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Am 26. August 1944 wird der Abwehroffizier Hans Georg Klamroth wegen Hochverrats hingerichtet. Jahrzehnte später sieht seine jüngste Tochter in einer Fernsehdokumentation über den 20. Juli Bilder ihres Vaters aufgenommen während des Prozesses im Volksgerichtshof. Ein Anblick, der Wibke Bruhns nicht mehr loslässt. Wer war dieser Mann, den sie kaum kannte, der fremde Vater, der ihr plötzlich so nah ist. Die lange Suche nach seiner, ja auch ihrer eigenen Geschichte führt sie zurück in die Vergangenheit: Die Klamroths sind eine angesehene großbürgerliche Kaufmannsfamilie und muten wie ein Halberstädter Pendant zu den Buddenbrooks an. Unzählige Fotos, Briefe und Tagebücher sind der Fundus für ein einzigartiges Familienepos.
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Das Buch
»Ich starre auf diesen Mann mit dem erloschenen Gesicht. Ich kenne ihn nicht. Aber ich erkenne mich in ihm. Seine Augen sind meine Augen, ich weiß, daß ich ihm ähnlich sehe. Ich wäre nicht ich ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich.«
Als Wibke Bruhns in einer Fernsehdokumentation über den 20. Juli 1944 Aufnahmen ihres Vaters, des wegen Hoch- und Landesverrats am 15. August 1944 angeklagten und elf Tage später hingerichteten Abwehroffiziers Hans Georg Klamroth sieht, beschließt sie, sich auf die Suche nach dem fremden Vater zu machen. Sie taucht ein in die Vergangenheit und geht zurück nach Halberstadt, wo ihre Vorfahren, die Klamroths, über Generationen hinweg Landhandel betrieben. Bei ihren Recherchen stößt sie auf unzählige Fotos, Briefe und Tagebücher, die das Schicksal der angesehenen Kaufmannsfamilie dokumentieren – vom Kaiserreich bis zur Kapitulation. Dieser Fundus bildet die Grundlage für ein einzigartiges Familienepos, das durch die emotionale und politische Auseinandersetzung der engagierten Journalistin mit der eigenen Familie besticht. Geschichte, die unter die Haut geht – grandios erzählt.
Die Autorin
Wibke Bruhns wurde 1938 in Halberstadt geboren. Als erste Frau präsentierte sie 1971 die »heute«-Nachrichten. Später ging sie als stern-Korrespondentin nach Israel und in die USA und wurde schließlich Kulturchefin des ORB. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin. Meines Vaters Land wurde ein großer Bestseller.
ICH HABE EIN FOTO VON MEINEM VATER GEFUNDEN. Es gibt Hunderte – in Alben, in Umschlägen, verstreut zwischen Tagebüchern, Zeugnissen, Briefen. Hans Georg als Kind, als ernsthafter Halbwüchsiger, in Uniform im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, als Ehemann, als Kaufmann, als Vater mit uns Kindern. Dies hier war weggesperrt in einer der Miniaturen, die auf dem Nachttisch meiner Mutter standen.
Nach ihrem Tod hatte ich die drei Bildchen mitgenommen: meine dänische Großmutter Dagmar mit dem unvermeidlichen Blumenhut, Hans Georg in Jagdmontur sitzend auf der Terrassentreppe in Halberstadt, vor sich den erlegten Bock, und meine Mutter Else als kleines Mädchen im weißen Spitzenkleidchen, mit Lackschuhen und schiefen Strümpfen. Alle drei – die zauberhafte alte Dame, der zufriedene Jäger, das skeptische Kind – lächeln mich an seit 15 Jahren auf meinem Schreibtisch, verhalten eher, distanziert aus den kostbaren kleinen Rahmen, derentwegen ich sie da hingestellt habe, und weil sie zu Elses Schlafzimmer gehörten.
Jetzt war sie verrutscht, die Kleinkind-Else, und als ich den Rahmen öffnete, um sie zurück an ihren Platz zu bringen, kam mir Hans Georg entgegen. Verborgen hinter ihrem Kinderportrait hatte Else ihn, einen todtraurigen Mann um die 30 – so verloren guckt er auf keinem Foto außer auf den letzten vor dem Volksgerichtshof. Ich habe das Else-Kind erst mal hinter ihm versteckt, aber lange halte ich das nicht aus, dieses hoffnungslose Gesicht. Vielleicht hatte auch Else ihn deshalb zugedeckt mit ihrer Erinnerung an die ganz frühe Kindheit. Ihr Foto muß um 1900 aufgenommen worden sein, da ist sie kaum zwei – behütet, umsorgt, geliebt. Alles schien möglich damals, nichts war vorhersehbar von dem, was dann wirklich kam.
