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Peter Handke wurde 2019 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er ist einer der umstrittensten und produktivsten Autoren der Gegenwart. Sein Bild in der Öffentlichkeit ist von Extremen geprägt: Hohepriester der Kunst, einsamer Mönch, Serbenfreund. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen Bildern? Auch sein Leben erscheint als Gratwanderung zwischen Extremen: zwischen Einsamkeit und Liebe, Menschenscheu und Ruhmsucht, Sprache und Politik, Traum und Welt. Malte Herwig führte lange Gespräche mit dem Dichter, dessen Verwandten, Weggefährten und Kontrahenten, und er erhielt Einsicht in unveröffentlichte Texte Handkes. So entstand eine aufschlussreiche und kontroverse Biographie.
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Seitenzahl: 556
Malte Herwig
Meister der Dämmerung
Peter Handke
Eine Biographie
Die Zitate aus den Büchern von Peter Handke entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags den dort erschienenen und im Siglenverzeichnis aufgeführten Werken.
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FÜR MARKUSDU WIRST BLEIBEN
Aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2020
Copyright © 2011 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 2012/2020 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenTypografie und Satz: Brigitte MüllerISBN 978-3-641-05205-8V004
www.pantheon-verlag.de
»He ’s the white devil.« »Yeah, I ’m the white devil.«
Clint Eastwood, Gran Torino
»Der Teufel steckt in mir, tausend Teufel stecken in mir.«
Immer noch Sturm
Alles ist Verwandlung. Wer die Biographie eines Künstlers schreibt, noch dazu eines lebenden, sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen. Er darf die literarischen Masken nicht weniger ernst nehmen als die Gesichter seiner Gesprächspartner – die sich ja wiederum als Masken entpuppen können.
Natürlich gibt es die üblichen Daten, die aktenkundig geworden sind. Aber ein Lebenslauf ist noch keine Biographie, so wie ein Baugerüst kein Haus und ein Skelett kein Mensch aus Fleisch und Blut ist.
»Wenn ich nachdenke, was ich bisher in meinem Dasein erlebt habe«, schreibt Handke in seinem Roman Mein Jahr inder Niemandsbucht, »dann war das weder der Krieg in der Kindheit, noch die Flucht aus dem Russendeutschland heim nach Österreich, noch das jugendlange Eingesperrtsein ins Internat, noch, nach den vielen Fiebrigkeiten, jene erste ruhige Zeile, bei der ich wußte, ich war nun auf dem Weg, noch das Zusammensein mit einer Frau oder meinem Kind, sondern allein jene Verwandlung.«
Es gibt wenige Autoren, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet haben wie Peter Handke. Ein Schriftsteller formt nicht nur ein Werk, er wird auch von ihm geformt, so wie ein Gesetz zwar nicht den Naturzustand einer Gesellschaft beschreibt, aber dennoch ihre Geschicke beeinflußt. Peter Handke hat seiner als chaotisch und unsicher empfundenen Existenz schon früh ein Gesetz gegeben, indem er zu schreiben anfing.
Wenn er jemals seine Autobiographie schreiben würde, erzählte Handke mir einmal, dann würde er sie Betrachtungen meiner Irrtümer nennen. Nicht falsche Bescheidenheit oder Koketterie verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis – vielleicht der stärkste Antrieb zum Schreiben überhaupt. So darf sich auch der Biograph nicht davon leiten lassen, was angenehm, vorteilhaft oder wünschenswert an seiner Geschichte sein kann. Sondern er muß vorurteilslos lesen und recherchieren. Was auf den folgenden Seiten steht, ist folglich nichts als die Wahrheit.
Die Aufgabe des Biographen ist es, das Leben in seinen Höhen und Tiefen zu zeigen und den Verwandlungen nachzuspüren. Vollständig und abschließend kann so ein Werk im Leben nie werden und muß es auch nicht. Aber der Biograph sollte etwas Wesentlichem auf der Spur sein. Seine Neugier muß dem Menschen mit Haut und Haaren gelten, dem »full man«, wie ein englischer Autor einmal schrieb. Ein Urteil fällen können dann andere.
Peter Handke hat diese Voraussetzung sofort akzeptiert, als ich ihm von meinem Plan erzählte, ein Buch über ihn zu schreiben. Handke hat mir mehrere Jahre lang immer wieder Zugang zu Briefen, Familiendokumenten, seinen Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen gewährt und war zu zahlreichen Gesprächen bereit. Er hat mir den Kontakt zu seinen Freunden ermöglicht und den zu seinen Gegnern akzeptiert. Von gelegentlichen Nachfragen abgesehen (»Haben Sie immer noch nicht aufgegeben?« – »Geht Ihnen das Geld nicht aus?«), hat er nie versucht, auf den Fortgang des Projekts Einfluß zu nehmen.
Wer über einen lebenden Künstler schreibt, hat vor allem eine Pflicht: nah dran zu sein – als genauer Leser wie als Beobachter und Befrager. Gleichzeitig gilt es, Distanz zu wahren. Man darf nicht eingreifen ins Geschehen und sich auch nicht gemein machen mit den Beteiligten. Doch ohne Sympathie wäre der Stoff des Biographen schon zu Lebzeiten tot.
»Natürlich will ein Künstler nicht bewundert, sondern in treusorgender Ironie betrachtet werden«, hat Peter Handke in den Phantasien der Wiederholung geschrieben. Daran habe ich mich gehalten.
M. H.
Hamburg, im Juli 2010
»Bei allem Guten wie auch Bösen, das mir widerfährt, denke ich: ›Das kann nur mir passieren‹ – ›Wieso?‹ – ›Keine Frage!‹« Ein Selbstgespräch, am 10. Oktober 2020 von Handke im Tagebuch notiert.
Als diese Biographie vor zehn Jahren erschien, war kaum abzusehen, dass ihm eines Tages auch der Nobelpreis »widerfahren« würde ‒ und welches Wort wäre zutreffender angesichts der darauf folgenden Debatte? Handke hat auch sie akzeptiert. Wenige Tage nach der Rückkehr aus Stockholm schrieb er mir: »So, und vielem zum Trotz: Es war eine schöne, auch schön einschneidende Zeit.«1
Gibt es einen anderen zeitgenössischen Schriftsteller, der so herrlich abweisend ist gegenüber all den Ansprüchen, die Literaturbetrieb und Gesellschaft an Künstler stellen wollen? Gibt es einen freieren Künstler als Handke?
Es war diese Radikalität, die mich von Anfang an faszinierte und die, in den Worten eines österreichischen Rezensenten, aus der Biographie einen »Abenteuerroman« vom Innenleben des Dichters werden ließ.
Seine Unabhängigkeit hat ihn oft einsam gemacht. Er kann unleidlich, ungerecht und unausstehlich sein ‒ aber auch fürsorglich und einfühlsam gegenüber Mitmenschen (und zwar gerade denen, auf die sonst niemand achtet).
Es ist kein Wunder, wenn der Mensch und Künstler Handke die Gemüter spaltet. Manche meinen sogar, die Welt in »Handke-Jünger« und »Handke-Gegner« einteilen und sich zur letzten Entscheidungsschlacht in Stellung bringen zu müssen.
Mein Ziel war es von Anfang an, den ganzen Handke zu zeigen mit Höhen und Tiefen und das Urteil den Leserinnen und Lesern dieser Biographie zu überlassen. Ich wollte auch keine Studie über Handkes Werk schreiben, sondern über sein Wirken, also den Zusammenhang von Leben und Schreiben.
»Und weil ich erkannt habe«, erklärte Handke 1972, »daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können.«2 Das ist kein missionarischer Eifer, das ist ein Angebot.
Wer in Handkes Büchern nur langatmige Naturbetrachtungen und esoterische Selbstbespiegelung vermutet, weiß noch nichts vom Reiz eines anderen Lesens. Ein Plot ist leicht zu haben, manche Autoren planen ihre Romanhandlung heute mit Excel-Tabellen. Handke dagegen erlebt das Schreiben noch, und seine Texte haben die Fähigkeit, die Lesenden zu beleben.
Was Handke bietet, könnte aktueller nicht sein. Alle reden heute von Achtsamkeit, Meditation und Entschleunigung (aber schnell!). Dabei braucht es gar nicht viel – und schon gar keinen Kulturpessimismus – um auch in dieser chaotischen, fremd scheinenden Welt wieder zu sich zu kommen.
Handke zeigt den Weg: Geht. Schaut. Lest.
M. H.
Hamburg, im April 2020
»He not busy being born is busy dying.«
BOB DYLAN
Klagenfurt, im Frühling 1942. Die junge Maria Siutz genießt das Stadtleben. Für sie bedeutet es die große Freiheit: Tagsüber die Arbeit in einem Hotel. Danach tanzen, sich unterhalten, lustig sein bis in die späten Nachtstunden.
Seit drei Jahren tobt der Krieg, aber hier merkt man nicht viel davon. Die Hakenkreuzfahnen spiegeln sich im Wörthersee, die Führerstimme im Volksempfänger hat noch etwas Beruhigendes, und an Wochenenden herrscht wogendes Gedränge auf dem Adolf-Hitler-Platz.
Maria geht auf in der neuen Volksgemeinschaft. Sie hat nie verstanden, warum der Vater und die Brüder so stolz sind auf ihre slowenischen Vorfahren. Heimatlose Tagelöhner, Knechte, Wanderarbeiter – eine schöne Ahnengalerie ist das! Nein, sie mußte raus aus dem kleinen Grenzdorf Griffen, wo sie sich bei der Landarbeit die Hände wund scheuerte und keine Zukunft hatte.
