Meinungsfreiheit im Sport - Christof Seeger - E-Book

Meinungsfreiheit im Sport E-Book

Christof Seeger

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Beschreibung

Das Buch befasst sich mit der Frage, ob Athlet:innen politische Meinungen äußern dürfen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Menschenrechte wird der Sport, vor allem im Rahmen von Sportgroßveranstaltungen, immer mehr in kontroverse Diskussionen über seine Verantwortung für gesellschaftlichen Wandel verwickelt. Im Zentrum der Debatte steht die Regel 50.2 der Olympischen Charta, die lange jegliche Meinungsäußerungen während Olympischer Spiele im Grundsatz verbot. Trotz der - u.a. auf Druck von Athlet:innen - zuletzt erfolgten Teil-Liberalisierung, bleiben weiter wichtige Fragen offen. Die Autor:innen untersuchen verschiedene Standpunkte zu diesem Thema und unterstreichen ihre Erkenntnisse durch empirische Analysen von Social-Media-Kommentaren sowie durch Aussagen von Wintersportkonsument:innen. Die Ergebnisse zeigen, dass respektvolle Meinungsäußerungen von Athletinnen an wichtigen Orten durchaus positiv bewertet werden können und einen wertvollen Beitrag zur Vermittlung olympischer Werte leisten können.

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Christof Seeger / Michael Veddern / Linda Reszczynski

Meinungsfreiheit im Sport

Verbote und Grenzen für Athlet:innen bei Olympischen Spielen

UVK Verlag · München

Umschlagmotiv: © shironosov · iStockphoto

 

Die Reihe Sport & Kommunikation greift die Tatsache auf, dass Kommunikationsthemen im Sport immer wichtiger werden. In Breitensportvereinen und Verbänden, aber auch in professionellen Sportorganisationen werden Kompetenzen, vor allem in der digitale Kommunikation und im Austausch mit Mitgliedern, Athlet:innen, Fans und Sponsoren, zukünftig benötigt. Die ausgewählten Bandthemen bieten eine verständliche und fundierte Einführung für Studierende aus den Bereichen Sportkommunikation, Sportjournalismus, Sportökonomie und -marketing und der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Aber auch Praktiker:innen können einen fundierten Mehrwert daraus ziehen.

 

Prof. Christof Seeger war Geschäftsführer eines mittelständischen Zeitungsverlages, bevor er 2005 als Professor an die Hochschule der Medien in Stuttgart wechselte. Er lehrt unter anderem zu Themen der Personalführung und des Managements. 2021 begründete er die Vertiefungsrichtung Sportkommunikation im Master Crossmedia Publishing & Management an der HdM.

 

Prof. Dr. Michael Veddern ist Professor für Medien- und Verlagsrecht an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart. Zuvor hat er als Rechtsanwalt in Hamburg sowie als wissenschaftlicher Mitarbeit am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Universität Münster gearbeitet.

 

Linda Reszczynski ist Absolventin des Master-Studiengangs Crossmedia Publishing & Management an der Hochschule der Medien Stuttgart mit Vertiefung Sportkommunikation. Sie ist Assistentin der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Marketing und Kommunikation in einem Sportverein.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381103720

 

© UVK Verlag 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2752-1303

ISBN 978-3-381-10371-3 (Print)

