Meister der Erinnerung - Ulf Fildebrandt - E-Book

Meister der Erinnerung E-Book

Ulf Fildebrandt

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Beschreibung

Erinnerungen sind Magie. Erinnerungen geben den Zauberern Isdras mehr Macht als jede Waffe und jede Maschine auf dieser Welt. Doch der Orden von Tall Zadorn missbraucht diese Macht, um die Schatten der Vergangenheit zu erwecken. Die einzigen, die einflussreich genug sind, sich gegen den Fürsten von Tall Zadorn zu erheben, sind die Brüder Holrit. Mit ihrer Streitmacht fordern sie die Diener des Dunklen Herrn heraus und streben nach der Herrschaft über die Dynastie. Der Taschendieb Jad'her aus Makhadeva wird in die Kämpfe hineingezogen, als ihm ein Unbekannter einen Zettel zusteckt und gleich darauf vor seinen Augen stirbt. Jad'her muss fliehen und begibt sich zusammen mit seinen Gefährten auf die Suche nach dem Wort des Schöpfers - einer Macht, die die Welt verändern kann. Aber wird er die Aufgabe meistern oder kommt ihm der Dunkle Herr zuvor?

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Ulf Fildebrandt

 

Meister der Erinnerung

 

Ein Roman aus dem Weltenkreis

Inhalt

Meister der Erinnerung

Impressum

Erstes Buch

1 Ein Dieb

2 Ausflug in die Stadt

3 Die Botschaft

4 Nachricht aus dem Flüsterwald

5 In der Bibliothek

6 Ein Auftrag für Daryen

7 Treffen mit Karl Ingwi

8 Ein Zauberer

9 Der Aufbruch

10 Die Jagd

11 Vergangenheit

12 Beratung

13 Das Haus in den Bergen

14 Am Pass

15 Angriff des Geistes

16 Bei den Vendaji

17 Ankunft

18 Der Geist aus der Vergangenheit

Zweites Buch

1 Im Tempel

2 Erkenntnisse

3 Der Palast

4 Opfer

5 Im Versteck

6 Überfall

7 Flucht

8 Auf Salhern

9 Angriff

10 Flammen

11 Tod

12 Relikte

13 Die Verhandlung

14 Der Fürst

15 Die Entscheidung

16 Gegen den Orden

17 Die Prüfungen

Drittes Buch

1 Das Begräbnis

2 Neue Begleiter

3 Plan

4 Im Garten

5 Mitstreiter

6 Überfall

7 Angriff der Schatten

8 Das Lied

9 Begräbnis

10 Ein Schiff auf dem See

11 In der Stadt

12 Abfahrt

13 Der Hinterhalt

14 Die Macht des Glaubens

15 Angriff

16 Ankunft

17 Die Prüfung

18 Im Hafen

19 Der erste Gefolgsmann

20 Der Prinzipal der Akademie

21 Krönung

22 Am See

23 Versammlung

24 Tanzen

25 Entscheidung

26 Das Amulett

27 Abschied

28 Schiffbruch

29 Der Verräter

30 Hilfe

31 Von den Vendaji

32 Überfall

Viertes Buch

1 Der Orden von Arkeen

2 Auf der Insel

3 Ankunft des Ordens

4 Eine Zauberin

5 Schatten

6 Ein Versehen

7 Auf der Stadtmauer

8 Im Baum

9 Handel mit Thomas Namor

10 Täuschung

11 Angriff der Zauberer

12 Das Fest der Erinnerungen

13 Kampf der Titanen

14 Das Angebot

15 Kampf auf der Mauer

16 Yoris Angriff

17 Der Fall des Tors

18 Im Turm von Diamir

19 Das Duell

20 Ankunft im Tal

21 Das Opfer des Vendaji

22 Das Wort

23 Die Ankunft des Herrn

24 Aufbruch aus dem Tal

25 Neue Hoffnung

26 Die letzte Versuchung

Danksagung

Ulf Fildebrandt

Meister der Erinnerung

ISBN Print: 978-3-946376-56-9

ISBN eBook: 978-3-946376-57-6 (ePub)

 

© 2019 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter),

Overbeckstraße 39, 01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Coverdesign/Umschlaggestaltung: © Fabian Santner,

Cover-Illustration: Alexander Lunyakov; Stock: depositphoto - 5265749 alekup

Lektorat/Layout/Satz: Lysandra Books Verlag

 

Die Illustrationen und das Kartenmaterial sind nur Bestandteil der Printausgabe und im eBook nicht enthalten.

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die mechanische, fotografische, elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise – durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Erstes Buch

Im 6061. Jahr nach dem Sieg Peadar Bhasas

Auf der Welt Isdra

1 Ein Dieb

Jad'her, Makhadeva

 

Jad'her schlich sich an die eng zusammenstehende Menge heran.

Gebannt starrten die Besucher des Marktes auf eine Leinwand und lauschten den Worten eines Händlers, der Geschichten von fernen Orten erzählte. Laute des Erstaunens erklangen, als am Rande der sommerlichen Landschaft die Ruinen einer Stadt auftauchten. Verrostete Metallstreben ragten in den meerblauen Himmel und erinnerten an die Überreste vergangener Reiche. Die Leute murmelten vor Begeisterung.

Das Licht aus der magischen Laterne lenkte die Zuschauer ab. Sie achteten nicht mehr darauf, was um sie herum geschah, und Jad'her konnte mühelos erkennen, wo sie ihr Geld versteckten.

Plötzlich verlor er das Gleichgewicht. Der Schnee auf dem Boden war rutschig und schmutzig braun, nur an wenigen Stellen noch so rein, wie er in der Nacht zuvor gefallen war. Gerade noch rechtzeitig fing Jad'her sich wieder.

Neugierige Blicke richteten sich auf ihn, und er fluchte leise. Aufsehen konnte er am Allerwenigsten gebrauchen, und die Darbietung des Händlers leistete für gewöhnlich gute Dienste, um die Passanten abzulenken. Aber jetzt kannten sie sein Gesicht. Er schob eine widerspenstige blonde Strähne aus dem Gesicht und ging weiter. Hier sollte er besser nichts mehr unternehmen.

Unweit der Menschentraube fiel sein Blick auf einen kleinen beleibten Mann, dessen Mantel sich in Höhe der Tasche ausbeulte. Dort musste sich seine Geldbörse befinden. Wie zufällig ging Jad'her auf den Mann zu und trat an dessen Seite, begleitete ihn auf seinem Weg die Stände entlang. Zu lange durfte er sich nicht neben dem Fremden aufhalten. Niemandem gefiel es, einen Unbekannten in seiner unmittelbaren Nähe zu haben.

Du kannst ruhig etwas von deinem Geld abgeben, dachte Jad'her. Dann nimmst du vielleicht etwas ab.

Er zog die Handschuhe aus, und die kalte Luft biss in seine Haut. Der Winter zeigte sich von seiner unbarmherzigen Seite. Am liebsten hätte Jad'her die Handschuhe anbehalten. Für den Diebstahl brauchte er jedoch seine ganze Geschicklichkeit. Mühsam dehnte er die Gelenke und machte sie geschmeidig. Seine Finger fühlten sich steif an, beinahe wie eingefroren.

Ein paar Schritte entfernt, neben einem Stand mit Gewürzen, wartete Michal, ein zäh aussehender junger Mann, kaum älter als Jad'her. Er trug dieselben abgetragenen Hosen und eine Jacke, die ihn vor der Kälte schützte. Die ungeschnittenen, schwarzen Haare reichten bis zu den Schultern. Seitdem Jad'her für die Gilde arbeitete, begleitete Michal ihn.

Sein Freund aus Kindertagen nickte knapp, sodass nur Jad'her es sah. Das Zeichen hatten sie vorher ausgemacht. Keiner beachtete sie. Mit einer schnellen Bewegung langte Jad'her in die Tasche des reichen Mannes und fischte den Beutel mit den Münzen heraus. Fest umklammerte er ihn, damit die Geldstücke nicht klimperten.

Wie selbstverständlich blieb Jad'her zurück. Der Beutel wechselte in seine Hosentasche, ohne dass es jemand bemerkte. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

Derweil hielt der reiche Mann auf einen Stand mit Backwaren zu. Entschlossen griff er nach einem Laib Brot, klemmte es sich unter den Arm und langte mit der freien Hand in seine Tasche.

Jad'her fluchte leise. Es war noch zu früh, dass sein Opfer den Verlust des Geldes feststellte. Er befand sich nur ein paar Schritte entfernt, und der Beutel in seinem Besitz wäre der beste Beweis für sein Verbrechen. Am liebsten hätte er die Münzen verschwinden lassen, doch er musste seinen Anteil bei der Gilde abliefern.

Nicht zu schnell und nicht zu langsam wich Jad'her zurück. Es fiel ihm schwer, nicht loszurennen. Er durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Gefühlte Ewigkeiten später hatten sich etliche Besucher des Marktes zwischen ihn und den reichen Mann geschoben. Dennoch hallte dessen Stimme über den ganzen Marktplatz. »Verdammter Dieb, wo bist du?«

Die Leute um Jad'her herum schauten sich nervös um. Jeder schien Angst zu haben, dass sein Nebenmann ihn beschuldigte.

Endlich erreichte er eines der Gässchen, die vom Markt abgingen, und verbarg sich im Schatten der Häuser in einer Nische. Die grauen Wände wuchsen senkrecht neben ihm in die Höhe, nur verziert von einigen Ornamenten weiter oben. Niemand beachtete ihn. Er war allein. Beruhigt atmete er auf.

