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Die Nacht war schwarz. So schwarz, dass Nuria es mit der Angst bekam. Sie war aufgewacht, spürte, wie ihr Herz raste. Wie spät war es? Musste sie aufstehen? Wann musste sie aufstehen? Wohin musste sie gehen? Dann der Schreck: Sie wusste nichts mehr. Alles war weg. Jede Erinnerung, jeder Gedanke. Wie ausgelöscht ...
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhaltsverzeichnis
1. Schwarz
2. Tote leben länger
3. War es Mord?
4. Kellergedanken
5. Kurz vor Engelshoven
6. Kurz vor Schluss
7. Melindas Ring
Die Nacht war schwarz. So schwarz, dass Nuria es mit der Angst bekam. Sie war aufgewacht, spürte, wie ihr Herz raste. Wie spät war es? Musste sie aufstehen? Wann musste sie aufstehen? Wohin musste sie gehen? Dann der Schreck: Sie wusste nichts mehr. Alles war weg. Jede Erinnerung, jeder Gedanke. Wie ausgelöscht. Es war entsetzlich.
Hatte sie schlecht geträumt? Sie versuchte sich an den Traum zu erinnern. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, er fiel ihr nicht mehr ein. Nur vereinzelte Gedankensplitter aus dem Traum blitzten kurz in ihrem Gedächtnis auf. Ihre Mutter war aufgetaucht. Sie hatte ihr etwas zugerufen, aus einem Mund, der kein Mund mehr war. Auch ihr Vater hatte etwas zu ihr gesagt. Die Eltern hatten keine richtigen Gesichter gehabt, sondern nur seltsame Masken. Sie hatten Nuria an Schaufensterpuppen erinnert. Es war gruselig gewesen. Die Eltern wollten ihr irgendetwas Wichtiges mitteilen. Nuria erinnerte sich, dass es keine gute Nachricht war. Im Gegenteil: Es war eine entsetzliche Nachricht gewesen. Die Eltern wollten Nuria vor etwas warnen. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Vor was wollten die Eltern sie warnen?
Nuria schluckte. Ihr Hals tat weh. Wo war sie? Was war das für ein Bett, in dem sie lag? War sie allein? Fragen über Fragen schwirrten durch ihren Kopf. Unwillkürlich berührte sie ihre Stirn, tastete ihren Körper nach Wunden ab. Alles schien in Ordnung zu sein. Da war nur dieses kleine Pflaster am Oberarm. Doch das hatte sicher keine bestimmte Bedeutung. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Hatte sie lange Haare oder kurze? Sie fühlte lange, glatte Haare. Leider hatte sie keine Ahnung, welche Farbe sie hatten. Gleich, gleich würde jemand sie wecken und dann würde ihr wieder alles einfallen. Gemeinsam würden sie dann lachen über diese Schrecksekunden, die jeder einmal durchlebt. Vielleicht war sie auf einer Party gewesen und hatte zu viel getrunken. So fühlte sich also dieser Filmriss an, von dem alle immer erzählten ... Doch müsste er nicht schon längst vorbei sein? Wo war diese Person, die sie wecken und dann mit ihr lachen sollte? Nuria zählte bis zehn, dann bis fünfzig, dann bis hundert. Keiner weckte sie. Nuria konnte sich auch an keine Party erinnern. Bei wem sollte diese Party gewesen sein?
Aufgeregt tastete sie nach allen Seiten. Das Bett neben ihr war leer, doch es war noch warm. Hatte bis vor Kurzem hier jemand gelegen? War es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Warum hatte diese Person sie nicht geweckt? War es ihr ähnlich ergangen? Wo war dieser Mensch jetzt? Hielt er sich irgendwo versteckt?
Dann überkam es sie. Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus, schrie sich ihre Angst aus der Seele. Der Schrei schien endlos zu dauern, eine halbe Ewigkeit, bis sie nicht mehr konnte und der Hals brannte wie Feuer. Dann wieder Stille.
Ihr Herz raste noch immer. Sie konnte sich nicht erklären, wo sie war und was eigentlich passiert war. Das Einzige, das sie wusste, war ihr Name. Nuria. Es war ein spanischer Name. War sie Spanierin? Spielte das jetzt eine Rolle? Sie hatte das Gefühl, dass alles eine Rolle spielte, was mit ihr zu tun hatte. Alles, was ihr helfen würde, sich zu orientieren. Nuria richtete sich auf. Um sie herum: noch immer vollkommene Dunkelheit und Stille. Das konnte und durfte alles nicht wahr sein! Hatte man sie entführt? Hatte man ihr Medikamente gegeben? Hatte das kleine Pflaster doch eine größere Bedeutung als sie eigentlich gedacht hatte? Langsam stand sie auf. Ein warmes Daunenbettdeck hatte sie eingehüllt. Ohne die Decke war ihr kalt. Sie stand in einem Zimmer. Vorsichtig ging sie einige Schritte nach vorn. Ihr wurde schwindelig. Wie lange hatte sie wohl in diesem Bett gelegen? Ein paar Stunden? Ein paar Tage?
Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr sie. Nuria zuckte zusammen. War sie blind geworden? Wenn sie doch bloß ein wenig Grau erkennen könnte! Doch alles, was sie sah, war schwarz. Nuria ging langsam durch den Raum. Sie wollte um Hilfe rufen, doch eine innere Stimme sagte ihr, dass sie lieber schweigen sollte. Instinktiv spürte sie, dass Gefahren um sie herum lauerten. Sie fühlte sich beobachtet, als wenn tausend Augen sie verfolgten. Nuria wusste, dass sie in einer ausweglosen Situation war. Wohin sollte sie gehen? Woher kam sie?
Nuria fror. Sie trug eine dünne Bluse und eine Jeans. Schuhe hatte sie keine. Als sie eine Weile gegangen war, blieb sie stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören, kein Regen, kein Wind. Plötzlich wurde ihr klar, dass dieser Raum keine Fenster hatte. In diesem riesigen Raum befand sich nur ein Bett und sonst nichts. Der Raum war endlos. Er war so groß wie eine Halle. Oder sogar noch größer? Nichts regte sich. War die Welt ausgelöscht worden und sie war die Einzige, die überlebt hatte?