ISBN 978-3-381-10373-7 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einleitung2 Sport, Politik und Gesellschaft2.1 Das kontroverse Verhältnis von Sport und Politik(1) Sport in der Politik(2) Politik im Sport(3) Politische Struktur und Organisation des Sports2.2 Olympische Spiele und Politik2.3 Die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports3 Die Olympische Bewegung3.1 Sportspezifische und übergeordnete Ziele3.2 Die Olympische Charta3.3 Organisationsstruktur und Aufgaben des IOC3.4 Das IOC in der Kritik3.5 Bekenntnis zu Menschenrechten3.6 Sportgroßereignisse als Medienereignis4 Proteste und Meinungsäußerungen von Athlet:innen4.1 Merkmale und Formen sportbezogenen Protests4.2 Medienvermittelte Proteste4.3 Ausgewählte Beispiele4.4 Auswirkungen sportbezogenen Protests5 Meinungsfreiheit im internationalen Spitzensport5.1 Internationale Dimension der Menschenrechte5.2 Europäische Dimension der Menschenrechte5.3 Meinungsfreiheit als zentrales Menschenrecht5.3.1 Die wichtigsten Kodifizierungen5.3.2 Inhaltliche Ausgestaltung des Schutzes5.3.3 Weltweiter Zustand der Meinungsfreiheit5.4 Die Autonomie der Sportverbände6 Das IOC und Prinzipien der Meinungsfreiheit6.1 International-rechtliche Dimension des IOC6.2 Bindung an internationale Menschenrechtskonventionen?6.3 Rechtlicher Status des IOC6.4 Schweizer Ordre public und Meinungsfreiheit6.5 Rolle der internationalen Menschengerichtsbarkeit6.6 Recht des Ausrichterstaates7 Meinungsäußerungen von Athlet:innen (Regel 50.2)7.1 Bisheriger Gehalt von Regel 507.2 Globale Athletenkonsultationen7.3 Anpassungsempfehlungen zu Regel 50.2(1) Mehr Möglichkeiten zur Meinungsäußerung bei Olympischen Spielen schaffen:(2) Mehr Möglichkeiten zur Meinungsäußerung außerhalb der Olympischen Spiele schaffen:(3) Das Podium, das Spielfeld und die offiziellen Zeremonien schützen:(4) Klarheit über Sanktionen schaffen:(5) Mehr Informationen zu Regel 50 bereitstellen:(6) Regel 50 in zwei Regeln teilen und die Klarheit von Regel 50.2 verbessern:7.4 Aktuelle Leitlinien und praktische Umsetzung7.5 Standpunkte der Verbände, Athletenvereinigungen und Menschenrechtsorganisationen7.5.1 Regel 50.2 und Prinzipien der Meinungsfreiheit7.5.2 Regel 50.2 und Olympische Werte und Prinzipien7.5.3 Regel 50.2 und politische Neutralität7.5.4 Reformvorschläge zu Regel 50.27.6 Bewertung der Diskussion und Argumente7.6.1 Widerspruch zu weltweiten Menschenrechten?7.6.2 Widerspruch zu Olympischen Werten und Prinzipien?7.6.3 Begründbarkeit mit politscher Neutralität?7.7 Zusammenfassende Bewertung der Empfehlungen7.7.1 Kollektive Botschaften in den Zeremonien7.7.2 Plattform für individuelle Meinungsbekundungen7.7.3 Pauschalverbote: Spielfeld, Podium etc.7.7.4 Anpassung von Regel 50.28 Wirkungen politischer Äußerungen von Athlet:innen8.1 Untersuchungsgegenstand: Winterspiele 2022 in Peking8.2 Forschungsdesign8.3 Inhaltsanalyse von Social-Media-Kommentaren8.3.1 Auswahl des Untersuchungsmaterials8.3.2 Kategoriales System8.3.3 Auswertung und Ergebnisse8.4 Bewertung durch Sportkonsument:innen8.4.1 Online-Befragung8.4.2 Auswertung und Ergebnisse8.4.3 Zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse9 Schlussfolgerungen9.1 Gesellschaftspolitische Debatte9.2 Rechtliche Einordnung und Bewertung9.3 Sportpolitische DebatteLiteraturverzeichnis

Vorwort

Wir freuen uns, Ihnen den zweiten Band der Reihe „Sport und Kommunikation“ mit einem sehr aktuellen und relevanten Kernthema der „Meinungsäußerung von Athlet:innen“ im Sport vorstellen zu dürfen. Basis dieser Veröffentlichung war die Abschlussarbeit von Linda Reszczynski im Master Crossmedia Publishing & Management in der Vertiefungsrichtung Sportkommunikation an der Hochschule der Medien in Stuttgart.

Es hat sich bei der Bearbeitung des Manuskripts an vielen Stellen gezeigt, wie komplex sich diese Thematik verhält – vor allem wenn eine transdisziplinäre Perspektive von Kommunikationswissenschaften und den Rechtswissenschaften eingenommen wird. Aus diesem Grund erheben wir auch keinen Anspruch auf die Vollständigkeit der Darstellungen, sondern wollen es dabei belassen, einen umfassenden Überblick über ein Themenfeld zu geben, welches in Zukunft noch zu einem weiteren öffentlichen Diskurs und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen führen wird. Unsere theoretischen Einordnungen und Standpunkte haben wir noch mit eigenen empirisch erhobenen Daten unterfüttert.