Du hast mehr Glück als Verstand, dachte er.

Im Zwielicht zog er den Beutel aus seiner Tasche und leerte ihn aus. In Gedanken versunken lauschte er dem Klimpern der Goldmünzen und träumte für einen Augenblick davon, sein Leben hinter sich zu lassen. Das Wappen der Familie, der Kopf eines Falken, war auf jeden Holrit geprägt, der offiziellen Währung auf der Insel Lakhna.

»Oh Mann, ist das viel«, flüsterte eine Stimme hinter ihm.

Erschrocken steckte Jad'her die Münzen in das Säcklein zurück. Erst dann schaute er auf. Michal war ihm in die Seitenstraße gefolgt.

»Was machst du hier?«, fragte Jad'her seinen Freund vorwurfsvoll.

»Darf ich nicht nach dir sehen?«

»Doch«, erwiderte Jad'her, »aber starr das Geld nicht so an.«

Ein breites Grinsen erschien auf Michals Gesicht. »Hast du Angst, dass es sich in Luft auflöst?«

»Ich gebe der Gilde schon ihren Anteil.«

»Sicher?« Der Tonfall klang freundlich, doch Zweifel schwangen mit.

»Ich bin in der Gilde«, antwortete Jad'her genervt. »Natürlich gebe ich meinen Anteil ab.«

»Bis du irgendwann verschwindest.«

Jad'her lachte freudlos auf. »Du weißt genau, dass niemand die Gilde einfach so verlässt.«

Den Dieben beizutreten war ein Fehler gewesen. Sein Leben mit Diebstählen zu bestreiten, war nicht die Zukunft, die Jad'her sich vorgestellt hatte.

Schritte drangen zu ihm. Eine weitere Person war in den schmalen Raum zwischen den Häusern getreten. Die Dunkelheit verhinderte, dass er Einzelheiten erkannte, zuerst waren nur die groben Umrisse des Neuankömmlings im Zwielicht erkennbar. Ein Mann, ungefähr einen Kopf größer als Jad'her. Dieser Mann repräsentierte die Gilde. Als er näherkam, reichte das Licht vom Markt bis zu ihm. Er trug einen schwarzen Ledermantel, dessen Saum fast den Boden berührte. Die einzigen Stellen, die Haut zeigten, waren die Hände und das Gesicht. An den Wangen und am Kinn wuchs der Ansatz eines Bartes. Die tiefliegenden Augen funkelten in den Höhlen.

»Warst du erfolgreich?«, vernahm Jad'her die tiefe Stimme des Mannes, der ihm seine Aufträge erteilte. Er kannte Tivar nur bei seinem Vornamen. Jedes Mitglied der Gilde war genau einer Person zugeordnet, die ihm Anweisungen geben konnte. Darüber blieben die Hierarchien ein Geheimnis. Somit war aber zumindest sichergestellt, dass man keine anderen Mitglieder der Gilde verraten konnte.

Jad'her nickte und zog den Geldbeutel aus seiner Tasche. Eine ausgestreckte Handfläche tauchte vor ihm auf. Die unausgesprochene Forderung, den Anteil der Diebesgilde abzugeben. Nur für einen Augenblick zögerte er, seine Beute zu übergeben. Dann ließ er die Hälfte der Münzen in die Hand seines Gegenübers fallen.

»Geh wieder zurück«, befahl der Mann und umschloss mit den Fingern die Silbermünzen.

Schweigend verharrte Jad'her. Es gefiel ihm nicht, Befehle zu befolgen.

»Willst du lieber bei einem Einbruch mitmachen?«, fragte Tivar lauernd.

Niemand durfte das Haus eines anderen ohne Einladung betreten. Wenn es doch jemand tat, besaß der Hausherr das Recht, ihn zu töten. Oder ihn dem Richter zu übergeben, der die Strafe vollstrecken würde. Und es gab nur eine Strafe für das Eindringen in ein Haus. Die Todesstrafe. Einbrecher lebten gefährlich auf Lakhna.

Widerstrebend wandte Jad'her sich um. Immerhin hatte er einen Teil seiner Beute behalten dürfen. Der Rest würde ausreichen, um ihm in den nächsten Tagen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Dicht ging er an Michal vorbei, der ihm die Hand auf die Schulter legte und fest zudrückte. Jad'her wusste, dass sein Freund ihn verstand. Sie waren beide ganz unten in der Hierarchie der Gilde. Ihre Aufgabe war es, die Diebstähle zu begehen. Sie trugen das Risiko, bekamen aber nur einen viel zu geringen Anteil an der Beute.

Jad'her schüttelte den Kopf, um die trübsinnigen Gedanken zu vertreiben. Er musste konzentriert bleiben, wenn er nicht erwischt werden wollte. Der Winter mit seinem Schnee und den eisigen Temperaturen machte sein Leben als Dieb schon schwer genug.

Als er auf den Markt zurückkehrte, hatte sich nichts verändert. Die Rufe der Händler hallten über den ganzen Platz. Der Geruch von gegrilltem Fleisch und anderen Leckereien lag in der Luft. An etlichen Ständen boten sie Safi an. Der herbe Duft der schwarzen Flüssigkeit stieg ihm in die Nase. In Jad'her wuchs eine Leichtigkeit, als weiche der Schatten der Diebesgilde von ihm.

Seine Schritte führten ihn zu weniger belebten Abschnitten des Marktes. Von dort drang eine Stimme an seine Ohren. Sie sang ein ruhiges Lied, das durch den Lärm nur schwer zu verstehen war. Jad'her schaute sich um, auf der Suche nach ihrem Ursprung. Endlich hatte er einen winzigen Ort zwischen zwei Ständen ausgemacht. Auf einer Holzkiste saß ein alter Mann, der in einen weiten Mantel gehüllt war, das Gesicht durch seinen Hut verdeckt.

Nur der Gesang gelangte zu Jad'her und übte einen seltsamen Zauber auf ihn aus. Langsam trat er näher und lauschte den Worten des alten Mannes, der von lange zurückliegenden Geschichten erzählte, Kämpfen gegen die Schöpfer der Welt. Nach etlichen Strophen hob der Alte den Kopf und schaute ihn direkt an. Am liebsten wäre Jad'her weggelaufen, aber seine Beine waren wie erstarrt. In den Augen des Mannes lag eine Leidenschaft, der sich Jad'her nicht entziehen konnte.

Der Sänger hob den Arm und deutete in eine Richtung. Jad'her erwachte aus seiner Erstarrung und folgte dem Hinweis, ohne dass er zu sagen vermochte, was ihn dazu bewogen hatte. Eine Richtung war so gut wie die andere.

Augenblicke später hatte er ein weiteres Opfer ausgemacht. Das auffälligste Merkmal des Mannes war sein vorzüglich geschneiderter Anzug, der in einem hellen Rot schimmerte. Nur reiche Leute konnten sich solche Kunstwerke leisten. An seinem Handgelenk trug er eine mechanische Uhr, und hinter ihm zog ein Diener einen kleinen Anhänger, der ein lautes Summen von sich gab. Der Federantrieb im Innern erlaubte es, ihn ohne Anstrengung zu bewegen.

Die Reichen sind echt zu dumm, dachte Jad'her. Stoßen einen mit der Nase darauf, dass es bei ihnen etwas zu holen gibt.

Doch im nächsten Augenblick klangen Schreie bis zu ihm. Leute stoben zur Seite. Andere fluchten, als sie in den Schnee fielen und sich umschauten. Jad'her folgte ihren Blicken hin zu einem Mann, der sich rücksichtslos seinen Weg bahnte, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Überblick zu bekommen.

Der Mann wurde von Söldnern verfolgt, die Schwerter in den Händen hielten. Hinter ihren Schultern ragten die Läufe von Gewehren in die Höhe, die sie allerdings nicht einsetzten. Jad'her hatte niemals verstanden, warum die Söldner die Regel befolgten, keine Schusswaffen in Menschenmassen zu benutzen. Jetzt war er dankbar dafür.

Der Mann auf der Flucht kam immer näher, bis er direkt vor Jad'her stand. Seine Kleidung war zerrissen und blutverschmiert. Er drückte krampfhaft seine Hand auf eine stark blutende Wunde in der Leibesmitte.

Jad'her wollte zurückweichen, aber der Mann stürzte auf ihn zu. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Verletzten aufzufangen. Er merkte, wie warmes Blut über seine Hand lief und auf den Schnee tropfte.

Langsam sanken beide nieder, bis sie auf dem Boden knieten. Der Mann kramte mit der Hand in einer seiner Taschen und zog einen Zettel heraus. Jad'her warf einen kurzen Blick auf die fremdartigen Schriftzeichen.

Im selben Moment hörte er, wie die Söldner näher kamen. Ihr Keuchen und die Rufe übertönten alle anderen Geräusche.

Hastig verbarg Jad'her das Papier. Während seine Hand noch in der Tasche steckte, hob der erste Krieger sein Schwert. Für einen Wimpernschlag spiegelte sich die Sonne auf der Schneide der Waffe. Dann sauste das Schwert nach unten, und Jad'her schloss seine Lider. Augenblicke vergingen, von denen er nicht wusste, wie lange sie andauerten.

Ewigkeiten später wagte er es, seine Augen wieder zu öffnen. Sein Herz raste. Der Mann vor ihm besaß keinen Kopf mehr. Jad'her spürte Feuchtigkeit an seinen Wangen und wischte sie ab. Es war kein Wasser. Blut bedeckte seine Handfläche. Voller Entsetzen schrie er auf.