Warum überhaupt hat sie dieses verlorene Gesicht ihres damals noch jungen Mannes zurechtgeschnitten für das Oval in dem kleinen, festlichen Rahmen? Die beiden haben viel gelacht zu der Zeit, als dieses Bild von Hans Georg entstand. Sie waren berühmt im Freundeskreis für Schlagfertigkeit und Witz. Und wann hat sie die Fotos gewechselt – nach seinem Tod in Plötzensee? Oder schon vorher, als die jahrelange Trennung im Krieg sie einander entfremdete, als jeder an seinem Platz funktionierte, aber die Gemeinsamkeit verschlissen war? Als Hans Georg Else betrog?
Ich lese seit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichem aus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben der weitverzweigten Sippe. Es gibt sie schon so lange, die Klamroths, und immer haben sie sich als Klan verstanden, auch heute noch, obwohl das Zentrum ihres Bürgerstolzes – Halberstadt – im Krieg für sie verlorengegangen ist. Es ist nicht wirklich fremd, was ich da lese. Ich weiß, wer die Leute sind. Aber ich kenne sie nicht. Hans Georg hatte schon in den 30er Jahren eine 16-mm-Kamera und nahm die Feste der Sippe auf: Reitjagden durch den Harz, Boccia im Garten und die großen, damals noch kleinen Kinder auf der Schaukel. Als ich neulich die digitalisierte Fassung der Filme bekam, habe ich jeden erkannt, der dort zu sehen ist, obwohl ich vielen nie oder höchstens als Kleinkind begegnet bin.
Ich sehe Fräcke – mein Gott, was trug man Frack! – und die aufwendig gestylten Damen und frage mich, warum Else so geschmacklos angezogen war, wo sie doch Suli Woolnough hatte, die Schneiderin, deren Eleganz in Halberstadt ein Exotikum war. Prächtig kostümierte Aufführungen bei Polterabenden und zu Großmutter Gertruds 60. Geburtstag haben sie veranstaltet, es tritt auf »Benno Nachtigall«, die familieneigene Balladen- und Moritaten-Band, in meinem Schrank lagern die Bänkellieder und Schüttelverse. Fremde Leben.
Ich finde Bilder von Hans Georg am Klavier – er hat immer gesungen, alle haben sie gesungen in dieser Familie, mehrstimmig, dauernd, und sie haben Instrumente gespielt, der ganze Klan. Er singt also, der Vater – Kantaten, Gassenhauer, den ganzen Zupfgeigenhansl rauf und runter, nicht zu vergessen die vielen Familienlieder. Aber ich kenne seine Stimme nicht. Nie gehört, behaupte ich, obwohl das nicht sein kann, er wird schon mal was gesagt haben zu mir, dem kleinen Mädchen. Er hat mir bestimmt auch was vorgesungen, wenn er – mal – nach Hause kam aus dem Krieg.
Ich weiß auch nicht, wie der Mann, der mein Vater war, geredet hat. Das wäre wichtig jetzt, wo ich versuche, ihn mir zurechtzulegen. Zappelt er mit den Händen, wie ich, ist er laut, impulsiv? Wenn er schreibt, und er schreibt viel, klingt er überlegt. Er verschreibt sich nie, auch mit der Maschine nicht. Er muß sich nicht korrigieren, weder im Satzbau, noch in der Orthographie, schon gar nicht in seinen Gedanken. Sehr aufgeräumt, das Ganze. Und die Schrift erst – klein gestochen leserlich sowohl in Sütterlin als auch in Latein. Er schreibt wie sein Vater – überhaupt mein Großvater, ob es sonst noch jemand gibt, vor dem er so viel Respekt hatte? Allein wie sie Fotoalben anlegen, alle beide – weiße Tinte, akkurate Randlinien um jedes Bild gezogen, minutiös beschriftet.
Und dann Else: Chaos im Kopf und in der Schrift, überbordend, ausladend, durcheinander. Riesige Buchstaben, auf- und absteigende Zeilen, durchgestrichen, drübergeschrieben. Wenn sie Formulare mit der Hand ausfüllt, tobt ihre Schrift wie ein gefangener Hund im Käfig. Es gibt ein großes Haushaltsheft – Etatplanung und Kostenübersichten für die Jahre 1938 bis 1943. Da haben sie beide abwechselnd Buch geführt – Hans Georg in schnurgeraden Zahlenkolonnen, kein Rechenfehler, nie ein Zweifel. Else trabt durch die Spalten, setzt zügig Fragezeichen, Fußnoten – lange Jahre nach dem Krieg hat sie noch mit solchen Abrechnungen gekämpft. Sie haben nie gestimmt, Else war immer verzweifelt, sie wäre so gern ordentlich gewesen.
In ihren Briefen – auch sie hat viel geschrieben – wirbelt sie von einem Thema ins nächste, beutelt die Grammatik und die Interpunktion, die Seiten sind übersät mit zweifelhaften Korrekturen. Sie lacht und weint ohne Übergang, moralische Aufrüstung für die aushäusigen Töchter mischt sich mit Schilderungen ihrer vielfältigen Beschäftigung als Managerin des großen Hauses mit vielen Gästen. Der Kampf mit 20 Zentnern Erbsen und widerspenstigen Weckgläsern führt sie direkt zu der Feststellung, daß Gottes Ratschluß selten überzeuge, irgend jemand »zum Donnerwetter« den Silberschrankschlüssel vermüllt habe und daß außerdem sie, Else, sich mit Hegel doch gern »über das eine und andere mal auseinandergesetzt« hätte.