Die Auswirkungen der Digitalisierung der Medien und der damit verbundenen Erweiterung von Publikationsmöglichkeiten wirft manche Frage nach dem Status quo und den bisherigen Praktiken, gerade auch in Bezug auf die individuellen Meinungsäußerungen von Athlet:innen auf, und es scheint sich hier eine neue Dynamik zu entwickeln.

Wir sind uns einig, dass gerade auch aus wissenschaftlicher Sicht, der ein oder andere Punkt vielleicht nicht vertiefend genug behandelt worden ist, und freuen uns deshalb auch auf Anregungen und Anmerkungen seitens unserer Leserschaft. Deshalb haben wir die Mailadresse sportkommunikation@uvk-muenchen eingerichtet und sind dankbar für jeden Austausch und Hinweis.

 

Stuttgart, im August 2023

Prof. Christof Seeger

Prof. Dr. Michael Veddern

Linda Reszczynski

1Einleitung

Das System des Sports befindet sich in einem intensiven Austausch mit vielen weiteren relevanten Teilsystemen der Gesellschaft. Dies gilt z. B. für die Wirtschaft, für Massenmedien, das Bildungs- und Erziehungssystem und die Politik. Vor allem von Sportfunktionär:innen wird die Idee des „unpolitischen Sports“ vehement verteidigt. Ein zunächst nachvollziehbares Hauptargument ist, den Sport und die große mediale Aufmerksamkeit von Sportgroßveranstaltungen nicht von gesellschaftlichen und politischen Kräften instrumentalisieren zu lassen, um politische oder aber auch andere Botschaften abseits des Sports zu kommunizieren.

Gerade die Olympischen Spiele1 sind, als eine der größten Sportveranstaltungen, für derartige Intentionen prädestiniert. Olympia genießt eine weltweite Aufmerksamkeit und bietet eine riesige Plattform für den Sport und seine Randbereiche. Die Olympischen Spiele werden auch zunehmend als ein gesellschaftliches und politisches Ereignis angesehen – es geht längst nicht mehr nur um das reine Sporttreiben, den internationalen sportlichen Wettbewerb und den olympischen Gedanken. Die Bühne wird mittlerweile zunehmend von staatlichen und nicht-staatlichen Akteur:innen außerhalb des Sports benutzt, um kommerzielle und nicht-kommerzielle Botschaften zu verbreiten. Diese Veränderungen sind sichtbar und werden immer häufiger diskutiert.

Wie politisch die Olympischen Spiele mittlerweile sind und wie politisch sie sein dürfen, sind Kritikpunkte am Vorgehen des Internationalen Olympischen Komitees, insbesondere auch in der Wahl des Veranstaltungsortes. Aufgrund ihres herausragenden Aufmerksamkeitswerts wird den Olympischen Spielen eine besondere Stellung im internationalen Sport beigemessen. Um eine politische Instrumentalisierung der Spiele zu vermeiden und die sich aus der historischen Tradition ergebende politische Neutralität zu wahren, verbietet das Internationale Olympische Komitee (IOC) im Rahmen der Regel 50.2 der Olympischen Charta jede „Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda“ bei den Olympischen Spielen. Der Fokus während der Wettkämpfe und offiziellen Zeremonien soll ausschließlich auf die Leistungen der Athlet:innen gerichtet sein und die internationale Einheit bewahren.

Vor dem Hintergrund bis heute bestehender Diskriminierungen von Minderheiten, zwischenstaatlicher Systemkonflikte und in Anbetracht des weltweiten Kriegsgeschehens, erscheint die Regel zunächst sinnvoll und verständlich. Die beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Konflikte führten in den letzten Jahren jedoch vermehrt zu politischen Artikulationen von Demokratie- und Bürgerrechtsbewegungen, wie z. B. Solidaritätsbekundungen für die Black-Lives-Matter-Bewegung oder Demonstrationen zugunsten allgemeiner Geschlechtergerechtigkeit. Gesellschaftlich hat dies eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Einhaltung von Menschenrechten hervorgerufen. Der Sport bleibt davon nicht unberührt, wobei vor allem die individuelle Rolle von Athlet:innen als Träger:innen politischer Meinungsbekundungen im Fokus steht.