Die Leute schauten ihn an. Sie ließen die Krieger ziehen, ohne Anstalten zu machen, sie aufzuhalten. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Jad'her stand mühsam auf und stolperte hinter den Mördern her, bis er über den Kopf des Mannes auf der Straße stürzte. Die Augen des Fremden waren unnatürlich geweitet, und sein Mund war immer noch verzerrt zu einem lautlosen Schrei.

Warum haben sie den Mann umgebracht?

Die leblosen Augen starrten in weite Ferne. Eine Blutlache breitete sich auf der Schneedecke aus.

Jad'her schaute sich um. Michal musste in der Nähe sein. Es war seine Aufgabe, ihm bei seinen Diebeszügen zu helfen. Er brauchte die Hilfe seines Freundes dringender als je zuvor, doch er fand ihn nicht. Michal war verschwunden.

Ich sollte auch von hier verschwinden, überlegte Jad'her und rannte auf eine der zahllosen Seitenstraßen zu, zwischen zwei massiven Häusern hindurch. Er wollte auf keinen Fall warten, bis sich jemand für den Leichnam interessierte und begann, Fragen zu stellen.

2 Ausflug in die Stadt

Daryen, Tannheim

 

»Lass uns anstoßen, Tanikaya«, rief Daryen und prostete dem älteren Mann zu. Widerwillen huschte über Tanikayas Gesicht. Trotzdem hob er seinen Becher und stieß auf das Wohl seines Schützlings an.

Auf gewisse Weise empfand Daryen Mitleid mit ihm. Die Aufgabe seines Begleiters bestand darin, sein Leben zu schützen, und er machte es Tanikaya nicht gerade leicht.

Heute Abend hatten sie sich in das Nachtleben von Tannheim gestürzt. Daryens schwarzes, dichtes Haar war verdeckt von einer Perücke. Das aschblonde Kunsthaar stammte von einem wahren Meister seines Faches, daher fiel keinem Gast im Raum auf, dass es nicht seine eigenen Haare waren.

»Jetzt trink!«, forderte Daryen ihn auf. »Wann bekomme ich schon mal die Gelegenheit, unser Haus zu verlassen?«

Tanikaya starrte ihn missmutig an. »Ich bin immer noch der Meinung, dass es ein Fehler war, in die Stadt zu gehen. Die Familie Holrit hat nicht nur Bewunderer.«

Ausgelassen lachte Daryen. »Ach, was soll passieren«, gab er selbstsicher zurück. »Glaubst du, in die Stadt meiner Familie wagt sich ein Ritter des Ordens?«

Der Schreck angesichts solcher Sorglosigkeit stand Tanikaya ins Gesicht geschrieben. Er beugte sich nach vorne und kam mit seinem Mund dicht an Daryens Ohr. »Wenn die Leute hier wüssten, dass der Bruder des Oberhauptes der Familie Holrit in dieser Kneipe ein Bier trinkt, dann würden sie hinausstürmen.«

»Sie brauchen es ja nicht zu erfahren«, entgegnete Daryen vergnügt. »Ich werde es ihnen nicht verraten.«

Er musterte seinen väterlichen Freund. Dessen Gedanken waren nur zu leicht zu erraten. Tanikayas Entsetzen, als er ihm am Nachmittag seinen Plan verkündet hatte, war unbeschreiblich gewesen. Sie hatten einige Zeit darüber gestritten, dass eine lächerliche Verkleidung ihn kaum unkenntlich machen würde. Am Ende hatte Daryen sich durchgesetzt. Wie er es immer tat.

Die Erinnerung an Dutzende von Ausflügen bestärkte ihn. Warum sollte gerade jetzt etwas passieren?, überlegte er. Niemand vom Orden von Tall Zadorn hatte je versucht, ihn in Tannheim zu töten. Daryen wusste, dass die Familie Holrit eines Tages den verwaisten Thron in Dhathi Sangor besteigen würde. Ihre Dynastie würde die Macht übernehmen.

»Denkst du an euer Erbe?«, fragte Tanikaya.

Daryen nickte. »Eines Tages wird mein Bruder nach Dhathi Sangor gehen.«

Lange blickte Daryen in weite Ferne, als läge die verheißene Zukunft greifbar vor ihm. Doch dann wandte er sich seinem Bier zu und nahm einen kräftigen Schluck. »Aber heute Abend wird gefeiert.«

Seine Blicke schweiften erwartungsvoll über die Gäste der gut besuchten Kneipe. Dicht an dicht standen sie neben den Tischchen, ein Glas Bier oder Wein in den Händen. Schließlich entdeckte er zwei junge Frauen. Die eine blond mit blassem Teint, die andere schwarzhaarig und trotz des Winters sonnengebräunt.

»Du weißt, wie wir es machen«, meinte Daryen, ohne den Blick abzuwenden. Ihm gefiel das Rollenspiel, mit dem sie die jungen Damen in seine Arme zu treiben gedachten. Tanikaya spielte dabei immer einen reichen Onkel, der seinem Neffen die Stadt zeigte und die Frauen bedrängte, sodass Daryen als Retter in der Not auftreten konnte.

»Komm mit«, forderte Daryen. Seinen Krug ergriff er derart ruckartig, dass ein wenig Bier über den Rand schwappte. »Der Abend ist noch jung.«

Tanikaya fügte sich in sein Schicksal und schob sich an ihm vorbei. Zielstrebig ging er auf die beiden Frauen zu.

»Was hat euch denn hierher geführt?«, sprach er sie ohne Umschweife an und grinste frech. Daryen musste zugeben, dass das Schauspiel seines Lehrmeisters ziemlich beeindruckend war.

Die beiden Frauen warfen sich einen unsicheren Blick zu und rückten näher zusammen. Das Verhalten des alten Mannes schien ihnen unangenehm zu sein.

Daryen entschied, dass es an der Zeit war, einzugreifen. Schnell näherte er sich dem Tisch. Er legte beide Hände auf Tanikayas Schultern. »Alterchen, willst du nicht lieber Frauen in deinem Alter ansprechen?«

Tanikaya wandte sich um. Sein Gesicht zeigte keine Überraschung oder Wut, erst einen Moment später fügte er sich in seine Rolle und musterte Daryen empört.

»Es ist meine Sache ...«, setzte er an.

»Geh einfach fort«, erwiderte Daryen und schob ihn unsanft zur Seite. Wenn Tanikaya es wirklich ernst gemeint hätte, hätte er vielleicht Widerstand geleistet. So setzte er sich in Bewegung und entfernte sich.

»Namatha«, begrüßte Daryen die beiden Frauen höflich.

»Ich ...«

Plötzlich wurde er mit Gewalt nach hinten gerissen. »Lass meine Verlobte in Ruhe«, schrie eine raue Stimme.

Daryen taumelte einige Schritte zurück, bis er sich an einem Fremden festhalten konnte. Sein Bierkrug flog in hohem Bogen durch die Luft und zerschellte auf dem Boden. Das Bier ergoss sich über die Holzdielen, und Spritzer trafen die Gäste. Viele schauten wütend zu ihm hinüber.

Die jahrelange Schule bei den besten Söldnern aller Inseln tat ihre Wirkung. Fast augenblicklich stand Daryen fest auf den Beinen und wartete auf einen zweiten Angriff. Doch nichts passierte.

»Warte«, meinte die dunkelhaarige Frau. »Er hat ...«

»Die beiden wollten euch reinlegen«, stieß der Mann hervor und deutete auf Tanikaya. »Der alte Kerl ist sein Freund, und er sollte euch belästigen, damit der da als Held dastehen kann.« Damit verharrte er seelenruhig neben seiner Verlobten und umarmte sie.

Gerade wollte Daryen auf den Mann zustürzen, als Tanikaya ihn an der Schulter zu fassen bekam.

»Wir sind aufgeflogen«, raunte er ihm zu. »Ich hole unsere Kutsche.«

Daryen dachte überhaupt nicht daran, diesen Angriff auf sich beruhen zu lassen. Er wollte es dem Kerl heimzahlen. Niemand legte sich ungestraft mit Daryen Holrit an. Voller Wut wand er sich aus dem Griff Tanikayas.

»Lass uns rausgehen«, schrie er derart laut, dass es jeder in der Gaststube mitbekam.

Ohne zu zögern, folgte der fremde Mann der Aufforderung und setzte sich in Bewegung. Daryen blieb ihm auf den Fersen. Hinter sich hörte er das Gemurmel der Gäste und ihre Schritte.

Unzählige Stadtbewohner drängten hinter Daryen auf die Straße hinaus und versammelten sich in einem Halbkreis um ihn und seinen Gegner herum. Am Himmel stand der kreisrunde Kern des Weltenkreises und tauchte alles in sein blaues Licht.

Aus den Gesichtszügen des unbekannten Mannes sprach Verachtung, als der ihn musterte. Die Umstehenden wurden ruhiger. Nur das Gemurmel der Kneipengäste war zu vernehmen. Eisige Wolken stiegen auf, jedes Mal, wenn sie ausatmeten.

Daryen vertraute auf die Tricks, die ihn seine Ausbildung gelehrt hatte.

In diesem Moment stürzte der Mann auf Daryen zu, als wollte er ihn unter sich begraben. Blitzschnell wich Daryen zur Seite und stellte seinem Angreifer ein Bein. In hohem Bogen segelte sein Gegner zu Boden und blieb im Schnee liegen. Er stöhnte laut, und in Daryen stieg Freude auf. Der Kerl würde ihn nicht mehr herausfordern.

