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In vielen Beratungs- und Psychotherapieprozessen werden frühe Verluste in der Kindheit oder Jugend sichtbar. Zunehmend suchen Betroffene auch selbst Beratung und Therapie auf, um frühe Verluste aufzuarbeiten. Oft macht erst das Wissen um solche unverarbeiteten Verluste die aktuelle Symptomatik wie eine Angsterkrankung oder Depression verständlich. Roland Kachler zeigt, wie dieses häufig übersehene Thema hypnosystemisch und mittels Ego-State-Therapie bearbeitet werden kann: Der vom Verlust betroffene Kind-Ego-State erhält eine nachholende Begleitung in seinem damals unvollständigen Trauer- und Beziehungsprozess. Zentral ist dabei, dass die Beziehung zum Verstorbenen geklärt und gestaltet werden muss. Dann kann an einer nachholenden Entwicklung des Kind-Ego-States gearbeitet werden, so dass sich auch die aktuelle Symptomatik lösen kann. Die vorgestellten Interventionen können unmittelbar umgesetzt werden. Ausgewählte Fallbeispiele illustrieren die Arbeitsweise und das Zusammenspiel von hypnosystemischem Traueransatz und Ego-State-Therapie. Berater und Psychotherapeuten erhalten damit einen Leitfaden für ihre Praxis.
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Seitenzahl: 297
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Carl-Auer
Roland Kachler
Hypnosystemische Beratung und Psychotherapie bei frühen Verlusten
2018
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«hrsg. von Bernhard Trenkle
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2018
ISBN 978-3-8497-0239-7 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8141-5 (ePUB)
ISBN 978-3-8497-8142-2 (PDF)
© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlagund Verlagsbuchhandlung GmbH, HeidelbergAlle Rechte vorbehalten
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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Vorwort
1Die Grundlagen der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit – Der hypnosystemische Traueransatz
1.1Hypnosystemischer Ansatz als beziehungsorientierter Traueransatz
Überwindung des psychoanalytisch fundierten Trauerverständnisses – Trauern ist mehr als Loslassen
1.2Der hypnosystemische Trauer- und Beziehungsansatz – Eine neue innere Beziehung finden
1.3Das Metamodell des hypnosystemischen Trauer- und Beziehungsansatzes – Das Fließen der Trauer und der Liebe
1.4Die Vertragsarbeit in der Trauerbegleitung – Vier Einladungshorizonte
1.5Stabilisierungsarbeit und Transformation der Dissoziation – Einladung zum Wahrnehmen und Weiterleben
1.6Die schmerzliche Realisierungsarbeit – Einladung, mit der Abwesenheit des Verstorbenen leben zu lernen
1.7Die kreative Beziehungsarbeit – Einladung zur sicheren und freien Beziehung zum Verstorbenen
1.7.1 Die Reinternalisierung des Verstorbenen
1.7.2 Die Installation eines sicheren Ortes für den Verstorbenen
1.7.3 Beziehungsarbeit als Konfliktklärung
1.8Die Arbeit am weitergehenden Leben – Einladung zu einem Leben, in dem es wieder Glück geben darf
1.9Die bleibende innere Verbundenheit und die bleibende Wehmut – Wie sieht ein gelungener Trauer- und Beziehungsprozess aus?
2Diagnostik, Indikation und Vertragsarbeit bei nachholender Trauer- und Beziehungsarbeit
2.1Nachholende Trauerarbeit bei früheren und frühen Verlusten
2.1.1 Was sind frühere Verluste?
2.1.2 Frühe Verluste in der Kindheit und Jugendzeit – Der Schwerpunkt dieses Buches
2.1.3 Der Begriff der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit
2.2Frühe Verluste als bewusstes oder unbewusstes Thema
2.2.1 Bewusster Wunsch nach einer Aufarbeitung eines frühen Verlustes
2.2.2 Frühe Verluste als unbewusste Hintergründe aktueller Themen und Symptome
2.2.3 Diagnostische Abklärungen der damaligen Verlustsituation
2.2.4 Diagnostische Abklärungen der Beziehung zum Verstorbenen
2.2.5 Diagnostische Abklärungen bezüglich der biografischen Entwicklung bis heute
2.2.6 Verträge in der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit
2.2.7 Psychoedukation über Ansatz, Methoden und Prozess der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit
2.2.8 Therapieplanung und Therapiesteuerung
3Hypnosystemische Ego-State-Therapie in der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit
3.1Der hypnosystemische Ego-State-Ansatz als Grundlage der nachholenden Trauerarbeit
3.1.1 Der Überblick über verschiedene Ego-State-Ansätze
3.1.2 Definition von Ego-States und ihrer Funktion bei einem frühen Verlust
3.1.3 Systemischer, hypnotherapeutischer und hypnosystemischer Ansatz in der Ego-State-Therapie bei einer Verlusterfahrung
3.2Methoden der hypnosystemischen Ego-State-Therapie in der nachholenden Trauerarbeit
3.2.1 Trance und imaginative Prozesse
3.2.2 Die Installation von heilsamen transformatorischen Orten für die Kind-Ego-States
3.2.3 Dissoziative und assoziative Prozesse
3.2.4 Der Zugang zu den frühen Verlustsituationen
3.2.5 Die Arbeit mit Trauer und Schmerz in der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit
3.2.6 Die Arbeit mit den Beziehungsgefühlen in der nachholenden Trauer-und Beziehungsarbeit
3.2.7 Die Arbeit mit transformierenden Imaginationen
3.2.8 Die Arbeit auf der inneren Bühne – Imaginative Begegnungsprozesse anleiten
3.2.9 Utilisierung des Prozesses für die Lösung der aktuellen Thematik oder Symptomatik
4Die nachholende Beelterungsarbeit für die trauernden Kind-Ego-States
4.1Das Verlusterleben der Kind-Ego-States