In dieser Hinsicht kann Regel 50.2 der Olympischen Charta daher auch als Beeinträchtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung der Athlet:innen aufgefasst werden. Darüber hinaus wird die Legitimität der Regel auch unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten in Frage gestellt, da dem Sport, insbesondere auf internationaler und olympischer Ebene, eine Vielzahl gesellschaftlicher Ziele attestiert wird. Im Mittelpunkt stehen dabei mutmaßliche Funktionen für Integration, Toleranz, Frieden, Respekt und Völkerverständigung. Athlet:innen wird aufgrund ihrer Vorbildfunktion und Präsenz in den Massenmedien von vielen Seiten die bedeutende Aufgabe zugeschrieben, diesen demokratischen Werten Rechnung zu tragen und somit gesellschaftliche Orientierung zu bieten. Durch entsprechende Meinungsäußerungen besteht demnach die Möglichkeit, Aufmerksamkeit für politische oder gesellschaftsrelevante Themen zu erzeugen und somit sozialen Wandel anzuregen.

Ausgehend einiger Empfehlungen der IOC-Athletenkommission, die aus einer weltweiten Athletenkonsultation resultieren, hat das IOC vor den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio Lockerungen der Regel 50.2 beschlossen. Demnach werden – trotz weiterhin unveränderten Wortlauts der Regel – respektvolle Meinungsäußerungen von Athlet:innen akzeptiert, solange diese nicht während offizieller Zeremonien, während des Wettbewerbs und im Olympischen Dorf stattfinden. Insbesondere bei Athletenvereinigungen und Menschenrechtsorganisationen stößt die Regel jedoch weiter auf Kritik, da sie weiterhin Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung enthält. Besonders im Vorfeld der im Februar 2022 ausgetragenen Winterspiele in Peking, die ohnehin aufgrund der Menschenrechtssituation in China Gegenstand von Diskussionen waren, lebte die Debatte wieder auf. Auch wenn die Meinungsfreiheit keine für den IOC unmittelbar verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts ist, stellt sich die Frage nach der Berechtigung des IOC, über die Regel 50.2 die Rechte der Athlet:innen, insbesondere auch in ihrer Funktion als Identitätsfigur und Vorbilder, zu beschränken. In diesem Buch beschäftigen wir uns daher mit der Frage, inwieweit der internationale (Spitzen-)Sport politisch neutral sein sollte und befassen uns, aufbauend auf der grundsätzlichen Debatte, mit der Zulässigkeit politischer Meinungsäußerungen von Athlet:innen im Rahmen Olympischer Spiele. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht daher folgende Leitfrage:

Inwiefern ist der Meinungsfreiheit von Athlet:innen während der Olympischen Spiele sowohl unter der Berücksichtigung rechtlicher und gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen als auch in Anbetracht der gesellschaftlichen Stellung und Verantwortung von Athlet:innen Geltung zu verschaffen?

Durch ihre juristische, politische und gesamtgesellschaftliche Dimension bewegt sich die Untersuchung in einem interdisziplinären Spannungsfeld, welches in seiner Gesamtheit bisher wenig beachtet wird. Während sich die Sportwissenschaft zurecht auf die Betrachtung sportpraktischen Handelns fokussiert, ist die gesellschaftspolitisch-rechtliche Perspektive erst jüngst Gegenstand von wissenschaftlichen Arbeiten. Mittlerweile beschäftigen sich einige Studien mit der politischen Dimension von Sportgroßveranstaltungen. Weitere Forschungsarbeiten befassten sich im Rahmen der Olympischen Spiele 2008 in Peking zudem mit der Menschenrechtssituation in China und der Berichterstattung während der Spiele (Pieper 2011, Poerner 2009). Ferner war die Sicht der deutschen Bevölkerung auf die Olympischen Spiele sowie das Image des IOC Teil wissenschaftlicher Untersuchungen (Scheu 2020). Neben bereits erforschten gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten und Untersuchungen zur Vorbildfunktion von Athlet:innen im Allgemeinen, gehen aus der bisherigen Forschung zudem konkrete Formen und Motive sowie mögliche Konsequenzen und Auswirkungen politischer Positionierungen von Profisportler:innen hervor (Mensing 2019; Hollnagel 2020).