Doch zu Daryens Enttäuschung rappelte er sich noch einmal hoch. Wild starrte er die Umstehenden an, deren Gelächter leiser wurde. Er stürmte auf Daryen zu, der ihn mit einem Schlag wieder zu Boden schickte. Treffer um Treffer musste der Mann einstecken, sodass er schließlich vollkommen entkräftet taumelte, die Hände auf die Knie gestützt.

Doch er wollte nicht aufgeben. Seine Gestalt straffte sich. Eine letzte gewaltige Anstrengung trieb ihn voran und brachte Daryen sogar in Schwierigkeiten. Ungezügelte Schwinger gingen auf ihn nieder. Im Eifer des Kampfes verlor er seine Perücke und musste sich den Spott der Leute gefallen lassen.

Dann wurde es leiser, und die Umstehenden wisperten. Einer der Gäste stieß Daryens Gegner an, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Mit geweiteten Augen starrte der Mann ihn an und zog sich zurück. Auch die Blicke der anderen Gäste waren erfüllt von Ehrfurcht, als hätten sie gerade eine Sagengestalt gesehen. Sie wichen zurück.

Als Kind hatte Daryen häufig die alte Weissagung zu hören bekommen, dass ein Mitglied der Familie Holrit eines Tages den Glanz der alten Dynastie wieder aufleben lassen würde. In diesem Moment schien es, als hätte er bereits die Macht ergriffen.

Plötzlich tauchte Tanikaya neben Daryen auf und zerrte ihn mit sich fort. »Sie haben dich erkannt«, erklärte der Söldner. »Wir müssen hier verschwinden.«

3 Die Botschaft

Jad'her, Makhadeva

 

»Wirf den Zettel weg«, forderte Michal entschieden.

Jad'her betrachtete seinen Freund, der neben ihm im Schatten der Häuser ging. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und ein dämmriges Zwielicht herrschte in den Straßen von Makhadeva.

Gedankenverloren steckte Jad'her seine Hände in die Taschen. Er spürte das Stück Papier zwischen den Fingern, das der Ermordete ihm vor seinem Tod zugesteckt hatte. Bei dem Gedanken, dass diese Notiz der Grund für den Mord sein könnte, lief es ihm kalt den Rücken hinab.

Was sie wohl bedeuten?, fragte er sich. Niemals zuvor hatte Jad'her solche Symbole gesehen. In der Schule hatten die Lehrer ihm nur die gewöhnliche Schrift in Makhadeva beigebracht. Für mehr reichten die Spenden der Familie Holrit an die Schulen nicht aus. Doch er wollte sich nicht beschweren. Der Handel schien aufzublühen, je mehr Leute lesen und schreiben konnten, und die Händler hatten ihren Vorteil.

Doch da gab es den einen Ort in der Stadt, an dem grenzenloses Wissen aufbewahrt wurde. Die Regale der Bibliothek boten Tausenden von fremdsprachigen Büchern Platz, und Bilder von allen Inseln und Städten wurden in Schränken gelagert, um sie im Licht der magischen Laternen betrachten zu können.

»Ich will ihn Nyngrim zeigen«, raunte Jad'her, ohne langsamer zu werden.

»Und du meinst wirklich, dass er die Schriftzeichen übersetzen kann?«

Wenn nicht er, dann niemand, den ich kenne, überlegte Jad'her, schwieg jedoch. Er wusste, dass Michal keine besonders hohe Meinung von dem Vendaji hatte. Die Menschen des verborgenen Volkes wurden gemieden, auch weil es Gerüchte gab. Sie sollten Maschinen besitzen, die besser waren als die der Menschen an der Oberfläche. Vendaji legten viel Wert darauf, unter sich zu bleiben, und nur selten verließ einer von ihnen die Höhlen unter den Elisbergen. Nyngrim gehörte zu diesen wenigen, und für Jad'her war er beinahe so etwas wie ein Vater.

»Es ist zu gefährlich«, warf Michal ein. »Sie haben ihn einfach umgebracht, vor allen Leuten.«

Allein die Erwähnung brachte Jad'her die grauenvollen Bilder der letzten Stunden zurück. Die blütenweiße Schneedecke und der abgeschlagene Kopf eines Mannes. Starre Augen im Moment des Todes. Die Schneide des Schwertes sauste auf den Fremden nieder. Und die Tränen aus Blut auf seinen Händen und Wangen.

»Du weißt nicht, was er getan hat«, antwortete Jad'her.

»Du auch nicht.« Empörung klang aus Michals Worten.

Jad'her verstummte. Es war sinnlos, mit seinem Freund darüber zu streiten. Eigentlich musste er froh sein, dass Michal ihn überhaupt begleitete, obwohl er glaubte, dass es falsch war. Ein Lächeln huschte über Jad'hers Gesicht. Michal hatte ihm oft geholfen, wenn er in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Als er das erste Mal betrunken war, hatte Michal dafür gesorgt, dass er nicht in der Kälte des Straßengrabens erfroren war. Sie hatten niemandem von der Geschichte erzählt. Ihre Mütter hätten sie eine Woche lang nicht mehr aus der Wohnung gehen lassen.

»Er ist wieder im Schlemmenden Lamm?«, fragte Michal unvermittelt.

Jad'her nickte. Dort saß Nyngrim in letzter Zeit öfter, allein an einem Tisch, einen Becher Bier vor sich. Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Gedanken.

Nach der nächsten Hausecke gelangten sie zum Wirtshaus. Durch die Tür drangen laute Stimmen auf die Straße. Über ihnen schaukelte das Schild eines Lamms aus altem Kiefernholz, und die zwei verrosteten Eisenketten, an denen es hing, quietschten schrill im Abendwind. Drei Betrunkene torkelten vorbei und sangen Lieder.

Jad'her öffnete die Tür, und ein Schwall warmer Luft schlug ihm entgegen. Der Geruch nach Bier und Schnaps war überwältigend. Die Tische waren alle besetzt, und selbst dazwischen drängten sich die Männer. Ein paar Frauen hatten sich auch zu den Gästen gesellt, anscheinend auf der Suche nach zahlungskräftigen Freiern.

Die ehrenwerte Gesellschaft der Stadt, dachte er mit einem breiten Grinsen. Wenigstens falle ich hier nicht auf.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Mühsam zwängte er sich durch die Menschenmenge auf der Suche nach seinem Freund. Ein Blick zurück verriet ihm, dass Michal ihm folgte.

In einer Ecke des Gasthauses fand er den Vendaji aus den Elisbergen endlich. Dessen schwarzer Bart reichte bis auf den Tisch. Um die Schultern trug er eine abgewetzte Lederjacke. Drei leere Becher standen bereits vor ihm, einen halbvollen hielt er fest umschlungen.

»Ich wünsche dir einen guten Abend«, grüßte Jad'her den älteren Mann. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Nyngrim schaute hoch, und seine blauen Augen blitzten auf. Er hob die Hand und deutete auf den Platz ihm gegenüber. »Natürlich.« Ein Lachen ordnete die Falten zu vollkommen neuen Mustern. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Darf ich nicht einfach auf ein Bier bei dir vorbeikommen?«

»Wenn du das Bier bezahlst«, erwiderte der Vendaji. »Gerne.«

Jad'her setzte sich auf den angebotenen Platz und warf Michal einen auffordernden Blick zu, bis dieser sich mit einem entnervten Gesichtsausdruck niederließ.

»Drei Bier!«, orderte Jad'her bei einer Bedienung und fragte dann: »Also, was gibt es Neues?« Er wollte seinen alten Freund nicht gleich mit einer Bitte überfallen.

»Was soll sein?«, erklärte der Vendaji gelangweilt. »Ich habe keine Lust mehr, in der Schmiede zu arbeiten. Sollen die Leute ihre Spaten und Gartenzäune doch selbst herstellen. Außerdem haben ein paar angefangen, die Dampfmaschinen für ihre Schmiedehämmer zu verwenden und verderben die Preise.«

Damit verstummte er und blickte auf das Bier in seiner Hand. Seine Augen starrten in weite Ferne. Schon oft hatte Jad'her erlebt, wie Nyngrim von alten Zeiten träumte.

»Ja, damals, als dein Vater noch lebte ...«, begann er. Nyngrims Augen wurden feucht. »Vergiss es. Wir haben schon hundertmal darüber gesprochen. Man bekommt nur einmal im Leben eine Chance, und ich habe sie verpasst. Es ist traurig, aber nicht zu ändern. Man muss ...«

Plötzlich tauchte die Bedienung, eine blonde, herbe Frau, hinter Jad'her auf und stellte die übervollen Becher vor ihm ab. Ein wenig Schaum schwappte über den Rand auf den Tisch.

Nyngrim hob sein Getränk. »Lass uns darauf trinken, dass es uns auch weiterhin so gut geht wie heute.«

Jad'her zögerte nur einen kurzen Moment, bevor er ebenfalls seinen Becher umfasste. Er stieß erst mit Nyngrim, dann mit Michal an.

»Prost!«, flüsterte er.

Die Becher schlugen zusammen. Jad'her setzte seinen an die Lippen, und das Bier lief kühl und bitter durch seine Kehle. Als er wieder aufblickte, hatte sich Nyngrims Gesichtsausdruck von einem Augenblick zum anderen gewandelt. Eben noch traurig und betrübt, lachte er, als hätte er seine Probleme vergessen. Ich will nicht so enden, dachte Jad'her.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Nyngrim.