Die Zukunft gehört den Deutschen, das hat sie immer wieder gehört seit 1938. Ganz Kärnten ist deutsch. Sogar an den Bauernhäusern hängen Spruchbänder mit der Aufschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. In den Stuben mahnen Plakate: »Der Kärntner spricht Deutsch.«1 Slowenisch, die Sprache von Marias Vorfahren, ist seit dem »Anschluß« Österreichs an Hitlerdeutschland verboten.
An diesem Frühlingsabend hätte Maria ohnehin nicht slowenisch gesprochen. Sie hat sich fein herausgeputzt und ist ein bißchen aufgeregt, als sie in die Paradeisergasse einbiegt und das Hotel Tigerwirt betritt. Der alte Gasthof ist ein beliebter Treffpunkt der gehobenen Klagenfurter Gesellschaft. Hier sitzen Stadtverordnete und Wehrmachtsoffiziere, Geschäftsleute und Liebespaare. Auch die Hauptfunktionäre des Kärntner Heimatdienstes sind hier nach 1918 zusammengekommen, um den »Abwehrkampf« gegen den neu entstandenen Staat der Jugoslawen zu organisieren.
Maria hat keine Berührungsängste. Und kaum öffnet sie die Tür zur Gaststube, springt einer der dort Sitzenden schon auf: der deutsche Wehrmachtssoldat, der ihr immer so schöne Komplimente macht. Erich Schönemann ist kleiner als sie, fast kahlköpfig, dreizehn Jahre älter – und verheiratet.
Es gäbe viele Gründe für die zweiundzwanzigjährige Maria Siutz, auf dem Absatz kehrtzumachen und in das Leben zurückzukehren, das ihr bestimmt zu sein scheint. Ein archaisches Leben, in dem Achtung vor den »vollendeten Tatsachen«2 herrscht: vor Geburt, Heirat, Schwangerschaft, Dorfleben und Tod. Dahinter keine Welt.
Was für ein Gegensatz tut sich auf, wenn sie die Familie auf dem Dorf besucht. Neben der städtisch-elegant gekleideten Maria sieht die ältere Schwester fast wie eine Schweinemagd aus – und schimpft auch so: »Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit dem reichsdeutschen Ziegenbock im Tigerwirt durchs Doppelbett.« Bereitet es Maria kein schlechtes Gewissen, die Nächte mit einem deutschen Soldaten zu verbringen, während die Sippe daheim auf dem winzigen Hof schuftet?
Nein, sie will sich von niemandem mehr etwas sagen lassen. Nur noch von ihm, dem Heißgeliebten. Erich Schönemann gibt sich weltmännisch; der fesche Offizier stellt etwas dar, ist Zahlmeister der Kompanie. Wenn sie die Kartoffeln mit dem Messer zerschneidet, rügt er ihren Mangel an Etikette. Im Frieden – wie lang ist das her – war er Sparkassenangestellter. Im Krieg hat er bisher Glück gehabt, nur einmal ist er im Lazarett gelandet – wegen Hämorrhoiden.3
Sie machen gemeinsam Ausflüge in die Umgebung, er schenkt ihr Parfüm und ein charmantes Lächeln. Daheim in Norddeutschland wartet die Ehefrau mit dem neugeborenen Kind. Ist Maria sich nicht bewußt, worauf sie sich einläßt?
Die Nächte im Tigerwirt bleiben nicht ohne Folgen. Noch bevor Erich Schönemann sich an die heimatliche Ehefront verabschiedet, stellt Maria fest, daß sie von ihm schwanger ist.
Ein Schrei gellt durch die niedrige, dürftige Stube. Ganz und gar nicht der Schrei eines Neugeborenen, sondern einer, der wie aus dem Innern eines Grabes schallt.4 Die Landhebamme Anna Menne hält das Kind der Maria Siutz in den Händen, die vor kurzem geheiratet hat und nun offiziell Maria Handke heißt.5 Wütend brüllt der Knabe, als empöre es ihn, daß gerade er auf so einer Welt, in so einer Hütte geboren wurde. Sogar von der Straße kommen die Leute herbeigelaufen, um das außergewöhnliche Kind zu bestaunen: Welch Grazie! Welch Hoheit!6
Der Sohn, den Maria am Nikolaustag 1942 um 18.45 Uhr in ihrem Elternhaus Altenmarkt Nr. 25, Marktgemeinde Griffen, auf die Welt bringt, verweigert von Anfang an die Muttermilch. Arm von Geburt, wird er durch seinen Weltekel geadelt.7 Aus den dunklen Augen in seinem Engelsgesicht wird das Kind finstere Blicke auf die Menschen werfen.
Peter Handke mit seiner Mutter, 1943 in Griffen
Dämonen haben seine Geburt begleitet – keine echten, sondern als Teufel verkleidete Dorf bewohner, die nach altem Brauch am Vorabend des Nikolaustags mit Gerassel und Gebrüll um die Häuser ziehen. Höllenlärm als Wiegenlied: Noch heute glaubt der Schriftsteller Peter Handke, »daß mein Grundschrecken von den Stunden vor der Geburt herrührt, wo diese Teufel, die als Teufel verkleideten Typen, mit den Ketten und Ruten durch das Dorf gegangen sind und alles niedergemacht und gebrüllt haben«8. Der Nikolauskobold, der Krampus, ist »eine innere Hebamme. Innen hat er beigetragen zu meiner entsetzlichen Schreckhaftigkeit, die wiederum nix mit Angst zu tun hat. Ich bin, glaube ich, kein ängstlicher Mensch. Aber es genügt mir irgendein Geräusch.«
Peter mit seinen jüngeren Halbgeschwistern
Der Junge wird im nahe gelegenen Stift Griffen auf den Namen Peter getauft. Der im Geburtsregister als Taufpate eingetragene Onkel Gregor Siutz steht als Wehrmachtssoldat im Feld und wird durch seine Schwester Ursula vertreten. Seinen Nachnamen verdankt der Täufling dem aus Berlin stammenden Unteroffizier Adolf Bruno Handke, den die Mutter am 4. November im Stift Griffen geheiratet hat.
Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wird der Junge nicht erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Ein einziges Mal hat sich ein fremdes Gesicht über das sechs Monate alte Kind gebeugt und es »mit seltsamen Gedanken« angesehen.9 Dann ist Erich Schönemann für achtzehn Jahre aus dem Leben des jungen Peter verschwunden, dem die Mutter erst spät und auf sein Drängen hin die Wahrheit erzählt.
Peter Handke: Schon dieser Name sagt etwas über die Grundspannung aus, die sich durch sein Leben und Werk zieht – über das ewige Gefühl von Unbehaustheit, das ihn zu einem Wanderer zwischen den Welten macht. Seit Generationen, berichtet der Erzähler in Die Wiederholung (1986), sei bei seinen slowenischen Vorfahren jeder Erstgeborene auf den Namen Gregor getauft worden.10 Das trifft auf Handkes Großvater, den 1886 geborenen Gregor Siutz, ebenso zu wie auf den 1913 geborenen ältesten Bruder seiner Mutter, den verhinderten Taufpaten. Der Junge hingegen erhält den Vornamen Peter. Wenn es Zufall ist, dann jedenfalls ein passender, daß der in eine arme Familie mit slawischen Wurzeln Geborene den gleichen Vornamen trägt wie der im Exil lebende jugoslawische König Peter II.
Und »Handke«? Peter Handkes Bücher haben diesen Namen zum Inbegriff österreichischer Literatur von Weltrang gemacht. Aber während es in ganz Österreich kaum mehr als ein Dutzend Handkes gibt, verzeichnet allein das Berliner Telefonbuch über achtzig. Bereits sein »deutscher« Nachname machte Peter Handke im Kärntner Dorf Griffen zu einem Außenseiter.
In einer Welt gezeugt, in einer anderen Welt geboren: Ein Kind des Überschwangs und der Freiheit oder eine Ausgeburt der Wollust? Schreibt der Autor von seiner Kindheit, ist oft von einem Fluch die Rede, der auf der Familie lastet.
In Handkes 2010 erschienenem Werk Immer noch Sturm, einem Theaterstück über seine Familie und die Kärntner Partisanen im Zweiten Weltkrieg, steht bereits die Zeugung des den Autor vertretenden Ichs unter einem Unstern. Nachdem der jüngste Bruder der Mutter im Krieg gefallen ist und sie von einem deutschen Soldaten geschwängert wurde, verflucht ihr Vater Deutschland: »Und verflucht sei der deutsche Liebeswurm in deinem Liebesbauch. Verflucht sei die Frucht deines Leibes.« Als die beiden älteren Brüder der Mutter auf Fronturlaub nach Hause kommen, beschimpfen sie das Kuckuckskind als »Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind – Volksfeind. Heraus aus der Wiege – in die Hundehütte mit dem Bankert.«11
Die Passage zeigt, wie der Dichter aus den ungewöhnlichen Umständen seiner Geburt Inspiration zieht. In Immer noch Sturm ist es der Makel der deutschen Abstammung, der das Ich unter den stolzen Slowenen in seiner Familie zum Fremdling macht. In Die Wiederholung erforscht der Ich-Erzähler die slowenischen Wurzeln seiner Familie, auf welche diese aber nicht stolz ist, sondern die sie mit Armut und Niedergang assoziiert.
Es ist keine Überraschung, daß sich Handke in seinen erdachten Rollen immer wieder auf die Seite der Aussätzigen und Verfemten schlägt. Die Figur des Außenseiters ist für die Literatur der Moderne grundlegend, und erst recht für das Werk eines Autors wie Handke, der am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, Außenseiter zu sein.
