag den gleichen blauen selbst gewebten Kittel, mit weiß-roten Bündchen an Ärmeln, Schultern und Kragen. Er ist Anthroposoph. Er macht keine Witze.

Meine Schwester kann Herrn Timm bis ins Detail nachahmen. Sie hat ein sehr feines Gespür für Bigotterie. Manchmal gibt sie mir am Nachmittag eine Privatvorstellung. Dann steht sie am Eingang des imaginären Klassenraumes. »Guten Morgen«, sagt sie mit einem bedächtigen Tonfall, hinter dessen Freundlichkeit die pure Aggression lauert. Sie streift sich den blonden Seitenscheitel aus dem Gesicht und reicht mir zähnefletschend die Hand. »Guten Morgen, Herr Timm«, erwidere ich glucksend.

Meine Schwester geht langsam, die Hände auf dem Rücken verschränkt, durch die Reihen der imaginären Schüler. Sie nickt nach rechts und nach links mit einer lauernden Ruhe. Sie wandert hin und her, ihr Körper strahlt eine angespannte und bedrohliche Güte aus. Dann beginnt sie zu sprechen. In getragenem Ton deklamiert sie ein Gedicht von Christian Morgenstern, dem Lieblingsdichter der Anthroposophen. Sie hat es ein wenig verändert. »Vom Zauber umweht, ein Knäckebrot geht ganz still in den Morgen hinab, der Mist, den ich sage, der Scheiß, den ich frage, er zieht uns alle herab.« Meine Schwester lächelt mich noch mal zähnefletschend an.

In der großen Pause treffen wir uns auf dem Schulhof. Meine Schwester steht mit ihren Freundinnen mitten im Gewühl, immer an der gleichen Stelle des großen Hofes. Heute komme ich zu spät, Frau Gallop hatte mir mein rosafarbenes Schreibheft am Schluss der Stunde fast als Letzte zurückgegeben. Ich hatte nichts Gutes erwartet, aber als sie mich aufrief und ich nach vorne ging, blickte sie mir freundlich entgegen. »Well done«, hatte sie gesagt und mich angelächelt.

»Als er vor die Fleischbank kommt, fragt ihn der Hirtenhund, wie er das Gebell leiden könne und warum er nicht einen beim Kamm nehme. ›Nein‹, sagte der Hirtenhund, ›es zwackt und beißt mich ja keiner, ich muss meine Zähne für die Wölfe haben.‹« Unter das Diktat hat Frau Gallop einen Stern gemalt. Normalerweise bekomme ich nur einen roten Haken, denn oft verstehe ich die Texte nicht. Auch den Text vom Hirtenhund hatte ich nicht