Jad'her zog den Zettel mit den seltsamen Schriftzeichen aus der Tasche.

»Ich war heute auf dem Markt und habe mir ein bisschen Geld dazuverdient.« Jad'her schwieg für einen Moment. Die Erinnerungen stiegen wieder hoch. »Plötzlich tauchte ein Mann auf. Er wurde von Kriegern gejagt.« Ein bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit. »Sie haben ihn getötet, direkt vor mir. Aber bevor er starb, gab er mir noch diesen Zettel.«

Nyngrim musterte das weiße, zerknitterte Blatt Papier, dann griff er in seine Tasche und holte ein Vergrößerungsglas heraus. Jad'her konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nyngrim würde niemals zugeben, dass er alt wurde.

Als der Vendaji die ersten Zeilen gelesen hatte, verfinsterte sich sein Gesicht.

»Du verstehst, was es bedeutet?«, fragte Jad'her.

Nyngrim nickte. »Ja, verdammt.«

»Und?« Neugierig blickte Jad'her ihn an. »Was bedeutet es?«

Der Vendaji senkte seine Stimme. »Die Sprache, in der es geschrieben ist, stammt von den letzten Wächtern. Wir sollten uns nicht in deren Angelegenheiten einmischen.«

Jad'hers Verwunderung wuchs. Die letzten Wächter lebten isoliert. Niemand wusste genau, was sie taten und welche Ziele sie verfolgten. Manche Gerüchte erzählten von sagenhaften Maschinen in ihren Städten, aber Jad'her hatte niemals etwas von diesen Wundern gesehen. Im Moment interessierte ihn die Botschaft viel mehr. »Aber was steht da?«

Für einen Moment musterte Nyngrim ihn, bevor er zu übersetzen begann.

»Schatten versperren den Weg.

Doch im Turm von Wolantha Gort

Wartet das Wort des Schöpfers.«

Verständnislos schaute Jad'her den Vendaji an. Sein Blick wanderte zu Michal, der auch nur mit den Schultern zuckte. »Und diese Worte sollen einen Sinn ergeben?«

Nyngrim lehnte sich zurück. »Ich weiß weder, was die Bücher von Wolantha Gort sind, noch, was das Wort des Schöpfers ist.«

Jad'her schwieg einige Zeit. »Und was soll ich jetzt machen? Ich habe gesehen, wie ein Mann umgebracht wurde, nur weil er mehr über das wusste, was auf dem Zettel steht.«

»Ganz unten finden sich noch ein paar Symbole, die keine Worte sind. Ich war zwar lange nicht mehr da, aber für mich sehen sie nach einem Index aus. Die Bücher in der Bibliothek besitzen genau dieselben Zeichenreihen«, erklärte Nyngrim und hielt ihm den Zettel hin. »Es sieht aus wie eine Notiz, um etwas wiederzufinden.«

»Was für Zeichen?«

Nyngrim nannte eine Abfolge von Buchstaben, die sich Jad'her einprägte.

»Ich gehe morgen früh in die Bibliothek und schaue nach.«

Empört stellte Michal das Bier auf den Tisch. »Du bist verrückt. Der Mann ist getötet worden.«

Ruhig nahm Jad'her den Zettel entgegen und steckte ihn in seine Tasche zurück. Auf eine seltsame Weise spürte er, dass es kein Zufall gewesen war, dass ausgerechnet er diese Notiz in die Finger bekommen hatte. Vielleicht war es seine Chance, aus Makhadeva zu verschwinden und die Gilde hinter sich zu lassen.

Er hob seinen Becher und trank ihn aus. »Gibst du noch einen aus?«

Nyngrim lachte und winkte die Bedienung zu sich.

4 Nachricht aus dem Flüsterwald

Daryen, Tannheim

 

Am Morgen spazierte Daryen zusammen mit seinem Bruder durch den streng bewachten und ummauerten Garten der Familie Holrit mitten in der Stadt Tannheim. Die hohe Mauer aus roten Backsteinen schützte sie wie all die Jahre vor den Blicken Neugieriger und den Angriffen des Ordens von Tall Zadorn. Auf den Zinnen der Mauer hielt die Leibgarde der Familie Holrit Wache, angeworbene Söldner von allen Inseln. Nicht weit entfernt wehte das Wappen der Familie im Wind. Der rote Kopf eines Falken auf schwarzem Grund war umrankt von grünen Lorbeerzweigen und blickte auf die Straße und den Garten innerhalb der Mauern herab.

Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, doch sie besaß nicht die Kraft, den Schnee zu schmelzen. Eine dicke Schneedecke lastete auf den Eichen, während die kalte Luft den Atem der Brüder zu Nebel gefrieren ließ.

Daryen wandte sich zu seinem Bruder. Nayel Holrit, das Oberhaupt der Familie, war von kleiner, gedrungener Gestalt, und ein gewisser Hang zur Fettleibigkeit ließ sich nicht absprechen. Sein immer noch schmales Gesicht wirkte streng, und streichholzkurze, schwarze Haare umrahmten es.

Manchmal fragte sich Daryen, ob er sich auch einen dichten Vollbart wie sein Bruder wachsen lassen sollte. Sein glattrasiertes Gesicht verlieh ihm das Aussehen eines jungen Mannes, obwohl Nayel nur vier Jahre älter war. Früher hatten manche Verwandte sie für Zwillinge gehalten. Heute bestand diese Gefahr nicht mehr.

»Wie geht es Tanja?«, warf Nayel beiläufig ein.

»Du weißt genau, dass wir uns nicht mehr sehen.«

»Ja, das weiß ich, aber ich wüsste gerne, wie es jetzt weitergeht.«

Daryen schaute zu Boden, als könne ihm der Kiesweg alle Fragen beantworten. »Ihr Mann weiß es noch nicht, aber ich glaube, Tanja liebt mich. Sie wird es ihm wohl sagen.«

»Das darf nicht passieren«, befahl Nayel.

»Ich kann es nicht verhindern. Sie wird ihrem Mann erzählen, dass wir uns ein paar Mal getroffen haben und dass sie mich liebt. Danach wird ihr Mann alle Hebel in Bewegung setzen, um mir zu schaden.«

Nayel schüttelte den Kopf. »Das hätte niemals passieren dürfen. Ihr Mann ist einer unserer besten Händler, es kann uns verdammt viel Geld kosten.«

»Warten wir ab«, erklärte Daryen. »Wir können eh nichts ändern.«

Schweigend gingen sie weiter bis zum Haus, als ihnen ein Fremder entgegenkam. Seine Schuhe und Hose waren überzogen von Rissen und Schrammen. Dreck hatte sich wie eine zweite Haut über die Kleidung gelegt.

Daryen wunderte sich, warum die Diener jemanden wie ihn bis zum Garten vorgelassen hatten. Sein Bruder hatte schon vor Jahren Anweisung gegeben, dass sie nur in wirklich wichtigen Angelegenheiten gestört werden sollten.

Ein paar Schritte vor ihm blieb der Mann stehen und blickte den beiden in die Augen. Er war groß, schien noch sehr jung zu sein und erweckte den Anschein, als gehöre er mehr in die Wildnis als in eine Stadt. Bartstoppeln schimmerten grau auf seinen Wangen, und die Haare standen zerzaust zu allen Seiten ab. »Namatha, mein Name ist Kalaron«, stellte er sich vor. »Ich arbeite für Sie und komme aus dem Flüsterwald.«

»Namatha«, erwiderte Nayel den Gruß. »Um was geht es?«

Kalaron trat von einem Bein auf das andere. »Es hört sich vielleicht dumm an«, entschuldigte er sich. »Jetzt, wo ich hier vor Ihnen stehe, kommt es mir selber töricht vor.«

»Reden Sie«, forderte Nayel ihn ungehalten auf.

Der Mann nickte ergeben. »Meine Aufgabe besteht darin, den Orden im Flüsterwald zu beobachten. In jüngster Zeit haben sich Dinge ereignet, die beunruhigend sind. Wir vermuten, dass der Orden von Tall Zadorn dahinter steckt, aber Beweise haben wir keine.«

Warum kommt er nicht zur Sache?, fragte sich Daryen und verfluchte sich gleich darauf für seine Ungeduld.

»Zwei Familien sind bisher Zeugen dieser Erscheinung geworden«, fuhr Kalaron fort. »Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begegneten sie seltsamen Schatten in der Gestalt von Menschen.«

Daryen kannte seinen Bruder gut genug, um zu erkennen, dass er kurz davor stand, aus der Haut zu fahren. Normalerweise wagte es niemand, mit solchen Kleinigkeiten vor ihn zu treten. »Und was ist daran so ungewöhnlich? Die Familien haben halt jemanden aufgeschreckt, der nicht gesehen werden wollte.«

Kalaron schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Und warum nicht?«, erkundigte sich Nayel lauernd.

»Beim zweiten Mal ... war ich selbst dabei. Ich habe diesen Schatten mit eigenen Augen gesehen, und auch nur aus einiger Entfernung betrachten können. Aber ... kennen Sie die Prophezeiung des langen Vergessens?«

Nayel blickte den Boten fragend an. »Was hat das damit zu tun?«

»Die Fluten des Vergessens warten in der Nacht«, flüsterte Kalaron. »Sie bringen das lange Vergessen.«

Ein Feigling, dachte Daryen. Warum schreibt er die Ereignisse alten Legenden zu?

»Wenn Sie solche Angst haben, kann ich es nicht ändern«, urteilte Nayel.

