Meine Trauer wird dich finden - Roland Kachler - E-Book

Meine Trauer wird dich finden E-Book

Roland Kachler

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Beschreibung

Der führende Trauerexperte Roland Kachler hat nach dem Unfalltod seines 16-jährigen Sohnes einen neuen Weg der Trauerbewältigung gesucht und gefunden. Statt den Verstorbenen "loszulassen", zielt die Methode des Autors darauf, die Liebe für den Verstorbenen so zu bewahren, dass eine liebevolle innere Beziehung entstehen kann und auch wieder Glück erlebt werden darf. Die praktischen Übungen, Hinweise und Tipps am Ende jedes Kapitels helfen, diesen neuen Weg zu gehen. Roland Kachler hat sein seit vielen Jahren erfolgreiches Buch aktualisiert und neu bearbeitet. "Der Tod beendet das Leben, aber nicht die Liebe! Die Trauer zeigt, wie sehr wir den Verstorbenen liebten und immer noch lieben. Die Trauer will, dass die Liebe weitergeht – über den Tod des geliebten Menschen hinaus. Nicht zum Loslassen, sondern zum Lieben will dieses Buch ermutigen und begleiten. Der Verstorbene bleibt eine wichtige, geliebte Person im Leben des Hinterbliebenen. Dabei wissen Trauernde sehr genau, dass die Liebe eine neue Ausdrucksweise braucht. Die Trauer ist das Gefühl, das uns hilft, eine neue Beziehung zum Verstorbenen zu finden. Sie wandelt die bisherige Weise des Liebens in eine neue, in eine innere Liebe. Ich möchte Sie als Leserin und Leser unterstützen, eine andere, aber nicht weniger intensive Beziehung zu Ihrem verstorbenen geliebten Menschen zu finden.Ich möchte Ihnen in diesem Buch Anregungen, konkrete Hilfestellungen und Übungen anbieten, wie Sie Ihre Liebe zu ihrem Verstorbenen weiterleben können." (Roland Kachler)

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Roland Kachler
Meine Trauer
Neuausgabe
Titel der Originalausgabe: Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit
© KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
»Meine Liebe weiterleben«
 1 Trauern – mehr als Abschiednehmen!
»Meine Liebe zu dir will bleiben«
Loslassen ist nicht nötig – Der Abschied von einem Dogma der Trauerpsychologie
Muss ich die Liebe zurücknehmen?
Ist weinen alles?
Ist am Ende alles gut?
 2 Es bleibt aber die Liebe – Trauer als kreative Beziehungsarbeit
»In meiner Liebe bleibst du mir nahe«
Die Trauer bringt den Geliebten nahe
Die Trauer ruft die Liebe wach
Nicht ohne die Toten, sondern mit ihnen leben – Was wir von der Ahnenverehrung lernen können
Noch einmal: Die Toten gehören zu den Lebenden – Einsichten aus der systemischen Familientherapie
 3 Die Trauer sucht einen guten Ort
»Da werde ich dich immer finden«
Wo soll ich dich suchen?
Der Tod als Reise zu einem neuen Ort
Einen guten Ort für den Verstorbenen finden
Auch der Trauernde braucht einen sicheren, haltenden Ort
Ein neues Trauermodell – Die Beziehung weiterleben!
 4 Am offenen Sarg – die erste Begegnung mit dem Verstorbenen
»Du bist nicht tot, bleib bei mir«
Ich will dir nah sein!
Was ich noch für dich tun kann, werde ich tun
Der Abschied vom Leib des Verstorbenen
Du bleibst als Gegenüber bei mir
 5 Leben mit den Orten der Präsenz des Verstorbenen
»Dorthin, wo du bist, zieht es meine Seele«
Im Grab beerdigt – und doch gegenwärtig
Hier darf ich dir meine Trauer zeigen, hier bin ich getröstet
Am Grab pflege ich meine Liebe zu dir
Auch an anderen Orten finde ich dich
 6 Leben mit der Erinnerung
»Was ich mit dir erlebt habe, geht nie verloren«
Erinnern schmerzt und tröstet
Äußere und innere Bilder – immer bist du in ihnen bei mir
Erinnerungszeichen – sie rufen dich in mir wach
Erinnerungszeiten – ich erlebe diesen Tag mit dir
Erinnerungsrituale – durch sie erinnere ich mich an dich
 7 Leben mit den Symbolen der Natur
»Du bleibst bei mir in den Bäumen, im Wind und in den Sternen«
In der Natur begegne ich dir
Naturerfahrungen als Brücke zum Verstorbenen – Der Regenbogen führt mich zu dir
Sichere Orte in der Natur – Von deinem Stern blickst du auf mich herab
Symbolische Stellvertreter der Natur – Du kommst zu mir geflogen
Synchronizität als überraschende Begegnung – Ganz plötzlich leuchtest du mir auf
 8 Leben mit der Transzendenz
»Du gehst nie verloren, weil du aufgehoben bist im Unendlichen«
Wirst du weiterleben in einer anderen Welt?