4.1.1 Frühe Verluste und ihre traumatisierende Qualität – Die Kind-Ego-States in der Dissoziation
4.1.2 Verlustschmerz und Trauer bei Kindern und Jugendlichen – Die trauernden Kind-Ego-States
4.1.3 Abwehr und Wut in der Verlustsituation – Die widerständigen Kind-Ego-States in der Verlust- und Trauersituation
4.2Entstehung von Verlust- und Trauerskripten
4.3Installation eines haltenden Trauerortes für trauernde Kind-Ego-States
4.4Die Aktualisierung der in der Verlust- und Trauersituation entstandenen trauernden Kind-Ego-States
4.4.1 Imagination des trauernden Kind-Ego-States als Einzelbild
4.4.2 Imagination des trauernden Kind-Ego-States in einer erinnerten Verlustsituation
4.5Die Beelterungsarbeit – Basis einer gelingenden nachholenden Trauerarbeit
4.6Die Beelterungsarbeit in traumatisierenden Verlustsituationen – Das Bergen des traumatisierten Kind-Ego-States
4.7Beelterung und die Transformation des Verlust- und Trauerskriptes
4.8Vorbereitung der nächsten Prozessschritte
5Nachholende Realisierungsarbeit für die trauernden Kind-Ego-States
5.1Nachholende Trauerarbeit als vierfache Arbeit mit der Trauer der Kind-Ego-States
5.2Die nachholende Realisierung und die Arbeit mit der eigenen Trauer des Kind-Ego-States
5.2.1 Voraussetzungen für die nachholende Realisierungsarbeit
5.2.2 Die behutsame Konfrontation mit den Realitäten des Verlustes
5.2.3 Die Begleitung des Kind-Ego-States während der Konfrontation – Der Prozess der begleiteten Konfrontation
5.2.4 Abschluss der Konfrontationsarbeit
5.2.5 Mögliche Probleme bei der konfrontierenden Realisierungsarbeit
5.3Die identifikatorische Trauer, die übernommene Trauer und die Trauer um sekundäre Verluste
6Nachholende Beziehungsarbeit zwischen den Kind-Ego-States und den Ego-States des Verstorbenen
6.1Die Arbeit an der inneren Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen
6.1.1 Die relevanten Kind-Ego-States in der Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen
6.1.2 Die Beziehungsskripte der Kind-Ego-States
6.1.3 Die Ego-States des Verstorbenen
6.2Reaktualisierung der Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen durch Erinnerungsarbeit
6.3Nachholendes Ermöglichen einer imaginativen Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen
6.4Erleben der Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen auf der inneren Bühne
6.5Klärung von ungelösten Themen in der Beziehung zu den Ego-States des Verstorbenen auf der inneren Bühne
6.6Lösung der identifikatorischen Trauer durch Differenzierung in Bezogenheit
7Nachholende hypnosystemische Therapie des verbleibenden trauernden Familiensystems
7.1Das verbleibende trauernde Familiensystem
7.2Die Rückgabe der blockierenden übernommenen Trauer – Die Arbeit an der systemischen Trauer
7.3Das Nachbetrauern des sekundären Verlustes der Eltern und der verlorenen Vollständigkeit der Familie
7.4Nachholende Familientherapie an den Strukturen zurückbleibenden Familie
8Nachholende Entwicklung der Kind-Ego-States und Lösung der aktuellen Symptomatik
8.1Transformation der Trauer und Abschied von der Trauer
8.2Von der gebundenen zur verbundenen Beziehung den Ego-States des Verstorbenen
8.3Lebensorientierte und lebensblockierende Kind-Ego-States nach der Verlustsituation
8.4Die lebensblockierenden Skripte und ihre Veränderung
8.5Begleitung des Kind-Ego-States in die Weiterentwicklung und in das Leben
8.6Lösung der akuten Thematik oder Symptomatik der Klientin
Nachwort
Literatur
Über den Autor
»Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war. […] Diese heillose Wunde blieb lebenslänglich offen, denn ich kann diesem frühen Tod nicht entfliehen.«Wolf Biermann (2016, S. 7)
Als Wolf Biermann, der Ikarus des Ostens, Liedermacher und Sänger, vier Monate alt war, wurde sein Vater von den Nationalsozialisten verhaftet. Der Junge konnte seinen inhaftierten Vater einige Male mit seiner Mutter in der Haft besuchen. Als Biermann sechs Jahr alt wurde, erlebte er unmittelbar mit, wie seiner Mutter bei der Gestapo in Bremen die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht wurde. Er war in Auschwitz ermordet worden.
Der frühe Verlust seines Vaters Dagobert Biermann prägte den Liedermacher Wolf Biermann sein ganzes Leben. Vieles aus seiner bewegend geschilderten Autobiografie, aber auch viele seiner Liedtexte lassen sich aus dem frühen Verlust seines Vaters verstehen. Wolf Biermann ist es wohl gelungen, die traumatisierende Verlusterfahrung in seinem dichterischen Schaffen und politischen Engagement zu transformieren und zu integrieren.
Viele andere Betroffene aber leiden nicht nur das ganze Leben an solch einer Erfahrung, sondern erleben früher oder später massive Einschränkungen in ihrer Lebensqualität oder entwickeln ausgeprägte Symptome wie Depressionen oder Angsterkrankungen.
Erst allmählich wird deutlich, dass frühe Verluste in der Kindheit oder Jugendzeit massive Auswirkungen in sich tragen. Nicht nur Traumata wie körperliche oder sexuelle Gewalt, sondern frühe Verluste zum Beispiel eines Eltern- oder Geschwisterteils müssen in ihrer traumatisierenden Qualität in Beratungen und Psychotherapien aufgegriffen und bearbeitet werden.
Ich möchte in diesem Buch dieses oft übersehene oder nur randständig behandelte Thema ins Zentrum stellen und für die Beratung und Psychotherapie einen wirksamen und hilfreichen Ansatz und eine konkrete therapeutische Methode zur Verfügung stellen.