»Nein, verdammt«, fluchte Kalaron, zuckte aber gleichzeitig zusammen angesichts seiner Respektlosigkeit. »Ich habe mit ansehen müssen, wie Dutzende von Menschen grausam getötet wurden. Und ich habe selbst getötet, damals als wir den Altseelenpass über die Elisberge zurückerobert haben. Gefürchtet habe ich mich beim Anblick dieses Wesens trotzdem. Es schien beinahe, als erfülle diesen Schatten eine eigene, grauenvolle Kraft. Er schien nicht zu dieser Welt zu gehören.«

»Schatten voller Leben?«, argwöhnte Nayel und runzelte die Stirn.

Das Gesicht Kalarons zeigte seine Verzweiflung, weil niemand ihn verstand. Doch dann machte er einen weiteren Versuch. »Nein«, sprach er entschlossen, »das ist es ja gerade. In diesen Schatten ist kein Leben. Sie bewegen sich nur wie lebende Menschen.«

Daryen blickte seinen Bruder zweifelnd an. Womöglich hatte sie ihr erster Eindruck getäuscht. Ein erfahrener Kämpfer war wohl kaum von einem einfachen Schatten aus der Ruhe zu bringen.

»Es war«, setzte Kalaron hinzu, »als blickte ich in das Reich der Toten. Ich zittere jetzt noch, wenn ich daran denke. Diese Erscheinungen sind nur die Überreste von Menschen. Nur ihre Schatten. Und wenn ich einen Schuldigen suchen würde, fiele mir beim besten Willen nur der Orden von Tall Zadorn ein. Außerdem, so sagt man, habe der Orden in den letzten Wochen einige Leute mehr im Flüsterwald.«

Der Herr des Hauses Holrit war nachdenklich geworden. Seine Ungeduld hatte sich gelegt. Nayel hatte erkannt, dass die von Kalaron erzählten Ereignisse für ihn wichtig waren. »Welche Maßnahmen soll ich, Ihrer Meinung nach, veranlassen?«

Der Mann aus dem Flüsterwald atmete auf. Er hatte sein Ziel erreicht, den Anführer der Familie Holrit zu überzeugen, ihm zuzuhören. »Wir müssen herausfinden, was überhaupt vor sich geht. Eine kleine Truppe sollte ausreichen, nur ein paar Leute. Eine Streitmacht würde den Orden von Tall Zadorn aufscheuchen. Wenn sie merken, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind, dann haben wir möglicherweise einen harten Kampf vor uns.«

»Mein Bruder und ich werden es uns überlegen«, sagte Nayel. »Gehen Sie in die Küche und lassen Sie sich etwas zu essen geben. Wir teilen Ihnen später mit, zu was wir uns entschlossen haben.«

»Ich muss Ihnen aber vorher noch etwas sagen«, warf Kalaron ein, als wäre es ihm gerade eingefallen.

»Und was?«, erkundigte sich Nayel.

»Beim ersten Auftauchen eines Schattens«, bekannte Kalaron, »haben wir einen einzelnen Mann nach Makhadeva geschickt, um mehr über diesen Schrecken herauszufinden. Er sollte in den alten Überlieferungen in der Bibliothek suchen, ob er Hinweise entdeckt. Wir haben jedoch schon seit geraumer Zeit keine Nachricht mehr von ihm erhalten.«

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung wandte er sich ab und entfernte sich über den schmalen Weg, auf dem er gekommen war.

Daryen blickte ihm nach. Kann es wahr sein?, überlegte er. Der Orden von Tall Zadorn ist zu vielen Grausamkeiten fähig, warum soll es ihm da nicht auch gelingen, durch Zauberei diese Schatten zu erschaffen?

Er erinnerte sich an die vielen Legenden und Gerüchte über den Sitz des Ordens von Tall Zadorn. Tief unter der Burg des Ordens sollte es geheime Räume geben. Es war der Ort auf der Welt, an der die Magie erforscht wurde. Jede Form der Zauberei basierte auf Erinnerungen. Daryen wusste, dass die Meister den Menschen ihre Erinnerungen rauben und in Materie umwandeln konnten. Sie konnten die Erinnerungen aber auch auf andere Menschen übertragen und sie in willenlosen Sklaven verwandeln.

Für einen Moment schloss er die Augen und zwang sich, die Gedanken zu verbannen. Schon oft hatte er mit seinem Bruder darüber geredet, dass sie den Orden besiegen mussten. Bisher waren sie nicht stark genug. Zumindest im Moment nicht.

Sein Blick wanderte zu Nayel. »Was hast du?«, fragte er seinen älteren Bruder.

Wie aus einem Traum wachte Nayel auf. »Nichts, es ist nur eine Legende, die uns Vater erzählt hat, als wir noch Kinder waren.«

»Und welche?«, wollte Daryen wissen.

»Es ist nichts«, beschwichtigte ihn Nayel. »Nur eine alte Geschichte.«

Daryen spürte, dass sein Bruder ihn belog. Er störte sich nicht daran, denn wenn es wirklich wichtig wäre, dann hätte sein Bruder es ihm verraten. In solchen Dingen vertraute er ihm bedenkenlos.

»Was hältst du von den Schatten?«, erkundigte sich Nayel.

»Ich finde, dass wir beide selbst gehen sollten. Wenn was dran ist, können wir am meisten ausrichten. Außerdem wird es mir hier in Tannheim allmählich langweilig.«

Nayel lachte auf. Die Geschichte seines gestrigen Ausfluges hatte sich anscheinend bis zu seinem Bruder herumgesprochen. »Du bist zu ungeduldig, lass uns erst einmal ein paar Leute hinschicken.«

5 In der Bibliothek

Jad'her, Makhadeva

 

Jad'her verharrte und betrachtete das gewaltige Gebäude vor ihm. Die marmorweißen Treppen führten zu Eichenholztoren hinauf. Schmucklose, weiße Wände wuchsen in die Höhe und vermittelten ihm den Eindruck, winzig klein zu sein. Gerade stieg die Sonne über den Dächern der Häuser auf und strahlte die Bibliothek an, als er die Stufen hinaufging. Die dunklen Tore standen offen und gewährten den Blick in den Eingangsbereich. Jad'her trat zaghaft ein und schaute sich um.

Die Eingangshalle bot bereits einen beeindruckenden Vorgeschmack auf die Wunder im Inneren. Regale voller handgeschriebener Bücher bedeckten die Wände vollständig.

Und hier will ich die Nadel im Heuhaufen finden, dachte Jad'her mit einem Anflug von Sarkasmus.

Die berühmte Bibliothek von Makhadeva war der Mittelpunkt der Wissenschaften und Künste auf ganz Lakhna. Alle Gelehrten kamen mindestens einmal in ihrem Leben für längere Zeit nach Makhadeva. Sie lernten und kehrten zurück, ohne diesen Besuch und die Gespräche mit den anderen Schriftgelehrten der vielen Inseln jemals zu vergessen.

Die verschiedenen Häuser der Bibliothek waren im Auftrag der Herrscherfamilien und der mächtigen Dynastie Holrit vor einigen hundert Jahren errichtet worden. Jede Familie hatte ein Gebäude planen und bauen lassen, sodass sie die jeweiligen Vorlieben widerspiegelten. In der Mitte der Eingangshalle stand die Statue eines Mannes aus Marmor, die im Sprung die Arme und die daran befestigten Flügel ausbreitete. Jede einzelne Feder der Schwingen ließ sich erkennen. Über den Augen trug er eine Brille aus kreisrunden Gläsern, an deren Rändern Lederstreifen befestigt waren, um den Spalt bis zur Haut abzudichten.

Alte Legenden erzählten davon, dass es früher einmal überall auf der Welt Menschen gegeben hatte, die sich durch Magie und Technik in die Luft erheben konnten. Heute fand man sie nur noch in den fliegenden Palästen in Dhathi Sangor auf der Insel Vell. Als Kind hatte Jad'her während der Besuche in der Bibliothek vor dem Abbild dieses Mannes gestanden und sich seinen Träumen hingegeben. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass die Flügel Gedanken darstellten, frei und schneller als der Wind.

Jad'her legte den Kopf weit in den Nacken, um die Malereien an der Decke zu bewundern. Sie zeigten die ganze Vielfalt der Welt. Endlose Meere, die unzugänglichen Berge von Varg Taradhaz mit den Erinnerungen der Vergangenheit. Zauberer, die sich gegen den Dunklen Herrn erhoben, Meister, die in Dhathi Sangor regierten.

Ein Summen riss Jad'her aus seinen Gedanken. Treppen führten zu den höheren Etagen der Regale, und an einer Seite stieg ein Lastenaufzug langsam hinauf. Der Spiralantrieb im Innern der Maschine gab quälende Geräusche von sich. Ein Gelehrter wartete bereits auf die Bücher, um sie in Empfang zu nehmen.

»Namatha«, rief eine bekannte Stimme.

Jad'her lächelte. Er hatte sich mit Michal verabredet. Sein Freund hielt es zwar für eine dumme Idee, dem Hinweis auf dem Zettel nachzugehen, aber er ließ ihn nicht allein.

Als Jad'her sich umdrehte, kam Michal mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Ohne zu zögern umarmten sie sich.

Michal löste sich und deutete auf die Bilder an der Decke. »Ich finde es immer wieder faszinierend, dass wir auf einer Welt leben, die den Kern umkreist. Es soll noch viel mehr Welten geben. Viel mehr Länder und Meere.«

»Der Weltenkreis«, antwortete Jad'her.

Ein Nicken war Michals einzige Reaktion. Auch er hing seinen Überlegungen nach.