Sie haben gelacht über diese scheinbare Unvereinbarkeit, jeder über den anderen und beide miteinander. Dabei war Else später, als ich sie als Mensch wahrgenommen habe und nicht mehr als Mutter, eher pathetisch, hochgradig sentimental, vor allem traurig. Sie wäre gern viel eher gestorben, fast 90 war sie 1987 und hatte schon 25 Jahre vorher, nachdem die Sorge um ihre fünf Kinder sich überlebt hatte, keine Lust mehr. Früher, lange vor meiner Zeit oder vielleicht auch noch in meinen ersten Kindertagen, müssen beide – Else und Hans Georg – ein Genuß gewesen sein. Freunde von damals haben mir vorgeschwärmt von beider Witz, ihrer Zugewandtheit, ihrer Fähigkeit, Menschen um sich zu scharen und sie zu halten.
Kinder, behaupte ich, interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. Das Verhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert. Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindern vorbei. Der Mensch, den Freunde erkannt, geliebt, begleitet haben – das Kind kennt ihn nicht. Bis nach dem Tod der Eltern – vielleicht –, wenn Nachfrage nicht mehr Indiskretion und Grenzüberschreitung bedeutet. Kinder, auch meine Kinder, werden bei aller Zärtlichkeit auf Distanz gehalten, suchen ihrerseits die Distanz. Die Verstörung der Eltern ist immer eine Bedrohung. Eltern muten sie ihren Kindern nicht zu, und was erwachsene Kinder dem Freund erlauben, die Belastung mit dessen persönlichem Scheitern etwa, bei Eltern fürchten sie sich davor.
In meiner Psychoanalyse, Anfang der 90er Jahre, kam ich an die Eltern nicht wirklich heran. Ich war und bin auch heute nicht bereit, meiner Mutter kindliche oder auch spätere Probleme anzulasten – sie war nervig, natürlich, sie war überfordert und ich in Folge ziemlich allein. Hätte sie das ändern können? Für den Vater hatte ich mir eine unverfängliche Position gesucht: Ich habe ihn nicht gekannt, folglich ging er mich nichts an. Er hat mir nie gefehlt – Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihn mir vom Hals. Ich wollte nichts über ihn wissen. Er war eine offene Wunde im Leben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hat darüber geschwiegen. Heute weiß ich, daß viele der 20. Juli-Witwen gegenüber ihren Kindern geschwiegen haben. Es war ein Schweigen, wo Fragen sich verbot. Die Zumutung wurde von beiden Seiten vermieden.
1979 bereitete ich unseren Umzug nach Jerusalem vor. Ich fuhr mit dem Auto da runter, von Ancona nach Haifa mit dem Schiff, schon die Einfuhr-Formalitäten im Hafen ließen keinen Zweifel offen: Hier bin ich in einem orientalischen Land. Ich fand ein Haus auf dem Mount Scopus in der Nähe der Hebräischen Universität mit weitem Blick über die karstige Wüste, weit unten ein arabisches Dorf. Die englische Schule für die Kinder war vor 100 Jahren ein anglikanisches Missionskrankenhaus gewesen. Als ich zum ersten Mal durch den weitläufigen Garten ging, vorbei an Oleanderhecken und Feigenbäumen, stand für mich fest, es ist ganz egal, ob die Töchter hier Mathematik und Satzbau lernen oder nicht. Die ausgetretenen Stufen und schiefen Sandsteinwände, die wuchernden Geranien, das Gewusel von Kindern aus 40 Nationen von tiefschwarz bis strohblond würden später eine leuchtende Erinnerung an ihre Schulzeit abgeben – so war es dann auch.
Ich recherchierte gleichzeitig eine Geschichte über eine palästinensische Familie in Hebron im Westjordanland, und hier erfuhr ich, was unser Alltag werden würde: abgrundtiefer Haß zwischen der arabischen Bevölkerung und den israelischen Siedlern aus Kiryat Arba gleich nebenan. Ich stand einen »curfew« durch mit meinen Gastgebern, die tagelange Ausgangssperre, während der nur ich auf die Straße durfte, um für die vielköpfige Familie Lebensmittel einzukaufen. Die Geschäfte waren verrammelt, ich gelangte durch die Hintertür hinein, und draußen führten die jungen Schnösel aus der Siedlung ihre Kalaschnikows und Uzis spazieren. In Jerusalem, wo jeder Stein Geschichte ist, tauchte ich ein in das damals noch fast friedliche Nebeneinander von Nationalitäten und Religionen, in den aberwitzigen Krach auf den Märkten und die Besitz ergreifende Zuwendung wildfremder Menschen. Ich schlug mich mit Behörden herum wegen unseres Zuzugs, kämpfte um meine Akkreditierung, brauchte Stunden auf der Bank, um etwas so Simples wie zwei konvertierbare Konten einzurichten. Es waren sechs prallvolle Wochen, während derer ständig die Sorge an mir nagte, wie meine behüteten Kinder wohl den Wechsel aus dem ordentlichen Hamburg in dieses exotische Durcheinander verkraften würden. Sie waren damals 12 und elf, und sie haben sich erstaunlich schnell akklimatisiert.