Über alle Grenzen hinaus
Urbilder für transzendente sichere Orte
 9 Leben mit dem inneren Begleiter
»Weil ich dich liebe, lebst du in meinem Herzen«
Dein Platz ist in mir
Du bleibst in mir immer lebendig
Du bist mein inneres Gegenüber
Du bleibst Teil unserer Familie
10 In Beziehung bleiben
»Die Liebe lässt uns miteinander leben«
Eine Beziehung wie jede andere auch?
Zwei Beziehungswelten – ein nötiger Übergang
Von der Idealisierung zu einer realistischen Sicht – Auch du hast deine Schattenseiten
Die Normalisierung als Chance und Risiko – Ich will dich auch im Alltag nicht verlieren
Die Integration der Beziehung zum Verstorbenen – Überall gehörst du zu mir
11 Leben in der Hoffnung
»Eines Tages werden wir uns sehen und uns in die Arme fallen«
Ich will dir nachsterben und bei dir sein
Ich lebe hier und freue mich auf dich
Und dann werden wir uns in den Armen liegen
Quellennachweise
Literatur
Der Autor
Vorwort
»Meine Liebe weiterleben«
Fünfzehn Jahre sind seit dem Tod unseres Sohns Simon vergangen. Zwölf Jahre sind verstrichen seit der Niederschrift dieses ersten Trauerbuches, das Sie nun in Ihren Händen halten. Damals in den ersten Jahren nach dem Tod von Simon war dieses Schreiben ein Versuch, meinen unendlichen Schmerz und meine abgrundtiefe Trauer in Worte zu fassen.
Ich wusste aber auch, dass ich in diesem Buch etwas grundlegend Neues zur Trauer sagen muss. Mit der damals gültigen Trauerpsychologie konnte und wollte ich nicht leben. Ich wollte in meinem Trauerprozess mehr als Abschiednehmen. Ich wollte – und will es übrigens bis heute – meine Liebe zu meinem Sohn weiterleben können. Und dafür suchte ich nach Worten, nach Ideen und nach Konzepten. Dabei ist der zentrale Grundgedanke dieses Buches entstanden: Wir brauchen für unsere verstorbenen geliebten Menschen einen bergenden, schützenden, haltenden und heilsamen Ort. Wir brauchen diesen – so der Fachbegriff – sicheren Ort, damit wir unseren geliebten Menschen nicht noch einmal verlieren. Wir brauchen diesen Ort für unseren geliebten Menschen, damit wir ihn weiter lieben und bewahren können.
Ich wusste und ahnte nicht, welche große Resonanz dieser neue Traueransatz bei Trauernden finden würde und immer noch findet. Die Zustimmung in vielen Briefen, E-Mails, Anrufen und direkten Reaktionen nach Vorträgen war und ist bis heute unglaublich. Immer wieder höre ich, wie gut das Buch Menschen bei ihrem Verlust tut, wie hilfreich es für sie ist.
Dieses Trauerbuch stellt das alte Dogma von der Trauer als reinem Abschiedsprozess infrage und überwindet damit auch das von Trauernden so gefürchtete »Loslassen«. »Meine Trauer wird dich finden« war und ist wie eine befreiende Erlaubnis, so zu trauern, wie es Trauernden naheliegt, und in der Trauer und über die Trauer hinaus lieben zu dürfen.
Neu ist überdies die Anwendung von Imaginationen in der Trauerarbeit und für den Trauerprozess. Auch bei Psychotherapeuten und Trauerbegleitern stieß dieser neue Ansatz weithin auf breite Zustimmung. Noch bis vor Kurzem waren Psychotherapeuten, Ärzte und Pfarrer nur unzureichend für die Trauerbegleitung ausgebildet, lange waren sie von den alten Trauermodellen geprägt. Doch seit dem Erscheinen von »Meine Trauer wird dich finden« hat sich auch hier viel geändert, nicht zuletzt durch meine Vorträge und Fortbildungsseminare bei professionellen Trauerbegleitern. Auch wenn in der Öffentlichkeit immer noch die veralteten Phasenmodelle und das Loslassen dominieren, so kann doch bei der informierten Gruppe der Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter von einem Wandel gesprochen werden.