Es gibt heute kaum einen anderen Schriftsteller, der sich immer wieder derart intensiv mit der Erinnerung an sich selbst, an die eigene Vergangenheit beschäftigt. Doch ist das Ergebnis alles andere als eine lyrische Nabelschau. Handkes Werke sind Bruchstücke einer großen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, daß sie sich nicht einmal mehr für sich selbst interessieren.
Der Weg der Selbstverwirklichung führt durch die Sprache der Erzählung: »Durch das Schreiben gelingt es mir zu behaupten, daß ich bin, was ich einmal gewesen bin.«12 Ja, was würde Peter Handke ohne die »Umarmung der Geschichte« machen, die ihn durch seine Erzählungen trägt? In allen seinen Werken vermischen sich stark autobiographische Elemente mit solchen, die vielleicht nicht den äußeren Tatsachen entsprechen, aber einer inneren Wirklichkeit.
Die Phantasie drängt Handke, früher Erlebtes »mit immer neuem Leben zu infizieren«. Durch das Erinnern wird die Vergangenheit nicht gebannt, sondern erst wirklich erfahren, »bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif«13.
Kaum überraschend also, daß die Kindheit der wichtigste Erfahrungsraum ist, aus dem sich das umfangreiche Werk der Selbstbetrachtung speist. Immer und immer wieder kehrt Handke in seinen Erzählungen zu den Quellen seiner Kindheit zurück, zu Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen: »Ich nehme erst richtig wahr in der Wiederholung.«14 Erst durch das Schreiben wird Handkes von Angst, Armut und Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugendzeit zum »Entfaltungsraum für Erfahrungen, die diese Angst läutern und verwandeln«15.
Heimatlos kommt Handke zur Welt. Die Familie seiner Mutter ist eine »Sippe von Knechten«, Landarbeitern, Zimmerleuten – seßhaft und ortlos zugleich. Ein böser Zwiespalt. Im Erinnerungsvorrat der Familie sind sie noch gespeichert, die »jahrhundertealten Alpträume der Habenichtse, die überall nur in der Fremde waren«16. Eine Kindheitserinnerung: Der mit finsterer Miene am Radio drehende Großvater wirkte auf den kleinen Peter wie ein auf einem einsamen Außenposten vergessener Mensch, der wieder einmal ohne Hoffnung das Signal zur Rückkehr sucht.17 Rückkehr wohin?
Immer wieder machen sich die Protagonisten von Handkes Romanen und Erzählungen über das Grenzgebirge der Karawanken auf den Weg nach Jugoslawien und auf die Suche nach ihren slawischen Wurzeln. Sie brechen aus seiner Heimatregion am Ostrand der Kärntner Jaunfeldebene auf, mal aus Rinkolach (Mein Jahr in der Niemandsbucht, 1994)18, mal aus Rinkenberg (Die Wiederholung) – beides kaum zehn Kilometer von Handkes Geburtsort Griffen entfernte Städtchen. In diesem Bermudadreieck der Bedeutungslosigkeit muß das Kind anfangen, sich selbst Geschichten zu erzählen, um nicht verrückt zu werden vor Langeweile.
Wenigstens einer in Handkes langer Ahnenreihe von bedeutungslosen Niemanden hatte Glück im Unglück: Sein 1886 in Altenmarkt Nr. 25 geborener Großvater Gregor Siutz bewirtschaftet als Kleinbauer eine sogenannte Keusche, ein kleines Gehöft, und arbeitet nebenbei als Zimmermann.
Für den jungen Handke ist der Großvater die wichtigste Bezugsperson neben der Mutter – trotz seiner Strenge und seines Jähzorns. Denn mit den Vätern sonst ist es nicht weit her. Die Identifikationsfiguren im Handkeschen Werk stammen allesamt aus der Mutterlinie und werden vom Großvater angeführt.
Gregor Siutz hatte bei der Kärntner Volksabstimmung 1920 für den Anschluß des südösterreichischen Gebiets an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von seinen deutschnationalen Dorfnachbarn mit dem Erschlagen bedroht.19
Handkes Großvater, dessen slowenische Vorfahren noch Siveč hießen, ließ sich weder einschüchtern noch den Stolz auf seine Herkunft nehmen. Erst der Zweite Weltkrieg, der ihm zwei Söhne raubt, scheint den alten Mann gebrochen zu haben. »Der hat dann immer die linke Wochenzeitschrift gelesen. Aber er war halt dann kaputt. Politik. Durch den Tod der Söhne war er erledigt«, erinnert sich Handke.20
Von der Familie und im Dorf wird der Großvater »Ote« gerufen, nach dem slowenischen »oče« für Großvater. Eine alte Ansichtskarte vom Stift Griffen, die Maria Handke Anfang der siebziger Jahre ihrem Sohn im Auftrag seines Großvaters schreibt, zeigt, wie eng die Beziehung zwischen den beiden ist: »Du hast mir im letzten Brief mitgeschrieben, das Hotelzimmer in Freiburg hat gerochen wie die Stifterkirche, ich habe es ihm erzählt. Diese Karte hatte er schon, als ich noch klein war. Er dankt Dir für die Kartengrüße, seine rechte Hand ist ziemlich steif und zittrig, und er läßt Dich und Deine Libgart herzlich grüßen, Herzlich Mama.«21
In einem Brief an die Mutter beschreibt der achtzehnjährige Handke den Großvater:
»Ein Mensch, groß in seiner Einfalt, groß in seiner Stärke, groß in seiner Schwäche, mit den natürlichen, ursprünglichen Regungen eines Bauern, der nichts gelten läßt, es sei denn Frömmigkeit, körperlicher Schmerz und Mühsal, gesehen mit den trüben und doch so großartigen Augen einer einfachen Seele, deren Vorgänge zugleich mannigfaltiger und komplexer sind als die unsrigen, in der alles Zorn ist, was bei uns Wut, Nervosität, Unbehagen, Antipathie usw. ist; in der alles Freude ist, was bei uns Wohlbefinden, Ruhe der Nerven, Belustigtsein oder einfach Nichtvorhandensein von Schmerz – so haben überhaupt alle ursprünglichen Menschen uns voraus, daß ihre Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle großräumiger und komplexer sind als die unsrigen und deshalb umfassender.«22
Aus diesen Zeilen spricht vor allem der Wunsch nach Einfachheit und Natürlichkeit, nach Nähe zur Natur, die Handke sich erträumt, von der ihn als Geistesmenschen aber sein Leben lang etwas trennt. Handkes »Lob des Ote« läßt ahnen, wie fremd sich der angehende Dichter in der rauhen Natur gefühlt haben muß, die ihn gleichwohl fasziniert. Ein Foto zeigt Griffener Dorf bewohner bei der Feldarbeit zu Füßen des Schloßbergs.
Die Burg hoch oben ist längst verfallen. Doch die Feldarbeiter, die im Schatten des massigen Felsens den Pflug über die Äcker ziehen, wirken immer noch wie Leibeigene, Gefangene ihres harten Schicksals.
Gregor Siutz war als unehelicher Sohn einer Bauerstochter auf die Welt gekommen, und diesem Umstand verdankte er, daß er selbst es später zu etwas Grund und Boden brachte:
»Seine Mutter wenigstens war die Tochter eines recht wohlhabenden Bauern, bei dem sein Vater, für ihn nicht mehr als ›der Erzeuger‹, als Knecht hauste. Immerhin bekam seine Mutter auf diese Weise die Mittel zum Kauf eines kleinen Anwesens. Nach Generationen von besitzlosen Knechtsgestalten mit lückenhaft ausgefüllten Taufscheinen, in fremden Kammern geboren und gestorben, kaum zu beerben, weil sie mit der einzigen Habe, dem Feiertagsanzug, ins Grab gelegt wurden, wuchs so der Großvater als Erster in einer Umgebung auf, in der er sich auch wirklich zu Hause fühlen konnte, ohne gegen tägliche Arbeitsleistung nur geduldet zu sein.«23
Am 27. Januar 1913 heiratet Gregor Siutz die sechsundzwanzigjährige Ursula Karnaus. In rascher Folge werden fünf Kinder geboren: Gregor (2. November 1913), Ursula (13. Oktober 1915), Georg (3. Mai 1918), Maria (8. Oktober 1920) und Hans (27. Dezember 1922). Während die Söhne und Töchter auf dem vom Großvater gepachteten Land arbeiten, verdingt er selbst sich in der Umgebung als Zimmermann. Gregor Siutz spart, verliert alles Zurückgelegte in der Inflation Anfang der zwanziger Jahre, beginnt wieder zu sparen. In Wunschloses Unglück (1972), der Erzählung über Leben und Selbstmord der Mutter, erwähnt Handke die »gespenstische Bedürfnislosigkeit«, die der strenge Patriarch der ganzen Familie auferlegt. Er trinkt und raucht nicht, spielt nur sonntags Karten. An eine Ausbildung der Kinder, gar seiner zwei Töchter Maria und Ursula, ist nicht zu denken, höchstens an eine Ausstattung für Beruf oder Heirat.
Aus diesem armseligen Leben im Dorf scheint kein Ausbrechen denkbar. So tief verinnerlicht ist dieses Gefühl, daß der jüngste Sohn, Hans, es der Familienlegende zufolge nur kurz im Klagenfurter Priesterseminar aushält. Bereits nach wenigen Tagen kehrt er heim und greift sofort – es ist Samstag – zum Besen, um den Hof zu kehren.