Bei einem der zahlreichen Telefonate nach Hause erzählte mir die Kinderfrau, es liefen Dokumentationen über den 20. Juli im Fernsehen, und eher beiläufig bat ich sie, beim nächsten Mal doch eine Video-Kassette einzulegen. Ich flog zurück, verspätet, auf dem Flughafen hatte es Bombenalarm gegeben, auch daran würde ich mich gewöhnen. In der Maschine hielt eine Gruppe orthodoxer Juden eine lautstarke Betstunde ab, stehend im Gang und mit schwarzen Hüten über ihren Schläfenlocken. Staunend betrachtete ich ihre dafür vorgeschriebene Ausstattung, den »Tallit«, den Gebetsmantel, und die »Tefillin«, die um Stirn und Arm gewickelten Gebetsriemen. Auch wunderte ich mich über die wippenden Bewegungen ihrer Oberkörper – ich würde noch viel lernen müssen.
Tief in der Nacht kam ich in Hamburg an, küßte die schlaftrunkenen Kinder, ließ mir erzählen, wie das Leben gewesen sei in der Zeit, als ich in der verwirrenden Fremde war. Irgendwann morgens um drei, ich war hundemüde, goß ich mir einen Whisky ein und versuchte, mich zurechtzufinden in dem Kontrast zwischen meinem aufgeräumten Rothenbaum-Ambiente und dieser wilden, wirren, seit Tausenden von Jahren heiligen Stadt, die unser Zuhause werden sollte.
Auf dem Fernseher lag eine Kassette. Ich schob sie in den Recorder, ahnungslos. Da stand mein Vater vor dem Volksgerichtshof. Kerzengerade, elend in einem zu großen Anzug, stumm steht er da in einer kurzen Sequenz, während die Stimme des Vorsitzenden Roland Freisler keift und tobt. Ich sehe mich sitzen, fassungslos. 35 Jahre war das her damals, ein Lidschlag in der Geschichte. Vor 35 Jahren – da war der Vater 45 Jahre alt, knapp fünf Jahre älter als ich auf diesem Sofa in Hamburg. Sein Leben, seine Hoffnungen, alles war vorbei. Große Teile Deutschlands lagen in Trümmern. Der Krieg war verloren, auch wenn er sich noch ein quälendes Jahr lang hinzog. Die Welt der Menschen dieser Zeit war zu Ende. Nie wieder würden die Deutschen, so schien es, den Fluch, die Scham ihrer Jahre überwinden können. Sie zahlten für ihre Hybris mit dem Verlust der Zukunft.
35 kurze Jahre. Und da komme ich, das jüngste Kind dieses todgeweihten Mannes dort im Fernseher – tatsächlich im Fernseher! auf Video! –, da komme ich von einer prallbunten Reise aus dem Vorderen Orient zurück, aus einem jüdischen Land – ausgerechnet! Ich trinke Whisky – Whisky! – aus böhmischem Kristall, um mich herum Bücher, Bilder, schöne Möbel. 35 Jahre. Ich starre auf diesen Mann mit dem erloschenen Gesicht – elf Tage nach diesen Bildern wird er tot sein, aufgehängt am Fleischerhaken in Plötzensee. Ich kenne ihn nicht, nicht den Schatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als der Krieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen, ich weiß, daß ich ihm ähnlich sehe. Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wäre nicht ich ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich.
Warum weiß ich nichts? Was bedeutet diese diffuse Familien-Übereinkunft des Nicht-Redens über all die Jahre, wieso hat niemand dem Vater hinterhergespürt? Eltern werden von Kindern gemolken: Nahrung, Wärme, Spaß, Trost, Schutz, vor allem Liebe werden abgerufen, und da der Vater in dieser Hinsicht ausschied – war es das? Das mag für mich gelten, vielleicht. Doch wie war das für die älteren Geschwister, immerhin so gut wie erwachsen, als er starb – war er für die auch kein Thema? Doch. Als Legende. Sie haben sich gewappnet mit den immer gleichen Anekdoten über den Witz des Vaters, über seine Pedanterie. Es gab stets dieses für den Vater reservierte liebevolle Gelächter.