Zunächst werde ich in den hypnosystemischen Trauer- und Beziehungsansatz, den ich nach dem Tod unseres Sohnes Simon 2002 in den letzten Jahren entwickelt habe (Kachler 2017), einführen. In der Verbindung von systemischen Ansätzen und Hypnotherapie stellt er die Grundlage der nachholenden Trauerarbeit dar. Entsprechend diesem Ansatz darf es eine weiter gehende innere Beziehung zum Verstorbenen geben. Ich unterstütze in der Trauer- und Beziehungsbegleitung die Trauernden darin, eine innere Beziehung zum Verstorbenen zu finden und zu gestalten. Deshalb spreche ich in Folgendem immer von Trauer- und Beziehungsarbeit.
Da wir in der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit mit dem Ego-State des Kindes in der damaligen Verlustsituation und dem Ego-State des Verstorbenen arbeiten, werden in einem nächsten Schritt die verschiedenen Ego-State-Ansätze integriert und nutzbar gemacht. Dann wird der Beratungs- und Therapieprozess bei der Bearbeitung von frühen Verlusten über die Beelterungs-, Realisierungsund Beziehungsarbeit entfaltet. Schließlich wird mit dem Kind-Ego-State an seiner nachholenden Entwicklung gearbeitet, sodass sich die heute beklagte Thematik oder die explizite Symptomatik lösen kann.
Ich möchte Sie, liebe Leserin und lieber Leser, als Betroffene oder als Beraterinnen und Therapeutinnen, als Berater und Therapeuten in ein bisher weitgehend unerschlossenes Feld der biografischen Arbeit führen. In dieser oft traurigen und tragischen Landschaft eines frühen Verlustes gibt es aber auch Wege, die in die Fülle des Lebens hineinführen. Dieses Buch soll Ihnen zum Wegbegleiter aus schweren Erfahrungen in der Kindheit und Jugendzeit ins glückende und in ein immer wieder glückliches Leben heute werden.
Roland KachlerRemseck, im Januar 2018
Nachholende Trauerarbeit bezieht sich auf zurückliegende Verluste, die meist in der Kindheit und Jugendzeit erfolgten. Sie sind häufig Hintergrund einer aktuellen Thematik, unter der der Klient1 leidet. Häufig werden in Beratungen und Therapien frühe Verluste aktualisiert und müssen nun so bearbeitet und transformiert werden, dass sie zur Lösung der aktuellen Symptomatik beitragen. Die nachholende Trauerarbeit unterscheidet sich in den wesentlichen Prozessen zunächst nicht von einer Trauerarbeit nach einem aktuellen Verlust. Deshalb werde ich zuerst meinen neu entwickelten hypnosystemischen Traueransatz vorstellen, um dann ab Kapitel 2 in die spezifischen Prozesse und Methoden der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit hineinzugehen.
Da nach meinem – hypnosystemischen Verständnis – Trauerarbeit immer auch Arbeit in der Beziehung zwischen Trauerndem und Verstorbenen darstellt, spreche ich im Folgenden von Trauer- und (!) Beziehungsarbeit sowohl für die Trauerbegleitung in einer akuten Verlustsituation also auch für die nachholende Trauerbegleitung.
Die klassischen Traueransätze, die vom psychoanalytischen Denken herkommen, betonen das Abschiednehmen vom Verstorbenen und das Loslassen des Verstorbenen. Demgegenüber habe ich nach dem Tod unseres 16-jährigen Sohnes im Jahr 2002 einen neuen Traueransatz entwickelt, bei dem eine innere Beziehung zum Verstorbenen bleiben und weiterhin gelebt werden darf. Dieser beziehungsorientierte Traueransatz greift hypnotherapeutische und systemische Ansätze auf und integriert sie zu einem hypnosystemischen Traueransatz, bei dem die Trauerarbeit immer eine Trauer- und (!) Beziehungsarbeit darstellt. Ich stelle diesen Ansatz im Rahmen dieses Buches über nachholende Trauerarbeit knapp in einer Übersicht so weit dar, dass Sie dann mit dem hypnosystemische Trauer- und Beziehungsansatz in nachholenden Trauer- und Beziehungsprozessen arbeiten können. Ausführliches finden Sie in meinem Buch Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis (2017) und in meinen weiteren Veröffentlichungen.
Trauernde haben bei einem schweren Verlust größte Schwierigkeiten mit dem gängigen Ansatz des »Loslassens«. Sie wehren sich gegen diese so häufig wie unbedacht geäußerte Empfehlung. Das hier vorgestellte Modell des Trauerns und der inneren Beziehung zum Verstorbenen nimmt den Widerstand der Trauernden gegen das »Loslassen« ernst und hilft dem Hinterbliebenen, mit (!) dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. Nicht das Loslassen steht bei diesem Ansatz im Zentrum, sondern die Bindung zum Verstorbenen. Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Gefühle der Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen beendet er nicht.
Nach dem Tod eines nahen Angehörigen muss sich die bisherige Beziehung in eine internale Beziehung zum Verstorbenen transformieren. In der Liebe des Hinterbliebenen darf diese Beziehung weitergehen. Wie die Untersuchungen von Klass et al. (1996) und Bednarz (2003, 2005) zeigen, leben viele Hinterbliebene mit dem Verstorbenen als innerem Gegenüber eine andere, nämlich innere Beziehung weiter.
Fallbeispiel: Ich will dich nicht ein zweites Mal verlieren
Eine 70-jährige Frau verliert ganz plötzlich ihren erwachsenen Sohn. Immer wieder wird ihr geraten, ihren Sohn loszulassen. Im Trauergespräch mit mir lehnt sie dieses Ansinnen empört ab und erklärt: »Ich will doch meinen Sohn nicht ein zweites Mal verlieren.«
Sigmund Freud hat wie kein anderer das vorherrschende wissenschaftliche Verständnis der Trauer geprägt. Von seiner Trieb- und Libidotheorie her begründet, sollen in der Trauer die libidinösen Bindungen an das Beziehungsobjekt gelöst werden. In dem Aufsatz Trauer und Melancholie schreibt Freud (1917, S. 430):
»Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? […] Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. […] Tatsächlich wird aber das Ich nach Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.«
Hier wird zum ersten Mal die Trauer als psychische Arbeit verstanden, was später dann im bekannten Begriff »Trauerarbeit« gefasst wird. Das Ablösen der Libido bedarf einer psychischen Anstrengung und Arbeit, die vom Trauernden mit dem Ziel einer emotionalen Loslösung gegenüber dem Verstorbenen zu leisten ist.
Bowlby (1983) und Parkes (1972) haben die Bindungstheorie zum Verständnis der Trauerprozesse herangezogen und ein erstes Phasenmodell entwickelt. Dieses Modell wurde dann von Kast (1977) weiter ausformuliert, mit den bekannten Phasen des Nicht-wahrhaben-Wollens, der aufbrechenden Emotionen, des Suchens und Sichtrennens und des neuen Selbst- und Weltbezugs.
In diesem Phasenmodell wird Trauernden teils explizit, teils implizit zu einem »Loslassen« und zu einem Abschließen des Trauerprozesses geraten. Dies widerspricht dem tiefen Wunsch von Trauernden, bei schweren Verlusten ihren geliebten Menschen auf Dauer im Inneren zu bewahren und eine innere Beziehung zu ihm weiterzuleben.
Exkurs:
Was wird als schwerer Verlust erlebt?
Jeder Verlust durch den Tod eines geliebten Menschen wird subjektiv sehr unterschiedlich erlebt und individuell sehr unterschiedlich verarbeitet. Das hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Länge und Intensität der bisherigen Beziehung zum Verstorbenen, von der Todesart, von der Persönlichkeit der Trauernden und ihren bisherigen Verlusterfahrungen.
Bei allen individuellen Unterschieden kann man davon ausgehen, dass folgende Verluste und Verlustsituationen in der Regel als sehr massiv und schwer erlebt werden:
·unerwarteter, plötzlicher Verlust zur Unzeit
·traumatische Umstände beim Tode des geliebten Menschen, insbesondere entstellende Unfälle, Tod durch Gewalt, meist auch Tod bei Großschadensereignissen; oft auch traumatisierende Umstände beim Auffinden des Verstorbenen oder bei Überbringung der Todesnachricht
·Verlust eines Menschen, für dessen Tod die Hinterbliebenen mitverantwortlich sind oder an dessen Tod sie sich mitschuldig fühlen
·mehrere, oft nahe beieinanderliegende schwere Verluste im Laufe einer Biografie
·uneindeutige Verluste, bei denen der Leichnam des Verstorbenen zerstört wurde oder nicht gefunden werden kann
·Verlust durch einen Suizid des Angehörigen
·Verlust eines Menschen, mit dem die Trauernden in intensiver emotionaler Beziehung lebten; hier auch ambivalente, ausbeutende oder missbrauchende Beziehungen des Verstorbenen zum Hinterbliebenen
·Verlust eines Kindes jedweden Alters
·Verlust eines Geschwisters, besonders im Kindes- und Jugendlichenalter der zurückbleibenden Geschwister
·Verlust eines Elternteils oder beider Eltern, manchmal auch ein wichtiger Großelternteil im Kindes- und Jugendlichenalter.
Es sei hier noch einmal betont, dass jeder und jede Trauernde letztlich selbst entscheidet, ob und als wie schwer ein Verlust erlebt wird. Dies muss in der Trauer- und Beziehungsbegleitung in jedem Falle anerkannt und als Ausdruck der besonderen Beziehung zum Verstorbenen gewürdigt werden.
Schon Bowlby (1983, S. 183) wies ausdrücklich darauf hin, dass die Verbindung zum Verstorbenen weiterbestehen kann und dass sie ein integraler Bestandteil gesunder Trauer ist. Dies wurde in der Trauerforschung und insbesondere in der deutschen Trauerliteratur nicht rezipiert und weiterverfolgt.
Die bahnbrechende Arbeit mit dem programmatischen Titel Continuing bonds von der Arbeitsgruppe um Dennis Klass (Klass et al. 1996) hat empirisch gezeigt, dass viele Hinterbliebene in einer inneren, weitergehenden Beziehung zum Verstorbenen bleiben. Für ihre sozialwissenschaftlichen Studie Den Tod überleben. Deuten und Handeln im Hinblick auf das Sterben eines anderen (Bednarz 2003; vgl. auch Bednarz 2005) hat Anja Bednarz Trauernde danach befragt, wie sie einen Verlust verarbeiten. Dabei zeigte sich – unabhängig von den Forschungen von Klass –, dass die Verstorbenen ein internaler und weiterhin bedeutsamer Teil in der Person der Hinterbliebenen bleiben.
Ich habe diese Arbeiten aufgegriffen und mit der Hypnotherapie, den systemischen Ansätze und dem hypnosystemischen Ansatz zusammengeführt, sodass sich ein grundlegend neues Verständnis einer schweren Verlusterfahrung ergibt.
Die moderne Hypnotherapie arbeitet mit unbewussten und unwillkürlichen Prozessen, die sie in der Trance für Veränderungsund Entwicklungsprozesse aktiviert und nutzt. Die Hypnotherapie setzt hier vorwiegend imaginative Methoden ein, die unwillkürliche Körperprozesse und unbewusste Prozesse in bildhafte, symbolische Repräsentationen transformiert und auf der imaginativen Ebene Veränderungsprozesses anregt. In einer Verlustsituation gibt es vielfältige unwillkürliche Körperprozesse des Verlustschmerzes und der Trauer, die in der Trauerbegleitung in Bilder gefasst und auf dieser Ebene bearbeitet werden. Genauso wichtig aber sind auch die internalen, körperlich spürbaren Beziehungsgefühle im Hinblick auf den Verstorbenen, die nun in Trance zu einer inneren, sicheren, symbolischen Beziehung ausgestaltet werden.