Dann beginnt der Krieg. Alle drei Söhne werden zur Wehrmacht eingezogen und an die sich immer weiter ausdehnenden Fronten von Hitlers Großreich geschickt. Daheim in Griffen steht nun im düsteren Herrgottswinkel unter dem Kreuz der geheimnisvoll leuchtende Volksempfänger, dem andächtig gelauscht wird. Maria schreibt einem der Brüder im Feld: »Ich schaue auf der Landkarte, wo Du jetzt sein könntest.«24
Als erster fällt im Juli 1943 der bereits mehrfach verwundete Gefreite Hans Siutz mit gerade einmal zwanzig Jahren. Er liegt im Norden Rußlands auf dem »Heldenfriedhof Nowo Pawlowka« begraben. Am 2. November findet der Obergefreite Gregor Siutz auf der Krim den Tod. Auch von ihm ist die Grabstätte bekannt: Er ruht auf dem Friedhof von Dshankoi im Grab Nr. 375.25
Der junge Handke wächst in einem Trauerhaus auf. »Die geliebten Toten meiner Mutter, das lag in der Luft.«26 Es ist eine bedrückende Atmosphäre, in welcher »der Verschollene, anders als ein mit Sicherheit Toter, den Angehörigen keine Ruhe ließ, sondern ihnen, ohne daß sie das Kleinste tun konnten, mit jedem Tag neuerlich wegstarb«27. Oft geht das Kind an die alte Truhe des Großvaters, die auf der hölzernen Galerie steht. In ihr hat der Ote nicht nur seinen Bajonettdolch und die Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg verstaut, sondern auch Bücher werden in ihr auf bewahrt:
»Es gibt ja so alte Bücher, die noch in den Truhen herumliegen. Ich zumindest kannte das, ich bin so in einem Bauernhaus aufgewachsen. Da war so eine Brüstung im ersten Stock, da gab es eine Truhe. Da habe ich immer gelesen. Da fand ich all die Bücher, und vieles von diesen Büchern ist mir noch ganz verschwommen in Erinnerung. Manches verwechsle ich einfach mit Erlebtem und mit Gelesenem.«28
Am wichtigsten für das Kind ist aber ein Schatz ganz besonderer Art, den es in der Truhe findet: Die Feldpostbriefe der verstorbenen Onkel werden darin wie Reliquien verwahrt. Sie sind die erste Lektüre des Knaben.
Obwohl er ihn nie kennengelernt hat, wird sein Onkel Gregor so zum »schreibenden Vorfahren« des jungen Peter Handke und zum Namensgeber zahlreicher Protagonisten in seinem Werk: Gregor Benedikt in den Hornissen (1966), Gregor Keuschnig in der Stunde der wahren Empfindung (1975) und MeinJahr in der Niemandsbucht (1994), Gregor Kobal in Die Wiederholung (1986), Gregor in Über die Dörfer (1981) und in Der kurze Brief zum langen Abschied (1971).
Gregor Siutz hatte von 1932 bis 1937 auf der Landwirtschaftsschule in Maribor studiert.
Das handschriftliche Studienbuch seines Onkels über den Obstbau hat einen besonderen Platz in Handkes Schreibstube in seinem heutigen Domizil in Chaville bei Paris: Es hängt im Herrgottswinkel. »Ich schau oft da hinauf.«29
Gregor Siutz (2. Reihe, 6. von rechts) mit anderen Eleven der Landwirtschaftsschule in Maribor
»Viele Bilder, die ich habe, beruhen auf seinen Erzählungen von dieser relativ friedlichen und arbeitsamen Zeit«, bekennt Handke 1996 in einem Interview. »Es war die Zeit, als mein Onkel ein bewußter Slowene geworden ist und als überzeugter Slowene nach Kärnten heimkam. Er wurde dann gegenüber der Familie zum Agitator. Die Schwester meiner Mutter sagte, ihr Bruder habe, indem er als nationaler Slowene zurückkam, den Krieg in die Familie getragen.«30
So wird der Onkel in Handkes literarischem Kosmos zum erträumten heroischen Gegenbild zu den deutschen Vätern. Immer und immer wieder läßt Handke den Verstorbenen, indem er von ihm erzählt, auferstehen. Bereits das Motto seines Erstlingsromans Die Hornissen ist eine Totenbeschwörung: »DU WIRST GEHEN /ZURÜCKKEHREN NICHT STERBEN IM KRIEG.« Seinem 2003 erschienenen Epos Der Bildverlust stellt Handke dieselbe Zauberformel voran und erklärt sie sogar zum lateinischen Orakelspruch. Denn was der trauernden Familie unmöglich ist, schafft die Literatur: Die Erzählung holt die vermißten Toten heim. »Nicht den Bruder zu finden hatte ich doch im Sinn gehabt, sondern von ihm zu erzählen«, heißt es in DieWiederholung, in der aus dem Wehrmachtssoldaten Gregor ein fiktiver Widerstandskämpfer geworden ist.31
In Immer noch Sturm wird die dem Onkel nachempfundene Figur gar zum persönlichen Heilsbringer stilisiert, der aus Maribor als stolzer Slowene ins Land der Peiniger zurückkehrt und die Familie als Begründer einer Obstplantage aus der Paria-Existenz führt.
Als einziger Sohn von Gregor Siutz senior überlebt Georg den Krieg und bringt es zum Besitzer eines florierenden Zimmermannbetriebs. Fertighäuser statt Obstgärten, daraus läßt sich natürlich keine literarische Utopie zimmern. Doch was noch schlimmer ist: Obwohl er fast besser Slowenisch spricht als Handkes Mutter, wandelt sich der geschäftstüchtige Onkel Georg nach dem Krieg zum deutschnationalen FPÖ-Gemeinderat. Für Handke, immer seinen slowenischen Wurzeln nachspürend, noch nach Jahrzehnten eine bittere Enttäuschung: »Der einzige, dem sein Leben geglückt ist – als Zimmerermeister –, wurde Gemeinderat der FPÖ.«32
Nur eines spricht aus Sicht des Neffen für den Onkel Georg: Er ist wenigstens ein echter Siutz und kein Handke. Der Onkel »kann trinken und spielen« und findet so eine Sprache im Gegensatz zum »sprachlosen, allem abgeschworenen Vater«, mit dem schon der Erzähler der Hornissen nichts mehr anzufangen weiß.33
Wer ist dieser Mann, den Handke lange für seinen Vater halten muß?
Nachdem sich Erich Schönemann und Handkes Mutter getrennt hatten, war die schwangere Maria eine Liaison mit einem anderen deutschen Wehrmachtssoldaten eingegangen, den sie im November 1942 heiratete. Der Unteroffizier Bruno Handke aus Berlin, im Zivilberuf Straßenbahnschaffner, hatte schon länger ein Auge auf die fröhliche junge Frau geworfen und, so erzählt es Handke später zumindest in Wunschloses Unglück, mit seinen Kameraden gewettet, daß er sie bekommen könne. »Er war ihr zuwider, aber man redete ihr das Pflichtbewußtsein ein (dem Kind einen Vater zu geben): zum ersten Mal ließ sie sich einschüchtern, das Lachen verging ihr ein bißchen.«34
Als Verheiratete hat Maria immerhin Anspruch auf ein Ehestandsdarlehen. Sie glaubt, daß ihr Mann, der bald von Griffen an die Front abrücken muß, ohnehin fallen wird. »Aber dann hatte ich auf einmal doch Angst um ihn.« Bruno Handke wird mehrfach verwundet, wie seinen Militärakten zu entnehmen ist: Infanteriegeschoß im linken Oberschenkel (Blanzy, Frankreich), Granatsplitter im rechten Unterschenkel (Byalistok, Rußland) und zuletzt ein Durchschuß im linken Ellenbogen (Sebesh, Rußland).35 Er überlebt. Aber wieviel Leben steckt noch in so einem halb zerschossenen Menschen, wenn er nach mehreren Jahren Frontkrieg im Osten ins Zivildasein zurückkehrt?
1944 übersiedelt Maria mit ihrem Sohn nach Berlin, wo sie bei den Schwiegereltern unterkommt. »Mein Mann war wohl zu feige, um sich bis hierher [nach Griffen] durchzuschlagen, meinen Entschluß kann ich bis heute noch nicht fassen«, schreibt Maria Handke 1961 rückblickend an ihren einstigen Geliebten Erich Schönemann.36 Doch Mutter und Kind bleiben nicht lange in der bereits schwer von Bombenangriffen gezeichneten Stadt und kehren noch im gleichen Jahr nach Griffen zurück.
Obwohl erst ein Jahr alt bekommt der kleine Peter etwas von Berlin und der Stimmung in der bedrohten Reichshauptstadt mit: »Da habe ich schon den Eindruck mitgekriegt von Großstadt – es war schon beängstigend damals, die Endkriegszeit und dann die Nachkriegszeit, das hat ziemlich bestimmend gewirkt auf mich.«37 Er habe diese Kriegsangst, verrät Handke 1982 in einem Interview, noch lange »als Trauma herum geschleppt«38.
Der Bombenkrieg macht auch vor Griffen, dem neuen alten Wohnort, nicht halt.39 So gehören zu Handkes frühen Kindheitseindrücken »die Sirenen des Ernstfalls, auch schon auf dem Land, das Gerenne der Bevölkerung zu den als Luftschutzbunker vorgesehenen Felsenhöhlen, der erste Bombentrichter im Dorf, später Spielplatz und Abfallgrube«40.
Nach dem Krieg werden die Kalkhöhlen im Schloßfelsen von Griffen, deren Eingang gleich hinter der Dorfkirche liegt, wieder zu einem Rückzugsraum für den jungen Peter Handke. Jetzt sind es nicht mehr die Sirenen des Ernstfalls, die das Schulkind dorthin hetzen lassen, sondern ihn locken die buntschillernden Tropfsteine, die die Höhle wie eine Schatzkammer erscheinen lassen, und er erkundet im Licht seiner Taschenlampe ihr noch weitgehend unerschlossenes Inneres.