Jad'her wandte sich seinem Freund zu. »Wartest du schon lange?«

Michal schüttelte den Kopf. »Ich bin gerade erst gekommen.«

»Wohin müssen wir?«, fragte Jad'her und zog den Zettel aus seiner Tasche. Eigentlich war es sinnlos, denn die Symbole konnte er nicht lesen. Er musste darauf vertrauen, dass Nyngrim ihm die korrekte Buchstabenfolge genannt hatte.

»Der erste Buchstabe bezeichnet den Flügel der Bibliothek«, erwiderte Michal. »Wenn ich mich nicht täusche, wurde der Teil vom Herrscher von Menigor gebaut.«

Er hob den Arm und wies auf ein gigantisches Portal, das in eine andere Halle führte. »Dort entlang würde ich sagen.«

Entschlossen setzte sich Jad'her in Bewegung. Er wollte wissen, was es mit diesen Büchern auf sich hatte. Sie waren vielleicht sein Weg aus der Stadt. Schon nach ein paar Schritten erreichte er das Tor und gelangte in den langgestreckten Saal, der sich anschloss.

An den Wänden rechts und links zogen sich zwei Säulenreihen entlang, die über und über mit Bildern bedeckt waren. Sie zeigten Landschaften der anderen Welten, wolkenverhangene Bergspitzen im Nebel, tiefblaue Meere und dichte Wälder. Der Kern des Weltenkreises, eine gewaltige, blaue Scheibe, hing unverrückbar über dem Gelände und leuchtete mal stärker, mal schwächer, je nachdem, ob er von der Sonne angestrahlt wurde. Jede Welt umkreiste ihn auf der ewig gleichen Bahn, und bei jeder Umkreisung durchlief der Kern einen kompletten Zyklus von Licht und Dunkelheit.

Jad'her ging nicht auf die Worte seines Freundes ein. Er widmete sich den Bildern, die immer dieselbe Gestalt mit ausgestreckter Hand zeigten, als erschaffe sie all diese Wunder gerade eben erst. Tainu, überlegte Jad'her. Gott hat all diese Orte geschaffen.

Sein Blick wanderte durch den Saal, bis er die Darstellung an der Decke entdeckte. Dort standen ein Mann und eine Frau neben einem winzigen Teich. Aus den Wolken griff eine Hand herab und schenkte ihnen das Leben. Sie harrten am Ufer des Sees aus und blickten ohne jede Angst nach oben. Ehrfürchtig betrachtete Jad'her die Legende von der Erschaffung des Menschen.

»Wollen wir weiter?«, fragte Michal in diesem Moment.

Wie aus einem Traum erwachte Jad'her und musterte seinen Freund voller Verwirrung. Erst Augenblicke später erinnerte er sich an den Zettel und den Hinweis auf die Bücher über Wolantha Gort.

»Du hast doch gesagt, dass du weißt, was die Symbole bedeuten?«

»Das weiß ich auch.« Empörung sprach aus Michals Stimme. Er hatte schließlich behauptet, sich in der Bibliothek auszukennen.

»Ich wollte dich nur nicht unterbrechen, wenn du vor dich hin träumst.«

»Hab ich gar nicht«, erwiderte Jad'her beleidigt. Seit er zur Gilde der Taschendiebe gehörte, hatte er die Bibliothek nicht mehr betreten. Als Kind war er oft hier gewesen. In der Schule wurde es gern gesehen, wenn sich die Schüler für Wissen interessierten. Die Gilde legte ihr Augenmerk jedoch eher darauf, den Reichen ihr Geld abzunehmen. Dazu benötigten sie keine Lehrbücher, sondern Geschick.

Dumme Menschen brechen anscheinend bereitwilliger die Gesetze, dachte Jad'her und schämte sich, dass er das Leben in der Gilde gewählt hatte.

»Lass uns zu deinem Buch gehen«, meinte Michal und schenkte seinem Freund ein breites Grinsen.

Ihr Weg führte sie an Tischen mit kunstvoll geschnitzten Beinen vorbei, auf denen beeindruckende Folianten lagen. Die Einbände waren mit farbenfrohen Malereien verziert. Andere Bücher waren aufgeschlagen, und Männer in langen, dunklen Gewändern saßen davor. Sie blickten kein einziges Mal von den Seiten auf.

Auf einem Schränkchen stand eine magische Laterne, die ihr Licht auf eine Leinwand warf, größer als jede Abbildung auf Papier. Jad'her erinnerte sich an den fahrenden Händler auf dem Markt. Hatte seine Vorstellung der Unterhaltung gedient, so zeigte dieses Bild hier einen Bauplan mit kleingeschriebenen Texten, die die genauen Maße von Wänden und Torbögen beschrieben. Zwei Gelehrte richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Darstellung und redeten aufgeregt miteinander.

»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Jad'her seinen Begleiter.

»Vertrau‘ mir einfach.« Michal deutete mit dem Arm in einen schmalen Gang hinein.

»Dann geh«, forderte Jad'her. Michal setzte sich in Bewegung.

Nachdenklich starrte Jad'her auf die unzähligen Schriften. Er hatte nur das Wort seines Freundes, dass sie den Weg durch dieses Labyrinth des Wissens finden würden. Selbst der Gang, den sie gerade betraten, barg Dutzende Regale. Immer wieder gingen kleinere Räume vom Saal ab. Schilder neben den Türen zeigten an, welche Dokumente dort gelagert wurden. Michal studierte die Aufschriften genau, bis er endlich stehenblieb.

»Und?«, fragte Jad'her ungeduldig.

Mit einem zufriedenen Lächeln wandte Michal sich zu ihm um. »Wir sind da. Der Index besagt, dass dein Buch hier sein muss.«

Unschlüssig musterte Jad'her den Bereich, der vor ihm lag. Niemand sonst war hier. Langsam betrat er den Raum. Seine Schritte waren die einzigen Geräusche. Zwei Regale standen an den Wänden, und ein Tisch befand sich in der Mitte des Raumes. Staub tanzte im Licht, das durch ein Fenster hoch an der Wand fiel. Der Boden war bedeckt mit handgeknüpften Teppichen.

Obwohl Michal behauptet hatte, dass das Buch hier sein musste, wusste Jad'her nicht, wo er suchen sollte. Er schaute seinen Freund fragend an.

Michal zögerte einen Augenblick, bevor er zielstrebig ein Buch aus der rechten Regalseite herausgriff. Unschlüssig blickte er auf den Titel und kehrte zu Jad'her zurück.

Jad'her musterte es nachdenklich. Den nachtblauen Einband zierte ein silberner Kreis. Ein entlaubter Baum befand sich darin, ebenfalls von silberner Farbe. Das Leder fühlte sich in Jad'hers Händen kalt an und erwärmte sich auch nicht, je länger seine Finger es umfassten. Er hob den Deckel des Büchleins hoch und las den Titel Wolantha Gort in roter Schrift. Zufrieden klappte er es zu. Dann setzte er sich an den Tisch und schlug es wieder auf. Die Karte auf der ersten Seite zeigte, dass die Stadt an den Hängen eines Ausläufers der Elisberge erbaut worden war, weit im Süden von Jad'hers Heimatstadt. Der Alte Wald und die Berge trennten Makhadeva und Wolantha Gort.

»Und was steht jetzt drin?«, fragte Michal ungeduldig.

Jad'her schaute hoch, senkte seinen Blick jedoch sofort wieder. Er begann die ersten Kapitel des Buches vorzulesen.

»Zu einer Zeit, als es in Dhathi Sangor schon seit langem keinen Meister mehr gab, ergriff Draganar die Macht über die ganze Welt. Er tötete all seine Feinde und unterdrückte die Menschen im Namen des Dunklen Herrn für ein ganzes Zeitalter. Als Zeichen seiner Macht erbaute er Wolantha Gort, eine Stadt, wie sie dem Herrscher der Welt angemessen war. Ein halbes Dutzend Generationen währte die Herrschaft Draganars, denn der Dunkle Herr gewährte ihm die Unsterblichkeit.

Die Stadtmauern wurden von Schatten bewacht, Geistern aus den Erinnerungen der Verstorbenen. Nach einer Legende sollten sie von Varg Taradhaz stammen, dem Gebirge, das niemand erklimmen kann und in dem die Erinnerungen lange zurückliegender Zeiten umhergehen.«

Jad'her stockte. Die Schatten ließen ihn an die alte Legende vom langen Vergessen denken. Die Fluten des Vergessens warteten in der Nacht, um die Welt zu bedecken.

Entschlossen vertrieb er die düstere Prophezeiung aus seinen Gedanken und fuhr fort. »Doch nach jeder Nacht kommt auch ein neuer Tag. Die Zeit der Unterdrückung ging ihrem Ende entgegen, als sich Danathiël, Sohn von Bedanril, gegen den Feind erhob. Der Kampf hatte bald sein Ende gefunden, aber derjenige, dessen Verdienst dieser Sieg war, kehrte nicht mehr zurück zu den Überlebenden. Draganars letzter Zauber verwehrte Danathiël die Rückkehr zu seinen Gefolgsleuten. Denn obwohl Draganar erschlagen im schwarzen Turm lag, hatte sein letzter Zauber den Geist Danathiëls im Turm gefangen. Selbst über den Tod hinaus durfte niemand die letzte Ruhestätte Draganars betreten.