Die Trauer wird als kreative Beziehungskraft verstanden, über die einerseits die konkrete, äußere Abwesenheit des geliebten Menschen realisiert werden muss, und über die andererseits die innere Beziehung zu ihm gefunden werden kann.
Fünfzehn Jahre sind seit dem Tod unseres Sohnes Simon vergangen. Ein langer Trauerweg liegt hinter mir und meiner Familie. Auf dem Weg durch die dunkle Landschaft der Trauer war das erste Buch ein wichtiger Orientierungspunkt, von dem auch ich meinen Trauerweg als Liebesweg gehen konnte.
1 Trauern – mehr als Abschied­nehmen!
»Meine Liebe zu dir will bleiben«
Loslassen ist nicht nötig – Der Abschied von einem Dogma der Trauer­psychologie
Ich stehe am offenen Grab. Die Sargträger ziehen die Hölzer unter dem Sarg weg, die Seile spannen sich. Dann lassen sie den Sarg langsam ins Grab. Ich weiß, dass in diesem Holzkasten mein Sohn liegt. Nun wird es endgültig sein: Mein Sohn ist nicht mehr da. Er ist nicht mehr bei mir. Mein Entsetzen ist so groß, dass ich nicht begreife, was hier eigentlich passiert.
Das ist der letzte Abschied. Ich muss scheiden von meinem Sohn, und er von mir. Ich muss unter-scheiden, zwischen mir, dem Lebenden, und meinem Sohn, dem Toten. Ich muss loslassen. Meinen Sohn aus den Händen geben. So sagt es der Pfarrer am Grab, so sagt es die derzeitige Trauerliteratur.
Doch in meiner eigenen Trauer spüre ich mehr denn je: Ich will nicht Abschiednehmen, Loslassen schon gar nicht. Ich weiß natürlich, dass mein Sohn nicht mehr lebt und deshalb leiblich nicht mehr greifbar ist. Und dennoch und gerade deshalb möchte ich ihn nicht verlieren, sondern weiterhin eine Beziehung mit ihm leben – natürlich eine Beziehung, die anders aussieht als die zu einem lebenden Menschen.
Deshalb geht es mir in diesem Buch um ein neues Modell des Trauerns. Ein Modell, das dem Hinterbliebenen hilft,mitdem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. Nicht das Loslassen steht im Zentrum, sondern die Liebe zum Verstorbenen, die weiter reicht. Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Liebe des Hinterbliebenen beendet er nicht.
Der Tod verändert nur die Beziehung zum Verstorbenen. In der Liebe des Hinterbliebenen lebt diese Beziehung weiter!
Es geht eben nicht nur um Loslassen und Abschiednehmen, auch wenn das nach der gültigen Trauerpsychologie das Ziel jeder Trauer ist und sein soll. Die Trauer, so der wissenschaftliche Konsens, ist die Emotion des Abschieds. Die Trauer hilft dem Hinterbliebenen, den Verstorbenen loszulassen. Diesen die ganze Trauerpsychologie auch heute noch bestimmenden Grundgedanken formulierte Sigmund Freud schon 1913 in seiner Schrift »Totem und Tabu« wie folgt: »Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen.«(Freud, Gesammelte Werke, Bd. IX, S. 82).In seiner für die Psychologie der Trauer sehr einflussreichen Schrift »Trauer und Melancholie«(Freud, Gesammelte Werke, Bd. X)vertieft Freud diesen Ansatz weiter. Die Ablösung erfordert vom Trauernden sehr viel Energie. Deshalb wird dieser Prozess von Freud als »Trauerarbeit« beschrieben. Die bisherige Trauerpsychologie empfiehlt daher nachdrücklich:
– Lerne den Tod des Verstorbenen als Realität zu sehen!
– Akzeptiere, dass der Verstorbene nicht mehr da ist!
– Lasse den Verstorbenen los!
– Nimm Abschied von ihm und dem bisherigen gemeinsamen Leben!
– Lerne ohne den Verstorbenen zu leben!
– Baue ein neues Leben ohne den Verstorbenen auf!