»Als ich zur Hauptschule ging, stiegen wir noch mit Kerzen in der Höhle herum und stopften uns die Taschen voll mit abgeschlagenen Tropfsteinen. Heute ist alles von elektrischem Licht romantisch beleuchtet, und die Besucher machen romantische Augen und zahlen romantische Eintrittsgelder«, berichtet der Neunzehnjährige seinem leiblichen Vater in einem Brief.41
In einer Rede auf Anselm Kiefer hat Peter Handke 1999 diese Schatzhöhle seiner Jugend unter Bezug auf das berühmte Höhlengleichnis als »andere Höhle Platons« bezeichnet. Er nimmt in dieser Rede gewissermaßen eine Umkehrung des Gleichnisses vor, denn die Höhle ist für ihn ein fragiler Phantasieraum, dessen Schätze sich kaum bergen lassen:
»Jene Höhlen waren durchwachsen von Tropfsteinen, ewignassen, farbigen bis glasigen, was im Licht der Taschenlampen den Anschein von Schatzkammern gab, je tiefer im Berginnern die Kammer, je entfernter vom Tageslicht, desto kostbarer die Steinzapfen und -säulen. Heute, zur (kleinen) Fremdenverkehrsattraktion geworden, hat die Grotte den Slogan ›Bunteste Tropfsteinhöhle Österreichs‹ – ›bunt‹ ist aber am ehesten noch die Zerstörung, welche wir Kinder ihr seinerzeit zugefügt haben: ganze Steinwälder schlugen wir ab und schleppten die besonders glänzenden Bruchstücke hinaus ins Freie, trugen sie, jeder für sich, heim, versteckten sie als einen Schatz; wir entwendeten der Höhle die Farben – übrig blieb an den Ruinen nur dies und jenes Bunte (und es ist ein Unterschied zwischen Farbigkeit und bloßer formenloser Buntheit). Was aber dann mit den Bruchsteinen, -zapfen, -säulen draußen, im Freien, an der Luft, im Tageslicht alsbald geschah: die Tropfsteine, Stalaktiten wie Stalagmiten, hörten zu tropfen auf, trockneten, und auch die scheinbar glasig schimmernden wurden stumpf, die Farben blichen aus – ödere, grauere und zeichenlosere Steine waren uns nie, in keiner Schottergrube, auf keinem Feldweg je unter die Augen gekommen.«42
Mit seinen Erinnerungen an lang zurückliegende Kindheitserlebnisse verleiht Handke gleichzeitig seiner Skepsis gegenüber dem eigenen Schreiben Ausdruck, die er auch als reifer Autor noch empfindet: Das Dichten ist ein »Steigen ins Bergwerk der Bilder und Sätze«43 – aber kann der Erzähler die unterirdischen Schätze bergen und nach draußen tragen? Oder werden sie farblos und stumpf wie die bunten Steine, die er einst aus der Tropfsteinhöhle seines Heimatdorfs ans nüchterne Tageslicht holte? Ja, er kann. Wer sonst, wenn nicht er? Der ehrgeizige Wunsch, Schriftsteller zu werden, der Drang zum Schreiben, zur Bergung der »bunten Steine«, war schon damals groß. Nicht umsonst wird Adalbert Stifter – neben Grillparzer – zum lebenslangen literarischen Vorbild.
Doch eines wird Handke nie vergessen: Auch die Tropfsteinhöhle war einmal ein Bunker. Keine bunte Schatzkammer, in der nicht auch das Feldgrau der Geschichte seinen fahlen Schein verbreitet. Krieg und Nationalsozialismus spielen in Handkes Dichten immer eine besondere Rolle.
Während des Zweiten Weltkriegs ist Kärnten die einzige Region des Deutschen Reichs, in der es zu nennenswerten Widerstandsaktionen gegen den Nationalsozialismus kommt. Vor allem Mitglieder der slowenischen Minderheit zählen zu den rund fünfhundert Partisanen, die sich in den Tälern des Karawanken-Gebirges südlich von Klagenfurt immer wieder Scharmützel mit Wehrmachtssoldaten liefern. Mit besonderer Brutalität verfolgen daher die Nationalsozialisten die slowenische Minderheit in Südkärnten. Doch der Widerstand der Kärntner Slowenen wird von der übrigen Bevölkerung nicht gewürdigt: Für die Angehörigen der deutsch-österreichischen Mehrheit Kärntens sind sie »Vaterlandsverräter«, weil sie auf der Seite Jugoslawiens stehen.
Der Kampf der Jugoslawen (mit Ausnahme der mit Deutschland verbündeten kroatischen Ustascha-Faschisten) gegen Großdeutschland wird später eine Art Gründungsmythos für Handkes Seelenheimat abgeben: »Und wenn es in diesem Jahrhundert in Europa für mich Helden gegeben hat, dann waren das die jugoslawischen Partisanen.«44 Die Slowenen, das Volk seiner Mutter, hätten durch den Widerstand gegen Hitler die Ehre Kärntens gerettet, erklärt Handke 2004 gegenüber dem Figaro littéraire.45 Noch in dem 2010 entstandenen Stück, Immer noch Sturm, befaßt er sich mit dem Widerstand der Kärntner slowenischen Partisanen gegen die Deutschen, »und darin geht es auch um meine Familie«46. Nicht nur die von Handke wenig geliebten Väter, der leibliche und der Stiefvater, waren Wehrmachtssoldaten, auch die Onkel Hans, Georg und Gregor waren es.
Der mutige, aber letztendlich erfolglose Kampf der slowenischen Freischärler: ein Kriegstrauma, das für den Dichter Peter Handke zum lebenslangen Thema werden wird. Fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende feiert der Theaterdichter »seine« Partisanen mit einem eigenen Stück. In Immer noch Sturm ist es – natürlich – sein Onkel Gregor, den er in der Wiederholung bereits in einen Widerstandskämpfer verwandelt hatte, der aus der Wehrmacht desertiert und sich unter dem Kampfnamen »Jonatan« (der Name seiner liebsten Apfelsorte) den Partisanen anschließt. Schon zwei Wochen nach Kriegsende muß dieser fiktive Gregor aber ernüchtert feststellen, daß der Friede schneller fault als ein Apfel in der Schublade. Der Kalte Krieg beginnt, und schnell verbrüdern sich die österreichischen Wendehälse mit ihren englischen Besatzern. Wenige Kilometer hinter Griffen, entlang der Grenze zu Slowenien, verläuft jetzt der Eiserne Vorhang. Gregors Obstplantage, dieser utopische Garten Eden, mit dem sich Hoffnung auf eine friedliche Zukunft verbindet, wird planiert, weil man einen Panzerstellplatz braucht. Einmal mehr gehören er und seinesgleichen zu den Verlierern der Geschichte, wie das Ich des Stücks klagt: »Eure Sprache wird schon wieder befeindet. […] Und wenn ihr eure alten Feste wieder feiern wollt und eure alten Theaterstücke wieder spielen, so macht euch darauf gefaßt: Sie werden gestört werden. Man wird versuchen, eure Feste und Spiele zu verhindern.« Handkes Mutter Maria hatte zwischen den Kriegen in Aufführungen des Volkstheaters mitgespielt. Ein altes Foto zeigt das Mädchen mit langen Zöpfen als Mitglied einer Laienspielgruppe. »Da haben die sicher irgendein slowenisches Volksstück gespielt«, vermutet Peter Handke.47
Doch lange bevor sich Handke für das Schicksal der Partisanen, für Jugoslawien und die Verlierer der Geschichte zu interessieren beginnt, beschäftigt er sich mit der eigenen Familie. Die Ehe seiner Eltern ist das Schlachtfeld, auf dem das erste Opfer fällt: der Vater.
Maria Siutz (hintere Reihe, links) mit ihrer Laienspielgruppe
In der Stube sitzt Maria Handke in aufrechter Haltung am Tisch. Mit dem Rücken zu ihr steht der Ehemann am Fenster, das Hemd hängt ihm hinten aus der Hose, er vergräbt die Hände tief in den Taschen und unterbricht nur ab und zu in sich hineinhustend die lähmende Stille.48
Diese Szene, die der Sohn – so oder so ähnlich – beobachtet und in Wunschloses Unglück beschrieben hat, wirkt auf den ersten Blick fast harmlos; hier wird man nicht Zeuge von Orgien häuslicher Gewalt, wie Handke sie in anderen Werken und in Interviews immer wieder herauf beschworen hat, doch mit dieser scheinbar nüchternen Skizze gibt der Sohn Einblick ins Eheelend seiner Eltern.
»Es muß so eine Art Urschock gegeben haben. Manchmal meine ich, es waren Angstzustände als Kind, wenn die Eltern nicht zu Hause waren und dann zurückkamen und sich schreiend im Zimmer prügelten und ich mich unter der Decke versteckte.«49
Bereits Bruno Handkes Werben um die schöne Maria steht unter einem schlechten Stern: Stellt nicht schon die Wette – wenn sie denn tatsächlich geschlossen wurde – ein frevelhaftes Herausfordern des Schicksals dar? Ein solcher Mann kann kein ernsthaftes Interesse für einen Stiefsohn aufbringen, und dieser muß ihn als Usurpator sehen, der sich die Rolle des Gatten der geliebten Mutter und des Familienoberhaupts anmaßt. Was macht der Erstgeborene, der Besondere, der Einzigartige mit so einem Rivalen? Er läßt ihn in der Versenkung verschwinden.