Die systemischen Ansätze beschreiben die komplexen Beziehungsprozesse zum Beispiel in einem Familiensystem. Das zentrale Beziehungssystem nach einem schweren Verlust stellt die Beziehung der Trauernden zum Verstorbenen dar gemäß der systemischen Grundregel, dass man sich gegenüber dem Verstorbenen nicht nicht verhalten kann. Die Trauernden müssen eine eigene, für sie stimmige Beziehung zum Verstorbenen finden. Insofern unterscheidet sich diese internale symbolische Beziehung zum Verstorbenen nicht von anderen Beziehungen, und deshalb können zu ihrem Verständnis alle systemischen Erkenntnisse und Methoden genutzt werden.
Der hypnosystemische Ansatz integriert nun hypnotherapeutisches und systemisches Denken (Schmidt 2004, 2005). So können Interaktionen in einem Familiensystem auch verstanden werden als gegenseitige Einladungen in eine Trance und in ein weitgehend unbewusstes Erleben, sodass sich zum Beispiel ein streitendes Ehepaar nicht nur in einer gemeinsamen Kommunikation, sondern zugleich in einer gemeinsamen, freilich problemfokussierten Trance befindet.
Auch Trauernde befinden sich in einer intensiven Beziehungstrance hinsichtlich des Verstorbenen, der nun als inneres Gegenüber, also sogenannter Ego-State, zu einem internalen Beziehungspartner wird. So konstituiert sich ein internales, über die Trance zugängliches Beziehungssystem, in dem der Trauernde mit dem Ego-State internal kommuniziert und zugleich über dieses Beziehungssystem in einer Metaposition reflektieren kann.
Das Neue dieses hypnosystemischen Traueransatzes, der, wie gesagt, immer ein Trauer- und (!) Beziehungsansatz sein muss, liegt darin, dass nicht mehr nur an der Schmerz-und Trauerreaktion, sondern zentral auch an der Bindungsebene und damit an einer nun erlaubten inneren Beziehung zwischen dem Trauernden und dem Verstorbenen gearbeitet werden kann und muss.
Ich möchte nun den hier vorgestellten Trauer- und Beziehungsansatz in einer Metalandkarte darstellen. Bei schweren Verlusten zeigen sich zunächst die aus der Traumapsychologie bekannten dissoziativen Phänomene. Nach einem schweren Verlust stellt sich für Trauernde die existenzielle Frage, ob und, wenn ja, wie sie ohne den geliebten Angehörigen weiterleben wollen. Daraus erwächst für sie zunächst die Aufgabe, sich für das Überleben im ersten Trauerjahr zu entscheiden und dafür Tag für Tag am Überleben zu arbeiten. In dieser ersten Phase ist deshalb in der Trauerbegleitung intensive Stabilisierungsarbeit angesagt.
Trotz des dissoziativen Schutzes zeigt sich einerseits die schmerzliche Realität, dass der Verstorbene abwesend ist, andererseits erleben Trauernde eine intensive Nähe zum Verstorbenen.
Hier beginnt die schmerzliche Realisierung der Abwesenheit des Verstorbenen und in den Näheerfahrungen eine entstehende innere Beziehung. Dieser Trauer- und Beziehungsprozess bewegt sich nun wie zwischen zwei Ufern eines Flusses. Das eine Ufer stellt die schmerzliche Begrenzung der Realität durch den Tod dar, das andere Ufer die weitergehende Liebe zum Verstorbenen. Wenn dieser Prozess im Fließen bleibt, dann bewegt sich der Trauernde hin zu einem Leben, in dem es wieder Glück geben darf.
Ein Trauer- und Beziehungsprozess fließt also zwischen der Realisierung der äußeren Abwesenheit auf der einen Seite und der inneren Anwesenheit im Sinne einer inneren Beziehung auf der anderen Seite hin zu einem Leben nach dem Verlust, in dem wieder Momente des Glücks zu erleben sind.
Den Trauernden sind also nach der Entscheidung zum Weiterleben ohne den nahen Angehörigen nun zunächst zwei wesentliche Aufgaben gestellt, die sie einerseits bewusst angehen sollten, andererseits unwillkürlich geschehen lassen können.
Einerseits Realisierung der äußeren Abwesenheit des geliebten Menschen: Die äußere Realität des Todes und der äußeren Abwesenheit zwingt die Hinterbliebenen über die Erfahrung des Verlustschmerzes und der Trauer, diese Realität allmählich zu realisieren und sie als endgültig zu akzeptieren. Die Trauernden müssen über den Schmerz lernen, dass der Verstorbene auf seine Weise zum Beispiel durch Unfall oder Erkrankung verstorben ist, dass er tot ist, dass er in der äußeren Realität abwesend ist und dass er nicht mehr kommen wird.
Andererseits Reetablierung und das Gestalten einer inneren Beziehung zum nahen Menschen: Die Erfahrung der inneren Anwesenheit der Verstorbenen ist die emotionale Grundlage für eine weitergehende innere Beziehung, in der der Verstorbene als internaler Ego-State ein Teil der Identität der Hinterbliebenen wird und bleiben kann. Ziel ist es, dass diese internale Beziehung zum Ego-State des Verstorbenen eine sichere und zugleich freie Beziehung wird.
Ich nenne diese beiden zentralen Aufgaben im Folgenden Realisierungsarbeit und Beziehungsarbeit im Rahmen eines Trauer- und Beziehungsprozesses nach einem schweren Verlust. Gelingen die beiden Aufgaben, ist dies die beste Voraussetzung dafür, dass das Leben nach einem Verlust wieder lebenswert wird und es dabei auch wieder Glück geben darf. Dies stellt eine weitere Aufgabe nach einem Verlust dar: nämlich sich aktiv und bewusst das Leben wieder zu nehmen.
Trauerbegleitung nach einem Verlust unterstützt die Prozesse auf der Seite der Realisierung und auf der Seite der inneren Beziehung. Die Grundidee ist dabei, die Trauer und die Liebe ins Fließen zu bringen und im Fluss zu halten. Nur ein fließender Trauer- und Liebesprozess führt hin zu einem Leben nach dem Verlust, in dem es auch wieder Glück geben darf. Die Trauerbegleitung unterstützt das Schwingen des Prozesses zwischen den beiden Ufern der Trauer und der Liebe.
An diesem Flussmodell des Trauerns und des Liebens wird dann auch verständlich, dass es in diesem Fließen zu Stillständen oder Einseitigkeiten kommen kann. Das zeigen die folgenden drei Fälle.
Fallbeispiel: Die in der Dissoziation erstarrte Mutter
Eine 55-jährige Mutter kommt zur Trauerbegleitung, weil sie ihre verstorbene 23-jährige Tochter nicht spüren kann. Sie kommt einundhalb Jahre nach dem Tod ihrer Tochter ganz in Schwarz gekleidet und wirkt in ihrem ganzen Habitus wie eingefroren. Es zeigt sich rasch, dass die Mutter noch weitgehend in der Erstarrung des Schocks nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Tochter steckt und dass deshalb weder die Trauer noch die Liebe fließen kann. Ich arbeite mit ihr daran, die dissoziativen Phänomene als Schutz zu verstehen und sich langsam und behutsam auf die Realität des Todes ihrer Tochter einzulassen. Mit dem Zulassen der Trauer werden auch die Liebesgefühle für ihre Tochter erstmals spürbar, sodass wir dann am Finden und Gestalten der inneren Beziehung arbeiten können. Später arbeiten wir daran, dass diese Mutter auch wieder ein Leben finden kann, zu dem die innere Beziehung bleibend gehören darf und in dem es wieder Augenblicke des Glücks geben darf.
Hier zeigt sich, dass der Stillstand eine eminente Schutzfunktion hat, die wie bei allen Stillständen zunächst gewürdigt werden muss. In der Stabilisierungsarbeit können Trauernde unter Anleitung lernen, sich nun selbst im Einlassen auf den Schmerz vor dem befürchteten Überflutetwerden zu schützen. Wird die Trauer auf der einen Seite spürbar, kann auch die Liebe auf der anderen Seite ins Spürbarwerden kommen. Hier zeigt sich deutlich, dass beide Seiten eng miteinander verschränkt sind und dass die Trauer- und Beziehungsarbeit sich als Pendelprozess zwischen diesen beiden Seiten bewegt. Aufgabe der Trauerbegleitung ist es, Trauernde in diesem Prozess zu unterstützen, damit ein Stillstand wieder ins Fließen beziehungsweise damit der Trauer- und Beziehungsprozess gar nicht erst in Stocken kommt.
Fallbeispiel: Der auf seinen Sohn wütende Vater
Der Vater kommt etwa ein halbes Jahr nach dem Suizid seines 19-jährigen Sohnes. Im Auto vor dem Bahnhof hatte der Vater dem Sohn vor dessen Abfahrt das Versprechen abgenommen, sich nach einer längeren depressiven Phase nicht zu suizidieren. Vier Tage später kommt von der Polizei die Nachricht, dass sich der Sohn an seinem Studienort vor die Bahn geworfen hat. Der Vater erlebt kaum Trauer, sondern zunächst eine intensive Wut gegenüber seinem Sohn darüber, dass der sein gegebenes Versprechen gebrochen hatte.
Auch an diesem Fallbeispiel wird deutlich, dass im Trauer- und Beziehungsprozess ein Stillstand droht. In seiner Wut kann der Vater weder seine Trauer fließen lassen noch seine Liebe zu seinem Sohn ungehindert erleben. Die Wut, die einen zentralen Aspekt der Beziehung zum Sohn darstellt, blockiert also sowohl den Trauer- als auch den Liebesfluss. Zugleich schützt die intensive Wut den Vater vor der harten Realisierung dessen, was mit seinem Sohn und ihm als Vater geschehen ist. Die Arbeit besteht darin, in der Beziehung zum Sohn diese massive Beziehungsstörung zu klären und die Wut zu lösen, damit die Beziehung nahe und ungestört sein darf und auch die Trauer zugelassen werden kann. Hier ist also die Beziehungsarbeit in der inneren Beziehung zwischen Vater und verstorbenem Sohn eine Konflikt- und Klärungsarbeit.
Fallbeispiel: Die Eltern, die sich das Tanzen verbieten
Die 15-jährige Tochter war an einer längeren Krebserkrankung gestorben. Ich hatte die Eltern entsprechend dem hier vorgestellten Trauerund Beziehungsansatz so begleitet, dass beide die Realität des Todes ihrer Tochter akzeptieren und eine liebevolle innere Beziehung zur ihr leben konnten. Nach der etwa einjährigen Trauer- und Beziehungsbegleitung stand das Paar drei Jahre nach dem Tod der Tochter vor der Frage, ob es wieder zum Tanzen gehen könne. Beide hatten vor der Erkrankung und dem Tod ihrer Tochter sehr gerne getanzt, aber das Tanzen in der Trauerzeit gänzlich aufgegeben. Sie verboten sich das Tanzen mit dem Gedanken: »Wie können wir uns wieder am Tanzen erfreuen, wenn unsere Tochter so krank war, sterben musste und so etwas Schönes wie das Tanzen nie mehr erleben darf?«
Hier geht es darum, dass die Eltern lernen, das Leben, in dem es auch wieder Freude geben darf, anzunehmen. Wir arbeiteten hier so, dass sie in einer inneren Begegnung mit ihrer Tochter nicht nur die Erlaubnis, sondern die direkte Aufforderung ihrer Tochter, wieder zum Tanzen zu gehen, erlebten.
Wie aus den drei Fallbeispielen ersichtlich wird, besteht hypnosystemische Trauer- und Beziehungsarbeit darin, den Flussprozess zwischen Trauern und Lieben zu ermöglichen, ihn im Fließen zu halten und eventuelle Stillstände über eine transformatorische Arbeit wieder in Fluss zu bringen. Hypnosystemische Trauerbegleitung dient damit auch der Verhinderung von destruktiven Trauer- und Beziehungsprozessen und ist als Prophylaxe bei schweren Verlusten außerordentlich hilfreich.