Die Auseinandersetzung mit der Zulässigkeit politischer Meinungsäußerungen von Athlet:innen unter besonderer Berücksichtigung rechtlicher und gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen findet im Rahmen der eingangs erläuterten Debatte über Regel 50.2 der Olympischen Charta und der damit verbundenen weltweiten Athletenkonsultation zwar verstärkt statt, dennoch ist sie bisher nur bedingt Teil wissenschaftlicher Forschung. Bei der Betrachtung der mit den allgemeinen Zielen des olympischen Sports mutmaßlich einhergehenden gesellschaftlichen Verantwortung von Athlet:innen, sollen zudem bereits vorhandene Erkenntnisse zu Reaktionen von Sportrezipient:innen auf politische Positionierungen von Sportler:innen als Forschungsgrundlage dienen.

Ausgehend davon erfolgt zunächst eine kritische Betrachtung in Form einer systematischen Analyse der einschlägigen gesellschaftspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Daran schließt sich eine Analyse der verschiedenen Standpunkte, die im Rahmen der Reformdebatte um die Regel 50.2 Olympische Charta vertreten werden, an, um Antworten auf die Frage zu geben, inwiefern Regel 50.2 der Olympischen Charta im Widerspruch zu weltweiten Rechtsprinzipien steht. Der Fokus wird insbesondere auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Olympischen Werte selbst gelegt. Sind die geforderten Einschränkungen von Meinungsäußerungen mit der Erklärung politischer Neutralität seitens des IOC überhaupt begründbar? Und sind die verkündeten Empfehlungen zur Anpassung der Regel 50.2 Olympische Charta angemessen bzw. ausreichend?

Die theoretische Argumentation wird anhand von konkreten Beispielen von Meinungsäußerungen während der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking in der Praxis untersucht. In China herrscht ein autoritäres Regime, Menschenrechtsverletzungen und die Überwachung der Bevölkerung gehören seit langer Zeit zum Staatssystem, die Umweltverschmutzung ist gravierend und das Wintersportereignis fand in einem Land statt, in dem Schnee selten ist. In der internationalen und der deutschen Berichterstattung wurden die aktuelle chinesische gesellschaftliche und politische Situation auch in Zusammenhang mit der sportlichen Berichterstattung vor und während der Olympischen Spiele 2022 thematisiert. Auch wurde auf die ungenügende Menschenrechtssituation und weitere Missstände aufmerksam gemacht. Die Medien können an dieser Stelle für die Olympischen Spiele ihre bedeutungsvolle und relevante Rolle wahrnehmen und nutzen, um zu gesellschaftlichen und politischen Themen in China im Rahmen der Sportberichterstattung zu berichten.

In diesem Kontext soll daher auch die Relevanz der medial vermittelten politischen Kommunikation von Athlet:innen während der Berichterstattung über die Olympischen Spiele 2022 Gegenstand der geführten Diskussion sein. Dabei interessiert uns besonders folgende Fragestellung:

Wie wird während der Berichterstattung zu Olympia 2022 von ausgewählten Nachrichtenseiten politisch im Rahmen ihrer Sportberichterstattung im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen von Athlet:innen kommuniziert und welche Wirkung erzielen die vermittelten Meinungsbekundungen von Athlet:innen bei den Rezipient:innen?

Die Auseinandersetzung mit dieser Frage soll zeigen, ob und, wenn ja, welche Wirksamkeit das Zusammenspiel sportlicher und politischer Berichterstattung im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen von Athlet:innen tatsächlich hat.

Wir beschränken uns dabei bewusst auf die Berichterstattung von ausgewählten Nachrichtenportalen im Internet, obwohl andere Mediengattungen ebenfalls über die Olympischen Spiele berichten. Wir tun dies vor dem Bewusstsein, dass Internetmedien den Rundfunk – sowohl subjektiv als auch objektiv – als Medium mit dem höchsten Gewicht für die öffentliche Meinungsbildung abgelöst haben (Die Medienanstalten 2022).