Maria und ihr Sohn sind 1944 aus Berlin in ihr Kärntner Heimatdorf zurückgekehrt. Schnell ist der im Krieg kämpfende Bruno nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn: »Den Ehemann vergaß sie, sie drückte das Kind an sich, daß es weinte.«50 So setzt sich der Autor in Wunschloses Unglück schon als Kleinkind an die Stelle des Stiefvaters.
So halbherzig, wie sie ihre Ehe geschlossen haben, scheinen Handkes Mutter und sein Stiefvater diese auch fortzusetzen:
»Bald nach Kriegsende fiel meiner Mutter der Ehemann ein, und obwohl niemand nach ihr verlangt hatte, fuhr sie wieder nach Berlin. Auch der Mann hatte vergessen, daß er einmal, in einer Wette, auf sie aus gewesen war, und lebte mit einer Freundin zusammen; damals war ja Krieg gewesen. Aber sie hatte das Kind mitgebracht und lustlos verfolgten beide das Pflichtprinzip.«51
Es klingt nicht gerade nach einer Liebesheirat – und das soll es auch nicht. Die Erzählung Wunschloses Unglück ist von Beginn darauf angelegt, dem Stiefvater beträchtliche Mitschuld am Unglück der Mutter zuzuweisen. Wer Handkes 1972 erschienenes Bekenntnisbuch aufmerksam liest, dem entgeht nicht, daß jede Männergestalt in diesem Frauenbuch schuldbeladen ist – nur der Lieblingssohn nicht, der seiner Mutter durch die Erzählung im nachhinein zu ihrem Recht verhelfen will.
Unter diesen Voraussetzungen sind die Rollen für alle anderen Männer im Leben der Maria Siutz bereits festgelegt: Ihre Biographien müssen sich dem Gesetz der Erzählung fügen, denn »je mehr man fingiert, desto eher wird vielleicht die Geschichte auch für jemand andern interessant werden, weil man sich eher mit Formulierungen identifizieren kann als mit bloß berichteten Tatsachen«52.
Hat Maria Siutz ihrem Sohn einen Stiefvater zugemutet, der ihr selbst »zuwider« war? Fotos aus der Zeit lassen davon nichts ahnen. Da sieht man eine fröhliche und elegant gekleidete Maria neben Bruno an einem Tisch sitzen. Er lächelt sie an, sie strahlt in die Kamera. Ein anderes Foto wird in Wunschloses Unglück beschrieben als Beleg für die Lebenslust der Mutter: Darauf sehe man, so der Erzähler, »ein verrutschtes Hütchen, weil ein Bursche ihren Kopf an den seinen drückte, während sie nur selbstvergnügt in die Kamera lacht«53. Tatsächlich zeigt das Bild nicht irgendeinen Burschen, sondern Bruno, der Marias Haar mit unter seine Soldatenkappe gesteckt hat und die Lachende übermütig von hinten umarmt. Eine Momentaufnahme ehelichen Glücks, aus der der Erzähler in Wunschloses Unglück den Stiefvater einfach herausretuschiert.
Seit der Geburt von Handkes Halbschwester Monika 1947 lebt die junge Familie zu viert in einem großen Zimmer in Berlin-Pankow, »im Nordosten der zerbombten und zerschossenen Stadt«, also im russischen Sektor. Der Mann zieht vorübergehend zu seinen Eltern, die ihn aber bald zu seiner Frau und seinen Kindern zurückschicken. Ein typisches Nachkriegsleben voller Entbehrungen, Not und Hunger. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Handke an den grauen »Ausspeisungsschleim«, den er aus einem Blechnapf russischer Fabrikation löffeln mußte. Kein Vergleich, wenn der Vater etwas Schmackhaftes nach Hause bringt wie »die schwarzen fettigen Pumpernickel, um die herum das düstere Zimmer auf blühte«. Bruno Handke verdingt sich als Schaffner und als Bäcker. Immer wieder habe er, so erzählt es Handke später, aufgrund seiner Trunksucht die Arbeit verloren. Dann sei die Mutter gezwungen gewesen, mit der kleinen Tochter auf dem Arm bei seinem Chef um Wiedereinstellung des Verantwortungslosen zu betteln.
Während aus dem Stiefvater angeblich ein prügelnder Alkoholiker wird, verwandelt sich die Mutter in eine elegante, selbstbewußte Frau:
»Sie trug den Kopf hoch und bekam einen Gang. Sie war nun so weit, daß sie sich alles anziehen konnte, und es kleidete sie. Sie brauchte keinen Fuchs um die Schultern. Wenn der Mann, nach dem Rausch wieder nüchtern, sich an sie hängte und ihr bedeutete, daß er sie liebe, lächelte sie ihn erbarmungslos mitleidig an. Nichts mehr konnte ihr etwas anhaben.«54
»Mutter« wird Maria auch von ihrem Mann genannt: »Er war ihr nie so etwas wie ein Schatz gewesen«, behauptet der Erzähler von Wunschloses Unglück.55 Den Sohn aber liebt sie, und er weicht nicht von Marias Seite, hält ihre Hand: »Die Mutter hatte aus ihren Kindertagen einen mit wildem Fleisch vernarbten Schnitt am Zeigefinger, und an diesem harten Höcker hielt man sich fest, wenn man neben ihr herging.«56
Handkes Eltern streiten, sie schlagen sich, so steht es in Wunschloses Unglück. Nachdem die Handkes 1948 in Marias Heimatdorf zurückgekehrt sind, verändert sich der Erzählung zufolge nur insofern etwas, als aus der großstädtischen eine ländliche Ehehölle wird:
»Im Winter die Arbeitslosenunterstützung für das Baugewerbe, die der Mann fürs Trinken ausgab. Von Gasthaus zu Gasthaus, um ihn zu suchen; schadenfroh zeigte er ihr dann den Rest. Schläge, unter denen sie wegtauchte; sie redete nicht mehr mit ihm, stieß so die Kinder ab, die sich in der Stille ängstigten und an den zerknirschten Vater hängten. Hexe!«57
Nach der Geburt der gemeinsamen Kinder Monika (1947) und Hans (1949) soll Maria Handke noch drei Kinder – so heißt es zumindest in Wunschloses Unglück – ohne das Wissen ihres Ehemanns abgetrieben haben, bevor 1957 mit Robert noch ein Nachzügler geboren wird.58
Doch Bruno Handke war wohl nicht ganz der brutale Haustyrann und prügelnde Stiefvater, für den man ihn halten müßte, wenn man diese Äußerungen seines berühmten Ziehsohns wörtlich nimmt. Während Handke ihn auch später in Interviews gern als solchen dargestellt hat, zeichnet er als Erzähler ein differenzierteres Bild sowohl von dem Mann, als auch von der Ehe, die er mit seiner Mutter führte.
Da erscheint der Stiefvater als gebrochener, schwacher Mensch, der seiner Frau nicht das Wasser reichen kann und sich einsam in den Alkohol flüchtet. In Handkes Erstlingsroman Hornissen finden sich Szenen einer gescheiterten Ehe, scheinbar schnell hingeworfene, aber messerscharf gezeichnete Skizzen, die von einer Beziehung künden, in der statt Liebe lähmende Routine herrscht:
»Die Teller auf dem Teller der Hand, obenauf den Daumen, den Suppentopf in der anderen Hand, geht die Frau wie auf einem Seil zum Tisch her. Ich lege blind den Arm zu ihr aus und setze ihn mit dem Teller vor mich auf den Tisch. Der Mann plündert, in seinem Innern bitteren Zorn wälzend, verbissen die Berichte aus der Zeitung, während die Frau das Gefäß für die Suppe ihm unter die Blätter schiebt. Er schweigt jedoch; er richtet sich nur auf dem Sessel empor und verschluckt mit hörbarem Schmatzen die unausgesprochenen Worte.«59
In klassischen Hexametern fertigt der Erzählersohn den väterlichen Versager ab: »Den Schädel tief in die Zeitung gereckt, hortet stumm in der Küche der Vater den Zorn, ohne zu lesen.«60 Gegen eine züchtig waltende Hausfrau wie bei Schiller kann so ein hilflos zorniger Verlierer natürlich nicht bestehen.