Abb. 1: Metalandkarte des Trauer- und Beziehungsprozesses
Wenn ein Stillstand im Flussprozess besteht, dann entwickelt sich ein komplizierter Trauer- und Beziehungsverlauf, der sich zum Beispiel in einem depressiven oder somatischen Symptom zeigt. In der nachholenden Trauerarbeit stoßen wir in der Regel auf stillstehende Trauer- und Beziehungsprozesse, die das Kind oder der Jugendliche von damals bis heute in verschiedenen Ego-States in sich trägt und die dann aktuell eine Symptomatik bewirken.
Die Metalandkarte in Abbildung 1, die das Flussmodell des Trauerns und Liebens hin zu einem wieder glücklichen Leben nach einem Verlust zeigt, dient in der Trauer- und Beziehungsbegleitung als Orientierungshilfe. Man kann rasch sehen und verstehen, wo die Klienten in ihrem Prozess stehen und eventuell auch in einem Stillstand feststecken. Hieraus ergibt sich dann immer auch der nächste Schritt, zu dem die Klienten in der Trauerbegleitung aktiv eingeladen werden. Jede Trauer- und Beziehungsbegleitung braucht deshalb auch Prozessziele, die ich im nächsten Abschnitt als »Einladungshorizonte« beschreibe.
Viele Trauerbegleitungen scheitern daran, dass mit den Trauernden keine Absprachen über die Ziele einer Trauerbegleitung getroffen werden. Häufig dreht sich dann die Trauerbegleitung im Kreis, oder sie wird abgebrochen, weil sich unbewusst bei den Trauerbegleitern dann doch das »Loslassen« als implizites Ziel einschleicht und dies bei den Trauernden Widerstand auslöst.
Beim Gespräch mit Trauernden über mögliche Zielhorizonte einer gemeinsamen Zusammenarbeit muss unbedingt gewürdigt werden, dass die Ziele durch den Verlust des geliebten Menschen erzwungen sind. Trauernde müssen zunächst in ihrer Sehnsucht, dass der Verstorbene wieder zurückkehren solle, empathisch abgeholt werden.
Dann lassen sich vier Zielhorizonte mit den Trauernden vereinbaren:
In der akuten Verlustsituation geht es bei schweren Verlusten zunächst um das Überleben und Weiterleben. Das Vertragsangebot lautet beispielsweise:
•»Ich möchte Sie in der schweren Anfangszeit nach dem Tod Ihres Kindes unterstützen, Tag für Tag das Leben in kleinsten Schritten zu bewältigen.«
Als zweiter Einladungshorizont wird den Trauernden angeboten, mit der Trauer und dem Verlust leben zu lernen, also die bleibende Abwesenheit des Verstorbenen zu realisieren und die Trauer allmählich abfließen zu lassen. Das entspricht der oben genannten Realisierungsarbeit. Sie wird beispielsweise wie folgt als Einladungshorizont angeboten:
•»Ich biete Ihnen an, an Ihrem Leben mit der schmerzlichen Abwesenheit Ihres verstorbenen Mannes und am Zulassen der Trauer zu arbeiten, sodass Ihr Schmerz und Ihre Trauer allmählich sich wandeln und dann auch gehen können.«
Als dritter Einladungshorizont wird dem Trauernden angeboten, eine innere Beziehung zum Verstorbenen zu finden und sie entsprechend den eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu leben. Dabei wird betont, dass sich der Trauernde eigentlich eine Realbeziehung zum Verstorbenen wünscht, der gegenüber eine »nur« innere, imaginative Beziehung nicht der eigentlichen Sehnsucht entspricht. Oft umfasst diese Beziehungsarbeit auch die Klärungsarbeit an einer Störung in der Beziehung zum Verstorbenen. In dem Fallbeispiel »Der auf den Sohn wütende Vater« lautet das Vertragsangebot wie folgt:
•»Wir werden zunächst an Ihrer Wut auf Ihren Sohn arbeiten, sodass zwischen Ihnen eine gute und nahe innere Beziehung entstehen kann. Sind Sie mit diesem ersten Ziel einverstanden?«
Schließlich wird – als vierter Einladungshorizont – angeboten, das Leben nach dem Verlust wieder zu einem eigenen, gelingenden Leben werden zu lassen. Dabei wird betont, dass das Leben nach dem Tod des geliebten Menschen ein anderes Leben bleiben wird, zu dem die bleibende Abwesenheit des Verstorbenen und die innere Beziehung zum verstorbenen Menschen als integraler Bestandteil gehören. In der akuten Verlustsituation wird dieses vierte Vertragsziel als zurzeit noch nicht vorstellbar in Aussicht gestellt. So lautet das Angebot dieses Einladungshorizontes zum Beispiel:
•»Auch wenn das noch zu früh ist, möchte ich dennoch andeuten, dass ich später mit Ihnen gerne daran arbeiten möchte, wie das Leben nach dem Tod Ihres Sohnes für Sie auch wieder schön werden kann. Dies ist im Moment sicher kaum vorstellbar, dennoch möchte ich Ihnen dieses Ziel zumindest in Aussicht stellen.«
Diese Vereinbarungen mit Trauernden werden nicht als exakt definierte Ziele, sondern als Einladungshorizonte verstanden, in die hinein die Trauernden auf ihrem Trauer- und Beziehungsweg eingeladen werden. Dabei bleibt es in der Verantwortung der Trauernden, ob und wie weit sie sich zu den genannten Zielhorizonten begleiten lassen wollen. Die genaue Formulierung der genannten Einladungshorizonte ergibt sich jeweils aus der konkreten Verlust- und Beziehungssituation und wird, daraus abgeleitet, von der Beraterin den Trauernden aktiv angeboten und zur Prüfung vorgelegt. Die Beraterin braucht für die Arbeit an den vier Einladungshorizonten immer auch eine nonverbal kongruente Zustimmung von der Klientin.