Aber dieser Mann da vor mir, nächtens im Fernseher, der ist keine Legende. Das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Da steht er im großen Saal des Berliner Kammergerichts, um sich herum uniformierte Zuschauer, und er weiß, er wird binnen kurzem einen grauenhaften, jämmerlich einsamen Tod sterben. Haltung war dabei angesagt, Tapferkeit. Sie sind »männlich« gestorben, hieß es hinterher. Großer Gott! Das kann nicht sein. Jemand muß dich an die Hand nehmen, dich begleiten nicht nur in die Hinrichtungsstätte in Plötzensee. Denn bis dahin hast du gelebt – und wer weiß das noch? Wie war denn dein Leben jenseits der Gedenktafeln, die heute im Berliner Kammergericht oder im Bundesverteidigungsministerium hängen, in Plötzensee oder in Halberstadt, wie warst du jenseits der Bücher, in denen der Name auftaucht unter K wie Klamroth? Dein Tod hat mir die Wahrnehmung verstellt. Du warst nicht du – du warst immer dein Tod. Dabei bist du mehr als die sorgfältig umschiffte Schmerzzone in der Psyche meiner Mutter. Ich will dich nicht über Umwege. Ich will dich. Ich bin dein Kind. In dieser Nacht der Rückkehr aus Jerusalem habe ich mir versprochen: Ich kümmere mich um dich.
Natürlich habe ich sie gefragt – Else habe ich gefragt, andere, die ihn noch gekannt hatten. Doch da war es schon viel zu spät, die Sprachregelung längst gefunden. Die hatte etwas zu tun mit den in staatlichen Gedenkreden apostrophierten Helden des Widerstands; dazuzugehören, und sei es auch nur als Kind, war Ehre. Privat teilte Else ihr Leben ein in vorher und nachher: Vorher war Glanz, nachher war Fron. Der Verlust des einen und die Mühsal der anderen wurden mit Haltung ertragen, die Trauer über beides dem Kind gegenüber als Tabu manifestiert. Erst Jahrzehnte später, als die Mutter längst der töchterlichen Fürsorge bedurfte, habe ich begriffen, daß sie ihr ganzes Elend abgeladen hatte bei meiner ältesten Schwester, angefangen mit der Tatsache, daß Else 1944 der 21jährigen Tochter, damals Chemie-Studentin, die Beschaffung von Gift für uns alle auftrug.
Wenn Else erschöpft gewesen war ob meiner pubertären Renitenz, hat sie manchmal Hans Georg hervorgeholt als eine Art schwarzen Mann. »Das hättest du dich nie getraut, wenn dein Vater noch lebte«, hieß es dann, und ich habe geschnaubt vor Verachtung, wenn meine müde Mutter zu Argumenten griff, die mich nicht erreichten. Süße, hinreißende, geschundene, zermürbte Mutter – hättest du mir doch erzählt, was ich heute weiß: daß deine Ehe verschlissen war, daß der Vater dich betrogen hat, daß ihr beide Hitler angebetet habt in den ersten Jahren, du vermutlich länger als er. Daß auch du, wenn schon nicht »männlich«, wie das damals hieß, deinerseits unendlich »tapfer« warst und in dieser allenthalben eingeforderten Haltung dein Entsetzen über diesen Tod nie herausschreien konntest, auch nicht deine Trauer über das Scheitern eures gemeinsamen Lebens.
Ich bin Else dankbar, daß sie mir das nicht erzählt hat. Ich hätte damit nicht umgehen können. Ich hätte mich nicht zurechtgefunden in den Trümmern ihrer Seele, wenn eine Art Entscheidung nötig gewesen wäre zwischen dem Mann, dessen Tod ihn unangreifbar machte, und der Frau, die ich lieben wollte, mich meinetwegen an ihr reiben. Bemitleiden wollte ich sie nicht. Damals nicht. In meinen jungen Jahren war die Mutter die Meßlatte, an der ich wuchs, gegen die ich meine eigene Kraft erprobte. Ich hätte nicht ringen mögen mit den Schatten der Vergangenheit und denke, ich war zufrieden mit der Tabuzone, die mir das ersparte.
Hans Georg wird hingerichtet am 26. August 1944, er geht den Weg vom »Todeshaus« in Plötzensee vermutlich wie alle anderen in Sträflingskleidung, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die nackten Füße in Holzpantinen. Es ist ein strahlender Sommertag, 32 Grad, nahezu wolkenlos. Der Tod wird um 12.44 Uhr festgestellt, eingetragen beim Standesamt Berlin-Charlottenburg »auf mündliche Anzeige des Hilfsaufsehers Paul Dürrhauer, wohnhaft Berlin, Manteuffelstraße 10«. Der Anzeigende, so wird vermerkt, sei »bekannt und erklärte, er sei vom Tode aus eigener Wissenschaft unterrichtet«. Ich habe Paul Dürrhauer nicht fragen können. Er ist 1976 gestorben. Ich muß ihn auch nicht fragen. Der Standesbeamte Gluck hat am 28. August 1944 »in Vertretung« unterschrieben: »Todesursache: Erhängen«.
Ein Irrtum? Und wenn ja, wessen Irrtum? Hans Georg und Else waren beide Parteigenossen, er eingetreten 1933, sie 1937, er war Mitglied der SS, sie war Ortsgruppenführerin der NS-Frauenschaft. Im Aufnahmeantrag hat sie bestätigt, sie sei »deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseeinschlag«, und ihre Unterschrift auf dem Formular ist ausladend und selbstbewußt wie immer.
