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Trauer und Verlust gehören zu jeder Biografie, und so verwundert es nicht, dass beides auch im Verlauf vieler Therapien zum Thema wird. Vom herkömmlichen Ziel in der Trauerarbeit, einen Verstorbenen loszulassen, fühlen sich viele Betroffene jedoch nicht verstanden und unterstützt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass der Trauerprozess ein zirkulärer, selbstbezüglicher und dynamischer Selbstorganisationsprozess ist. Trauernde pendeln zwischen dem Realisieren des Verlusts und der tiefen Sehnsucht, eine neue innere Beziehung zum Verstorbenen zu finden. Trauerarbeit kann deshalb als kreative Beziehungsarbeit verstanden und als solche therapeutisch genutzt werden. Roland Kachler stellt erstmals die systemischen, hypnotherapeutischen und hypnosystemischen Hintergründe und Vorgehensweisen dieses neuen Traueransatzes dar. Die vorgestellten Interventionen können unmittelbar für die Arbeit in der Trauerbegleitung angewandt werden. Zahlreiche Fallbeispiele illustrieren die Umsetzung sowohl in der akuten Trauerbegleitung als auch in der Psychotherapie
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Seitenzahl: 345
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Roland Kachler
Ein Leitfaden für die Praxis
Sechste Auflage, 2022
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer ✝ (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«
hrsg. von Bernhard Trenkle
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlagfoto: © Ottefoto – photocase
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Sechste Auflage, 2022
ISBN 978-3-89670-742-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8414-0 (ePUB)
© 2010, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Vorwort von Gunther Schmidt
Vorwort
1. Schwere und schwerste Verlusterfahrungen – eine Herausforderung für die Trauerbegleitung und Psychotherapie
1.1 Schwere und schwerste Verluste – eine bisher ungelöste Herausforderung für die Psychotherapie
1.2 Der Trauerprozess als komplexer individueller Verarbeitungsprozess
1.3 Intensive Trauerreaktionen und komplizierte Trauerverläufe
1.4 Trauerarbeit zwischen Trauerbegleitung und Trauerpsychotherapie
1.5 Hypnosystemische Trauerarbeit – Warum ein neuer Ansatz?
2. Neuere Ansätze in der Trauerpsychologie und die Grundlegung einer neuen hypnosystemischen Trauerpsychologie
2.1 Das libidotheoretische Verständnis der Trauerpsychologie – Trauer als Loslass- und Abschiedsemotion im Prozess der »Trauerarbeit«
2.2 Neuere beziehungsorientierte Ansätze in der Trauerpsychologie
2.3 Neuere systemisch-konstruktivistische Ansätze in der Trauerpsychologie
2.4 Ein neuer, hypnosystemischer Ansatz in der Trauerarbeit
3. Trauer als Trance- und Beziehungserfahrung – Hypnotherapeutische und systemische Grundlagen einer hypnosystemisch verstandenen Trauerarbeit
3.1 Trauer als Tranceerfahrung – Hypnotherapeutische Grundlagen der Trauerarbeit
3.2 Trauer als Beziehungsressource – Systemische Grundlagen der Trauerarbeit
3.3 Die Konstruktion einer internalen, lösungsorientierten Beziehungsrealität – Ein hypnosystemisches Verständnis der Trauer
4. Hypnosystemische Trauerbegleitung zwischen Realisierungsarbeit und Beziehungsarbeit
4.1 Trauerreaktion als Lösungsversuch angesichts einer unlösbaren Situation
4.2 Hypnosystemische Trauerbegleitung zwischen der Realisierung der äußeren Abwesenheit und der inneren Anwesenheit des Verstorbenen
5. Trauerarbeit als Stabilisierungs- und Ressourcenarbeit
5.1 Stabilisierung in der Trauerbegleitung
5.2 Ressourcenarbeit in der Trauerbegleitung
5.3 Äußere sichere, haltende Orte
5.4 Innerer sicherer, haltender Ort
5.5 Rituale als sichere Struktur im Trauerprozess
6. Trauerarbeit als schmerzliche Realisierungsarbeit
6.1 Realisierungsarbeit als schmerzlicher und notwendiger Teil der Trauerarbeit
6.2 Die Arbeit mit dem akuten Verlustschmerz
6.3 Die Arbeit an und mit den Trauergefühlen
6.4 Die Arbeit an der Beziehungsdimension der Trauergefühle
6.5 Arbeit mit nicht gewollter oder nicht gelingender Realisierung
6.6 Zusammenfassung und Ausblick
7. Trauerarbeit als kreative Beziehungsarbeit
7.1 Die Aktivierung und Utilisierung der Beziehungsemotionen
7.2 Die Reetablierung einer sicheren inneren Bindung
7.3 Reinternalisierende Erinnerungsarbeit
7.4 Zusammenfassung und Ausblick
8. Trauerarbeit als Suche nach dem sicheren Ort den Verstorbenen
8.1 Der sichere Ort für den Verstorbenen – ein Grundkonzept für die hypnosystemische Trauerarbeit
8.2 Die Bedeutung des sicheren Ortes – Dortlassen statt »Loslassen«
8.3 Die hypnosystemische Arbeit an und mit den verschiedenen sicheren Orten
9. Trauerarbeit als Gestaltung der Beziehung zum Verstorbenen
9.1 Die Beziehung zum Verstorbenen leben lernen – Die Integration der Beziehung zum Verstorbenen in das Leben nach dem Verlust
9.2 Ego-State-Prozesse
9.3 Internale Klärungsarbeit an den Beziehungsstörungen
10. Trauerarbeit als Transformation der Trauer und als Abschied von der Trauer
10.1 Veränderungsprozesse in Bezug auf Trauergefühle
10.2 Günstige Bedingungen für die Veränderung der Trauergefühle
10.3 Die Transformation der Trauergefühle begleiten
10.4 Den Abschiedsprozess bezüglich der Trauergefühle gestalten
10.5 Trauerbegleitung bei einem Verharren in den Trauergefühlen
11. Trauerarbeit als Arbeit an einem Leben nach dem Verlust
11.1 Die Transformation der inneren Beziehung zum Verstorbenen
11.2 Die Arbeit an einer bezogenen Individuation in der inneren Beziehung
11.3 Die Veränderung des Trauernden – Verlusterfahrung als Chance und Risiko
11.4 Das Leben nach dem Verlust neu gestalten
Literatur
Über den Autor
Aus dem Titel dieses Buches könnte man ableiten, dass es in ihm vor allem um Trauer und den Umgang mit dem Tod geht. Für mich stellt es dagegen vielmehr einen sehr bereichernden Schatz für erfüllende, liebevolle Beziehungsgestaltung und Halt gebende Sinnentwicklung dar, der zur Entfaltung großer, stimmiger Lebenskraft führt.
Ich bin sehr froh, dass dieses Buch endlich erscheint, es ist aus meiner Sicht längst überfällig und stellt einen echten Meilenstein dar – als Anregung und Hilfe für Therapeuten und andere Angehörige helfender Berufe, aber auch für jeden Menschen, ob gerade direkt betroffen oder noch nicht (denn irgendwann wird ja wohl jeder Mensch einmal oder mehrmals direkt von dieser Thematik betroffen sein).