Auch ich habe als Psychotherapeut immer in diesem Sinn beraten: »Nehmen Sie Abschied! Lassen Sie los. Beerdigen Sie Ihren Angehörigen. Suchen Sie nach neuen und anderen Lebenszielen und nach neuen Beziehungen.« Oft habe ich den Betroffenen Abschiedsrituale vorgeschlagen, in der Hoffnung, dass der Trauernde »endlich« loslassen kann.
Ich habe natürlich wahrgenommen, dass Trauernde sich dabei nicht richtig verstanden fühlten und sich nicht selten gegen mein Drängen auf Loslassen wehrten. Aber ich dachte, das sei ein vorübergehender Widerstand und der Betroffene sei noch nicht »so weit«, für dieses Abschiednehmen. Mit Hilfe der Psychotherapie sollte er zum Loslassen gelangen, schließlich meinte ich als Psychologe zu wissen, was in der Trauerarbeit nötig und hilfreich ist. Dabei argumentierte ich durchaus in Übereinstimmung mit der gesamten Trauerliteratur. Ich wusste es nicht besser. Ich selbst hatte bis dahin keinen eigenen schweren Verlust erlebt und kannte von daher die tiefen Gefühle von Trauernden nicht aus eigener Erfahrung.
Die kleinen, weniger schweren Verluste, die ich bis dahin erlebt hatte, waren im Loslassen durchaus bewältigt. Für leichtere Verluste mögen die bisherigen Trauermodelle und Empfehlungen ausreichen. Nicht aber für schwere, schmerzliche Verluste von sehr nahe stehenden Menschen.
So fühlte ich mich in meiner eigenen Trauer um meinen Sohn dann auch von der gängigen Trauerliteratur nicht verstanden. Wirkliche Hilfe erfuhr ich dort nicht. Im Gegenteil: Mein Ärger über die Psychologie, über die Trauerratgeber wurde immer größer. Warum wird dort meine ungeheure Sehnsucht nach meinem Sohn nicht gesehen, geschweige denn verstanden? Warum wird dort nicht akzeptiert, dass ich nicht loslassen will? Ich will doch festhalten, natürlich nicht den Toten, der vor mir im Sarg liegt, nicht den Leichnam. Aber etwas anderes – nämlich das Wesen, die Gestalt, die Person, das Du des geliebten Menschen. Warum hilft dazu die Trauerliteratur nicht? Warum unterstützt sie mich nicht dabei, eine andere, neue, aber nicht weniger intensive Beziehung zu meinem Sohn zu finden?
Für diese Sehnsucht nach einer inneren Beziehung möchte ich Hilfestellungen geben, nicht zum Loslassen! Und ich weiß inzwischen, dass viele Trauernde genau darin Begleitung suchen, von der Trauerpsychologie in dieser Hinsicht aber alleine gelassen werden.
Muss ich die Liebe zurücknehmen?
In der Trauer drücken wir unseren Schmerz darüber aus, dass der geliebte Mensch nicht mehr leiblich da ist. Die Liebe, die ich diesem Menschen geschenkt habe, lässt sich mit ihm nicht mehr leben, jedenfalls nicht mehr in konkreter Form. Und umgekehrt werde ich von ihm auf diese Weise auch nicht mehr geliebt.
Die Trauerpsychologie hat daraus in der Nachfolge Freuds die Schlussfolgerung gezogen, dass wir unsere Liebe zum Verstorbenen zurücknehmen müssen. Die Liebe wird in der psychoanalytischen Theorie »Libido« genannt und als psychische Energie verstanden. Diese lassen wir dem anderen zufließen und mit ihr besetzen wir den anderen. In wichtige Beziehungen investieren wir also Energie in Form von Zuwendung und Engagement. Bei einem Verlust läuft diese Energie nun sozusagen ins Leere und findet keine Resonanz mehr. Deshalb muss der Trauernde diese Energie vom Verstorbenen abziehen und zurücknehmen. Auch dies ist ein wichtiger Teil der viel beschworenen Trauerarbeit. Hat der Trauernde seine Libido nun wieder zur eigenen Verfügung, ist er von der alten Beziehung frei und kann seine Liebesenergie in andere Beziehungen hineingeben.
Verstärkt wurde dieser Ansatz von der Bindungstheorie, die John Bowlby(Bowlby, 1983) entwickelt hat. In allen menschlichen Beziehungen, insbesondere zu geliebten Menschen, verwirklicht sich das angeborene Bedürfnis nach Bindung. Bowlby hat bei Tieren und Kindern, die von ihren Eltern getrennt wurden, beobachtet, dass sich diese nach anfänglichem Protest, nach Verzweiflung und Trauer mit dem Verlust abfinden. Er hat aus diesen Verhaltensbeobachtungen ganz ähnlich wie die Psychoanalyse geschlossen, dass die Trauer ihre Funktion darin hat, den Verlust zu akzeptieren und die Bindung aufzulösen.