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. So steht es im Alten Testament. Neben den Eltern mußten Millionen Deutsche das bitter erfahren. Haben sie begriffen, daß die Gefahr nicht in erster Linie die Kriegsgegner waren, sondern sie selber? Else erst mal nicht. 1947 noch schreibt sie in die Tagebücher, die sie für jedes Kind führt von der Geburt bis zur Konfirmation: »Ich sah voll Grauen auf die sinnlose Zerstörung und das Hinopfern des Volkes, nur weil ein Mann zu feige war einzugestehen, daß er gescheitert war.« Ein Mann? Gescheitert? War nicht schon der Beginn ein Höllentanz?
Nicht für Else. Jubelnd schreibt sie 1942 einem Freund an der Ostfront: »Es geht ja wunderbar vorwärts – 80 km von Stalingrad entfernt! Sind wir dort, ist die Zange doch zu!« Im selben Jahr in einem ihrer Sonntagsbriefe: »Wenn wir wirklich nach Alexandria kommen, wo bleibt dann England mit der Flotte? Wenn sie raus müssen, gehört uns das Mittelmeer!!!« Gehört uns? So war das. Es ging um Lebensraum. Hans Georg schreibt zwar von der Front in Rußland 1942, man müsse die unterworfenen Völker gewinnen: »Wer ein Volk führen will, muß seine Sprache beherrschen, da er sonst nicht bis zu seiner Seele vordringt, und die gilt es zu erobern – mit der Knechtung des Leibes ist es nicht getan!« An der Legitimität der »Knechtung« aber und an dem Führungsanspruch besteht kein Zweifel.
Wann hat er verstanden, in welchem Strudel er sich befand? Wann ist Hans Georgs Bewußtsein für das entsetzliche Unrecht dieses Dritten Reiches entstanden, wenn überhaupt? Wann hast du erkannt, daß du betrogen wurdest? Im Urteil des Volksgerichtshofs heißt es, Hans Georg habe am 10. Juli 1944 von der Verschwörung erfahren und die Beteiligten nicht angezeigt. Dafür mußte er hängen. Das Urteil sagt aber auch, er und sein Schwiegersohn Bernhard Klamroth seien unter den sechs Angeklagten diejenigen, die »dem Mordanschlag unmittelbar selbst am nächsten« gestanden hätten – wie paßt das zusammen?
Ich weiß die Wahrheit nicht. Es spricht vieles dafür, daß Hans Georg als erfahrener Abwehrmann die Vernehmer in Ernst Kaltenbrunners Reichssicherheitshauptamt getäuscht, daß er, wie einige andere Männer des 20. Juli auch, bis unmittelbar vor seiner Hinrichtung hoch gepokert und verloren hat. Er kannte zu viele aus dem Verschwörerkreis, als daß er bis zehn Tage vor dem Attentat ahnungslos gewesen sein kann. Zum Teil waren das Beziehungen noch aus der Fahnenjunker-Ausbildung im Ersten Weltkrieg wie zu Wolf-Heinrich Graf Helldorf und Michael Graf Matuschka, Hans Georg nannte Ewald von Kleist seinen »Onkel«, für Axel von dem Bussche war er ein väterlicher Freund – und Hans Georg hat Freundschaften, Verbindungen, Netzwerke sein Leben lang gepflegt.
Mehr als 20 der Verschwörer haben bei den Vernehmungen durch die Gestapo und vor Gericht die Judenverfolgung als Grund für ihre Beteiligung angegeben, die »Morde in Polen«, die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten. Doch spielte auch bei ihnen militärische Empörung mit. Diese Offiziere wollten ein zweites Versailles vermeiden, sie opponierten gegen Hitlers Inkompetenz als Oberster Kriegsherr, es ging ihnen um ein erträgliches Kriegsende, nicht um Sühne für untilgbare Schuld. Die Größe Deutschlands, die deutsche Ehre standen auf dem Spiel, diese gottverdammte Fahne, die sie besudelt sahen.
Die Schweinereien, das waren für die Militärs die der anderen. Die deutsche Wehrmacht war sauber, nicht wahr? Noch Helmut Kohl schwadronierte von dem Unrecht, »das in deutschem Namen begangen worden« sei, als wären die Gremlins gekommen, schwarzweißrote Banner vorne weg, und hätten gemordet, geplündert, vergast, enteignet, verwüstet, als hätten Außerirdische deutsches Blut und deutschen Boden erfunden, »minderwertige« Rassen kurzerhand ausgerottet, hätten »ein Volk, ein Reich, ein Führer« gegrölt und »heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«.
