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Prinzessin Ilona hatte jahrelang mit ihrer Mutter in Paris gelebt – kehrt nun nach deren Tod aber an den Hof ihres Vaters, des König von Dabroszka zurück. Schnell ist ihr klar, daβ sich seit ihrem Weggang viel verändert hat und ihr Vater vom Volk gefürchtet und gehaβt wird. Auch sie selbst hat Angst vor ihm und seinem Jähzorn. Um das Volk wieder zu vereinen und die Monarchie zu stärken, ist Ilona gezwungen eine Zwangsheirat mit einem Rivalen ihres Vaters einzugehen, dem sie erst am Hochzeitstag zum ersten Mal begegnet. Doch der Mann neben ihr am Traualtar ist nicht der, den sie erwartet.
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Seitenzahl: 186
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Ilona sah über die Schulter zurück, während sie durch die Baumreihen ritt. Der Wald lichtete sich, und si
Ilona sah über die Schulter zurück, während sie durch die Baumreihen ritt. Der Wald lichtete sich, und sie konnte das offene Land mit seinen satten Wiesen sehen, die mit Blumen übersät waren. Ein bewaldeter Hang führte bis zum Horizont, der die Berge mit den schneebedeckten Kuppeln berührte.
Doch Ilona schenkte dem schönen Anblick keine Beachtung. Ihr Interesse galt der Gruppe, die ihr folgte.
Könnte irgendetwas, fragte sie sich, schlimmer sein, als von zwei alten Armee-Offizieren und zwei Reitknechten beim Ausreiten begleitet zu werden?
Schon beim Verlassen des Palastes hatte sie mißmutig auf ihre Eskorte geblickt. Von dem Moment an hatte sie gewußt, daß ihr Ausritt nicht von langer Dauer sein würde. Dabei waren es gerade die Pferde, auf die sie sich bei dem Gedanken an den Besuch zu Hause gefreut hatte.
Sie war gerade zehn Jahre alt gewesen, als sie Dabrozka in der Hortobagy Pußta verlassen hatte. Doch hatte sie nie die aufregenden Erlebnisse bei ihren Ausritten über die Weiden und die charakteristische Pracht der feurigen Pferde vergessen.
Wie die Leute selbst, so hatten auch die Pferde von Dabrozka mehr ungarisches Blut in sich als die anderer Länder des Balkans.
Es war das ungarische Temperament in ihr, das sie jetzt veranlaßte, davon zu preschen, um die Ruhe, den Wind in ihrem Gesicht und die Herrlichkeit ihrer Umgebung zu genießen.
Als sie in einen Galopp verfiel, hatte sie den letzten Baum passiert. Auf der linken Seite lag der Fluß, der das Gebiet wie ein silbernes Band teilte.
Ilona zog am Zügel, als sie den steilen Abhang bemerkte. Hoffentlich war sie nicht zu schnell geritten, um das Tier und sich in Gefahr zu bringen. Doch sie war davon überzeugt, daß das Dabrozkan-Pferd sicher genug auf den Beinen war und sie nicht abwerfen würde.
Als sie das Flußufer erreicht hatten, sah sie sich nach ihren vier Begleitern um. Sie entdeckte jedoch keine Spur von ihnen.
Das Wasser des Flusses war flach, wie sie es erwartet hatte. Im nächsten Monat würde es noch seichter sein.
Im ersten Augenblick sah es aus, als ob Silber das Flußbett durchlaufen würde, doch das Wasser war klar, und man konnte leicht bis auf den Grund sehen. Ilona führte das Pferd in den Fluß.
Das Wasser reichte nicht einmal bis zu den Steigbügeln. Sie erreichten die andere Uferseite und verschwanden in der Dichte eines Waldes.
Ilona beugte sich vor und klopfte dem Pferd den Hals.
„Wir haben es geschafft, Junge“, sagte sie leise. „Und jetzt können wir tun und lassen, was wir wollen.“
Sie wußte, daß ihr Vater sehr enttäuscht sein würde. Doch zum ersten Mal fürchtete sie ihn nicht.
Der Duft der Tannenbäume und die Wärme der Sonnenstrahlen waren herrlich. Sie ging davon aus, daß die Männer nach ihr suchten und sie sich hier Zeit lassen konnte. Sie hoffte, einige wilde Tiere zu sehen, die sie in ihrer Kindheit so fasziniert hatten. In Dabrozka gab es Gämsen, Bären, Wölfe, Luchse, Hirsche und Eber. Niemals würde sie die kleinen Bärenbabys vergessen, die ihr als kleines Mädchen gezeigt und dann von Zigeunern gezähmt wurden. Dabei hatte sie gelernt, daß es unmöglich war, einem alten Bären etwas beizubringen. Doch die Jungen, wenn sie früh genug von der Mutter wegkamen, konnte man sehr gut dressieren.
Trotzdem sah sie keinen einzigen Bären, nur einige Vögel, die bei ihrem Erscheinen davonflogen.
Die Sonnenstrahlen fielen vereinzelt durch die Baumwipfel und verliehen dem ganzen Bild etwas Romantisches, das Ilona nie vergessen würde. All das gehörte zu den Erinnerungen ihrer Kindheit. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß sie immer geglaubt hatte, im Wald gäbe es Drachen und Kobolde würden sich in den Bergen verstecken.
Ilona summte ein Lied aus ihrer Kindheit, als sie plötzlich Stimmen vernahm.
Instinktiv zügelte sie das Pferd und lauschte.
Einige Leute unterhielten sich. Das befremdete Ilona, da sich um diese Tageszeit niemand in den Wäldern aufhielt. Wahrscheinlich würden die Bauern unter der strikten Aufsicht eines Aufsehers die fruchtbaren Felder bestellen, dachte sie. Vielleicht waren es auch die Stimmen von Waldarbeitern, die sie hörte.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob dies die Jahreszeit war, in der Bäume gefällt und große Bestände hinunter zum Fluß gebracht wurden.
Doch sie kam zu dem Schluß, daß der Fluß nicht genügend Wasser hatte, um so schwere Flöße zu transportieren. Es waren auch zu viele Stimmen, die Ilona hörte. Es konnten keine Arbeiter sein.
Da Ilonas Neugierde geweckt war, ritt sie in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Die Hufe des Pferdes verursachten ein leises Geräusch, das durch das sanfte Moos und den Sand gedämpft wurde.
Plötzlich sah sie durch die Bäume hindurch einen großen Platz, auf dem sich ungefähr fünfzig Männer befanden. Ilona beobachtete sie interessiert. Die Männer trugen weiße, ausgebeulte Hosen und bestickte weiße Jacken. Von einer Schulter hing das Husarenzeichen herab. Ihre Köpfe waren von schwarzen runden Filzhüten bedeckt, an denen eine Feder stak, was ihnen den Ausdruck typischer Dabrozkaner verlieh.
Ilonas Blick ging durch die Reihen der Männer. Nirgends konnte sie eine Frau entdecken. Die Männer sahen nicht wie die armen Bauern aus, die man normalerweise im Wald antraf.
Sie war so von dem, was sie sah, gefesselt, daß sie es nicht bemerkt hatte, als das Pferd weiter zu dem großen Platz getrabt war. Nun stand sie auf der offenen Lichtung und konnte von den Männern gesehen werden.
Sie sprachen alle sehr schnell und zornig, und ihre Worte wurden von heftigen Gesten begleitet. Soweit Ilona sie verstehen konnte, forderten sie Gewalt gegen irgend etwas oder irgend jemanden.
Nun merkte sie, daß sie schon zu lange weg war, um die einfache Sprache, die vorwiegend von den Bauern und Arbeitern gesprochen wurde, ganz zu verstehen.
Mit ihrer Mutter hatte sie immer Ungarisch oder Französisch gesprochen. Die Dabrozkan-Sprache hatte verschiedene Dialekte. Die einfachen Leute sprachen nur den lokalen Dialekt. Neben ungarischen Wörtern hatten die Dialekte auch viele rumänische und russische.
Doch zwei Worte hatte Ilona ganz genau verstanden.
Das eine war Krieg, und das andere war Ungerechtigkeit.
Der Mann, der zornig und mit ernster Miene sprach, erblickte Ilona.
Die Worte erstarben auf seinen Lippen. Ilona glaubte, einen spöttischen Ausdruck in seinem Gesicht zu entdecken.
Die anderen Männer saßen mit dem Rücken vor ihr. Jetzt wandten sie die Köpfe und starrten sie an. Es trat eine unheimliche Stille ein.
„Wer ist sie? Was will sie?“ fragte jetzt der Mann, der gesprochen hatte. „Wir sind belauscht worden.“
Einige der Männer begannen zu flüstern und standen langsam von ihren Plätzen auf. Zum ersten Mal verspürte Ilona Angst.
Doch die Männer, die sich erhoben hatten, bewegten sich nicht auf sie zu. Und doch glaubte Ilona, eine Gefahr zu erkennen. Eine Gefahr, die sie nicht verstand.
Vom Ende der Gruppe kam jetzt ein Mann auf sie zu. Ilona erkannte sofort, daß er besser gekleidet war als die übrigen Männer.
Als er sie erreicht hatte, mußte sie feststellen, daß er sehr gut aussah, fast klassisch schön war und die Merkmale der Griechen, die sie schon immer fasziniert hatten, besaß. Er hatte sehr schwarzes Haar, doch überraschenderweise waren seine Augen strahlend blau. Das kam bei Ungarn häufig vor, besonders bei Dabrozkanern. Doch einem so attraktiven Mann war Ilona noch niemals begegnet.
„Was wollen Sie?“ fragte er.
Ilona bemerkte, daß er sehr kultiviert sprach.
„Wie Sie sehen können“, erwiderte sie, „reite ich.“
Er grinste.
„Das sehe ich. Aber es ist nicht gerade klug von Ihnen, in diesem Teil des Waldes zu reiten.“
„Wieso?“ fragte Ilona überrascht.
Als Tochter ihres Vaters wußte sie, daß sie in Dabrozka reiten konnte, wo sie wollte. Und das Betreten von Land, wem immer es auch gehörte, war für den König oder seine Familie niemals verboten.
„Sind Sie allein?“ fragte der Mann.
„Ich glaube, daß sich jede Antwort auf diese Frage erübrigt“, antwortete Ilona.
Sie kam zu der Überzeugung, daß der Mann sehr unverschämt war.
Er wußte wahrscheinlich gar nicht, wer sie war, doch der Befehlston, der in seiner Stimme lag, wenn er Fragen stellte, gefiel ihr nicht.
Er blickte an den Beinen des Pferdes hinab und sah, daß sie naß waren.
„Sie haben den Fluß durchquert“, sagte er. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Gnädigste, ich schlage Ihnen vor, daß Sie den Weg, den Sie gekommen sind, wieder zurückreiten, und zwar sofort.“
„Wann ich zurückreite, bestimme ich und sonst niemand.“
Ilona verstand nicht, warum sie so aufsässig reagierte. Normalerweise hätte sie sich nicht geweigert, seine Anordnungen zu befolgen, doch jetzt hob sie herausfordernd den Kopf und sagte: „Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Aber ich habe verstanden, daß Sie über aufwieglerische Aktivitäten gesprochen haben. Und dafür sollten Sie sich schämen.“
Sie hatte deutlich gesprochen, und einige Männer hatten sie sehr gut verstehen können. Sie starrten sich gegenseitig an und flüsterten miteinander.
Der Mann mit den blauen Augen ergriff die Zügel ihres Pferdes und begann, sie zurück zu dem Wald, aus dem sie gekommen war, zu führen.
„Nehmen Sie die Hände von den Zügeln!“ befahl Ilona.
„Benehmen Sie sich nicht wie eine kleine Närrin!“ antwortete er. „Es ist besser für Sie, wenn Sie zurückreiten und vergessen, was Sie hier gesehen und gehört haben.“
„Und warum sollte ich das?“
„Weil es gefährlich für Sie werden könnte, wenn Sie meinen Rat nicht befolgen.“
„Gefährlich? Gefährlich für wen?“
Er antwortete nicht, sondern führte das Pferd zurück zum Wald.
Ilona riß ihm abrupt die Zügel aus der Hand und zügelte das Pferd.
„Ich mag Ihr Benehmen nicht“, sagte sie. „Weder Sie noch sonst jemand kann mir Befehle erteilen.“
Der Mann sah sie aufmerksam an.
„Hören Sie mir einmal zu“, sagte er. „Aber hören Sie gut zu.“
Etwas lag in seiner Stimme, das Ilona die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, vergessen ließ. Sie blickte auf ihn hinab und schwieg.
„Ich weiß nicht, wer Sie sind, und auch nicht, warum Sie hierhergekommen sind“, sagte er. „Vielleicht sind Sie hier in diesem Land nur Gast. Ich bitte Sie um Himmels Willen zu gehen und zu vergessen, was Sie hier gesehen haben.“
„Was habe ich gesehen?“ fragte Ilona. „Eine Menge Männer, die sich im Wald über Ungerechtigkeit unterhalten.“
„So, das haben Sie gehört?“
„Ja. Aber ich bin bereit, es zu vergessen, wenn Sie mir einen vernünftigen Grund nennen, warum ich es vergessen soll.“
„Ich dachte, ich hätte Ihnen bereits einen Grund genannt“, erwiderte er. „Doch wenn Sie glauben, Männer,
die für Dabrozka wichtig sind, verraten zu müssen, tun Sie es, und erzählen Sie, was Sie gehört haben.“
Aus seiner Stimme war eine gewisse Niedergeschlagenheit heraus zu hören.
Da sie das Gefühl hatte, daß er die Wahrheit sprach, resignierte Ilona.
„Nun gut“, sagte sie leise, „ich gebe Ihnen mein Versprechen, daß ich mit niemandem darüber reden werde.“
Der Mann war sichtlich erleichtert.
Doch plötzlich fuhr Ilona fort: „Trotzdem sehe ich keinen Grund, warum Sie so intolerant und herrisch sind.“
Der Mann lächelte zum ersten Mal.
„Wie würden Sie mich denn gern sehen?“ fragte er. „Ergeben und versöhnlich?“
Er verspottete sie. Ilona ärgerte sich über ihn.
Plötzlich, bevor ihr klar wurde, was er vorhatte, streckte er die Arme aus und hob sie aus dem Sattel.
Bevor sie sich wehren konnte, bevor sie überhaupt ahnte, was geschehen würde, beugte er sich über sie und küßte sie auf den Mund.
Ilona war so überrascht, daß sie völlig machtlos in seinen Armen lag.
So schnell, wie er sie aus dem Sattel gehoben hatte, setzte er sie auch wieder hinein.
„Sie sind viel zu reizend, um sich mit Politik zu beschäftigen. Gehen Sie nach Hause, Schönheit, und flirten Sie mit Ihrem Verehrer!“ sagte er, bevor Ilona die Zügel ergreifen konnte.
Sie starrte ihn sprachlos an. Sie konnte nicht begreifen, was gerade geschehen war.
Als er zu Ende gesprochen hatte, versetzte er dem Pferd einen kräftigen Schlag auf die Kruppe, so daß das Tier sich wiehernd auf die Hinterhand stellte. Ilona konnte dabei den Fluß sehen.
Sie erreichte den Fluß, und das Pferd durchquerte das Wasser, ohne daß Ilona sich dessen bewußt wurde.
Wie konnte er sich erlauben, mich zu küssen, fragte sie sich. Es war unfaßbar. Einfach unglaublich.
Und sie, dachte sie jetzt hilflos, hatte nichts dagegen unternommen.
Sie hätte schreien oder ihn mit der Peitsche schlagen oder sich einfach, wie jedes andere anständige Mädchen es getan hätte, wehren können. Doch sie hatte nichts von all dem getan.
Sie hatte sich einfach in seine Arme nehmen und auf den Mund küssen lassen.
Ilona war noch nie zuvor geküßt worden. Sie mußte zugeben, daß es bisher noch niemand versucht hatte. Doch sie hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Kuß ein solches Glücksgefühl auslösen konnte und die Lippen eines Mannes so hart und fordernd sein konnten.
Sie hatte immer geglaubt, ein Kuß sei etwas sehr Sanftes und Zärtliches. Doch der Kuß dieses Fremden hatte mehr einer Vergewaltigung geglichen. Es war, als wäre er ihr Besitzer gewesen und sie hätte sich ihm unterworfen.
Sie fühlte, wie ihr bei diesem Gedanken das Blut in die Wangen stieg.
Ilona war in ihre Gedanken vertieft, und hatte nicht bemerkt, daß das Pferd das andere Ufer bereits erreicht hatte und ihre Eskorte in Reih und Glied dort stand. Die Männer starrten sie an, als wüßten sie, was ihr widerfahren war.
„Gott sei Dank, Ihre Hoheit ist unversehrt zurückgekommen!“ rief Colonel Ceaky. „Prinzessin, Sie hätten den Fluß nicht überqueren dürfen.“
„Warum nicht?“ fragte Ilona.
„Prinzessin, wir nehmen an, daß Ihnen das Pferd durchgegangen ist“, sagte der Colonel langsam, als wollte er jedes einzelne Wort genau abwägen, „aber das war sehr ungeschickt, Hoheit, denn zwangsläufig hielten Sie sich in Saros Gebiet auf.“
„Nun, es ist ja nichts passiert“, meinte der andere Offizier.
„Nein, natürlich nicht“, bestätigte der Colonel. „Trotzdem, Prinzessin, müssen wir Sie bitten, das nächste Mal etwas vorsichtiger zu sein.“
Ilona hatte bemerkt, daß der Colonel selbst eine plausible Erklärung für ihr Verschwinden gefunden hatte. Nämlich, daß ihr das Pferd durchgegangen sei. Aber damit war sie nicht einverstanden.
Sie hatte auch den ernsten Ton in seiner Stimme gehört, als er sagte, sie hätte Saros Gebiet betreten. Und das hatte ihr Interesse geweckt.
„Wie Sie wissen, Colonel“, sagte sie, „bin ich mit zehn Jahren von Dabrozka weggegangen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es jenseits des Flusses Gebiete gibt, die ich nicht betreten darf. Es kann natürlich sein, daß ich es vergessen habe oder daß sich hier etwas geändert hat.“
Ilona bemerkte, daß der Colonel kurz und hilfesuchend zu dem Major hinüberblickte. Er schien sich nicht sicher zu sein, was er ihr sagen sollte. Auf seinem Gesicht lag ein etwas verlegener Ausdruck. Doch das konnte auch bedeuten, daß er Angst vor ihrem Vater hatte.
Wer fürchtete ihren Vater eigentlich nicht?
In den vierundzwanzig Stunden, die sie sich jetzt im Schloß aufhielt, hatte sie oft genug bemerkt, wie die Leute vor ihrem Vater katzbuckelten.
„Warum bin ich denn nicht in Paris geblieben“, fragte sie sich.
„Ich möchte die Wahrheit wissen“, sagte sie zu dem Colonel. „Warum soll ich Saros Gebiet nicht betreten?“ Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie lächelnd fort: „Was immer Sie mir sagen werden, ich verspreche, es für mich zu behalten.“
Der Colonel schien etwas erleichtert zu sein.
„Unser Land, Königliche Hoheit, ist, was Ihnen noch nicht bekannt sein dürfte, in zwei Lager aufgeteilt, die von Radak und Saros beherrscht werden.“
„Aber sicher regiert mein Vater das ganze Land, wie es mein Urgroßvater und Großvater schon getan haben?“
„Theoretisch ja“, antwortete der Colonel, „doch in den letzten fünf, sechs Jahren hat sich einiges drastisch geändert.“
„Was denn?“ fragte Ilona.
Die zwei Reitburschen standen ein Stück abseits, so daß sie ihre Unterhaltung mit den Offizieren nicht hören konnten.
„Sprechen Sie bitte weiter“, sagte sie.
„Der Prinz von Saros war schon immer der reichste Landbesitzer in Dabrozka“, erklärte der Colonel, „und zur Zeit Ihres Großvaters war die Familie Saros, das heißt, Prinz Ladislas, neben dem König der mächtigste Mann im Land.“
„Einige behaupten, die Männer hatten sich zusammengetan und ihren Reichtum redlich geteilt“, warf Major Kassa ein.
„Ja, das stimmt. Die zwei Männer verwalteten gemeinsam das Land“, bestätigte der Colonel.
Dann schwieg er betreten.
„Das änderte sich schlagartig, als Ihr Vater den Thron bestieg“, fuhr er schließlich fort.
Ilona mußte nicht fragen, warum das so war. Der Jähzorn und die Brutalität ihres Vaters hatte ihre Mutter aus dem Land getrieben. Und sie selbst haßte ihn, seit sie denken konnte.
„Und was ist jetzt?“ fragte sie.
„Dabrozka besteht tatsächlich aus zwei Ländern“, sagte der Colonel. „Die Leute wohnen entweder im Radak- oder im Saros-Land.“
„Es herrschte sogar Kriegsstimmung zwischen beiden Ländern“, sagte Major Kassa.
„Krieg?“ fragte Ilona erschrocken.
Als sie Paris verließ, hatte sie gehofft, nicht mehr an den Krieg denken zu müssen. Und jetzt das...
„Die Dabrozkaner befinden sich in einer sehr schwierigen Lage“, sagte der Colonel. „Weil sich ihre Herrscher bekämpfen, nutzt jeder die Gelegenheit aus, um alten Groll wieder aufleben zu lassen und ihn gegeneinander auszutragen. Alte Familienfehden werden wieder aufgerollt und längst vergessene Beleidigungen ausgesprochen.“
„Sie meinen, daß das Saros-Land gegen uns kämpft?“ fragte Ilona.
„Prinz Aladar widersetzt sich Gesetzen, die seine Königliche Hoheit erlassen hat. Er fordert die Leute auf, die Gesetze nicht zu befolgen, und wenn seine Untertanen ins Gefängnis kommen, befreit er sie.“
„Befreit er sie mit Gewalt?“ fragte Ilona.
„Vor zwei Nächten“, erwiderte der Colonel, „wurde das Gefängnis in Vitozi aufgebrochen, und alle Gefangenen entkamen.“
„Und sind die Soldaten, die sie bewachten - umgebracht worden?“
„Keiner von ihnen“, antwortete der Colonel. „Sie lagen alle gefesselt im See. Aber der See war nicht tief genug, daß sie hätten ertrinken müssen. Doch für jeden Einzelnen war es ein Erlebnis gewesen, das keiner so schnell vergessen wird.“
Die Stimme des Colonels klang erregt und zornig.
Ilona mußte lachen. Sie konnte nicht anders.
„Ich wüßte nicht, was daran so amüsant ist.“ sagte Major Kassa aufgebracht.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Ilona. „Doch ich mußte gerade daran denken, wie pompös die neuen Uniformen der Garde aussehen, die Vater hat anfertigen lassen. Und wenn man sich vorstellt, daß die Soldaten damit gefesselt im Wasser gesessen haben! Das mußte doch für die Bürger von Vitozi eine Belustigung gewesen sein.“
„Hoheit, ich möchte Sie nur davor warnen, noch einmal Saros Gebiet zu betreten“, sagte Colonel Ceaky ernst. „Ich würde mich nicht wundern, wenn man Sie entführt.“
Er machte eine Pause und wurde nachdenklich. „Vielleicht könnte man Seine Majestät veranlassen, einige der neuen Gesetze rückgängig zu machen“, fuhr er fort.
„Was für Gesetze sind das denn, die so viele Schwierigkeiten hervorrufen?“ fragte Ilona.
Der Colonel sah sie an. Ilona spürte, daß er sich in seiner Haut gar nicht wohl fühlte.
„Ich glaube es ist besser, wenn Sie diese Frage an den König richten, Hoheit.“
„Sie wissen sehr gut, daß ich das umgehen möchte, Colonel“, entgegnete Ilona. „Ich fürchte mich genauso vor ihm wie Sie.“
„Fürchten?“ wiederholte der Colonel. „Ich respektiere Seine Majestät sehr und befolge seine Anordnungen.“
„Aber Sie fürchten ihn“, sagte Ilona hart. „Seien Sie doch ehrlich! Papa ist eine gefürchtete Person. Das war für mich der Grund, Dabrozka, unter welchen Schwierigkeiten ich auch immer im Ausland leben mußte, zu verlassen.“ Sie sah sich um. „Ich habe in all den Jahren die Schönheit des Landes und natürlich die wunderbaren Pferde sehr vermißt. Sagen Sie mir die Wahrheit, Colonel, dann werden wir weiter über das herrliche Land reiten.“
Der Colonel sah sie an. Anscheinend glaubte er, daß er ihr vertrauen könnte.
„Gut“, sagte er schließlich. „Ich werde Ihnen sagen, was die Leute so wütend machte. Das erste Gesetz besagt, daß die Hälfte der Ernte eines jeden Bauern dem Land abzugeben ist.“
„Mit anderen Worten - an ihn!“ sagte Ilona leise.
„Das zweite Gesetz besagt“, fuhr der Colonel fort, ohne auf ihre Unterbrechung einzugehen, „daß die Zigeuner das Land verlassen müssen.“
„Das ist ja verrückt“, sagte Ilona. „Die Zigeuner haben immer friedlich mit uns gelebt. Ich kann mich daran erinnern, wie Mama mir erzählte, wie schlecht sie in Rumänien behandelt wurden. Und welche Grausamkeiten sie über sich ergehen lassen mußten. Selbst in Ungarn mußten die Zigeuner unter der Regierung von Maria Theresia und Joseph II. viel durchmachen.“
„Das ist richtig“, meinte Major Kassa.
„Aber sie sind doch immer als gleichwertige Bürger, die genauso lebten wie wir, akzeptiert worden“, sagte Ilona.
„Der König verlangt, daß alle Zigeuner das Land verlassen“, erklärte Colonel Ceaky.
„Aber wohin sollen sie gehen?“ fragte Ilona. „Dafür käme doch nur Rußland in Frage. Und die Russen hassen uns so sehr, daß sie bestimmt nicht gewillt sind, unsere Zigeuner aufzunehmen.“
„Darauf haben wir den König bereits hingewiesen, und auch Prinz Aladar hatte deswegen sehr eindringlich auf ihn eingeredet.“
„Sie brauchen mir nicht sagen, daß er davon nichts wissen wollte.“
„Es wurden noch mehr Gesetze erlassen, die das Volk verärgern. Die Armee wurde zwar verstärkt, doch die Situation, das muß ich ehrlich gestehen, verschärft sich immer mehr.“
„Das wundert mich nicht.“ Ilona lächelte zuerst den Colonel und dann den Major an. „Und nun, meine Herren, werde ich davonreiten und alles ganz schnell vergessen, außer daß dieses Land das schönste Fleckchen auf Erden ist.“
Als sie über die grasigen Weiden preschte, dachte Ilona, daß es nichts Wunderbareres gab, als diesen Augenblick voll zu genießen.
Voller Zuneigung blickte sie auf die Leute, die auf ihren Feldern arbeiteten, in dem kleinen Dorf oder in dem Wald, der das Schloß umgab.
War es nur Einbildung, dachte Ilona, oder schauten die Leute wirklich so verdrießlich und ärgerlich drein. Oder hatte in all den Jahren, die sie in Paris gewesen war, das Bild von den lachenden, temperamentvollen Bauern nur in ihrer Phantasie existiert?
Die Holzhäuser mit den blumengeschmückten Balkonen und den Weinranken, die an den Wänden der Häuser emporkletterten, waren genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die Akazien blühten, und das ganze Bild strahlte nicht nur Schönheit, sondern auch Glück und Zufriedenheit aus. Die Kuhherden mit ihren weiß polierten und mit bunten Streifen dekorierten Hörnern waren auch dieselben geblieben. Auch die schwarz-weiß gefleckten Fohlen.
Die Männer sahen im Gegensatz zu den Frauen alle etwas liederlich aus. Die Frauen in ihren bunten Kokken und mit den langen Zöpfen, die teilweise fast bis zu den Knien reichten, waren außergewöhnlich schön.
Vielleicht lag es bei den Männern daran, dachte Ilona, daß sie ihre Husaren-Jacken lässig über der Schulter trugen. Auch die runden Filzhüte mit der Feder trugen sie nach Gutdünken.