Es freut mich natürlich auch sehr, dass Roland Kachler den hypnosystemischen Ansatz, den ich vor allem auf der Basis der wichtigen Lernerfahrungen bei meinen Lehrern Helm Stierlin und Milton Erickson entwickelt habe, als zentrale Basis seines Trauerbegleitungskonzepts gewählt hat. Und ich empfinde es als Ehre, dieses Vorwort dafür schreiben zu können.
Gleichzeitig erscheint es mir auch völlig natürlich und geradezu selbstverständlich, dass er diese Wahl so getroffen hat. Denn aus hypnosystemischer Sicht stellt es sich als Hauptaufgabe dar, unwillkürliche Erlebnisprozesse – bewusste und unbewusste – in optimaler Weise als Kraftquellen für hilfreiche Lebensentwicklungen zu nutzen (zu utilisieren) und sie in fruchtbare Synergie mit den bewusst-willentlichen Prozessen von Menschen zu bringen.
Wenn jemand Leid erfährt, lässt sich das jenseits aller inhaltlichen Aspekte bei der Organisationsdynamik des Erlebens immer so beschreiben, dass bewusst-willentliche Prozesse in eine bestimmte Erlebnisrichtung wollen, unwillkürliche Prozesse aber in andere, ungewünschte Richtungen wirken. Dabei verliert das verzweifelt um seine Richtung kämpfende bewusste »Ich« gegen diese unwillkürlichen Prozesse und erlebt sich als ohnmächtiges Opfer, was das leidvolle Erleben wiederum rückbezüglich verstärkt. Gerade Trauerprozesse sind völlig unwillkürlich gesteuert und unterliegen damit eben nicht unmittelbar der bewussten, willentlichen Steuerung.
Die Idee, das Verlorene endlich loszulassen, »abzuschließen« mit dem Trauern, und ähnliche Vorstellungen, wie sie die traditionelle »Trauerarbeit« dominieren, entspringt zwar sicher gut gemeinten Überlegungen. Sie sind abgeleitet aus der Ebene der Großhirnrindendynamik, sie sind »vernünftig«, aber unwillkürliche Prozesse werden maßgeblich aus älteren Teilen des Gehirns gesteuert, und die vollziehen sich nach anderen Prinzipien. Im Bereich der limbischen und anderen Stamm- und Mittelhirnprozesse, die dabei dominieren, gibt es keine Widersprüche, kein Entweder-oder, dort herrscht quasi Zeitlosigkeit bzw. immer Gegenwart, und insofern gibt es dort auch eigentlich keinen Tod, der feststeht. Deshalb liegt für diese Bereiche, die ja gerade für die Entstehung und Gestaltung von Emotionen zuständig sind, auch kein Sinn darin, endgültig mit etwas abzuschließen. In der Trauer zeigt sich vielmehr auch die enorm starke Sehnsucht, in Verbindung zu bleiben. Und diese Sehnsucht halte ich für ein ausgesprochen kluges und berechtigtes Bedürfnis. Wenn jemand solche Prozesse in sich erlebt und sich dann abverlangt, davon loszulassen und damit abzuschließen, wird nur das Gegenteil verstärkt.
Milton Erickson hat einmal zu mir gesagt: »Wenn du etwas Unwillkürliches verstärken willst, musst du es nur bekämpfen, das ist ein besonders wirksames Mittel dafür, es zu verstärken.« In unzähligen Fällen habe ich es schon erleben müssen, dass sich diese Hypothese Ericksons leider vollständig bestätigt. Fast alle Menschen, die z. B. unter massiven Ängsten, Zwängen, Depressionen, Schmerzproblemen, insbesondere aber unter Trauerprozessen leiden und damit zu uns kommen, haben verzweifelt versucht, gegen diese Phänomene eine hilfreiche Lösung zu erkämpfen, und sind daran gescheitert. Denn wenn man etwas Unwillkürliches bekämpfen oder gegen die Richtung, die es einschlagen möchte, vorgehen will, verstärkt sich vor allem die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf allen Sinnesebenen genau auf diese Prozesse. Erlebnisprozesse werden aber erzeugt und aufrechterhalten gerade durch Fokussierung der Aufmerksamkeit (man bezeichnet das als Priming, d. h. als Bahnung von Assoziationsprozessen). Der Kampf dagegen führt ihnen umso mehr Energie zu – jeder kennt das von Phänomenen wie »Denk nicht an den blauen Elefanten!« –, und indem er das innere Hin-und-Her-gerissen-Sein intensiviert, verstärkt er das Leid.
Besonders tragisch wirken solche Lösungsversuche auch dadurch, dass die »Seite« in den betroffenen Menschen, die trauert, damit ja ausdrückt, dass sie sehr unter dem Verlust leidet, den sie hinnehmen muss. Sie ist also die Seite im System, die gerade am meisten Verzicht leisten und Schmerz aushalten muss. Wenn sie jetzt auch noch unter Druck gerät und aufhören soll, die Prozesse leben zu dürfen, die ihr für die Umstände am adäquatesten erscheinen, wird sie doppelt bestraft und gequält. Dazu kommt, dass sie vom bewussten Denken der betroffenen Person selbst wie auch von ihrem Umfeld meistens massiv abgewertet und oft auch noch pathologisiert wird. Sehr oft entwickeln Betroffene Schuldgefühle, weil sie nicht »loslassen« können.
Wird Trauer in erster Linie einseitig als Loslass- und Abschiedsemotion verstanden, wird sie schnell zu einer »Negativemotion«. Es wird dann nur noch schwer oder gar nicht sichtbar, dass sie – wie alle Gefühle – in vieler Hinsicht eine kreative Kraft besitzt.
Roland Kachler ist es mit diesem Buch hervorragend gelungen, die wertvollen Aspekte von Trauer nicht nur besser sichtbar, sondern vor allem auch sehr konstruktiv nutzbar werden zu lassen. Überzeugend kann er vermitteln, dass Trauer als Beziehungskompetenz zu würdigen ist.
In meiner Arbeit habe ich auch oft erlebt, dass Menschen erst Jahre nach einem Verlust zum ersten Mal bewusst Trauerreaktionen bei sich wahrnehmen und dies dann als fragwürdig oder gar pathologisch bewerten. Bei systematischer Betrachtung ihrer unwillkürlichen Prozesse lässt sich aber oft sehr schnell zeigen, dass dies eher als Ausdruck unbewusster, unwillkürlicher Kompetenz verstanden werden kann. Auf unwillkürlicher Ebene wird dabei offenbar eigenständig wirksam geregelt, dass Trauer erst wieder auftaucht, wenn jemand so weit ist, einen Verlust gut verarbeiten zu können. Offenbar haben Menschen eine intuitive kluge Wahrnehmungsfähigkeit für das richtige Timing, die natürlich dann besonders konstruktiv nutzbar ist, wenn sie entsprechend bewertet wird.
In unserer postmodernen Leistungsgesellschaft scheinen alle Phänomene vorrangig nach unmittelbarer Verwertbarkeit und schnell herstellbarer Funktionalität beurteilt zu werden. Dann erscheinen Prozesse wie Trauer oft eher als hinderlich, weil sie vermeintlich dem schnellen »Vorwärtskommen« (wohin eigentlich?) im Wege zu stehen scheinen. Die traditionellen psychologischen Trauertheorien begünstigen eine solche Sicht noch.
Im hypnosystemischen Ansatz ist es dagegen eine zentrale Grundidee (die durch viele Belege bestätigt wurde), dass die hilfreichen Kompetenzen im einzigartigen eigenen System der Beteiligten schon da sind und deshalb der ganze Therapieansatz dem Wiederfinden und Reaktivieren dieser Eigenkompetenz dienen soll. Klienten sollten gerade nicht das tun, was Therapeuten für gut und richtig halten, sondern sie sollten deren Angebote kritisch darauf prüfen, ob sie ihre eigenständigen Entwicklungsprozesse unterstützen. So sind und bleiben die Klienten die eigentlichen kompetenten Autoritäten in einem Therapieprozess.
Die Arbeit von Roland Kachler berücksichtigt das konsequent und unterstützt Betroffene auf ermutigende, Erfüllung gebende und sehr achtungsvolle Weise darin, im Umgang mit der Trauer und mit allen Bedürfnissen, die sich in ihr melden, ihren einzigartigen eigenen Weg zu finden. Er zeigt überzeugend, dass eigentlich erst die Integration der Trauer in die angestrebte Lösung eine gesunde, Kraft gebende Lösung erbringen kann. Man kann sagen: Trauer – so gelebt, wie hier beschrieben – ist ein zentraler Teil einer Lösung. Die wunderschöne und so kreative Idee, Verstorbene z. B. in den inneren Prozess der im Leben Bleibenden als Trauerratgeber einzubeziehen, ist dann eigentlich schon fast wieder zwingend natürlich. Hier findet man nicht nur diese, sondern eine große Fülle weiterer Ideen, die den Utilisationsansatz von Milton Erickson konsequent und sehr hilfreich praktizieren.
Sehr stimmig finde ich auch, in welch eigenständiger Weise Roland Kachler das von mir vorgeschlagene Modell für den kompetenzstärkenden Umgang mit Restriktionen für den Bereich der Trauerarbeit umsetzt (und der Verlust eines Menschen ist eine solche, sehr schmerzliche Restriktion). Meisterhaft zeigt er auch, wie man den bereits angesprochen Umstand nutzen kann, dass es im Unbewussten keine logischen Widersprüche gibt wie in der kognitiven Logik. So kann es sich z. B. sehr konstruktiv auswirken, darauf zu fokussieren, dass ein Sowohl-als-auch gut möglich ist und dass die äußere Abwesenheit eines geliebten Menschen (z. B. durch seinen Tod) und seine kraftvolle innere Anwesenheit sehr gut miteinander vereinbar sind.
Trauer betrifft jeden, mal früher, mal später im Leben. Sie zum gewürdigten Teil des eigenen Lebens zu gestalten macht jemanden erst ganz menschlich. Und ich kenne keine Arbeit im gesamten Feld der Psychotherapie, die das so tiefgehend und kongruent ermöglicht wie die Konzepte von Roland Kachler. Sie erlauben es, Trauer als wertvollen Aspekt gelebter Liebe und Beziehungsfähigkeit zu würdigen und zu nutzen. Dann trägt sie zu tröstender Sinnstiftung, Erfüllung, ja auch zu intensiver Lebensenergie bei.
Roland Kachlers Arbeit ist selbst in sehr kongruenter Weise getragen von Liebe. Man merkt in fast jeder Zeile, dass sie nicht nur Theorie ist, sondern von ihm selbst überzeugend gelebtes (und oft genug sicher auch erlittenes) Leben widerspiegelt. Er weist damit auf etwas für diese Arbeit sehr Wichtiges hin, nämlich dass Therapeuten und Berater erst dann ganz stimmig mit Betroffenen arbeiten können, wenn sie sich selbst kongruent und in der hier beschriebenen Form mit eigenen Trauerprozessen auseinandergesetzt haben.
Die Auffassungen, die Roland Kachler hier aufgegriffen und so ausgezeichnet ausgearbeitet hat, vertrete ich in ihren Grundzügen seit vielen Jahren als Teil meiner hypnosystemischen Konzepte und praktiziere sie in meiner psychotherapeutischen Arbeit (übrigens auch in Coachings und Prozessen der Team- und Organisationsentwicklung, denn auch dort lassen sich nicht selten Trauerprozesse finden, wenn sie auch eher zunächst tabuisiert werden). Wie ich mit großer Freude und mit großem Respekt feststelle, hat Roland Kachler sie in bewundernswerter Weise eigenständig, sehr kreativ und in viel differenzierterer Form weiterentwickelt. Deshalb nutze ich seine Ideen seit Jahren nicht nur ambulant, sondern wir wenden sie bei Bedarf auch in der SysTelios-Klinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung in Siedelsbrunn systematisch immer wieder an. Und es ist oft sehr bewegend, wie bereichernd sich das für Klienten auswirkt und mit welcher Würde, Achtung und Erfülltheit sie diese Konzepte für sich kontinuierlich umsetzen. Wir erhalten dann oft sehr dankbare Rückmeldungen, die eigentlich Roland Kachler gebühren.
Vor einigen Monaten fand in Zürich zum ersten Mal ein internationaler Kongress statt, der speziell hypnosystemischen Konzepten gewidmet war. Es wurden dort sehr viele wichtige Themen berücksichtigt – das Thema »Trauer« allerdings war nicht dabei. Ich finde, dass es überfällig ist, sich mit diesem Thema zu befassen, und hoffe, dieses Buch wird dazu beitragen, dass der Aufgabe einer wirksamen und kompetenzfokussierenden Trauerbegleitung in Zukunft wesentlich mehr Raum und Beachtung geschenkt werden.
Heidelberg, im Juli 2010
Dr. Gunther Schmidt
Ärztlicher Direktor der SysTelios-Klinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung, Siedelsbrunn und Leiter des Milton-Erickson-Instituts, Heidelberg
Der Tod meines Sohnes Simon hat mich gezwungen, mich als Trauernder, als Psychologe und Psychotherapeut mit der Trauer ganz neu und intensiv auseinanderzusetzen. Ich habe sehr rasch gespürt, dass die gängige, psychoanalytisch geprägte Theorie der Trauer für mich wenig hilfreich war. Im Gegenteil: Das vielfach propagierte »Loslassen« löste in mir zuerst Widerstand, dann Wut und Ärger aus. Natürlich habe ich schmerzlich erfahren, dass ich meinen Sohn im Äußeren verabschieden musste. Natürlich habe ich begriffen, dass mein Sohn nicht mehr kommen wird. Und natürlich hat mich dies meine Trauer schmerzlich gelehrt. Doch ich habe auch erlebt, dass ich in der Trauer meinem Sohn sehr nahe war. Und ich habe im Trauerprozess nicht nur schmerzliche Gefühle, sondern überwältigende Gefühle der Nähe und Liebe zu meinem Sohn gespürt. Sie zeigten mir, dass ich ihn in meinem Inneren nicht verlieren oder vergessen will. Und so stellten sich bald ganz neue Fragen: Wie kann ich meine Liebe zu meinem Sohn weiterleben? Wie kann ich ihn in meinem Inneren als geliebtes Gegenüber bewahren? Wie kann ich eine – nun freilich andere – innere Beziehung zu ihm leben? Wie kann ich sie in ein Leben nach dem Verlust so integrieren, dass es wieder mein Leben wird – ein Leben, in dem es auch wieder Freude und Glück geben darf?
Ich fand in zahlreichen Trauerbüchern keine Antworten auf diese Fragen. Zudem musste ich beschämt feststellen, dass ich in vielen Trauerbegleitungen und psychotherapeutischen Prozessen meinen Klienten auch – oft gegen ihren Widerstand – zum Loslassen geraten und sie in ihrem Wunsch nach einer weiter gehenden inneren Beziehung nicht unterstützt habe. Erst durch meine eigene Erfahrung wurde mir klar, dass der »Widerstand« von Trauernden als Rückmeldung an einen – zumindest – einseitigen Traueransatz zu verstehen ist und er deshalb nicht nur zu revidieren, sondern an seiner Stelle ein neues Verständnis der Trauer und Trauerarbeit zu entwickeln ist.
Deshalb habe ich mich nicht nur auf meinen eigenen Weg der Trauer eingelassen, sondern als Psychologe und Psychotherapeut nach einem veränderten, auch theoretisch neu fundierten Verständnis der Trauer gesucht. Hier waren zuerst die systemischen, lösungsorientierten und hypnotherapeutischen Ansätze, dann ihre Integration im hypnosystemischen Ansatz von Gunther Schmidt hilfreich. Aber auch die Traumatherapie, die Ergebnisse der Hirnforschung und Neurobiologie, die Einsichten der Bindungstheorie und die aktuelle, empirisch fundierte Trauerforschung in den USA waren hier für mein neues Verständnis der Trauerprozesse weiterführend. Ich habe dann diesen Ansatz zunächst in Büchern für betroffene Trauernde und in einem Kinderbuch für trauernde Kinder dargestellt. Diese Bücher haben eine überwältigende Resonanz gefunden.
Das vorliegende Buch richtet sich nun an alle, die in der Trauerbegleitung mit meist schweren und schwersten Verlusterfahrungen von Angehörigen oder in der Psychotherapie mit – oft weit zurückliegenden – Verlusterlebnissen von Patienten arbeiten. In dem hier vorgestellten Traueransatz wird die Trauerarbeit hypnosystemisch als kreative Beziehungsarbeit verstanden. Trauernde werden eingeladen, die schmerzliche Abwesenheit des verstorbenen geliebten Menschen zu realisieren und eine innere weitergehende Beziehung zu ihm zu finden und zu gestalten. Der Trauerprozess wird dabei als ein komplexer und dynamischer, aber auch prekärer Selbstorganisationsprozess gesehen, der angesichts einer unlösbaren Situation nach einer Lösung sucht. Hypnosystemische Trauerbegleitung unterstützt diesen – auch neurobiologisch angelegten – Lösungsprozess der Trauernden.
Dabei werden die Trauer, die Beziehungsgefühle zum Verstorbenen und der Ego-State des geliebten Menschen als Ressourcen zu hilfreichen Prozessbegleitern. Trauernde werden durch Imaginationen unterstützt, einen sicheren Ort für den Verstorbenen zu finden. Dorthin können sie den Verstorbenen freilassen, ohne ihn zu verlieren. So kann eine innere Beziehung zum geliebten Menschen weitergelebt und in das Leben nach dem Verlust auf gute Weise integriert werden.
In diesem Buch werden die systemischen, hypnotherapeutischen und hypnosystemischen Hintergründe des neuen Traueransatzes dargestellt und aktuelle Ergebnisse der empirischen Trauerforschung in den USA, der Hirnforschung und der Neurobiologie integriert. In den Kapiteln 1–3 werden die theoretischen Grundlagen des hypnosystemischen Ansatzes aufgezeigt. Die Kapitel 4–11 führen Trauerbegleiter und Trauerbegleiterinnen, Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen und andere, die mit Trauernden arbeiten, Schritt für Schritt durch den Trauerprozess als einen aktiven und kreativen Beziehungsprozess. Vielfältige Übungen, Rituale und Imaginationen können unmittelbar für die Arbeit in der Trauerbegleitung und Psychotherapie genutzt werden.
Am Entstehen dieses Buches waren verschiedene Menschen beteiligt. Zwei Kollegen bin ich dabei zu besonderen Dank verpflicht, nicht nur, weil sie mich in meiner Arbeit, sondern weil sie mich indirekt, wohl ohne es zu wissen, in meiner Trauer begleitet haben.
Bernhard Trenkle hat mich in meiner ersten Trauerzeit nicht nur unterstützt, meinen »hypnotherapeutischen« Kriminalroman Traummord im Carl-Auer Verlag zu veröffentlichen, sondern immer wieder ermutigt, das nun hier vorliegende Buch zu verfassen. Gunther Schmidt hat mir mit seinem hypnosystemischen Ansatz geholfen, meine selbst erfahrenen Trauerprozesse besser zu verstehen und dann auch als hypnosystemischen Traueransatz zu formulieren. Er hat meinen neuen Traueransatz begeistert aufgegriffen und ihn unter Fachkollegen bekannt gemacht. Gunther Schmidt hat mir auch die Gelegenheit gegeben, diesen hypnosystemischen Traueransatz auf Kongressen und in Seminaren an seinem Institut in Heidelberg den Fachkollegen näher vorzustellen. Ich habe dabei durchweg Anerkennung, Ermutigung, Unterstützung und viele fachliche Anregungen erhalten, die in meinen Ansatz bereichernd eingeflossen sind.
Doch ohne meine Familie wäre ich gar nicht so weit gekommen, einen neuen Traueransatz zu entwickeln. Sie hat mir geholfen, mit meinem und unserem schweren Verlust zu leben. Meine Frau hat mir die Freiräume geschenkt, nicht nur meine Trauer als meine Trauer zu leben, sondern der intensiven Arbeit an dem neuen Traueransatz und an diesem Buch nachzugehen. Dafür bin ich zutiefst dankbar.
Ich hoffe, dass dieses Buch über die Arbeit von Trauerbegleitern und Psychotherapeuten vielen Trauernden helfen kann, nicht nur ihren Schmerz und ihre Trauer zu lösen, sondern eine sichere und freie, eine verbundene und leichte Beziehung zu ihrem verstorbenen geliebten Menschen zu leben und diese Beziehung in ein wieder gelingendes Leben zu integrieren. Auch wenn der Tod meines Sohnes für sich genommen für mich sinnlos bleibt, so könnte ein eigener Sinn doch darin liegen, dass andere Trauernde mit diesem Ansatz neue Perspektiven und offene Horizonte für das Leben nach dem Verlust erhalten.
Roland Kachler
Januar 2010
Fallvignette
Eine Mutter verliert ihren 22-jährigen Sohn bei dessen Studienaufenthalt in Afrika durch einen Autounfall. Unklsare telefonische Nachrichten, ob ihr Sohn tatsächlich bei einem Unfall umgekommen ist, lassen sie fast zwei Tage in traumatischer Ungewissheit. Dann dauert es zwei Wochen, bis der Leichnam ihres Sohnes in Deutschland eintrifft. Der Verwesungsprozess ist so weit fortgeschritten, dass sie ihren Sohn nicht mehr sehen kann. Der Bestatter ermöglicht es ihr, gegen die Vorschriften, wenigstens die Hand ihres Sohnes zu sehen und zu berühren. Im ersten Gespräch acht Wochen nach der Beerdigung sagt sie, dass sie nicht mehr wisse, wie sie das alles überlebt habe. Sie wisse auch nicht, wie sie ohne ihren Sohn weiterleben solle. Für sie waren ihr Sohn und die Beziehung zu ihm sehr wichtig. Er glich ihr in vielem, und sie war stolz darauf, dass er – anders als sie – studierte. Immer wieder zweifelt sie in den Trauergesprächen, ob diese ihr helfen können. Erst als sie versteht, dass sie in unseren Gesprächen auch lernen kann, eine innere Beziehung zu ihrem Sohn zu finden, lässt sie sich auf den Prozess der Trauerbegleitung ein.
Der hypnosystemische Ansatz, wie er hier entwickelt und Ihnen als Leserin und Leser vorgestellt wird, beschreibt die psychischen Phänomene und Prozesse, die allgemein bei Verlusten zu beobachten sind. Seine besondere Wirksamkeit entfaltet dieser neue Ansatz bei schweren und schwersten Verlusterfahrungen, bei denen die Betroffenen zunehmend Begleitung und Hilfe aufsuchen.
Jeder Verlust und Todesfall eines geliebten Menschen wird subjektiv sehr unterschiedlich erlebt und individuell sehr unterschiedlich verarbeitet. Das hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Länge und Intensität der bisherigen Beziehung zum Verstorbenen, von der Todesart, von der Persönlichkeit der Trauernden und ihren bisherigen Verlusterfahrungen.
Bei allen individuellen Unterschieden kann man davon ausgehen, dass folgende Verluste und Verlustsituationen in der Regel als sehr massiv und schwer erlebt werden:
Unerwarteter Verlust zur Unzeit, wie zum Beispiel der plötzliche Herztod des 40-jährigen Partners.
Traumatische Umstände beim Tode des geliebten Menschen, insbesondere entstellende Unfälle, Tod durch Gewalt u. a.
Verlust eines Menschen bei sogenannten Großschadensereignissen.
Das unmittelbare Miterleben des Todes eines nahen Menschen unter dramatischen Umständen.
Traumatische Umstände bei der Überbringung der Todesnachricht, z. B. werden die Eltern von der Polizei, die mit Blaulicht vor dem Haus steht, aus dem Schlaf gerissen.
Verlust durch einen Suizid.
Mehrere schwere Verluste im Laufe einer Biografie, z. B. verliert eine junge Frau nach dem Tod ihres Bruders in der Kindheit nun als Erwachsene ihre Schwester und ein Jahr später ihren Partner.
Uneindeutige Verluste, bei denen der Leichnam des Verstorbenen zerstört ist oder nicht gefunden werden kann.
Verlust eines Menschen, für dessen Tod die Hinterbliebenen mitverantwortlich sind oder sich am Tod mitschuldig fühlen.
Tabuisierte Verluste, zu denen sich Hinterbliebene nicht öffentlich bekennen können wie beim Tod einer Geliebten.
Des Weiteren werden in der Regel als sehr schwer erlebt:
Der Verlust eines Menschen, mit dem die Trauernden in intensiver emotionaler Beziehung lebten; hier auch ambivalente, ausbeutende oder missbrauchende Beziehungen des Verstorbenen zum Hinterbliebenen.
Der Verlust eines Kindes jedweden Alters.
Der Verlust eines Geschwisters, besonders im Kindes- und Jugendlichenalter der zurückbleibenden Geschwister.
Der Verlust eines Elternteils oder beider Eltern im Kindes- und Jugendlichenalter.
Für die Trauerbegleitung gilt die Grundregel, dass jeder Verlust für den jeweiligen Trauernden subjektiv als sehr schwer erlebt wird und deshalb seine Trauer dieser ganz individuellen Situation angemessen ist. Vergleiche mit anderen Verlusten – oft von Trauernden selbst angeboten – verbieten sich von selbst.
Beachte!
Bei Verlusten, mit denen ein traumatisches Erleben verbunden ist, brauchen Betroffene in der Regel eine Psychotherapie, in der sowohl Trauerarbeit als auch Traumatherapie geleistet werden. Beides muss klar voneinander unterschieden, aber doch eng aufeinander bezogen werden.
Exkurs
Der Trauerprozess als Ausdruck des Menschseins
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Toten bestattet. Zwar erleben auch Säugetiere, insbesondere Primaten, Trauergefühle, aber die Bestattung und die Gestaltung von Erinnerungen an die Verstorbenen sind Ausdruck des Menschseins. Neben der Erfindung und Weiterentwicklung von Werkzeugen kennzeichnet die Bestattung den Beginn der Kultur. Trauerrituale, das Grab, die Grabpflege und Formen der Erinnerung sind eine kulturelle kreative Leistung sowohl der jeweiligen Gesellschaften als auch des Einzelnen in seinem Trauerprozess. Jeder einzelne Trauerprozess ist deshalb ein individueller Nachvollzug der Kulturwerdung des Menschen angesichts des Todes. Damit können wir jede Trauerbewältigung als eigene, besondere Kulturleistung des einzelnen Trauernden verstehen.
Die Grabbeigaben schon bei altsteinzeitlichen Bestattungen zeigen die Fürsorge der Hinterbliebenen für die Verstorbenen. Sehr wahrscheinlich entstand hier auch der Gedanke an ein Weiterexistieren der Toten in einer anderen Wirklichkeit. Dies wiederum ist vermutlich eine der wichtigsten Wurzeln der Idee der Transzendenz und der Religion.
Die ersten Interventionen, die ich Ihnen in diesem Buch vorschlage, beziehen sich auf die Trauerbegleiter selbst.
Wer in der Trauerarbeit tätig ist, sollte für sich klären:
Will und kann ich schlimmste Verlusterfahrungen aushalten und sie zugleich bei den Trauernden als ihre Erfahrung lassen?
Will und kann ich mich auf intensive und intensivste Gefühle einfühlsam einlassen und zugleich gut in meiner eigenen emotionalen Mitte bleiben und mich damit auf eine klare und doch wohlwollende Weise abgrenzen?
Will und kann ich aushalten, dass ich angesichts des Todes zunächst nichts tun kann? Kann ich also mit den eigenen Gefühlen der Machtlosigkeit und Ohnmacht umgehen?
Des Weiteren sollte jeder, der häufiger mit Trauernden arbeitet, im Rahmen einer Eigentherapie oder Selbstreflexion:
seine eigenen Verlusterfahrungen kennen und reflektiert haben
seine eigenen Strategien im Umgang mit Sterben, Tod und Abschied kennen und sie als Ressource oder aber als Restriktion für die Trauerarbeit verstehen
seine eigenen Positionen zu spirituellen und religiösen Fragen im Umkreis von Verlusterfahrungen klären, zum Beispiel die Frage, wie er oder sie zu der Idee eines Lebens nach dem Tod eingestellt ist.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Trauer als Bewältigungsprozess wurde ganz wesentlich vom psychodynamischen und libidotheoretischen Verständnis Sigmund Freuds geprägt. Dies hat zu Phasenmodellen (Parkes 1972; Bowlby 1983; Kast 1977) geführt, die vor allen Dingen die Verläufe auf der emotionalen Ebene beschreiben und deren Ziel in einer Verabschiedung der Verstorbenen liegt.
Demgegenüber kann nicht genug betont werden, dass der Trauerprozess in seiner Intensität, in seinem Verlauf und in seinem Ergebnis:
außerordentlich individuell und für jede Person einzigartig ist
den Trauernden in seinem ganzen psychosomatischen Erleben erfasst
in Extremen zwischen unterschiedlichsten emotionalen Polen wie zum Beispiel Schmerz und Wut verläuft
komplex zusammengesetzt ist
in selbstbezüglichen Rückkopplungsprozessen und Schleifen verläuft
in sich immer wieder als widersprüchlich, irrational und unverstehbar von den Trauernden erlebt wird.
Exkurs
Der Trauerprozess als prekärer Selbstorganisationsprozess
Jeder lebende Organismus stellt sich über Selbstorganisationsprozesse der Erfahrung der Entropie, also seiner Sterblichkeit und Vergänglichkeit entgegen und ringt die eigene Struktur der entropischen Tendenz der physikalischen Realität ab (Maturana 1987; Simon 2006). Der Tod eines nahen Menschen ist nun eine der unmittelbarsten menschlichen Erfahrungen der Entropie in der eigenen psychischen Struktur. Diese Entropie-Erfahrung bedroht die Selbstorganisation des Hinterbliebenen massiv. Aus der biologisch angelegten Selbsterhaltungstendenz heraus reagiert der Organismus mit dem Versuch, zunächst die eigene Struktur zu erhalten und sie dann an die Bedingungen, die der Verlust hergestellt hat, anzupassen.
Die Trauerreaktion ist also der Versuch einer Selbstorganisation, die gefährdet und vom Ergebnis her offen, also prekär ist. Verschiedene Ergebnisse dieses Prozesses sind möglich: Reorganisiert sich der Trauernde auf einem niedrigeren Niveau als bisher, zum Beispiel auf dem Niveau einer depressiven Struktur, oder zerbricht die Selbstorganisation des Hinterbliebenen, indem er Suizid begeht? Oder stößt die Erfahrung der Entropie einen Selbstorganisationsprozess an, in dem der Trauernde sich und sein Leben nach dem Verlust, aber auch die Beziehung zum Verstorbenen neu konstituiert und strukturiert? Wie alle Selbstorganisationsprozesse komplexer und dynamischer Systeme ist auch der Trauerprozess ein chaotischer Prozess, dessen Verlauf und Ergebnis sprunghaft, selbstbezüglich und dynamisch, also nicht vorhersagbar ist.
Wer als TrauerbegleiterIn arbeitet, sollte sich auf diese sehr individuellen und emotional aufwendigen Selbstorganisationsprozesse einlassen und deshalb folgende Fragen für sich im Sinne einer Selbstreflexion klären:
Will und kann ich mit komplexen Prozessen und dem Unvorhergesehenen umgehen und arbeiten?
Will und kann ich mit »Verschlechterungen« und sich immer neu wiederholenden »Rückfällen« umgehen?
Will und kann ich mit Unterbrechungen, vorzeitigen Beendigungen und Abbrüchen des beraterischen oder therapeutischen Prozesses umgehen?
Die oben beschriebenen schweren Verluste lösen in der Regel intensive und massive Trauerreaktionen aus. Sie sind angesichts der Größe und der Unerwartetheit eines Verlustes angemessen und für sich genommen noch kein Anzeichen für einen komplizierten Trauerverlauf.
Unsere auf Anpassung und Schnelligkeit angelegte Gesellschaft drängt Trauernde sehr rasch wieder in das alltägliche Funktionieren zurück. Trauerprozesse, die mehr als ein halbes Jahr andauern, gelten bei der Umwelt von Trauernden heute häufig schon als problematisch. Die Trauerbegleitung hat entgegen diesen gesellschaftlichen Tendenzen deshalb auch die Funktion, den Trauernden genügend Zeit für ihr Trauererleben und ihren Trauerprozess einzuräumen. Die Trauerbegleitung sollte auch einen – freilich zeitlich begrenzten – Schutzraum gegenüber den gesellschaftlichen Forderungen nach rascher Funktionsfähigkeit des Hinterbliebenen darstellen.
Die heftigen Trauerreaktionen rufen bei der Umwelt Unsicherheit und Abwehr hervor, was sehr oft auch zu einer schnellen – manchmal zu schnellen? – Verweisung in eine beraterische oder therapeutische Maßnahme führt. Das ist einer der Gründe, warum Trauernde zunehmend Trauerbegleitung in Anspruch nehmen.
Gegenüber diesen Tendenzen zur raschen Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Trauernden und dem Wunsch der Umwelt – oft auch der Trauernden selbst –, die Trauergefühle rasch zu reduzieren und den Trauerprozess abzukürzen, muss für schwere Verluste Folgendes festgehalten werden:
Die
Intensität der Trauerreaktion
nimmt nach der Zeit des Schocks und des Nicht-wahrhaben-Könnens meist erst an Heftigkeit und Intensität zu. Die Trauerreaktionen nehmen deshalb nicht kontinuierlich ab, sondern zeigen immer wieder neue Zuspitzungen in ihrer Intensität. Bei dem Verlust eines Kindes oder eines Geschwisters ist das erste Trauerjahr häufig vom Schock, der Betäubung und der Erstarrung dominiert. Den Trauernden wird oft erst nach dem ersten Todestag die ganze Realität des Verlustes bewusst. Deshalb erleben sie im zweiten Trauerjahr – entgegen den eigenen Erwartungen und denen der Umwelt – noch einmal eine Intensivierung ihrer Trauer.
Deshalb überschreitet bei schweren Verlusten die
Dauer eines Trauerprozesses
in der Regel das früher als normal angesehene Trauerjahr. Bei schweren Verlusten erleben die meisten Hinterbliebenen erst im dritten Trauerjahr ein Zurücktreten und allmähliches Abnehmen der akuten Trauergefühle. Das Leben ohne den Verstorbenen wird erst dann zu einer eigenen Realität, mit der die Trauernden zu leben lernen. Erst dann ist auch wieder zunehmend eine Außen- und Neuorientierung möglich. Jeder zu frühe Versuch, Trauernde in äußere soziale Welten zu integrieren, scheitert in der Regel nicht nur, sondern hinterlässt bei den Trauernden Gefühle des Versagens und der Scham.
Erst wenn die Trauernden eine stabile und zugleich freie innere Beziehung zum Verstorbenen aufgebaut haben, kommt ein
Ende des Trauerprozesses
in Sicht. Die akuten Trauergefühle treten zurück, und »trauerfreie« Phasen werden häufiger und länger. Allerdings gibt es bei schweren Verlusten in einer gewissen Weise
kein Ende des Trauerprozesses
, weil der Verstorbene für die Hinterbliebenen dauerhaft fehlt. Die Hinterbliebenen erleben dann auch nach langer Zeit immer wieder Gefühle des Missens und der Sehnsucht, an bestimmten Gedenktagen auch wieder Momente einer Trauer, die häufig als Wehmut beschrieben wird (Näheres in
Kap. 10
und
11
).
Die
innere Repräsentation des Verstorbenen
und
die innere Beziehung zum Verstorbenen
als Teil des Trauerprozesses bleiben über das Ende des Trauerprozesses im engeren Sinne bestehen (Näheres in
Kap. 9
und
11
).
Wie dargestellt, lösen nach meiner Erfahrung alle schweren und schwersten Verluste – und dafür ist der hier dargelegte hypnosystemische Traueransatz gedacht – mit großer Wahrscheinlichkeit kom-plexe Trauerverläufe aus.
In der aktuellen Trauerforschung in den USA (vgl. zusammenfassend den neuesten Stand der Forschung bei Stroebe et al. 2008) wird in der Regel nicht mehr von pathologischer Trauer oder pathologischen Trauerverläufen gesprochen. Stattdessen werden solche komplexen Trauerverläufe als komplizierte Trauer (complicated grief), manchmal auch als chronische Trauer (chronic grief) bezeichnet. Dahinter steht auch das Bemühen, die komplizierte Trauer als eigenständige Diagnose in einem zukünftigen diagnostischen Manual DSM-V zu verankern (Neimeyer et al. 2008b; Prigerson et al. 2008). Aus meiner Sicht wäre es noch zutreffender, von einem komplizierten Trauerverlauf zu sprechen.
Beachte!
Die Trauer als zunächst neurobiologisch angelegte Reaktion hat adaptive Funktionen und ist als solche nicht pathologisch. Kurz gesagt: Es gibt keine pathologische Trauer, und dieser – immer noch gebrauchte – Begriff sollte im wissenschaftlichen, aber auch therapeutischen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werden.
Die Trauer als angemessene psychobiologische Reaktion trifft auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur mit der ihr eigenen Vorgeschichte von Verlusten und frühen Bindungserfahrungen. Für die individuelle Trauerreaktion und den Trauerverlauf sind hier die Bindungsstile der Trauernden eine bedeutsame Einflussgröße (vgl. Kap. 7, Exkurs »Bindungsstil und Trauerarbeit«). Auch die bisherige Geschichte der Beziehung zwischen Trauernden und Hinterbliebenen, die Struktur der Beziehung und die aktuelle Beziehung zum Verstorbenen vor dem Verlust bestimmen stark, wie der Trauerverlauf aussieht. Weitere wichtige Faktoren für den Verlauf des Trauerprozesses sind die Todesart (z. B. Unfalltod, Tod durch Suizid u. a.), die Todesumstände beim Verlust (z. B. massive Verstümmelung des Toten, Miterleben des Todes u. a.) und ein mehr oder weniger unterstützendes Umfeld für die Zeit nach dem Verlust. Aus diesen und anderen Faktoren entwickeln sich Trauerverläufe, die – zunächst von außen gesehen – schwierig und problematisch erscheinen.
Dabei lassen sich – bei allen Schwierigkeiten einer diagnostischen Abgrenzung – folgende Fälle unterscheiden:
Eine destruktiv erscheinende Abwehr und Verleugnung der Trauerreaktion, bei der scheinbar nicht oder nur wenig sichtbar getrauert wird.
Eine erstarrt erscheinende, häufig auch somatisierte Form der Trauerreaktion; diese Form der Trauerreaktion lässt sich dann als Anpassungsstörung nach ICD F43.2, insbesondere ICD F43.21, diagnostizieren.
Eine chronische, also zu lang erscheinende Form der Trauerreaktion, die als längere depressive Reaktion im Rahmen einer Anpassungsstörung nach ICD F43.21 zu diagnostizieren ist. Als Zeitpunkte, ab denen eine chronische Trauer zu vermuten ist, werden in der Literatur sechs bis 18 Monate genannt. Das ist für schwerste Verluste in der Regel viel zu kurz gegriffen, als dass man von einer chronischen Trauer sprechen könnte. Mein Vorschlag ist folgender: Werden gegen Ende des zweiten bzw. zu Beginn des dritten Trauerjahres keine Milderung des Trauerschmerzes, der Trauer und der intensiven Sehnsucht beobachtet, kann man eine mögliche Chronifizierung des Trauerverlaufes vermuten.
Eine durch den Verlust angestoßene länger anhaltende, in ihrer Form schwerere depressive Entwicklung, die dann entsprechend ICD F32 als depressive Episode unterschiedlichen Grades zu diagnostizieren ist. Häufig hatten Hinterbliebene mit diesem Trauerverlauf schon vor dem Verlust depressive Episoden durchlaufen oder hatten in ihrer Persönlichkeit verankerte depressive Tendenzen.
Meine vorsichtigen Formulierungen zeigen, dass wir mit einer diagnostischen Einordnung von Trauerreaktionen und Trauerverläufen außerordentlich zurückhaltend sein sollten. Es bleibt zum Beispiel immer die Frage, wie lange ein Trauerprozess dauern darf, ohne dass er als kompliziert bewertet werden müsste. Nicht selten ist auch die Entscheidung zum Beispiel hochbetagter Witwen oder Witwer, in und mit ihrer Trauer zu leben, als angemessen zu verstehen.
Freilich gibt es erschwerte und komplizierte Trauerverläufe, die – zunächst von außen gesehen – durchaus blockierende oder destruktive Konsequenzen für den Betroffenen oder seine Angehörigen nach sich ziehen. Dennoch ist auch hier von einer vorschnellen Pathologisierung abzusehen, vielmehr sollte immer zuerst nach der Bedeutung und den Hintergründen solcher Reaktionen gefragt werden
Ausschlaggebend für die Diagnose einer komplizierten Trauer bleibt immer die genaue Abklärung des subjektiven Leidens der Trauernden. Es muss genau verstanden werden, welcher biografische Hintergrund, welche Bedeutung und welche Funktion für den Trauernden und seine psychosoziale Umwelt hinter genau dieser Form des Trauerns stehen. In einem weiteren Schritt sollte der Trauernde einfühlsam und behutsam damit konfrontiert werden, dass seine Art des Trauerns einen bestimmten psychischen Preis und mögliche langfristige Folgen hat (näher dazu Schmidt 2005, S. 116 ff.). Die Trauernden sind dann immer noch in ihrer Entscheidung frei, ob sie damit bewusst leben möchten oder ihre Situation mit beraterischer oder psychotherapeutischer Unterstützung verändern wollen.
Schwieriger ist die Situation, wenn der komplizierte Trauerverlauf Angehörige im familiären Umfeld belastet. Dies geschieht nicht selten, wenn verwaiste Eltern ihre anderen Kinder emotional vernachlässigen, weil die Intensität der eigenen Trauer dies vorübergehend oder über längere Zeit fordert. Hier sollten die Eltern einfühlsam und in Rücksicht auf die Loyalität zu ihrer Trauer mit den Konsequenzen für die Geschwister des verstorbenen Kindes konfrontiert werden. Dann kann überlegt werden, wie die Trauer selbst und die Liebe zum verstorbenen Kind in einer besseren Balance mit der Liebe zu den anderen Kindern weitergelebt werden kann. Schließlich sollte in diesen Fällen natürlich immer überlegt werden, ob trauernde Geschwisterkinder nicht schon früh eine eigene Hilfe angeboten bekommen sollen.
Schwere und schwerste Verluste sind für sich genommen nur ein Risikofaktor von vielen anderen für das Entstehen von komplizierten Trauerverläufen. Gibt es weitere Belastungen wie eine psychische Instabilität, frühere schwere Verluste, psychische Erkrankungen oder das Alleinleben nach dem Tod eines Partners, sollten erste Anzeichen für den Beginn eines komplizierten Trauerverlaufes sehr ernst genommen werden sind.
Folgende Erlebensweisen können Hinweise auf psychotherapeutisch zu behandelnde komplizierte Trauerverläufe sein:
Suizidale Gedanken und Impulse
, die länger als ein halbes Jahr nach dem Verlust andauern und die nicht mehr als der – ganz normale – Wunsch, dem Verstorbenen nachzusterben, zu verstehen sind.
Massive und persistierende Schuldgefühle
, die selbstvorwürfig und zwanghaft als Ausdruck der – häufig alleinigen – Schuld am Tod des geliebten Menschen geäußert werden; problematisch sind hier insbesondere Schuldgefühle, die der Trauernde nicht von konkreter Mitverantwortung unterscheiden kann.
Extreme Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
, die dazu führen, dass die Betroffenen auch nach dem ersten Jahr keinen Sinn im Leben mehr sehen können.
Unkontrollierte Wut
und alles besetzende
Verbitterung
, die auch mit selbstdestruktivem Verhalten verbunden sein kann.
Psychosomatische Symptome
, häufig Brust- und Herzschmerzen, Globusgefühle, oft auch dauerhafte Gewichtsabnahme sowie Durchschlafstörungen.
Weitgehender und lang anhaltender Rückzug
aus den bisherigen psychosozialen Netzen, oft verbunden mit einer Vernachlässigung der eigenen Person, des Berufes und der Wohnung. Diese Symptomatik ist häufig beim Verlust eines langjährigen Lebens- und Ehepartners, besonders bei älteren Witwern und Witwen anzutreffen.
Substanz-, besonders Alkoholmissbrauch
.
Sind die suizidalen Tendenzen und ein weiteres Symptom oder zwei bis drei andere nichtsuizidale Symptome nach einem schweren Verlust vorhanden, ist dringend eine Psychotherapie anzustreben. Dann ist auch die Diagnose einer Belastungsreaktion nach ICD F43.2 oder eine depressive Episode nach ICD F32 erforderlich.
Beachte!
Von psychotherapeutischen oder psychosomatischen Kuren in den ersten Monaten des Trauerprozesses ist in der Regel abzuraten. Auch wenn zuhause die Trauergefühle sehr intensiv sind, ist der haltende Rahmen der gewohnten Umgebung sehr wichtig. Viele Trauernde erleben das Weggehen in eine Kur auch als illoyal gegenüber dem Verstorbenen. Viele Trauernde brauchen zunächst den Gang zum Grab oder die unmittelbar erlebte Nähe zum Verstorbenen in der bisherigen gemeinsamen Umgebung.
Die Abschätzung, wie hoch der Anteil komplizierter Trauerverläufe unter Hinterbliebenen ist, ist außerordentlich schwierig, da die diagnostischen Kategorien in den wenigen quantitativen Erhebungen sehr unterschiedlich sind.
In verschiedensten Studien wird immer wieder ein Anteil von etwa 15 % der Trauernden genannt, die als chronisch trauernd oder als nachfolgend depressiv eingeschätzt werden (Bonanno et al. 2008).
Dieser Anteil, der nur für einen Durchschnitt über verschiedenste Trauersituationen hinweg gilt, scheint realistisch zu sein. Allerdings dürfte der Anteil von komplizierten Trauerverläufen beim Verlust eines Kindes oder bei traumatischen Verlusten meiner Erfahrung nach deutlich höher liegen.
Aber auch ältere Menschen scheinen ein höheres Risikos für schwierige Trauerverläufe zu haben. Hierzu haben Bonanno et al. 2008 eine methodisch sehr gut fundierte, prospektive (!) Studie vorgelegt. Hier wurden Paare im Alter über 65 Jahren schon vor dem Tod eines Partners auf ihre psychische Situation hin untersucht. Nach dem Ableben eines Partners wurde der zurückbleibende Partner über 18 Monate hinweg in seiner Trauerreaktion beobachtet. 11 % erlebten eine adaptive Trauer, in der der Verlust konstruktiv verarbeitet wurde, 45 % hatten nur eine leichte Trauerreaktion ohne besondere Belastung, 8 % wurden als depressiv und 16 % wurden als chronisch trauernd eingeschätzt. Überraschend an dieser Studie ist der Anteil der 45 % mit einer resilienten Verarbeitung und der doch hohe Anteil von 24 % komplizierter Trauerverläufe. Allerdings ist aus meiner Erfahrung der Beobachtungszeitraum von 18 Monaten nach dem Verlust zu kurz gegriffen, weil viele Trauerprozesse länger als 18 Monate dauern. Auch nach dieser Zeit kommt es noch zu adaptiven Lösungen der Verlustsituation. Im Übrigen darf aus meiner Sicht eine leichte Trauer in Form von Wehmut und auch Sehnsucht nach dem Verstorbenen bleiben, ohne dass dies als nichtadaptiv gewertet werden müsste.
Bei schweren Verlusten sollten im Erstgespräch sowohl eine tragfähige Beziehung und ein emotionaler Halt als auch folgende vorläufigen diagnostischen Prozesse durchlaufen werden:
Einschätzung der Schwere der aktuellen Verlusterfahrung bzw. der Schwere des aktuellen Erlebens des Verlustes; Maßstab hierfür ist immer das subjektive Erleben der Trauernden.
Verlustanamnese: Gibt es frühere schwere Verlusterfahrungen, die ein Risiko, aber auch eine Ressource bezüglich Bewältigungserfahrungen darstellen können? Dabei muss bedacht werden, dass der aktuelle Verlust immer als ganz eigener, besonderer Verlust erlebt wird.