Also gut. Hans Georg nicht. Der grölte nicht. Der sang. Aber er machte alles, was er machte, für »eine bessere Zukunft unserer Kinder«. Wo denn? In diesem »Lauselande«, wie er Rußland nennt? Und wieso überhaupt? Es ging den Kindern blendend, ihm auch. Was wollte er denn noch? Es gab eine anständige Familie, eine anständige Firma, anständige Freunde, er selbst ist als ein anständiger Deutscher um die halbe Welt gereist. Ob er zugesehen hat auf seiner Wolke, als ich mit elf in meiner Schule in Stockholm geschnitten wurde von den anderen, die mit einem deutschen Kind nicht spielen durften? Hat er meinen Kummer verstanden, wenn an unserem Weihnachtsbaum keine Nationalfähnchen hängen konnten wie üblich in Dänemark oder Schweden, wo Fahne und Staat kein Grund zum Schämen sind? Ist er bei mir gewesen, als ich Korrespondentin in Israel wurde und mich mühsam gegen mein Land behaupten lernte?
»Komm, Wibke, jetzt gehen wir zu Vater, uns die Gnade zu holen«, hat meine älteste Schwester mit letzter Entschlossenheit von mir verlangt. Das war unmittelbar vor ihrem Tod 1990. Vier Jahrzehnte lang hatte sie den toten Hans Georg bei Else vertreten, hatte sie geordnet, geglättet, die Sturmschäden im Leben unserer Mutter geflickt und die immer wieder aus dem Ruder laufenden Geschwister auf Kurs gehalten. Sie selbst und was sie hätte werden können waren von den Anforderungen dieser Familie zugeschüttet worden. Jetzt wollte sie, daß der übermächtige Hans Georg, der gemordete Vater ihr die Absolution erteilt.
Wie bitte?! Um sicherzugehen, habe ich nachgefragt: ob sie den Herrgott meine oder tatsächlich den Vater. Doch. Den wollte sie. Seine Gnade. Gütiger Gott, oder wer auch immer, ich danke dir, daß ich das nicht muß. Ich kann den Vater betrachten, ich kann versuchen, ihn zu verstehen, vielleicht kann ich ihn lieben, und ich würde ihn gern trösten. Ich habe Glück gehabt.
Einfach Glück war es schließlich, daß ich mich nie entscheiden mußte. Mir hat man keine Jungmädel-Uniform angezogen. Das einzige, was ich aushalten mußte, waren diese gräßlichen Rotkäppchen-Kleider, die nach Kriegsende aus den Hakenkreuzfahnen genäht wurden. Ich habe mich nie etwas trauen müssen, wenn ich denn dagegen gewesen wäre. Wäre ich? Eine ganze Generation hat mir etwas vorgelebt, was in meinem Leben niemals stattfinden durfte. Das Erbe all dieser Väter war auszuschlagen. Ich bin der kollektiven Hörigkeit entkommen. Die große Schwester nicht. Empörtes Mitgefühl überfällt mich beim Lesen ihrer Tagebücher. Im November 1944 schreibt sie, da ist sie 21: »Ich kann nicht von ihm lassen und von meinem Glauben an ihn, dem ich gedient habe und dienen wollte mein Leben lang. So sehr gehöre ich dem an, der meinen Vater gemordet hat, daß noch kein klarer Gedanke gegen ihn aufzustehen gewagt hat.« Und wenig später: »Mein Führer, ich war eine der Treuesten. Noch bin ich nicht los von Dir, mein Führer – noch wünsche ich, vor Dir zu stehen, von Deinem Blick festgehalten, und dann befiehl mir, was Du willst, ich werde sterben für Dich.« Und dann: »Ich habe geglaubt und bin betrogen. Ich habe gearbeitet für den Teufel – ich habe geliebt, mein Führer! Zum ersten Mal spüre ich, daß ich hassen könnte … ein wilder Haß, der wildere Liebe war. Haß und Vernichtung dem, der uns vernichtet hat, und wenn ich sterben soll, so will ich sterben im Kampf gegen Dich! Mörder meines Vaters!«
Wenn ich da das Pathos rausnehme und die hirnrissige Hingabe, mit der die Schwester nicht alleinstand, spüre ich dahinter nichts, was diese junge Frau hätte bewahren können vor dem Anheimfallen. Da steht sie 11jährig mit Freunden und Geschwistern rund um den Flügel im Oktober 1933. Der Vater haut in die Tasten, die Kinder recken strahlend die Arme zum Hitlergruß in die Luft. Die Mutter auch. »Wir singen Hitlerlieder mit Vater«, schreibt Else ins Kindertagebuch – sie konnte doch gar nicht singen, verdammt noch mal. Sie war die Krähe unter all den Lerchen in der Familie, die einzige, die nie den Ton traf.
Ständig ist in diesen Tagebüchern die Rede von »hochpolitischen und erhebenden Zeiten«, von Hitlers »genialem Gespür« für den richtigen Zeitpunkt wofür auch immer. Hans Georg beschreibt mehrfach in seinen Sonntagsbriefen von der Ostfront, wie die Führer-Reden im Radio »Offiziere, Unteroffiziere und Männer« zusammenschweißen, auch wenn »in wirklich ekelhafter Nähe die schweren Brocken eines Feindfliegerangriffs niedergehen«. Draußen kracht die Welt in Trümmer, »aber alles übertönt die Stimme des Führers, der alle Männer unbeirrt und hingegeben lauschen«.