Maria Handke, Vorbild aller starken Frauen in Handkes Werk, konnte jeden derart auslachen, daß er bald still wurde. Ihr resolutes Selbstbewußtsein bekam auch Bruno Handke zu spüren, wie sich Sohn Peter erinnert: »Vor allem der Ehemann wurde, sooft er von seinen vielen Vorhaben erzählte, jedesmal so scharf ausgelacht, daß er bald stockte und nur noch stumpf zum Fenster hinausschaute.«61
Als Großstädter und als Deutscher ist Bruno Handke von vornherein ein Außenseiter in der dörflichen Kärntner Gemeinde. Irgendwann wird er es auch in der eigenen Familie. Die Kinder merken, daß die Mutter dem Vater nicht mehr gut ist:
»Die Kinder schauten feindselig, weil sie so unversöhnlich war. Sie schliefen mit klopfendem Herzen, wenn die Eltern ausgegangen waren, verkrochen sich unter die Decke, sobald gegen Morgen der Mann die Frau durch das Zimmer stieß. Sie blieb immer wieder stehen, trat einen Schritt vor, wurde kurzerhand weitergestoßen, beide in verbissener Stummheit, bis sie endlich den Mund aufmachte und ihm den Gefallen tat: ›Du Vieh! Du Vieh!‹, worauf er sie dann richtig schlagen konnte, worauf sie ihn nach jedem Schlag kurz auslachte.«62
Da weiß das älteste Kind unter der Decke noch nicht, daß Bruno nur sein Stiefvater ist. Das erzählt ihm die Mutter erst, als er die Matura absolviert:
»Und wie ich mich gefreut habe, als meine Mutter sagte: Dein Vater lebt in Deutschland. Ich war 17 Jahre alt. Ich hatte plötzlich die Vorstellung: Der Ehemann meiner Mutter kann nicht mein Vater sein. Ich fragte meine Mutter. Sie brach in Tränen aus und hat mir die Geschichte erzählt.«63
Und noch etwas wird ihm schlagartig bewußt: Er ist ein Besonderer, ein Ausgewählter. »Gott sei Dank daß ich das einzige Kind meiner Eltern bin.«64
Genauso hilflos wie seiner Frau stand Bruno Handke auch den Kindern gegenüber – ein Vater ohne wirkliche Autorität:
»Meiner Treu, hatte sich der Mann mit gleichen Worten vor den Söhnen aufgeplustert, wir würden den heutigen Tag nicht so bald vergessen! Mit Verlaub, schimpfte er weiter, wenn es nach ihm ginge, so würde uns jetzt anders werden! Wir unterstünden uns, stocherte er in seinem Zorn, ihm unter die Augen zu treten? Das werde uns noch reuen! schürte er fort. Ihr vermaledeites Gesindel! verkehrte er den eigenen Namen.«65
Doch nichts passiert, der Zorn des Vaters verraucht bald wieder, bleibt ohne Folgen.
Dafür bekommt er immer wieder Maria Handkes Überdruß zu spüren. Ihr Bruno sei »an sich kein schlechter Mensch, aber eben kein Mann«, schreibt sie einmal ihrem ehemaligen Geliebten Schönemann.66 Marias kalte Höflichkeit und ihre herablassende Duldsamkeit knicken ihren Mann nur noch mehr.67 Sie nennt ihn »knieweich« – irgendwann wird er es wirklich. Mit seinem hängenden Hosenboden und den geknickten Beinen dastehend ist er in den Augen seiner Frau eine lächerliche Figur – ein Versager.
»Ich möchte zu einem Menschen aufschauen können«, sagt sie einmal zu ihrem Sohn Peter. Ist der nicht jemand, zu dem sie aufschauen kann? Ist der vielversprechende Sohn nicht ein Beweis dafür, daß auch sie etwas Besseres ist und etwas Besseres verdient hätte?
Später, als sie schon zusammen mit ihrem ältesten Sohn Bücher liest und sich mit ihm über Literatur unterhält, verändert sich Maria Handke in ihrem Verhalten gegenüber ihrem Mann noch einmal:
»Sie wurde nachsichtig zum Ehemann, ließ ihn ausreden; stoppte ihn nicht mehr schon beim ersten Satz mit dem allzu heftigen Nicken, das ihm gleich das Wort aus dem Mund nahm. Sie hatte Mitleid mit ihm, war überhaupt oft wehrlos vor lauter Mitleid – wenn der andere auch gar nicht litt.«
»Auch den verachteten Ehemann schloß sie in diese Schuldgefühle ein, sorgte sich ernsthaft um ihn, wenn er ohne sie auskommen mußte.«68
Mit zunehmendem Alter beginnt Bruno zu kränkeln, und er wird sanft: »Mein Mann ist ruhig geworden«, berichtet Maria ihrem Peter. Seine Mutter habe später Selbstbewußtsein daraus gezogen, daß sie ihrem Mann lebenslang ein Geheimnis geblieben sei, schreibt – oder dichtet – der Sohn nach Maria Handkes Tod über das Verhältnis seiner Eltern: »Sie hatten sich nicht auseinandergelebt; denn sie waren nie richtig zusammen gewesen.«69
Auch Bruno Handke hat Briefe hinterlassen, in einer sorgfältigen, etwas umständlichen Schrift zu Papier gebracht. Er leidet in späteren Jahren unter Lungentuberkulose und Asthma und muß immer öfter Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen. In einem undatierten Brief gratuliert er seinem Stiefsohn zum Geburtstag und bedankt sich für dessen letztes Buch. Er sei wieder im Krankenhaus gewesen, nun komme der lange Winter in Griffen, da heiße es vorsichtig sein. Der Brief endet: »Aber ich habe mich nun mit allem abgefunden und hoffe nur, wenn es mal so weit ist, daß es schnell geht. Es grüßt Dich herzlich und noch mal alles Schöne von Bruno.«70
In einem Brief aus dem Jahr 1977 hadert Bruno Handke mit seinem Schicksal und der Unfähigkeit, sich seinem Stiefsohn mitzuteilen:
»Lieber Peter, es ist nicht so einfach einen Brief zu beginnen. Ich möchte Dir gern schreiben, aber irgendwo sitzt eine Sperre und die muß erst geöffnet werden. Warum ist das wohl so? Es muß wohl an mir liegen, denn eine Zeit lang hält man es mit mir noch aus, doch bald bin ich überflüssig. Wäre ich nur beweglicher, in jeder Hinsicht, dann müßte ich nicht in Griffen hier hängen. […] Oft und oft lasse ich mein Leben, so gut es geht, Revue passieren und stelle mir immer wieder die Frage ›was war falsch‹. Es gibt keine Befreiung von dieser Frage, sie liegt wie ein Felsblock auf einem und drückt immer wieder zu Boden.«71
Auch Bruno Handkes Leben stand wohl im Zeichen eines wunschlosen Unglücks. Den Erwartungen von Frau und Stiefsohn konnte er nie gerecht werden. Je erfolgreicher der Stiefsohn war, desto mehr sah sich Bruno der Verachtung seiner stolzen Frau ausgesetzt. Peter Handke hat sich nicht ganz unschuldig daran gefühlt: »Ich glaube heute, daß ich meine Mutter beeinflußt habe in ihrem Verhalten gegen ihren Mann, meinen Stiefvater. Ich habe sie bewogen, ihn negativer zu sehen, als sie es – ohne mich – getan hätte.«72 Sagen kann er das. Doch erzählen will er es nicht. Die Rollen in seinem Werk hat Marias Lieblingssohn schon früh verteilt: Der Mutter wird nach ihrem Freitod 1971 die Auferstehung zuteil. Der Stiefvater aber wird, immer und immer wieder, gekreuzigt.
Fünf Jahre, zwei Monate und drei Tage sitzt der Sohn, der seinen Vater getötet hat, im Gefängnis. Doch von Reue keine Spur: »Ich habe ihm im Schlaf mit der Hacke den Schädel eingeschlagen. Noch heute, wenn ich in der Zeitung von etwas Ähnlichem lese, hole ich in Gedanken wieder mit aus und sage: ›Richtig!‹.«73
Das ist vielleicht kein literarischer Vatermord, aber doch so etwas wie versuchter Totschlag. Der »Einheimische« im Spiel vom Fragen (1989) steht damit nicht allein in Handkes Werk. In Mein Jahr in derNiemandsbucht erzähle er »die Geschichte, wie ich meinen Vater töten wollte«, gesteht Handke 1994.74 »Mein Vater war ein Trinker«, sagt der Ich-Erzähler im Kurzen Brief zum langen Abschied: »Und wenn ich im Bett lag, hörte ich es oft im Nebenzimmer gluckern, sooft er sich etwas ins Glas goß: Bei der Erinnerung möchte ich ihm sofort mit einem Dreschflegel den Kopf abschlagen, damals wünschte ich nur schnell einzuschlafen.«75
Noch 1997 wird das Vatergespenst in den Zurüstungen für die Unsterblichkeit exorziert: Ihre Söhne seien vaterlos und sie würden auch ohne Väter bleiben, meinen da die Schwestern und lassen das Urteil folgen: »Gut für die heutige Zeit, gut für den Frieden jetzt, gut für die Zukunft.«76
In der »Rachegeschichte« Das zweite Schwert (2020) schließlich entscheidet sich der Erzähler für ein Teilgeständnis: »Ja, Gewalt war in ein paar meiner Taten wie, auf andere Weise, und weit öfter und heftiger, meinen Worten gewesen. Und wenn in Worten, so ausnahmslos in gesprochenen, wie in geschriebenen, will sagen, zum Publiziertwerden bestimmten, für die eine oder andere Öffentlichkeit.«77
Sind auch die literarischen Gewaltausbrüche verjährt?
Seit Sophokles’ Ödipus ist der Kampf zwischen Vater und Sohn um die Frau ein literarisches Königsthema. Immer wieder hat Handke sich geschickt als Vatermörder inszeniert. Schon sein erster spektakulärer Auftritt 1966 in Princeton, als Peter Handke den Autoren der Gruppe 47 »Beschreibungsimpotenz« vorwarf, kann durchaus als versuchter Vatermord an den damals tonangebenden Literaturverwaltern gesehen werden.
Der Kafka-Verehrer Handke kennt dessen Brief an den Vater, diesen legendären Text, in dem der Kampf gegen den Vater und die innere Befreiung von ihm zur Grundlage und gleichzeitig zur Voraussetzung für gelungenes Schreiben erklärt wird. Handke will Schriftsteller werden, und eins ist ihm bald klar: das kann man nur gegen die Väter, nicht mit ihnen.
Erich Schönemann, der leibliche Vater
Dennoch muß man weder die Psychoanalyse bemühen, noch nach von anderen übernommenen literarischen Strategien suchen, um zu erklären, warum die Väter in Handkes Leben und Werk von vornherein nur als Gegner auftreten können: Schließlich hat sich der eine, Bruno Handke, nach Jahren als der »falsche« Vater herausgestellt, während der andere, Erich Schönemann, den Sohn sogar schon vor der Geburt im Stich gelassen hat.