Zur Beurteilung der praktischen Relevanz von Meinungsäußerungen von Athlet:innen wird ein empirischer Ansatz gewählt, der zunächst eine inhaltsanalytische Betrachtung von Social-Media-Kommentaren von Athlet:innen vorsieht. Diese Betrachtung soll Aufschluss darüber geben, inwiefern Meinungsäußerungen von Athlet:innen während der Olympischen Winterspiele in Peking Einfluss auf die Diskussionen in sozialen Netzwerken nehmen. Dabei werden auch die Reaktionen von Nutzer:innen in der Anschlusskommunikation der ausgewählten Social Media-Plattform (Instagram) untersucht.

Vertiefende Erkenntnisse ergeben sich zusätzlich aus der direkten quantitativen Befragung von Wintersportkonsument:innen. Dies gibt einen Einblick, welche Bedeutung Meinungsäußerungen von Athlet:innen aus Sicht der Gesellschaft haben und wie diese bewertet werden.

Die gesellschafts- und sportpolitisch zu führende Debatte über Meinungsäußerungen von Athlet:innen, insbesondere während Sportgroßveranstaltungen, befindet sich erst am Anfang. Das Ziel dieser Veröffentlichung ist es, eine Orientierung und Sensibilisierung für diesen Themenkomplex zu schaffen.

2Sport, Politik und Gesellschaft

Die Beziehung zwischen Sport, Politik und Gesellschaft ist einerseits sehr faszinierend, aber auch sehr komplex. Bulgrin (2014) formuliert sogar, dass eine systematische wissenschaftliche Untersuchung der Zusammenhänge bisher kaum stattgefunden hat. Im Grunde sind, zumindest inszenierte Sportgroßereignisse, schon in der Antike ein Unterfangen mit politischer Intension gewesen. Das reine Kräftemessen und der Wettkampf in antiken Zivilisationen hatte zunächst zum Ziel, Männer für den Kampf auf den Schlachtfeldern zu trainieren. Aber schon die politische Elite im antiken Griechenland oder im antiken Rom haben sportliche Wettkämpfe inszeniert, um einerseits die eigene Überlegenheit zu demonstrieren, aber auch um das Volk zu unterhalten. Im Laufe der Zeit haben sich vor allem internationale Sportgroßereignisse wie die Olympischen Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften zu wichtigen öffentlichen Plattformen entwickelt, um politische Themen aufgrund der medialen Aufmerksamkeit und der großen Öffentlichkeit zu addressieren.

Der politische Charakter entsteht durch die Einflussnahme von gesellschaftlichen Trägern und Organisationen, verbunden mit Motiven und Interessen, die außerhalb der eigentlichen Wettkampforientierung liegen (Lösche 2002). Aber auch wenn verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden, so gibt es dennoch große gemeinsame Interessensbereiche der jeweiligen Gesellschaft, z. B. Themen der Gesundheit, der Schule oder des Freizeitverhaltens (Rösch 1980), die einer ständigen Dynamik unterliegen und abhängig von aktuellen politischen Ereignissen, aber auch der Historie sind (Lösche 2010). Sportpolitik kann demnach weit gefasst werden und ist „ein auf die Gestaltung und/oder Instrumentalisierung des Sports gerichtetes Handeln von Akteuren aus den Bereichen Politik, Sport und Gesellschaft“ (Groll 2005, S. 61).

2.1Das kontroverse Verhältnis von Sport und Politik

Der Sport hat in den zurückliegenden Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel erfahren. Insbesondere Sportgroßveranstaltungen haben sich zu gesamtgesellschaftlichen Ereignissen entwickelt, die mit großer öffentlicher Wirkung in verschiedene Lebensbereiche hineinwirken und gleichzeitig äußeren Einflüssen unterworfen sind (Mittag 2021). An dieser Stelle werden die Interessenskonflikte sehr schnell deutlich. Aus der reinen Sportperspektive ist es wünschenswert und nachvollziehbar, dass es sich um einen politisch neutralen Bereich handeln sollte, der unabhängig von ökonomischen und politischen Einflussnahmen existiert. Andererseits sind große Sportereignisse auch eine wirtschaftliche und zunehmend geographische Herausforderung. Sponsorengelder sind zwingend, um Infrastrukturmaßnahmen, die Durchführung und vieles mehr zu finanzieren. Für die Austragungsländer sind Sportgroßveranstaltungen eine Chance, sich auf der Bühne der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, und haben demnach eine hohe Symbolkraft für die austragenden Nationen. So bietet die Austragung dem Gastland die Chance, positive Vorstellungen zu bestärken und neue positive Assoziationen zu erzeugen (Schallhorn 2017). Politiker und andere Interessensgruppen nutzen deshalb die Veranstaltung und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit, um ein positives Signal an die eigene Bevölkerung und an andere Nationen zu senden. Schwier (2006) erwähnt dabei das Konzept des „Nation Building“ und bezieht sich dabei auf eine nationale Stabilisierungs- und Identifikationsfunktion. Das verfolgte Ziel ist die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls und der nationalen Identität. Dies stellt eine wichtige Grundlage für den Aufbau eines positiven Nationalgefühls dar, um sich mit den Werten und Traditionen der eigenen Nation zu identifizieren (Gleich 2008). Auf der politischen Ebene steht dabei nicht nur die Orientierung an der eigenen Bevölkerung im Vordergrund, es wird vielmehr ein Fokus daraufgelegt, wie man von anderen Nationen wahrgenommen wird.

Dieses Nation Branding ist von zentralem politischem Interesse. Dabei handelt es sich um „a process by which a nation’s images can be created, monitored, evaluated and proactively managed in order to improve or enhance the country’s reputation among a target international audience“ (Fan, 2010: S. 101). Insbesondere Regierungen haben ein besonderes Interesse diesen Prozess aktiv zu gestalten und das eigene Land im bestmöglichen Licht darzustellen, um über die Sportveranstaltung hinaus positive Auswirkungen als Wirtschaftspartner oder Tourismusziel zu erzielen und die Attraktivität des Landes zu erhöhen (Knott/Fyall/Jones 2015).

Die politischen Bestrebungen sind dabei keinesfalls neu. Mit den Olympischen Spielen 1972 in München sollte die nationalsozialistische Vergangenheit der ebenfalls im Sinne eines politischen Nation Brandings stark missbrauchten Olympischen Spiele 1936 in Berlin in den Hintergrund gerückt werden. Die Olympischen Spiele 1988 in Südkorea sollten ein hochtechnologisches, modernes Austragungsland zeigen und westliche Botschaften in den Norden von Korea senden. Australien nutzte die Olympischen Spiele 2000 als Gelegenheit, um sich als attraktives Tourismusziel zu inszenieren.

Vor allem die mediale Berichterstattung und die Visualisierung von Botschaften ist dabei ein sehr wichtiger Punkt. Kritiker befürchten indessen, dass der Sport als Kernprodukt immer mehr in den Hintergrund rückt und zunehmend im Konflikt mit der Politik steht.

Lüschen (1996) stellt anhand von drei Perspektiven die Wechselwirkungen von Sport, Politik und Gesellschaft wie folgt dar:

(1) Sport in der Politik

Dabei wird in erster Linie der Stellenwert des Sports im politischen System und somit die Instrumentalisierung des Sports für allgemeine gesellschaftliche und politische Ziele beschrieben. So instrumentalisieren z. B. Politiker den Sport, um ihre Bekanntheit und ihr Ansehen zu steigern. In besonders gravierender Form geschieht dies häufig innerhalb totalitärer Systeme, wenn der Sport als ein Hilfsmittel für Propaganda und Machterhaltung eingesetzt wird. Doch auch staatenübergreifende oder staatenunabhängige Vereinigungen und Organisationen, wie z. B. das IOC, versuchen immer wieder, politische Entscheidungen hinsichtlich politischer Konfliktsituationen zu treffen oder die öffentliche Diskussion zu beeinflussen. Diese Perspektive kann dadurch erweitert werden, dass Sport als politisches Symbol verstanden wird, bei dem das sportpraktische Geschehen im Sinne eines symbolischen Ausdrucks von gesellschaftlichen Strukturen angesehen wird (Güldenpfennig 2002). In Bezug auf die Instrumentalisierung des Sports müssen demnach nicht zwangsläufig negative Aspekte gemeint sein. Auch in Bezug auf Völkerverständigung, Integration und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Gesellschaften kann von einer Instrumentalisierung des Sports gesprochen werden (Pieper 2011).

(2) Politik im Sport

Diese Perspektive beschreibt hauptsächlich das politische Einwirken gesellschaftlicher Interessen auf das sporteigene System bzw. dessen Kontrolle von außen. (National-)staatliche Institutionen setzen den Sport beispielsweise als Mittel ein, um Druck auf andere Staaten auszuüben, indem sie Boykotte oder Sanktionen als mögliche Maßnahmen erwägen. Unter dem Deckmantel des Sports kann zudem Diplomatie auf zwischenstaatlicher Ebene betrieben werden, wie dies beispielsweise die Annäherung von Nord- und Südkorea im Kontext Olympischer Spiele zeigt (Groll 2005).

(3) Politische Struktur und Organisation des Sports

Diese Perspektive weist auf die Parallelen der politischen Strukturen von Sportorganisationen und Staaten hin. Sport als institutionelles System – also als Gesamtheit der gesellschaftlichen Träger des Sports, seiner Organisationen und deren Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen – hat insofern einen politischen Charakter, als dass es innerhalb dieser Organisationen um Macht und Einfluss gehen kann (Mensing 2019).

Neben staatlichen und sportlichen Institutionen geraten innerhalb dieser Betrachtung auch weitere Akteure in den Mittelpunkt, die untereinander im Wettbewerb um den Einfluss auf den Sport stehen. Insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Staat und Sport können einzelne sportpolitische Entscheidungen beeinflussen. Erweitert wird dieses Interaktionsgeflecht um die immer einflussreicher werdenden Medien (Ihle 2017).

2.2Olympische Spiele und Politik

Gerade Sportgroßereignisse wie die Olympischen Spiele bilden angesichts ihrer weltweiten medialen Aufmerksamkeit eine Projektionsfläche für politische Interessen (Mittag 2018). Für die ausrichtenden Nationen sind sie neben sportlichem Prestige auch als Motor touristischer und infrastruktureller Maßnahmen sowie als Möglichkeit der Imagesteigerung und des volkswirtschaftlichen Nutzens attraktiv. Durch Identifikations- und Integrationseffekte können Sportgroßveranstaltungen zudem zur Förderung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts beitragen. Nicht zuletzt sind sie auch Bühne für politische Inszenierungen und Proteste. In einer Zeit, in der die informative Vermittlung politischer Inhalte durch emotionale Darstellungsformen ergänzt wird, versucht die Politik ihre Botschaften auch im Kontext von Unterhaltungsformaten zu platzieren, in dem sich auch die Olympischen Spiele bewegen (Ihle 2017).

Das Interesse politischer Akteure, die Spiele in den Dienst eigener politischer Ziele zu stellen, prägt die gesamte olympische Geschichte: Die bereits erwähnten Olympischen Spiele 1936 im nationalsozialistischen Deutschland, erste Boykottbewegungen nach dem Ungarischen Volksaufstand in Melbourne 1956, ein Boykott Afrikas 1976 in Montreal, Boykott und Gegenboykott der Großmächte in Moskau 1980 und Los Angeles 1984, Proteste seitens der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Mexico City 1968 sowie der palästinensische Terroranschlag in München 1972 sind einige Beispiele, die zeigen, dass die Olympischen Spiele keinen politischen Freiraum darstellen (Filzmaier 2004). In jüngster Vergangenheit wird im Kontext der Olympischen (Winter-) Spiele in Peking oder Sotschi jedoch die Devise des „unpolitischen Sports“ immer wieder, vorwiegend durch Vertreter:innen autoritärer Regime, hervorgehoben. Streppelhoff (2014) stellt fest, dass bereits in den Anfängen des IOCs Bestrebungen, die Spiele frei von Politik zu halten, zu finden sind. Eine Entwicklung ist auf den privat organisierten Sport in England zurückzuführen, der die Olympische Bewegung beeinflusste und von der Ablehnung staatlicher Einmischung geprägt war. Darüber hinaus führte der Versuch der Vereinnahmung des Sports durch kommunistische Regierungen zu Abwehrreaktionen innerhalb des eher im westlich-bürgerlichen Milieu verankerten Sports, den der IOC lange Zeit verkörperte. Drittens wurde vor allem bei dem ehemaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage das Bestreben deutlich, Sport mit Kunst gleichzustellen und somit eine Parallele der politischen Neutralität herzustellen.