Jahre später verkündete ein Zauberer, dass jeder, der die Prüfungen besteht, mit dem Wort des Schöpfers belohnt wird. Es verleiht dem, der es ausspricht, die Macht eines Gottes. Die Macht, alle Dinge zu erschaffen. Unzählige Glücksritter machten sich im Anschluss daran auf den Weg nach Wolantha Gort und stellten sich den Prüfungen.«

Jad'her blickte auf die Zeilen des Buches, ohne sie weiter zu lesen. Seine Gedanken verweilten beim Wort des Schöpfers.

»Die Macht eines Gottes«, flüsterte er und stellte sich vor, was er alles mit dieser Gabe schaffen könnte. Er würde in einem Palast leben, gebaut aus Gold und Marmor, dessen Wände mit wundervollen Gemälden bemalt waren wie die Wände und Decken der Bibliothek. Sein Tisch würde immer reich gedeckt sein mit den wohlschmeckendsten Früchten der südlichen Länder, mit dem köstlichsten Wildbraten. Und er würde die Welt verändern, in seinem Sinne. Der Traum jedes Menschen in dieser grausamen Welt. Glück für alle, umsonst, niemand soll mehr gedemütigt werden.

Plötzlich hörte er Schritte draußen im Gang und schlug das Buch zu.

»Wir müssen raus hier«, flüsterte Michal und griff nach Jad'hers Arm, dem das Buch aus der Hand fiel. Michal zog ihn mit sich.

In einem ersten Impuls wollte Jad'her sich widersetzen. Er hatte das Buch gerade erst gefunden und wollte es mitnehmen. Der Mann, der getötet worden war, musste irgendetwas mit der Geschichte zu tun haben. Vielleicht hatte er zu viel erfahren. In diesem Teil der Bibliothek hielt sich anscheinend nicht sehr oft jemand auf. Die Mörder könnten versucht haben, jeden Hinweis auf das Wort des Schöpfers auszulöschen.

Voller Schrecken wurde Jad'her bewusst, dass diese Bedrohung auch ihn betraf. Er kannte die Geschichte, zusammen mit Michal.

»Wohin?«, raunte er seinem Freund zu und ließ sich mitziehen.

»Erst einmal raus«, erwiderte Michal und rannte voran, durch die Tür, wieder auf den Gang.

»Da hin«, flüsterte Michal und deutete in Richtung der großen Eingangshalle. Er stürzte los, und Jad'her folgte ihm.

Als Jad'her sich umschaute, erhaschte er einen Blick auf einen rothaarigen Mann, der ihn anschaute und losrannte. Es gab keinen Zweifel. Der Fremde verfolgte sie. Gezwungenermaßen beschleunigte Jad'her weiter, bis er die belebteren Hallen erreicht hatte. Michal blieb vor ihm und gab den Weg vor.

Ohne langsamer zu werden, hetzte Jad'her über den weißen Marmor durch die weit geöffneten Tore der Bibliothek. Vor ihm lag der schneebedeckte Platz in der grellen Morgensonne. Nachdem er die Treppe hinabgestiegen war, schlich er die Straße entlang. Sein Atem ging schnell, und sein Herz pochte bis zum Hals. Er wusste nicht, ob es nur die Anstrengung war oder die Furcht vor ihrem Verfolger.

Wenige Menschen außer ihnen hatten sich in die Kälte des Morgens hinausgewagt. Der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Leise drangen die Schritte an seine Ohren.

»Wir müssen hier weg«, meinte Michal zwischen zwei Atemzügen. »Aber langsam, sonst erregen wir noch mehr Aufmerksamkeit.«

Jad'her nickte. Ohne sich zu beeilen, bewegte er sich durch die winterliche Stadt, bis er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Am liebsten wäre er Hals über Kopf losgestürmt. Es fiel ihm unglaublich schwer, seine Furcht zu beherrschen. Er wandte den Kopf und musterte die Leute hinter sich. Seine Augen blieben an einer Gestalt mit flammendroten Haaren hängen. Der Mann aus der Bibliothek!

»Hinter uns«, flüsterte Jad'her und stieß Michal an. »Dreh dich nicht um!«

Michal machte Anstalten, nach hinten zu blicken, aber Jad'her drückte seine Schulter nach vorne. »Ich habe gesagt, nicht umdrehen! Wir müssen weiter.«

Jad'her überlegte fieberhaft. Nach dem ersten Schreck beschloss er, in die nächste Seitenstraße zu gehen und zu sehen, ob der Mann ihnen wirklich auf den Fersen war. Während Jad'her schneller wurde, bog er ab, zog Michal mit sich und versuchte, so unauffällig wie möglich zu wirken. Die Straße war schmal und lag im Schatten der Häuser. Wieder und wieder schaute Jad'her zurück, erkannte aber niemanden.

Doch in diesem Augenblick erschien der Mann mit den roten Haaren an der Straßenecke. Sein Herz tat einen Sprung. Ein Schaudern lief über seinen Körper. Er musste sich beruhigen! Der Mann durfte nicht wissen, dass er bemerkt worden war.

Jad'hers Gedanken überschlugen sich. Die Bilder des enthaupteten Mannes tauchten in seinem Innern auf.

»Lauf!«, rief Michal.

Da ihm nichts anderes einfiel, folgte er seinem Freund.

Sein ganzes bisheriges Leben hatte Jad'her in dieser Stadt verbracht, und er kannte jede Straße und jede Gasse. Verzweifelt überlegte er, wohin sie fliehen sollten. Wenn sie durch die Straßen liefen, würden sie irgendwann nicht mehr weiter laufen können. Der Mann sah nicht aus, als würde er die Verfolgung einstellen. Er wirkte zäh und kräftig. Sie mussten sich verstecken.

»Ich habe eine Idee«, rief Jad'her zwischen zwei Atemzügen.

Michal winkte, um ihm anzuzeigen, dass er die Führung übernehmen solle. Jad'her strengte sich noch mehr an, um an seinem Freund vorbeizuziehen. Seine Oberschenkel brannten. Lange würde er in dieser Geschwindigkeit nicht mehr rennen können.

Nach der nächsten Abzweigung erreichten sie eine Straße mit unzähligen Hauseingängen und Treppen, die zu den Türen hinaufführten. Darunter gab es einen kleinen Bereich, in den die Besitzer Dinge stellen konnten. »Da rein!«

»Das dürfen wir nicht.«

Es war verboten, die Wohnung eines anderen zu betreten. »Er wird uns dort nicht suchen.«

»Aber die Besitzer des Hauses finden uns«, gab Michal zurück und schaute sich nervös um.

»Du kannst ja weiter laufen«, erwiderte Jad'her und bog ab zu einem der Treppenaufgänge. Auf keinen Fall durfte ihr Verfolger sehen, wo sie sich verbargen. Zum Glück war der Mann noch in der Seitenstraße und nicht hinter ihnen.

Jad'her öffnete die Luke zum Raum unter der Treppe. Finsternis empfing ihn. Hastig zog er sie bis auf einen schmalen Spalt zu, um zu beobachten, was auf der Straße passierte.

Michal stand unschlüssig im Freien. »Das ist Schwachsinn.« In seinem Gesicht zeigte sich Verunsicherung.

»Verschwinde, wenn du dich nicht verstecken willst«, raunte Jad'her und schaute sich nervös um. Die Angst, dass Michal seine Zuflucht verraten könnte, ließ sein Herz schneller schlagen.

Dann endlich sprang Michal los und rannte die Straße entlang. Stimmen klangen von der Seite. Anscheinend hatte ihr Verfolger noch andere mit sich gebracht.

Erst in diesem Moment fiel Jad'her ein, dass ihn seine Fußspuren im Schnee verraten könnten. Kalter Schweiß brach ihm aus. Doch er beruhigte sich wieder, als er sah, wie viele Fußabdrücke auf der Straße zu sehen waren. Es war völlig unmöglich, seiner Spur bis zur Treppe zu folgen.

Plötzlich tauchte der rothaarige Mann auf dem Teil der Straße auf, den Jad'her durch den schmalen Spalt gerade noch einsehen konnte. Er erkannte ihn sofort und umfasste das Holz der Luke fester.

Der Mann ging die Straße hinab. Erst danach kamen seine Begleiter ins Sichtfeld. Zwei Männer in Lederkleidung, einer von ihnen trug ein Gewehr bei sich. Der Rothaarige hob den Arm und deutete in die Richtung, in die Michal geflüchtet war. Der Schütze zögerte nicht, drückte den Griff der Waffe gegen seine Schulter und visierte sein Ziel an. Gleich darauf löste sich der Schuss.

Ein freudiger Ausruf des Rothaarigen ließ Jad'her den Atem anhalten. Ist Michal das Ziel gewesen?, fragte er sich. In einer ersten Reaktion wollte Jad'her aufspringen und seinen Freund beschützen, aber er wäre allein gegen die drei Fremden. Mühsam kämpfte er seine Erregung nieder. Sein Herz schlug so laut, dass es in den Ohren dröhnte, und vor seinen Augen schwankte die Welt. Gepresst atmete er aus, ängstlich darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen.

Ihr Verfolger drehte sich um und betrachtete die Umgebung. Jad'her schloss die Luke noch weiter. Für einen Augenblick sah er das schmale Gesicht des Mannes, größtenteils bedeckt von einem buschigen, roten Vollbart und umrahmt von schulterlangem, ebenfalls roten Haupthaar. Eine dunkle, zackige Narbe zog sich von der Schläfe über die Wange bis zum Kinn. Nicht einen Moment zweifelte Jad'her, dass dieser Mann in seinem Leben schon viele Menschen zum Dunklen Herrn geschickt hatte.