»Mein Vater war ein Arschloch«, sagt Handke über Erich Schönemann. »Nein, ich sage das aus Freundlichkeit. Bei mir weiß man das nie. Ein Möchtegern-Frauenheld. Er war viel zu zappelig für einen Frauenhelden.«78
Und die Väter gehören für Handke noch in einem anderen Sinn zur feindlichen Seite: Beide sind Deutsche und repräsentieren damit einen Teil von ihm, mit dem er sich immer wieder kritisch auseinandergesetzt hat: »Ich empfand Haß auf das Land, so enthusiastisch, wie ich ihn einst für den Stiefvater empfunden hatte, den in meiner Vorstellung oft ein Beilhieb traf«, gesteht der Erzähler in DieLehre der Sainte-Victoire und steigert sich allmählich in eine Haßtirade gegen die deutschen Staatsmänner, die »staatsmännischen ›Künstler‹«, schließlich sogar gegen die »deutschen Erdformen«, gegen Täler, Flüsse und Gebirge, hinein. In solchen Momenten kann er dem Deutschen und den Deutschen nichts, aber auch gar nichts Gutes abgewinnen und wittert überall »fehlende Entsühnung«79.
In den deutschen Vätern sieht Handke Krieg und Nationalsozialismus personifiziert. Fast beiläufig bezeichnet der Erzähler in Wunschloses Unglück den Soldaten Erich Schönemann als »Parteigenossen«. Handkes leiblicher Vater – nicht nur ein Wehrmachtsangehöriger (das waren die Brüder der Mutter auch), sondern jetzt sogar eingeschriebenes Mitglied in Hitlers Partei!
Die Väter sind die bösen Geister der Geschichte, die Peter Handke heimsuchen. In der Wiederholung richtet der Ich-Erzähler den »Befehl an sich selber: Entfern dich vom Vater«80. Deshalb zieht es Handkes Helden immer wieder in die Natur. Dort hoffen sie, dem auf der Familie liegenden Fluch entkommen und die Fesseln der Geschichte abstreifen zu können. Eine Hoffnung, manchmal ein Gebet: »Schatten hoch oben auf der ziehenden Wolke, hebt mich heraus aus der tödlichen Geschichte meiner Vorfahren.«81
Doch die Geister der Geschichte treten immer wieder an ihn heran; sie ergreifen als Untote Besitz von ihm. Doch das ist auch positiv, denn der Haß auf die Väter, in den Handke sich schreibend noch mehr hineinsteigert, ist ein wichtiger Schaffensimpuls – weil er Teil der Verwandlung ist, durch welche Handke die Geschichte in sein Werk holt.
In den Hornissen muß sich der Erzähler noch der Sprachskepsis erwehren wie einst Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos. Dem zerfielen die abstrakten Worte »wie modrige Pilze« im Munde. Der junge Handke schreibt: »Die Worte fielen mir jedoch im Gehirn, bevor ich sie aussprach, zu Silben und Buchstaben auseinander.«82
Was kann den Autor vor der Sprachlosigkeit retten? Für Handke ist es die Unterwelt der Väter, sind es die dunklen Stollen der Geschichte; er erforscht sie rastlos und findet so seine Sprache: »Auf den Grund gesehen zu haben, gab ihm aber seine Sprache zurück, und er konnte sich dann selber hassen, weil er von den Untoten besessen gewesen war, als sei er ›mit ihnen verwandt‹. Im Haß atmete er tiefer; atmete sich aus dem Gruftsog heraus. ›Ich habe keinen Vater mehr.‹«83
So wird ihm der Fluch der Väter zum Segen.84 Als Sohn des Bruno Handke oder des Erich Schönemann ist er nur ein Jemand; am Ende der Langsamen Heimkehr (1979) jedoch ist er bereits ein »Niemand«. Die Verwandlung hat begonnen.
Handkes Werke haben oft etwas Prophetisches, ein utopisches Ziel, sind von einer Vision vom ewigen Frieden erfüllt. Wer diese Momente der Hoffnung als naiv und aufgesetzt mißversteht, der verkennt: Nicht die Himmelswelt der Mütter steht am Anfang seines Schreibens, sondern der Haß auf die Väter.
Nicht umsonst beginnt Handke die Lehre der Sainte-Victoire, diese malerische Selbsterkundung voller Cézanne-Farben, mit dem dunklen Flecken, der auf seiner Herkunft liegt: dem angespannten, zwiespältigen Verhältnis zu seinem Stiefvater. Er berichtet darin von einem typischen männlichen Initiationsritus: Trotz seiner Farbenblindheit hat der Achtzehnjährige die Musterung fürs österreichische Militär bestanden. »Als ich dann zu Hause das Ergebnis der Untersuchung mitteilte (›tauglich zum Dienst mit der Waffe‹), meldete sich der Stiefvater – wir sprachen sonst nicht mehr miteinander – und sagte, jetzt sei er zum ersten Mal stolz auf mich.«85
Diese Bemerkung seines Stiefvaters sei ihm sofort zuwider gewesen, erklärt Handke. Aber warum ist sie im Gedächtnis verbunden mit dem frischen Rotbraun des Gartenbodens, den Bruno Handke gerade umgegraben hat? »War nicht auch ich zu einem Teil stolz mit der Nachricht heimgekommen?« Zum Farbspektrum des Ich gehören auch »die dunklen Flecken in ihm«, wie Handke schon bei Stifter gelesen hat. Also betreibt er auch hier Selbsterforschung und findet sich auf einmal in der Erinnerung »ganz in dem Rotbraun drin, als einer Klarheit, durch die ich mich und auch den ehemaligen Soldaten verstehen kann«86. Der blutige Boden der Geschichte trägt vielerlei Früchte – was kann man dafür, auf welchem Acker man gewachsen ist?
In Der Chinese des Schmerzes beseitigt Handke den Erzeuger, indem er ihn auf dem Schlachtfeld seiner Phantasie, als erstes Opfer des Krieges fallen läßt; bei der Betrachtung eines Buches mit Bildern von Gefallenen beginnt er zu sinnieren:
»Mein Vater ist gleich am Kriegsanfang umgekommen und hat seinen Sohn nie gesehen. Auf seinem Bild, das in einer Plastikhülle steckt, trägt er, anders als so viele Gesichter in dem Band, nicht den dunklen Schnurrbartstempel unter der Nase; doch er ist zur Zeit der Aufnahme vielleicht auch bloß zu jung dafür gewesen.«87
Wieder treibt Handke ein raffiniertes Spiel: Der einzige, der in seiner Familie ein Hitlerbärtchen trägt, ist Großvater Siutz, wie eine alte Porträtaufnahme bezeugt.
»Ich kann nur mit mir selber kämpfen, nicht mit anderen«, zitiert Handke gern als islamische Weisheit.88 Das Schreiben als fürsorgliche Belagerung des eigenen Selbst, an deren Ende es verwandelt ist und neu aufersteht: »Wieder einmal fast schon die Wunschvorstellung vom Krieg: daß ein Krieg nötig wäre, die Außenwelt zu entriegeln, die tote Körperhaut zu häuten.«89 Im Krieg gegen die Väter bekämpft Handke auch seine inneren Dämonen.
Großvater Gregor Siutz (der »Ote«)
So schlecht die Väter wegkommen, ein Schreiben wäre ohne sie nicht möglich. Im Märchen Die Abwesenheit beschwört der Erzähler sogar seinen Vater in einem Ritual herauf:
»Ich bin heute den ganzen Tag durch die Bilder meines Vaters gegangen, Schritt um Schritt und Grad um Grad wie im Kreis, und die Felsen im Land hier haben mir meine Weltstadt-Häuser ersetzt. Nur der Vater selber fehlt mir. Umso mehr fehlt er mir. Noch nie hat er mir so gefehlt wie jetzt hier. Vater, du fehlst mir. […] Vater, erscheine!«90
Auch von Deutschland und seiner Geschichte wird Handke ein Leben lang nicht loskommen: »Ich hänge an Deutschland. Nicht nur, weil mein Vater Deutscher war. Ich hänge an dem Land, an der Landschaft […], und ich frage mich heute noch, wenn ich das vor mir sehe: Wie konnten diese Verbrechen gerade dort passieren?«91
Der Vater in der Literatur: Ein Haustyrann wie aus dem Bilderbuch. Und in der Wirklichkeit? »Ich kann von niemandem sagen, er hätte mich in meiner Kindheit unterdrückt, ich kann niemandem vorwerfen, er hätte mir Unrecht getan, nicht einmal meinem Stiefvater«, versichert Handke 1973 in einem Interview.92
Im gleichen Jahr erzählt er den Journalisten von profil von seinen »fürchterlichen Angstzuständen als Kind«, wenn sich die Eltern schreiend prügelten. Diese subjektiv sicher zutreffende Kindheitserinnerung – welches Kind würde nicht voller Entsetzen an sich streitende Eltern zurückdenken, noch dazu ein so sensibel auf Geräusche jeder Art reagierender Mensch wie der junge Peter Handke – wird von den profil-Journalisten mit Passagen aus Handkes Werken garniert, in denen der Stiefvater als tobender Trinker gezeichnet wird. Kann man es dem Dichter zum Vorwurf machen, wenn sich seine Figuren verselbständigen?
Tatsächlich war Bruno Handke nicht der prügelnde Alkoholiker, als der sein literarisches Alter ego in Erscheinung tritt. Jedenfalls hat ihn sein ältester leiblicher Sohn Hans, Peters Halbbruder, nicht als solchen in Erinnerung.