Bei von den Betroffenen als schwer erlebten Verlusten gibt es wie bei anderen Traumatisierungen massive dissoziative Prozesse. Sie wurden von der bisherigen Trauerpsychologie in ihrer Bedeutung für den Trauerprozess unterschätzt. Mit den Erkenntnissen der Traumapsychologie wird deutlich, dass die bei schweren Verlusten stattfindenden Dissoziationen eine wesentliche Rolle spielen:
•Derealisation: Trauernde erleben den Verlust nicht als real. Sie fühlen sich wie in einem falschen Film, der unwirklich erscheint.
•Depersonalisation: Trauernde erleben sich als neben sich stehend und haben keinen Kontakt zu sich. Trauernde erfahren sich als von sich abgespalten.
•Betäubung: Die Trauernden sind wie betäubt und gefühllos in einem dumpfen Zustand. Zeitweise empfinden sie auch keinen Verlustschmerz.
•Modus des Funktionierens: Trauernde funktionieren automatisiert in ihren eingeschliffenen Verhaltensmustern und erledigen vielfältige Aufgaben nach dem Tod des Angehörigen.
Diese und andere dissoziativen Phänomene sind als neurobiologische Schutzmechanismen zu verstehen. Sie werden den Klienten gegenüber als solche gewürdigt und erklärt. Erst wenn die Stabilisierungsarbeit die Klienten darin unterstützt, sich zunehmend mit der Realität des Verlustes auseinanderzusetzen, kann sich die Dissoziation über das Zulassen von Schmerz und Trauer einerseits, von Liebe und Nähe andererseits allmählich lösen.
Deshalb ist ähnlich wie in der Traumatherapie auch in der Trauerbegleitung die Stabilisierungsarbeit eine wichtige Phase:
•Stabilisierende Haltung der Berater oder Therapeuten: In der Trauerbegleitung muss eine stabilisierende, strukturierende und unterstützende Haltung vonseiten der Trauerbegleiter gewährleistet sein.
•Stabilisierung des psychosozialen Umfeldes: Es muss mit den Betroffenen geklärt werden, wer im Umfeld die Trauernden im Alltag stützend begleiten kann.
•Stabile Rituale: Trauernde werden angeleitet, zunächst wieder Alltagsrituale wie den täglichen Einkauf aufzunehmen. Hilfreich sind auch Rituale, durch die wie beim Grabbesuch etwas für die Beziehung zum Verstorbenen getan werden kann.
•Sicherer Trauer- und Beziehungsort: Mit den Trauernden wird besprochen, wie sie sich zu Hause einen geschützten Trauerund Beziehungsort wie beispielsweise in einem großen Sessel einrichten können. Dabei ist wichtig, dass an diesem Ort auch das innere Gespräch mit dem Verstorbenen und seiner Präsenz möglich ist, zum Beispiel durch das Entzünden einer Kerze für ihn. So stellt der sichere Trauerort immer auch einen Beziehungsort im Blick auf den Verstorbenen dar.
Die Stabilisierungsarbeit ist auch deshalb nötig, weil bei schweren Verlusten neben der Dissoziation zwei weitere Prozesse eine wichtige Rolle spielen:
•Wunsch des Nachsterbens: Dieser Wunsch ist bei schweren Verlusten ganz normal und wird als Ausdruck der Sehnsucht nach dem Verstorbenen gewürdigt.
•Frage des Weiterlebens: Häufig erscheint nach einem schweren Verlust das Leben als sinnlos, sodass das Weiterleben infrage gestellt wird. Die zunächst erlebte Sinnlosigkeit des Lebens ohne den Verstorbenen wird gewürdigt als Ausdruck seiner bisherigen Bedeutung und Wichtigkeit.
In der Regel lösen sich der Wunsch des Nachsterbens und die Frage des Weiterlebens durch die Stabilisierungsarbeit allmählich, wenn zugleich mit den Trauernden daran gearbeitet wird, wie sie hier in diesem Leben etwas für den Verstorbenen, zum Beispiel ihn in Erinnerung zu halten, tun können. Auch das Wahrnehmen wichtiger Bindungen zu anderen Angehörigen hilft Trauernden, das Leben in kleinen Schritten fortzusetzen und so allmählich ins Leben zurückzufinden. Die Stabilisierungsarbeit wird so zu einer Einladung an die Trauernden, das Leben bewusst weiterzuleben und weiterzuführen.
Fallbeispiel: Meine Tochter ist wirklich tot
Eine 21-jährige junge Frau wird von einem schweren Lkw überfahren. Das Gesicht bleibt unversehrt, der Brustkorb und der Bauchbereich dagegen werden massiv verletzt.
Die Mutter der Verunglückten ist Krankenschwester. Sie besteht gegen den gut gemeinten Rat von fast allen Außenstehenden darauf, den Leichnam ihrer Tochter zu waschen und für die Bestattung anzuziehen. Ihr Mann ist nach einem ersten Zögern bereit, sie dabei zu begleiten. Beide fühlen sich dabei ihrer Tochter sehr nahe, zugleich realisieren sie, dass ihre Tochter tatsächlich verstorben ist. Die Mutter sagt: »Ich musste mit eigenen Augen sehen, dass dieser Körper nicht mehr leben konnte.«
An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass die Realisierungsarbeit eine zentrale Traueraufgabe in der Trauerarbeit ist, die der Verlust den Trauernden aufzwingt.
Die Realisierungsarbeit beginnt mit der Konfrontation mit dem Sterben und mit dem Tod des Angehörigen, mit dem Gang zum Sarg und zu dem aufgebahrten Verstorbenen, geht weiter mit der Bestattung und schließlich mit der dauerhaft täglich erlebten Abwesenheit des Verstorbenen im Alltag. Die behutsame und immer wieder neue notwendige Konfrontation mit der Realität der äußeren Abwesenheit des Verstorbenen ist Zentrum der Realisierungsarbeit. Die daraus resultierenden Gefühle des Schmerzes, der Trauer, der Ohnmacht und der Verzweiflung müssen in der Trauerbegleitung von den Beratern oder Therapeuten erlaubt, erklärt und gut gehalten werden.
Beachte!