Solche Briefe erreichen auch die Kinder – neun Durchschläge schafft die Schreibmaschine, jeder kriegt seinen eigenen, wöchentliche Bestärkung, daß rundum alles richtig und gut sei. Selbst meine nächstältere Schwester – bei Hans Georgs Tod gerade elf – ist einbezogen. Mitleid artikuliert sich noch 1947, als Else die Zeit seit dem Attentat für sie beschreibt: »Für Dich war es am schwersten, Ihr seid mit der Erziehung zur Liebe und Bewunderung für Hitler groß geworden, und Du liebtest Deinen Vater so sehr. Wie sollte das zusammenstimmen?« Ja, wie denn? Else erklärt es dem Kind mit einem vollbesetzten Zug, der auf einen Abgrund zurase. Die Männer des 20. Juli hätten in dem Anschlag ein Mittel gesehen, den Zug noch aufzuhalten. Für Außenstehende habe es so ausgesehen, als wollten sie den Absturz beschleunigen, deshalb hätten sie unehrenhaft sterben müssen. Die wahre Ehre aber liege in dem Versuch, die Katastrophe aufzuhalten, und die könne dem Vater keiner nehmen. Das Kind war getröstet – schreibt Else.
Ehre. Unehrenhaft sterben. Die Katastrophe. Erst wir Nachkommen haben uns mit der Katastrophe herumgeschlagen, die unser Land anderen zugefügt hat. Für die Eltern war die Katastrophe der verlorene Krieg, die Zerschlagung Deutschlands und dessen, wofür es stand. Meine Schwester erzählte mir, wie Else nach dem Krieg von den Vernichtungslagern erfahren hat. Weiß wie die Wand habe sie in der Tür gestanden und gesagt: »Das wird man uns Deutschen nie verzeihen.« Uns Deutschen. Auschwitz – eine Hypothek. Kein Wort, nie, in all den Jahren nicht, über die Opfer.
So komme ich nicht weiter. Wer bin ich denn, heute zu urteilen, wo es darum geht, Früheres zu begreifen? Hans Georg und Else haben bezahlt, jeder für sich. Ich habe da keine Rechnungen aufzumachen und muß meinen Hochmut zügeln. »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind, gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid«, mahnt Bertolt Brecht die Nachgeborenen. 60 Jahre später kann ich hier nicht sitzen ohne Erbarmen und »recht haben«. Mein Glück war die Zäsur. Ich habe angefangen, als alles aufgehört hatte. Was ist mit denen, die beides gelebt haben? Sollten sie, wie von DDR-Bürgern oft verlangt, die ersten 40 Jahre ihres Lebens für ungültig erklären? Immerzu Buße?
Das kann es nicht sein. Verstehen will ich, wie entstanden ist, was meine, die Generation der Nachgeborenen so beschädigt hat. Dazu muß ich zurück in die Geschichte derer, die meine Geschichte geschrieben haben, zurück also zu den Altvorderen in der Familie. Ich muß nach Halberstadt.
Vater und Sohn beim Morgenritt
ICH KANN VERSINKEN IN DEN FRÜHEN FOTOS– Fachwerk, Barock, schiefwinklige Ställe, Innenhöfe. 43000 Einwohner hatte die Stadt um 1900, die Bilder signalisieren Wohlstand, vor allem: Emsigkeit. Geschäfte überall, Märkte, Markisen vor den Läden. Die Conditorei Kaiserhof am Fischmarkt bediente die Kundschaft unter Sonnenschirmen auf einer Terrasse im ersten Stock. Ab 1887 gab es eine Pferdebahn, abgelöst 1903 von der Elektrischen. Seit 1888 konnten die Halberstädter telefonieren. Karl der Große höchstselbst hatte im Jahr 804 das Bistum eingerichtet, noch heute fahre ich über das unglaublich platte Börde-Land auf Halberstadt zu und sehe von ganz weit her Kirchen, jede Menge Kirchen.
Für mich ist Halberstadt Metapher. Halberstadt ist »früher«. Meine Erinnerung an die Stadt, in der ich geboren wurde, die Stadt meiner Kleinkind-Zeit, setzt ein am 8. April 1945, Sonntag nach Ostern, vormittags um 11 Uhr 25. Alliierte Bomber, 215 sollen es gewesen sein, legten 82 Prozent der Altstadt in Schutt und Asche. Da war ich sechs. Alles davor ist in meinem Gedächtnis verschüttet unter Trümmern, verbrannt in der tagelangen Feuersbrunst. Danach weiß ich von schwieriger Nachkriegszeit überall und nirgendwo– das war der Beginn dessen, was mein Leben wurde. Halberstadt gehört nicht dazu. Wann immer ich später dahin fuhr, war grauer, verfallender DDR-Alltag, aufgehellt durch familiäre Freunde, trotzdem fremd. Heute ist Halberstadt Vergnügen. Die Stadt rappelt sich, wie sie sich gerappelt hat nach den Zerstörungen durch Heinrich den Löwen, Bauernkrieg und Reformation, 30jährigem Krieg, Franzosenherrschaft und Kosakensturm.
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