Die Trauerpsychologie empfiehlt in der Nachfolge der Psychoanalyse und der Bindungstheorie deshalb den Trauernden Folgendes:
– Spüre in der Trauer, dass deine Liebe ins Leere geht.
– Realisiere, dass das Gegenüber deiner Liebe nicht mehr da ist.
– Lasse deine Wut darüber zu. Sie hilft dir, dich vom Verstorbenen zu distanzieren und zu lösen.
– Ziehe deine Liebesenergie ab, löse die emotionale Bindung zum Verstorbenen.
– Nimm deine Liebe zu dir zurück.
– Nutze die frei gewordene Energie für dich oder bringe sie in neue Beziehungen und Bindungen ein.
Auch hier wird wieder eine fundamentale Erfahrung vieler Trauernder übersehen: Zwar kann die Liebe nicht mehr konkret gelebt werden, aber sie geht nicht ins Leere. Der Verstorbene bleibt als Gegenüber in Erinnerungen oder inneren Bildern präsent. Und vor allem: Er bleibt für den Hinterbliebenen der geliebte Mensch, auch noch nach langer Zeit. Natürlich muss die Liebe nun andere Formen finden, in denen sie sich dem Verstorbenen zeigen kann. Und: Sie verändert sich auch im Lauf einer langen Zeit, so wie sich in jeder Beziehung die Liebe verändert.
Ist weinen alles?
Natürlich gilt es in einer bestimmten Hinsicht loszulassen: Der Verstorbene wird leiblich nicht mehr da sein. Ich kann ihn nicht mehr umarmen, ich kann nicht mehr direkt mit ihm reden, ich kann seine Entwicklung nicht mehr mit ihm teilen. Ich verliere mit dem Verstorbenen unendlich viel, es ist ein ungeheuer großer Verlust, den ich als Leere oder als Wunde in mir erlebe.
Den Schmerz über diese schreckliche Realität drücke ich in meiner Trauer aus. Deshalb halte ich es für besser, von der Trauer nicht als Emotion des Abschiedes, sondern als Emotion des Verlustes zu sprechen.
Meine Trauer macht mir bis tief ins Körperliche hinein immer wieder aufs Neue schmerzlich bewusst, dass der andere weggegangen ist und nicht mehr leibhaftig da ist. In diesem Prozess lernt meine Seele allmählich, die reale Abwesenheit des Verstorbenen zu akzeptieren. Die Trauer wird vom Gefühl des Verlustes zu einem Gefühl, das den Abschied auf der realen Ebene ermöglicht. Insofern, und nur in diesem Sinn, kann man die Trauer als das Gefühl des Abschieds bezeichnen.
In der herkömmlichen Trauerpsychologie wird aber das Trauern selbst immer wieder einseitig funktionalisiert. Es soll das Loslassen und das Auflösen der Beziehung zum Verstorbenen ermöglichen. Damit wird die Trauer implizit und ungewollt zu einer »Negativemotion«, jedenfalls im Erleben des Trauernden. Die Trauer soll das fördern, was der Trauernde nicht will: das Hergeben, das Loslassen, das Abschiednehmen.
Dabei wird nicht zwischen dem äußeren Abschied und einer weitergehenden, inneren Beziehung zum Verstorbenen unterschieden.
Ungeachtet dieser wichtigen Differenzierung wird das Trauern generell als Mittel des Loslassens und des Abschiedes eingesetzt und auch der Eindruck vermittelt, dass nur eine bestimmte Art des Trauerns, wie zum Beispiel das expressive Weinen, richtig ist. Wir wissen aber, dass das Trauern individuell sehr verschieden zum Ausdruck kommen kann; häufig trauern Männer und Frauen auch sehr unterschiedlich. Diese wichtige Differenz wird oft zu wenig berücksichtigt.
Die Trauerpsychologie empfiehlt deshalb Folgendes:
– Erlaube dir deine Trauer, weil sie dir beim Loslassen hilft.
– Lebe deine Trauer aus: Schreie deinen Schmerz heraus, weine, lasse die Tränen zu – sooft und intensiv als möglich.
– Zeige deinen Schmerz und bringe ihn nach außen. Er hilft dir den Verlust zu »ver-schmerzen«.
– Lasse auch die anderen Gefühle wie Ohnmacht, Verzweiflung, Scham und Wut zu – auch sie sind Teil deiner Trauer, auch sie sind ganz in Ordnung.
– Lasse deine Wut zu, denn sie ist besonders wichtig für die Aufgabe des Loslassens.
Diese Empfehlungen halte ich, trotz der eben genannten Problematik, nach wie vor für wichtig. Immer noch brauchen viele Menschen in unserer Gesellschaft die Erlaubnis und die Ermutigung, sich auf ihre schmerzlichen Gefühle einzulassen, ihre Trauer zu leben und sie als etwas Wichtiges anzunehmen. Oft helfen auch Gruppen von Trauernden, in denen die Betroffenen ihre Trauer ohne Scheu zeigen und ausleben dürfen. Ebenso ist in vielen Fällen professionelle Hilfe in Form von psychologischer Beratung oder Psychotherapie angezeigt und nötig.
Die Trauer wird aber nur dann zu etwas Hilfreichem, wenn wir verstehen, dass sie nicht nur für das Loslassen notwendig ist. Die Trauer – so mein Verständnis – ist mehr als eine »Negativ- oder Loslassemotion«, sie ist Ausdruck der Liebe zum Verstorbenen. Bei meinem Verständnis von Gefühlen hat jedes Gefühl ganz zentral einen Beziehungsaspekt: Jedes ist der Versuch, mit anderen in einer bestimmten Weise in Beziehung zu treten. Deshalb ist für mich – und für viele andere Trauernde – das Gefühl der Trauer auch ein Kommunikationsversuch mit dem Verstorbenen über den Tod hinaus. Sie zeigt in ihrem Aspekt der Liebe, dass sie in Verbindung zum Verstorbenen bleiben will. Und das tut sie tatsächlich auch, wie viele Erfahrungen und die Untersuchungen von Dennis Klass (1996) zeigen.
Lassen Sie Ihre Trauer zu – in all ihren Formen, im Weinen, im Schreien, im Seufzen, in traurigen Gedanken, im stillen Traurigsein, im Rückzug oder wie auch immer sich Ihr Schmerz zeigen mag.
Ist am Ende alles gut?
Nun sind zwei Jahre vergangen, seit mein Sohn tot ist. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, dass es mir besser geht. Aber was heißt schon »besser«? Habe ich mich an seine Abwesenheit gewöhnt? Kann ich damit leben? An solchen »besseren« Tagen kann ich mich bei der Arbeit vergessen, kann auch wieder die kleinen Dinge des Lebens genießen. Ich erlebe also durchaus einen Fortschritt in meinem Trauerprozess.
Aber dann gibt es Momente und Tage, da ist überhaupt nichts besser. Da steigt meine tiefste Trauer auf, da falle ich wie zu Beginn in tiefste Löcher. Dann habe ich den Eindruck, es wird gar nichts besser, weil der Verlust meines Sohnes durch nichts, aber auch gar nichts zu ersetzen ist.
Und dann gibt es Momente und Zeiten, da will ich nicht, dass es mir besser geht, da will ich an der Trauer festhalten. In ihr erlebe ich mich meinem Sohn besonders nahe.
Von dieser doppelten Erfahrung berichten viele Trauernde, die einen schweren Verlust erlitten haben: Einerseits spüren sie ein Abnehmen ihrer Trauer, andererseits gibt es Tage, an denen die ganze Trauer wieder präsent ist. Hinterbliebene, deren Verlust über Jahre zurückliegt, berichten, dass es immer wieder traurige und sehnsuchtsvolle Momente gibt. Ihre Trauer ist in gewisser Weise nie ganz zu Ende.
In der gängigen Trauerliteratur werden dagegen Phasenmodelle der Trauer beschrieben. Sie erwecken den Eindruck, dass jeder Trauernde bestimmte Phasen durchlaufen muss und dabei bestimmte Traueraufgaben zu erledigen hat.
Dem Trauernden und den professionellen Trauerbegleitern wird empfohlen, diesen Trauerprozess entsprechend den vorgegebenen Phasen zu gestalten und sich auf diese Phasen so einzulassen, dass sie durchlebt und schließlich hinter sich gelassen werden können. Damit entsteht – von den Autoren sicherlich ungewollt – der Druck, dass am Ende des Prozesses die Trauer abgeschlossen, also der Verstorbene losgelassen sein soll.
Ein sehr bekanntes und die Trauerpsychologie prägendes Phasenmodell hat zum Beispiel Verena Kast(1977) erarbeitet: