Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis - Gabriela Muri - E-Book

Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis E-Book

Gabriela Muri

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Beschreibung

Melvil Given entwickelt als Leiter einer Forschungsabteilung in Chicago digitale Technologien zur Übermittlung von Informationen. Daneben hat er ein eher ungewöhnliches Hobby – in seiner Freizeit erforscht Melvil die Wirkung von Farbe erzeugenden Halluzinationszigaretten. Während seiner Versuche mit den Zigaretten in den Wäldern Kanadas verliert Given zunehmend die Kontrolle: Die Farben seines Fernsehers verblassen, die Aussagen in den TV-Sendern beginnen sich zu wiederholen, die Bilder verschwinden. Irgendwann, inmitten von Fernsehgeräten und Fernbedienungen in seinem Wohnzimmer am Boden liegend, hat Given zwar nicht sein Leben, aber sich selbst verloren. Echt oder fake? Gegenwärtig oder vergangen? Wer kontrolliert die Geräte, wer kontrolliert das Spiel? Der Roman markiert die Schwelle vom analogen zum digitalen Zeitalter, als das World Wide Web eine bessere Zukunft voller Annehmlichkeiten verhieß.

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Gabriela Muri

Melvil

oder

Das verfügbare

Gedächtnis

Roman

© Songdog-Verlag, Bern und Wien

www.songdog.ch

Cover: Songdog

unter Verwendung einer Grafik

von Joe Zhuang/Vecteezy.com

ISBN 978-3-903349-07-0

Gabriela Muri forscht und lehrt als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Zürich sowie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit. Sie befasst sich sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Autorin mit raum- und zeittheoretischen Fragestellungen, mit Event- und Jugendforschung sowie dem Wandel unseres Alltags durch Digitalisierung. Im Jahr 2001 lebte sie einige Monate als Stadtforscherin in Chicago.

Für

Markus

Michelle, Anne-Catherine

Chiara, Angelina-Rea

Andrea, Gian-Maria

Man erwarb einen Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner, die Wohnungseinrichtung in den Filmen viel beneidenswerter. Endlich verschwand die Distanz zwischen den Schwarz-Weiß-Bildern und unserem Alltag, dessen strenges, fast schon tragisches Negativ sie gewesen waren.

Annie Ernaux: Die Jahre

Das Licht bündeln

Nebel kroch zwischen die gläsernen Korallen, die lautlos sich beinahe berührten, an einem Novembertag im Jahre 2002. Melvil packte drei Hemden, zwei verschiedenfarbene Krawatten, eine Taschenuhr und Unterwäsche bis zum vierten Tag ein. Das Licht eines einzigen Strahls, wie es ihm schien, traf seine linke Hand. Im rechten Ohr sirrte die Klimaanlage. Er wandte sich um und stellte sie leiser.

Steven hielt die rechte Hand seiner Mutter und wartete geduldig im Popcornladen an der Randolph Street auf süße weiße Luftkissen aus Mais, die eine arg verlangsamt arbeitende Verkäuferin mit hellblauer Papiermütze auf dem Kopf aus den Plexiglasfächern mit den verschiedenen Sorten schaufelte, in eine braune Tüte füllte, sie wog und ohne aufzublicken vor Stevens Mutter auf die Theke stellte. Miss Alizia war schlecht gelaunt heute, was Steven egal sein konnte, solange es Popcorn gab.

Candy Suzy zog den eisernen Laden zu ihrem FANTASY DREAM CANDY LAND das letzte Mal zu, hielt inne, schob sich eine ins Gesicht fallende blond gefärbte Haarlocke zurecht und schaute für kurze Zeit hinter sich, in den nebligen, grauen Novembernachmittag. Drinnen, im ehemaligen Lagergebäude, stapelten sich Schachteln mit Lutschbonbons, die’s jetzt billiger und besser woanders zu kaufen gab. War ja auch egal, hier gab es sie nicht mehr, Candy Suzy war fünfunddreißig Jahre alt, in der Mitte ihres Lebens angelangt. Niemand würde sich mehr um pistache-, mint-, zimt-, brombeer- und honigfarbene Kugeln zum passenden Geschmack kümmern, niemand mehr die langgezogenen Zuckermassen von oben nach unten mustern, dafür sorgen, dass die Bonbons in weicher rosa Watte, leicht verzuckert, warteten, bis sie in zitronengelb gestrichenen Pickups nach allen Richtungen in die große Stadt abtransportiert würden. Candy Suzy würde heute ihrem Freund in Minnesota einen Brief schreiben und darin erzählen, wie es gewesen war, das letzte Mal Lichterlöschen im nun dunkel dahindämmernden Lager; wer weiß, wer die letzten Stücke noch kosten, kaufen, bewundern würde. Candy Suzy wusste es nicht, ihr Freund in Minnesota auch nicht. Überhaupt, wofür brauchte sie einen Freund in Minnesota, wofür überhaupt Liebe, wenn niemand mehr ihre Bonbons wollte. Vielleicht würde sie sich in Zukunft Eliza, Patricia oder Rose nennen, darauf – auf einen richtigen Namen – kam es nun auch nicht mehr an.

Kurz entschlossen richtete er sich auf. Er bestellte ein Taxi, verließ das Hotelzimmer und gelangte mit dem Fahrstuhl nach unten.

»Guten Abend. Wohin?«

»Flughafen.«

Um einundzwanzig Uhr zwanzig hielt das Taxi vor dem Flughafen. Er eilte zur Gepäckabfertigungshalle. Einundzwanzig Uhr zweiundzwanzig: Melvil zündete die endlich fällige Zigarette an. Eine Gepäckschlaufe bewegte sich lautlos und ließ liegen gelassene Koffer durch eine rechteckige Öffnung hinter einer grauen Wand verschwinden. An dieser Wand: die Uhr. Einundzwanzig Uhr siebenundzwanzig. »Ihren Flugschein bitte, Mister Given.« Jetzt war er abflugbereit. Sein Gepäck war bereits eingecheckt. Die Zigarettenspitze glühte im Dunkel, das bleiern vom Flughafengelände heraufströmte. Die Pistenscheinwerfer waren weiß, auch sie drängten herauf mit ihrem Licht. Zigarettenstummelglimmlicht und Scheinwerfer kämpften um Aufmerksamkeit. Kurz nur. Denn der Zigarettenstummel unterlag.

»Kaum war er weg, stürzte sie sich auf den Boden und weinte bitterlich.«

Melvil drehte sich um. Ein vierzehnjähriger Junge hatte ein Transistorradio an die Ohren geklemmt und hörte aufmerksam zu.

»Sollte ich noch eine Zigarette anzünden?«, dachte Melvil. Doch er wartete damit. Da war nichts für einen sich räuspernden Glimmstengel. Das Licht der Scheinwerfer drängte noch immer vom riesigen Flughafengelände herauf. »Mister Given, Melvil, bitte zum Gate 29.«

»Sie konnte es nicht verstehen, dass er sich von ihr trennte. Niemals, niemals konnte sie…«

Melvil betrat das Flugzeug. »No smoking« über dreihundertvierundsechzig Sitzplätzen, viele davon waren leer geblieben. Die Stromversorgung wurde heruntergefahren. »Routine«, dachte Melvil sofort, »eine Simulation der Startphase, damit die Augen der Piloten sich an die Dunkelheit gewöhnen.« Die gleißenden Lichter des Flughafengeländes warfen ihre Strahlenkegel dazwischen. Sie fluteten die Sitzreihen und stellten sich Melvil in den Weg. Er stieg über die Lichterfluten auf der Suche nach seinem Platz, irgendwo in der Mitte der Kabine, Sektor B, rechts, Fenster, eine Luke in einem Unterseeboot. Er setzte sich, schloss kurz die Augen: »Lasst mich bloß in Ruhe«, dachte er, an die Lichterfluten gewandt. Die Wolken halfen ihm dabei.

Der Herr zu seiner Linken überragte die Rückenlehne des Sessels um wenige Zentimeter. Seine Gestalt hingegen war schmal. Schmal und leicht gebückt füllte sie diesen Sessel nur halbwegs aus. Melvil freute sich auf das Ritual, das unmittelbar auf den Start folgen würde: auf das Zeichen, dass die Gurte losgeschnallt werden durften, auf die Drinks, die in der Business Class gereicht würden, auf das freundliche Lächeln des Bordpersonals, dessen Unverbindlichkeit ihn erlösen würde.

»Wie lange, denken Sie, werden sie diesen Service noch anbieten können?«

»Sie meinen die Drinks?«, antwortete Melvil, überrascht darüber, dass der schmalbrüstige Herr zu seiner Linken ihn angesprochen hatte. »Übrigens«, der Unbekannte drehte seinen Kopf um wenige Zentimeter nach rechts, »Hay ist mein Name. Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Hay lächelte. Ein leichtes Zittern erfasste ihn dabei, das sich Melvil nicht erklären konnte. Ein Gedanke, der von ihm Besitz nahm und ihn während des gesamten achtstündigen Flugs nach Chicago nicht loslassen würde. »Mister Hay, guten Abend, ich heiße Given, Melvil Given, es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Eine ganze Weile saßen die beiden Herren schweigend nebeneinander. Eine Zigarette würde jetzt helfen, dachte Melvil. Er stellte sich vor, wie sein Nachbar, ein Endfünfziger in den besten Jahren, auf der Veranda eines Wochenendhauses auf Roosevelt Island auf einem Sessel saß, die dünnen Beine hochgelagert auf dem Fußende eines Korbsessels, die Hose sorgsam bis zu den Socken drapiert, damit kein Blick frei war auf seine knochigen, vermutlich spärlich behaarten Beine, mit einer schwarzen, leicht gekrümmten Zigarre in der linken Hand. Er schien trotz seines zarten Körpers ein Genießer zu sein, wie er so auf seiner Veranda saß. Geschieden vielleicht und froh darüber, mit einer dicken Haushälterin im Rücken, die nach dem Auszug von Frau und Kindern geblieben war, davon überzeugt, dass er sie brauchte. Den Rauch seiner Zigarre blies er, wie Melvil es nie zuvor gesehen hatte, gleichsam aus einer inneren Übereinstimmung mit seinem Dasein aus seinem Körper aus. Ein Mann, eine Zigarre, lachte Melvil leise vor sich hin.

»Haben Sie Humor, wenn ich fragen darf?«

»Natürlich«, sagte Melvil verblüfft.

»Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?«, fragte Hay.

»Gerne.«

Das Flugzeug glitt in die Dunkelheit des Nachthimmels, schlug das Sonnenlicht weg, kein Ikarus, ein Adler mit riesigen Schwingen. London–Chicago, das war der Nachtkurs, bei dem die folgende Geschichte erzählt wurde.

»Benjamin Li-Ving war ein Chinese. Seine Großmutter mütterlicherseits war Europäerin, deshalb sein Vorname, verstehen Sie?«

Hay drehte den Kopf ein wenig nach rechts, um sich der beflissenen Zuhörerschaft zu versichern. Er fuhr fort: »Nun. Sie sind also im Bilde. Benjamin Li-Ving war der Sohn eines Haarschneiders in Songnan, einer kleineren Stadt nordöstlich von Schanghai. Sein Vater verdiente kaum Geld, die Mutter erledigte manchmal Näharbeiten für die dort ansässige, wahrlich nicht sehr zahlreiche Oberschicht. Li-Ving hatte eine jüngere Schwester, sie hieß Lan-Lai. Sie war ein schüchternes Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen. Benjamin und seine Schwester verbrachten die meiste Zeit ihrer Kindheit im Laden ihres Vaters. Der Laden bestand aus einer kleinen Strohkammer, die, abgetrennt durch einen Bambusvorhang, vor dem einzigen großen Raum der Hütte angebaut war. Benjamin und Lan-Lai saßen Tag für Tag auf einem Stuhl und schauten ihrem Vater bei der Arbeit zu. Als Benjamin zwölf Jahre alt war, durfte er selbst den Versuch wagen und seinem Vater die Haare schneiden, was ihn mit ungeheurem Stolz erfüllte. Die damals erst sechsjährige Lan-Lai klatschte vor Freude in ihre kleinen Hände.«

Eine hochgewachsene Dame mit dunkelblauer Uniform und zurückgebundenem braunem Haar näherte sich mit dem Servicewagen. Hay ließ sich Gin und Tomatensaft servieren, Melvil einen Whisky und Peanuts im Vakuumbeutel. Hay lehnte sich zurück in seine Sitzschale, trank abwechslungsweise Gin und Tomatensaft, bis die Gläser halb leer waren, und beobachtete Melvil, wie er das Whiskyglas an seine Lippen setzte: »Ich lehne eigentlich nie zurück, ich sitze zu Hause auf meiner Veranda in Roosevelt Island auch nie auf einem bequemen Sessel und lege nie die Beine hoch. Wenn schon, dann rauche ich meine Zigarre nach dem Abendessen, stehend an der Brüstung, und betrachte die Zypressen im Garten, die in die Höhe schießen. Ich zähle sie, eins, zwei, drei…« Hay lächelte versonnen: »Hören Sie mir auch zu, Mister Given?«

»Natürlich.«

»Gut«, meinte Johnny Hay, »dann kann ich ja weiterfahren.«

Und er fuhr fort mit der Geschichte des Chinesen mit dem europäischen Vornamen. »Die Jahre vergingen, und Benjamin wurde allmählich zu einem flink arbeitenden Haareschneider, er konnte seinem Vater tüchtig aushelfen, der schon alt und müde war. Lan-Lai wurde von ihrer Mutter zu einer sorgfältigen Näherin erzogen. Doch eines Tages starb die Mutter, und der Vater wurde krank. Da sagte er zu seinem Sohn: ›Du bist jetzt vierzehn Jahre alt, Lan-Lai ist erst acht, ich kann euch nicht mehr ernähren. In dieser Stadt gibt es keine Arbeit für einen armen Haareschneider und eine Näherin. Ich vermag von unserem wenigen Ersparten zu leben, aber für euch kann ich nicht mehr aufkommen. Ich gebe dir meine Metallschere mit, damit du dir in der fernen, großen Stadt dein Leben verdienen kannst, und Lan-Lai erhält die goldene Nähnadel mit auf den Weg, die unsere Mutter von der europäischen Großmutter bekommen hat, so kann sie dir beim Geldverdienen etwas helfen.‹

Benjamin fühlte sich sehr klein in jenem Augenblick. Doch er gedachte des ersten Haarschneidens, als er sich an seinem Vater versuchen durfte, und an den Stolz, den er damals empfunden hatte, als es ihm trotz anfänglicher Angst gelungen war, seinem Vater einen anständigen Haarschnitt zu machen. So fasste er sich, sprach mit seiner Schwester und verabschiedete sich noch in der nächsten Woche von den Nachbarn, seinen wenigen Freunden und natürlich von seinem Vater, der die beiden Kinder unter Tränen gehen ließ.

Sie zogen also des Weges, der sie über weite Strohfelder führte, die gelb waren, so gelb wie die mächtige Sonne Chinas. Über grüne Reisfelder, durch Sümpfe, manchmal musste Benjamin seine Schwester auf dem Rücken tragen, denn sie hatte zu schwache Beine, um sich in den zähflüssigen Sümpfen fortzubewegen oder im dichten Gehölz der Wälder voranzukommen.

Einmal, es war die Nacht der sieben Monde, da übernachteten die beiden Kinder in einem kleinen Dorf in der Nähe von Schanghai.

Am nächsten Morgen kam ein Ausläufer durch das Dorf, der einen Zauberer, einen Wunderbringer ansagte, der noch am Abend desselben Tages eine Vorstellung geben würde. Lan-Lai bettelte und wimmerte, bis Benjamin endlich zusagte, bis zum Abend im Dorf zu bleiben, um die Vorstellung des Zauberers miterleben zu können.

Als der Abend nun endlich gekommen war, saß Lan-Lai mit den Bauern, die von ihren Feldern hergekommen waren, und den wenigen Handwerksleuten, die es in diesem Dorf gab, auf dem Dorfplatz und wartete voller Freude auf den angekündigten Zauberer. Als die Sonne rot war wie der leuchtende chinesische Mohn, kam der Zauberer. Er war groß gewachsen, hatte einen prächtigen, mit Gold bestickten, dunkelroten Mantel um die Schultern geschlagen, trug einen feuerroten, hohen Hut und hatte einen langen, spitzen Bart. Haben Sie schon einmal einen Zauberer in China gesehen, Mister Given? Die sind anders als die unsrigen, die können zaubern, sind mächtig und kraftvoll im Ausdruck.« Hay drehte dabei seinen Kopf so stark nach rechts zu Melvil, dass dieser glaubte, Hay wolle die Horizontale gewaltsam in sich aufnehmen, mit Hilfe dieser Geschichte oder seines Zauberers. Melvil hatte sich Hay auf der Veranda sitzend in leichten dunkelgrauen Flanellhosen vorgestellt. Nun fragte er sich, ob er in der Freizeit auch in Cordhosen anzutreffen wäre. Er nahm einen Schluck Whisky, atmete tief durch, und Hay fuhr, seinen langen, schmalen Kopf zurückdrehend, in seiner Erzählung fort: »Lan-Lai traute ihren Augen nicht, sie sperrte sie weit auf, starrte diesen bösen alten und doch so schönen Mann an. Benjamin war etwas verlegen, dass seine Schwester sich so beeindruckt zeigte von diesem Wundermenschen, der doch nichts anderes als ein Scharlatan sein konnte. Sein Vater hatte sich immer argwöhnisch über Zauberer geäußert. Doch Lan-Lai schien keine Zweifel zu haben. Sie folgte den Darbietungen so aufmerksam, dass ihr die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten. Da plötzlich verlangte der Zauberer, dass das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren zu ihm auf die Bühne kommen solle. Lan-Lai folgte der Aufforderung unverzüglich. Benjamin sagte nur noch: ›Aber Lan-Lai?‹ Doch niemand hörte auf ihn.

Lan-Lai stand auf der kleinen Holzbühne beim Zauberer. Sie ließ sich weiße Hasen auf den Kopf zaubern oder Blumen in die Hand. Es war die Zeit der blauen Sonne, als das Licht an das Wasser der chinesischen Landschaft erinnerte, an das lebensnotwendige und von den Chinesen verehrte Wasser. Zur Zeit des verschwindenden Mondlichtes stand die kleine Schwester auf der Holzbühne und ließ sich bezaubern. Die Zuschauer spendeten Applaus, sie hatten Freude an der kleinen Lan-Lai. Bald war die Vorstellung zu Ende, und Benjamin zerrte die staunende Schwester aus der plappernden Dorfmenge heraus.

Der Zauberer war verschwunden und am nächsten Morgen schon früh aufgebrochen, es hatte ihn seit dem Abend der Vorstellung niemand mehr gesehen.«

Die Erzählung von Johnny Hay begann Melvil zu irritieren. Er bückte sich, griff nach seiner Aktentasche, zog sie unter der vorderen Sitzreihe hervor, hob sie auf seine Beine und wollte sie öffnen.

»Möchten Sie arbeiten, Mister Given? Bitte, ich werde Sie nicht mehr länger bedrängen, die zwei werden nicht mehr lange glücklich sein, das garantiere ich Ihnen.«

Melvil ließ die Hände in den Schoß fallen, die Aktentasche kippte vornüber, er griff nach ihr, bevor sie hinunterfiel. Weshalb erzählte ihm ein fremder, in feines Tuch gekleideter Herr eine Märchengeschichte über zwei Kinder?

»Benjamin und seine kleine Schwester zogen weiter. Sie liefen drei Tage und drei Nächte, kamen gut voran und schlugen endlich ihr Lager auf dem Verheißungshügel auf, es war der letzte Aussichtspunkt, von dem aus man die große Stadt noch nicht erblicken konnte. Die zwei saßen am Boden, es war spärliches Steppengras um sie herum. Benjamin beschloss, in der Umgebung nach etwas Essbarem zu suchen, und brachte nach erfolgreicher Jagd zwei Schneehühner mit. Doch bevor er die Hühner zubereitete, um sie über dem Feuer zu braten, bat er Lan-Lai, ihm seine Hosen auszubessern; er hatte sie während der Jagd an den Dornen zerrissen. Lan-Lai machte sich freudig daran. Sie nahm einen Hanffaden, den sie fein säuberlich in der Rocktasche bei sich getragen hatte, und griff in den rechten Stiefel, um die Nadel hervorzunehmen. Doch die Nadel war nicht da. Vielleicht war sie im linken Stiefel oder in einer der beiden Rocktaschen? Doch nirgends war die goldene, schöne Nadel der kleinen Lan-Lai zu finden, die sie vom Vater für ihre lange Reise mitbekommen hatte.«

Melvil räusperte sich, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. »Was hat das mit unserem Leben zu tun?«, fragte er Hay, überrascht, dass er es geschafft hatte, den Erzählfluss zu unterbrechen.

Hay drehte sich ungelenk nach rechts. Er erinnerte Melvil an einen alten Griechischlehrer aus dem College, der immer, wenn er etwas gefragt wurde, zu einem ausschweifenden Monolog ausholte, der nur mit einem inszenierten Zwischenfall – einem Gegenstand, der zu Boden fiel, einer unerlaubten, aber dringenden Toilettenpause eines Schülers, einem beängstigend atemlosen Hustenanfall – unterbrochen werden konnte. »Was hat ein Chinesenmädchen mit einer Nadel und einem Hanffaden mit meinem Leben zu tun?«, wollte er Hay fragen. Doch Hay unterbrach ihn: »Wir erkennen die Realität nicht mehr, und irgendwann vergessen wir sie. Darf ich weiterfahren?« Melvil wollte Nadel und Faden vergessen machen, jagte in seiner Erinnerung nach verrückten Erlebnissen, dachte an die Live-Kameras von Sandstränden, die weltweit zum Surfen einluden, versuchte vergeblich, dem Ganzen hustend entgegenzuwirken, um dann weiter schweigend sitzen zu bleiben, ohne Bilder im Kopf.

»Die Sonne war wieder gelb, wie sie nur in China sein konnte, und Lan-Lai wollte vor Schmerz über das verlorene Geschenk ihrer Mutter und der europäischen Großmutter fast zerbrechen. Sie weinte, und dann suchten sie überall, sie gingen Stunden des Weges zurück. Die heiße Sonne brannte auf ihre Rücken, und die Schmerzen ließen sie schwach werden. Sie konnten nichts finden, so weit sie auch suchten, und wen sie auch danach fragten, es konnte ihnen niemand helfen. Ein alter Mann wollte ihnen sogar seine eigene Nähnadel schenken, doch es war keine goldene, nicht die ihrer Mutter. Sie kehrten freudlos zum Hügel der Verheißung zurück, schlugen dort ihr Lager ein zweites Mal auf und schliefen einen traurigen und unruhigen Schlaf.«

Melvil war eingedöst, es war zwei Uhr nachts. Hay hatte entweder länger erzählt, als Melvil zugehört hatte, oder er hatte Pausen gemacht und Melvil hatte es nicht bemerkt. Die Aktentasche lag ungeöffnet auf seinem Schoß. »Quäle ich Sie mit meiner Geschichte?«, fragte Hay unvermittelt. Hatte Hay ihn beobachtet, während er geschlafen hatte, und die Erzählung dann unterbrochen? Melvil dachte daran, einen weiteren Drink zu bestellen, die Aktentasche zu öffnen, in seinen Papieren zu wühlen, ohne etwas zu finden, nur um diesem gleichmäßigen, absurden Erzählen von Hay zu entrinnen. Er hob wieder seine Hand, griff nach dem Henkel der Aktentasche, um sie aufzurichten und zu öffnen. Die hochgewachsene Dame in dunkelblauer Uniform näherte sich ihrer Sitzreihe, ihr Lächeln erinnerte ihn an Hay. Er wandte den Kopf nach unten, bestellte einen zweiten Whisky ohne aufzuschauen, denn dann würde er unvermittelt auch das Gesicht von Hay sehen. »Der zweite ist kostenpflichtig«, sagte die Dame freundlich, während Melvil umständlich das Etui mit den Kreditkarten aus seiner rechten Hosentasche zog.

»Als die Sonne am Morgen die gelbrote Farbe des hellen, frisch gewachsenen Mohnes trug, also zu sehr früher Stunde, brachen die beiden Geschwister Li-Ving in Richtung der Stadt Schanghai auf. Es kamen vier Hügel und drei große Seen, die noch überwunden werden mussten. Die beiden waren traurig und gingen duldsam ihres Weges.«

Melvil nippte an seinem Whisky und versuchte an Hay vorbeizuschauen. Aus den Fensteröffnungen drang inzwischen helles blasses Licht. Ermattet saß er in seinem Sessel. Was half die teurere, bequemere Businessklasse, wenn sie ihn nicht vor solchen Erzählungen zu schützen vermochte? Hay streifte mit der Manschette des rechten Anzugsärmels seine linke Hand. Melvil fürchtete sich vor diesem Gesicht und drehte den Kopf zur Fensterluke. Als die Hand von Hay sich langsam seinem Handrücken näherte und ihn sanft, beinahe unmerklich berührte, zwang er sich, ihn anzuschauen. Hay lächelte unentwegt, das schmale Gesicht, der messerscharfe Nasenrücken, die zusammengedrückten Nüstern, der verkrampfte Mund. Melvil packte, diesmal entschlossen, den Traggriff seiner Aktentasche, öffnete den Reißverschluss und begann rastlos in den Papieren zu wühlen. »Ich muss noch etwas vorbereiten«, grummelte er vor sich hin, selbst im Zweifel darüber, ob Hay ihn verstehen würde, geschweige denn ihm zuhören wollte.

»Da begannen die kleinen Dörfer häufiger zu werden, manchmal kamen sie an einer kleinen Stadt vorbei …«, fuhr Hay unbeeindruckt fort. Auch Melvils Hände fuhren fort, griffen wahllos nach einem Sitzungsprotokoll, draußen wurde es heller, in zwei Stunden würden sie da sein, ankommen, würde das Zeichen aufleuchten, die Sitzgurte anzuschnallen, würden die Flugbegleiterinnen durch die Gänge des Flugzeugs patrouillieren, würden sie lächeln, so sehr lächeln, dass Hays Gesicht dahinter verschwinden würde, im gleißenden Licht der Morgensonne von Chicago, im unnahbaren Lächeln des Servicepersonals des Flugs 747 London–Chicago. Dann wäre diese Geschichte endlich zu Ende.

»… die sie an ihre eigene Heimatstadt erinnerte, und da wurde Lan-Lai immer trauriger und gedachte ihrer lieben Mutter und des gütigen Vaters, und sie dachte an ihre verlorene Nadel, die in diesem großen Land mit den weiten Tälern und den hohen Bergen niemals wieder zu finden sein würde, war sie doch kaum größer als ein Reiskorn, von denen es in diesem riesigen Reich Abertausende Millionen gab.«

Der Kurs London–Chicago war nun eingehüllt in dichten Nebel, mitten im Sinkflug, unter den Wolken fehlte die Sonne. Melvil Given saß da, mit einem Protokoll in den Händen, das ihn nicht erlöste, und hörte die Geschichte von Lan-Lai. »Da kam der erste große Vorort der Stadt Schanghai. Vierzehn Monate waren sie gewandert, und noch nie hatten sie so viele Menschen auf einmal gesehen. Benjamin sagte: ›Das wird noch viel schlimmer werden bis Schanghai, du wirst sehen.‹ Es waren reihenweise Händler in den Straßen, die mit kräftiger Stimme ihre Ware anboten und auf vermögende Kundschaft hofften. Was es da alles zu kaufen gab! Lan-Lai und Benjamin sperrten die Augen auf. Es gab goldene Nadeln und elfenbeinerne, Scheren, goldene, silberne, solche aus grünem leuchtendem Stein. Doch sie wussten, dass die Ware nicht für sie bestimmt war, denn sie hatten kein Geld. Lan-Lai fürchtete, dass sie keine Arbeit finden würden unter diesen vielen Leuten. Besonders da sie die Nadel ihrer Mutter verloren hatte, die ihr wenn auch keine Arbeit, so doch vielleicht Glück gebracht hätte.

Bald waren sie in der Stadt Schanghai angelangt. Die Menschenmenge wurde dichter, die Häuser wurden höher und mächtiger. Menschen drängten sich aneinander vorbei, wie das Wasser durch Flüsse, Kanäle und Gräben trieb. Es wimmelte von Menschen, die dort ihre kleinen Barken hatten und wohnten oder arbeiteten, etwas verkaufen wollten. Doch sie schienen nichts zu verkaufen und auch keine Arbeit zu finden, denn sie sahen allesamt sehr arm aus.

Die zwei Kinder irrten durch die Straßen und kamen endlich in den Bereich, wo sich, wie ihr Vater gesagt hatte, die Haareschneider befänden, dort müssten sie sich einen Barkenplatz mieten. Denn Fremde konnten ihren Standplatz nur mieten, sie hatten kein Recht auf das Wasser, auch wenn sie Geld besaßen. Und so gelang es den beiden endlich, ein kleines Fleckchen Wasser zu erhalten, gegen Bezahlung natürlich, mit einer winzigen Barke darauf, die für die zwei Geschwister gerade ausreichte.

Lan-Lai stattete mit viel Fleiß ihr neues Heim aus, so gut sie eben konnte. Da sie die Nadel verloren hatte, wob sie aus hellen und dunklen Schlingpflanzen, die sie an der Sonne trocknete und drehte, eine Art weiche Baststücke. Sie machte das mit solchem Geschick, dass sie manchmal einem Fremden eine Matte verkaufen konnte, und so konnten sie sich etwas zu essen kaufen und die Miete für ihre Barke zahlen. Doch bald entdeckten auch die Nachbarinnen diese Kunst, lernten sie und verkauften dieselben Bastmatten für weniger Geld. So mussten Lan-Lai und ihr Bruder Benjamin schauen, wie sie zu Essen kamen. Die Haareschneider waren so zahlreich, dass jeder Reiche oder Fremde, der sich in die Kloaken der Haarschneiderzunft verirrte, von allen Seiten bedrängt wurde, und ob Teetassen, Massageangebote, Reisfladen – dem Kunden wurde, während ihm die Haare geschnitten wurden, alles gegeben, nur damit er etwas Geld daließe.

Lan-Lai wurde immer trauriger. Wenn sie nur ihre goldene Nadel noch hätte, so hätte sie doch einen Trost. Unter all den Millionen Menschen in dieser Stadt gab es unzählige Haareschneider und Näherinnen, ja, manchmal bezweifelten sie sogar, ob der Ratschlag des Vaters, in diese große Stadt zu gehen, gut gewesen war. Lan-Lai saß abends, wenn die Sonne des roten Mohnes grau über der Stadt hing, am Rande der Barke und sang das Lied von der goldenen Nadel, die sie verloren hatte. Sie sang das Lied, sooft die Sonne des roten Mohnes abends über der Stadt war, bedeckt von einem grauen Schleier aus Schmutz, der von der Stadt aufzog. Ihr Bruder konnte das Lied nicht mehr hören. Der Vater hatte ihm Lan-Lai in vollem Vertrauen mitgegeben, es tat ihm weh, seine Schwester so unglücklich zu sehen. Wissen Sie, was das ist, wehtun?«, fragte Johnny Hay Melvil Given, der zurückgelehnt im weich gepolsterten Flugzeugsessel saß und inzwischen entmutigt zuhörte, befremdet über die Art der Geschichte, über ihren Inhalt und den Zusammenhang mit seinem Leben.

»Als Lan-Lai wieder einmal lange weinte und sang, hatte Benjamin einen Einfall, wie er zu etwas Geld kommen könnte. Der Gesang der Lan-Lai war mittlerweile im ganzen Stadtteil bekannt. Es kamen manchmal Leute, um ihn anzuhören, weil er so sehnsuchtsvoll war. Benjamin erfand den Haarschnitt Goldene Nadel der Lan-Lai. Es war ein Kurzhaarschnitt, bei dem keine Haare das Gesicht berührten, nur eine kleine Strähne von drei, vier Haaren ließ er ungeschoren. Der Haarschnitt wurde einmal vorgeführt und fand großen Anklang. Natürlich waren auch die anderen Haareschneider sofort dabei, den Haarschnitt anzuwenden, doch Benjamin gelang er am besten, und so hatte er wenigstens einen bis zwei Kunden im Tag, die den beiden das Essen sicherten.

Da war eines Tages die Rede von einem Dieb, der den Armen das Letzte rauben würde, was sie hätten, er sei hinterhältig, geschickt und erfolgreich. Alle fürchteten den Dieb und verbargen das Wenige, was sie hatten. Der Dieb war unauffindbar, auch Lan-Lai und Benjamin waren von ihm bestohlen worden. Es ging das Gerücht, dass es sich um einen Fremden handelte, einen aus dem Westen, einen Europäer, der den Armen im Osten noch das Letzte nehmen wollte, was sie hatten. Auch Benjamin wurde wegen seines europäischen Vornamens verdächtigt und kurz festgenommen, doch man kannte die zwei Geschwister schon länger und wollte ihnen nichts Schlechtes, besonders da Benjamin erzählte, dass er den Namen von seiner europäischen Großmutter habe. Benjamin Li-Ving führte sein Geschäft, so gut er eben konnte. Das Geld reichte jedoch nicht, um Lan-Lai eine neue Nadel zu kaufen, was Benjamin sehr bedauerte. Er schnitt die Haare meisterhaft, doch die meisten seiner wenigen Kunden kamen wegen des Haarschnittes Goldene Nadel von Lan-Lai.

Da kam eines Tages ein großer bärtiger Mann zu Benjamin. Er setzte sich zu ihm auf den Stuhl und verlangte nach diesem berühmten Haarschnitt. Ein paar dabeistehende Leute lachten den alten Mann aus, weshalb er denn die schöne Haarpracht abschneiden wolle, und noch dazu so kurz. Doch der Alte beharrte darauf. Als der Bart weg war und ein Teil der Haarpracht auch, hielt der Mann Benjamin zum Aufhören an. Er nahm eine goldene Nadel aus seiner Rocktasche und sagte, dass sie Benjamins Schwester gehöre und er sie ihr zurückgebe. Als er in der Stadt vom Lied der goldenen Nadel von Lan-Lai gehört habe, sei er in diesen Stadtteil gekommen, um sie aufzusuchen. Doch als er dies gesagt hatte und Benjamin mit strahlenden Augen die Nadel entgegennehmen wollte, warf der Zauberer die Nadel weg, einfach so, vor sich hin warf er sie. Und die Menge stieß einen erschrockenen Schrei aus. Lan-Lai kam gelaufen, denn sie hatte etwas gehört von einer goldenen Nadel. Voller Freude kam sie gelaufen, und da sah sie ihren Bruder, der wie zu Stein erstarrt inmitten der Menschenansammlung stand und verzweifelt zum alten Mann schaute, der auf dem Stuhl vor ihm saß und lächelte. Voller Wut stürzte sich Benjamin auf den Boden und begann schluchzend zu suchen. Auch Lan-Lai hatte inzwischen erfahren, was geschehen war, und weinte laut. Der alte Mann sagte nur: ›Ich bin gekommen wegen deines Haarschnitts, Lan-Lai, denn ich habe gehört, dass Leute, die etwas auf sich halten, Gelehrte und wohlhabende Fremde, diesen Schnitt bevorzugen, da er das Denken und Sehen nicht beeinträchtige und doch einen sanften Reiz bewirke, der zu Gehirnaktivität anrege.‹ Er lächelte Lan-Lai freundlich an. Sie erkannte in ihm noch immer nicht jenen Zauberer, der sie damals als kleines Mädchen so beeindruckt hatte. Inzwischen war sie eine junge Frau geworden, die trotz ihren harten Lebensbedingungen eine gewisse Lieblichkeit ausdrückte. Der alte Zauberer jedoch sagte: ›Dich, Lan-Lai, habe ich nicht erkannt, da du eine Chinesin bist wie alle anderen Millionen von Chinesinnen. Aber an Benjamin, deinen Bruder, konnte ich mich gut erinnern. Er hat etwas Europäisches an sich, ich habe ihn sofort erkannt.‹ Die Menge war erstaunt, denn niemand, nicht einmal seine Schwester Lan-Lai, hätte auch nur den geringsten europäischen Ausdruck an Benjamin erkennen können. Alle waren erstaunt, und Lan-Lai erkannte endlich, dass sie dem Zauberer gegenüberstand, der damals ihr Kinderherz so entzückt hatte. Sie war wütend, sehr traurig und sah ihrem Bruder zu, wie er verzweifelt am Boden nach der Nadel suchte. Zwischen den vielen Haaren war nichts zu finden, Benjamin schaute suchend ins Wasser, vielleicht war die Nadel ins Wasser gefallen. Die Menge war die Grausamkeit des Lebens gewohnt und zerstreute sich. Und Benjamin kauerte über dem schmutzigen Wasser und suchte nach der goldenen Nadel. Der Zauberer lachte laut und wartete auf die Vollendung seines Haarschnittes. Er hatte Zeit.

Von weit her war das Durcheinanderrufen einiger Männer zu hören, eine kleinere Aufregung, die jedoch rasch wieder verklang. Nach einiger Zeit kam das aufgebrachte Geräusch der Männer wieder näher. Lan-Lai blickte um sich. Es näherten sich drei Männer, gefolgt von einer großen Menge von Leuten, die schrien: ›Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!‹ – ›Da ist er!‹, rief unvermittelt einer der drei vorderen Männer. Und er zeigte auf den am Boden kauernden Benjamin Li-Ving. Sie kamen von hinten auf ihn zugestürzt, und noch ehe Lan-Lai schreien konnte: »Es ist mein Bruder!«, gab einer der drei Männer Benjamin Li-Ving einen Stoß, und dieser fiel in die Kloake, in das schmutzige Wasser der Kanäle der Armen Schanghais, und ertrank. »Ich habe es gesehen, er hatte etwas Fremdes, Europäisches an sich, es ist der gemeine Dieb, der die Armen beraubt.« Lan-Lai blieb stumm. Obwohl niemand etwas Europäisches an ihm hätte erkennen können, war ihr Bruder doch auf grausame Weise umgebracht worden, nur seines europäischen Vornamens wegen.

Lan-Lai kehrte in ihre Barke zurück und öffnete von nun an niemals mehr die Tür. Ein paar alte Frauen brachten ihr, selten genug, etwas zu essen vorbei. Sie stellten es ihr vor die Tür, und wenn sie weg waren, griff sie nach den Schalen voll Reis oder Gemüse und aß davon. Einige Bissen hob sie auf und warf sie in den Fluss für ihren toten Bruder. Nur noch selten sang sie ihr Lied von der goldenen Nadel. Der Klang ihrer Stimme ließ die Nachbarn erschauern und die Fensterläden schließen.

Lan-Lai starb bald einmal in jungen Jahren. Doch der Dieb wütete weiter in der Kloake der Haarschneider in Schanghai.

Sehen Sie, Melvil Given. So endet diese traurige Geschichte, die ich Ihnen erzählen wollte, jedoch ist sie noch nicht ganz zu Ende. Ein Haarschneider aus Schanghai hat sie mir erzählt. Er sagte, dass es immer noch viele Diebe gebe, und um sich und auch die Kunden zu schützen – dabei lächelte er mich freundlich an –, lasse man eine winzige Strähne bei Kurzhaarschnitten immer länger. Das sei ein Aberglaube, denn hätte man damals auf Lan-Lai gehört, so hätten die Männer nicht den falschen Dieb gerichtet. Trotz seinem europäischen Vornamen, hatte der Haarschneider hinzugefügt und wieder gelächelt. Ich fand das so reizvoll, dass ich es dabei beließ. Übrigens, der Haarschneider meinte, dass es wirklich etwas nütze. Und nun sehen Sie meine Strähne.« Hay drehte sich bedrohlich fest gegen Melvil auf die rechte Seite. Tatsächlich, ein Hauch von einer Strähne hing über der rechten Stirnseite von Johnny Hay senkrecht von der Stirne herab. Melvil hätte jetzt jedes furchterregende fremde Gesicht ertragen, doch nicht dieses Lächeln von Johnny Hay, als er hinzufügte: »Sehen Sie, ich bin viel im Osten, in Schanghai auch, ich gehe dort immer zu der gleichen Haarschneidergruppe, der mit Lan-Lais Goldene-Nadel-Schnitt. Es bringt mir Glück.« Dabei lächelte er so sehr, dass seine Augen sich zu faltigen Strichen verengten und mit seiner im Übrigen so der Vertikalen hingegebenen Körperkraft ganz fern durchschimmernd beinahe ein Fadenkreuz bildeten, was Melvil nicht ertrug; er ertrug es einfach nicht mehr.

Johnny Hay sagte: »Ich bin viel von Osten nach Westen unterwegs, von Schanghai nach Chicago.« Sein Lächeln war jetzt wieder etwas schwächer. Melvil versuchte abzulenken, indem er Hay fragte, was er denn beruflich mache. »Oh«, sagte Hay leise, »das ist Privatsache.« Er sagte nur: »Ich arbeite unter anderem beim Fernsehen.«

»In Schanghai?« fragte Melvil erstaunt.

»Nein, nein, in Chicago natürlich, bei MBC. Verstanden?«

»Oh ja«, meinte Melvil und sehnte sich nach einer Zigarette, die ihn vom Sprechen entbinden würde, vom Antworten und vom Gefragtwerden. Hay dachte womöglich dasselbe, und Melvil schien, dass er ausatmete, als ob er den Rauch einer Zigarre ausblasen würde, wodurch er sogleich wieder der alte Johnny Hay war, wie Melvil ihn kennengelernt hatte. Er war sogleich wieder die fadenartige Gestalt, die eins war mit der dünnen Zigarre und dem schwachen Rauch, den er, eins mit sich selbst, durch seinen zierlich gebauten Körper rieseln ließ, der auf seiner Veranda saß. Melvil nahm ein Wirtschaftsmagazin zur Hand und blätterte darin, blies gedankenverloren den Rauch seiner Zigarette aus, obwohl er es nicht tat, im Dunkel der Flugnacht, die das Lichtermeer unter ihnen, die gleißenden Punkte im Nebel Chicagos umhüllte. Hay fragte, ob er noch eine Geschichte erzählen solle, er habe noch eine. Doch Mevil wollte nicht. »Ich habe noch etwas Geschäftliches vorzubereiten.«

»Aha«, meinte Hay, »wirtschaftliche Branche?«

»Nein, nicht ganz«, meinte Melvil, »oder vielleicht doch, sind nicht alle Branchen wirtschaftlich?«, fragte er zurück.

Hay blickte verwundert: »Mag sein. Wir gewinnen alle und verlieren irgendwo anders.«

Bald wird es zu Ende sein, bald würde er erlöst sein. Er packte das Protokoll ein, ohne zu wissen, was darin stand.

Der Flug London–Chicago war fast an seinem Ziel angelangt, bald würde es heißen, »No Smoking«, und »Anschnallen bitte«. Und die wenigen Passagiere, die zu dieser Zeit im Flugzeug saßen, befolgten die Weisungen des Bordpersonals. Melvil Given war müde. Die Geschichte war doch etwas zu viel gewesen für ihn.

Das Flugzeug landete, und Rose, Melvils Freundin, wartete in der Ankunftshalle. Sie bemerkte nicht, dass er müde war. Sie war zum Glück nicht so schlank wie so viele Amerikanerinnen, es hätte ihn an Johnny Hay erinnert. Dieser war im Gewimmel der vielen Leute verschwunden, ohne sich zu verabschieden.

»Hast du nette Leute kennengelernt während deines Fluges?«

»Ja, ja, sehr«, antwortete Melvil.

Es war nicht wichtig, ob es Chicago war oder Amsterdam, wo er erwartet wurde. Melvil stammte aus einer Welt, in der die Orte sich glichen, überall dieselben Ankunfts- und Abflughallen, und unbeschreibbar, weil ohne Eigenheiten, ohne Differenzen auch die Straßen, die er beging.

Standlicht des Taxis in Chicago, Wegfahrt, 1407 Dearborn Street im eher vornehmen Stadtviertel Gold Coast. Rose und Melvil, zwei junge Menschen, ließen in der Dearborn Street ein Taxi stehen, kurz nur.

Melvil drückte den Fahrstuhlknopf. Dritte Etage. Weicher, hellroter Teppich bedeckte die Böden und Treppenstufen. Kaum waren sie in der Wohnung, legte Rose sich hin, auf das Bett. Melvil verstand dies nicht ganz, da er doch der Müde war. Sie wollte keinen Sex. Rose setzte den Kopfhörer auf, löschte das Licht. Sie wollte nicht sprechen. Melvil setzte ebenfalls den Kopfhörer auf. Er lag neben Rose und hörte sie nicht atmen. Er lauschte und wartete, auf den Klang von Musik, die einem nichts anhaben will.

»Es ist keine Musik«, sagte Melvil.

»Es ist keine Musik«, meinte auch Rose.

»Wo ist die Musik?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rose, »da sagt einer ›Ja‹.«

»Exakt«, sagte Melvil, »so höre ich es auch.« Das war auch schon alles, es hatte nur jemand ›Ja‹ gesagt. »Das war ein Versprecher«, meinte Rose. »Ja«, antwortete Melvil. Es gab ja manchmal Versprecher im Radio.

Am nächsten Morgen stand Melvil vor dem Spiegel und schmierte sich das Gesicht mit Rasierschaum voll. Rose war in der Küche, sie kochte Eier, drei Minuten nur. Beim Verlassen des Bades berührte der zimtfarbene Seidenstoff ihres Bademantels seinen Handrücken, er wollte ihn anfassen, dachte, »wie albern ist das denn? Du musst Rose berühren«. Zwei für sich und eines für Melvil. Rose legte die Eier in hölzerne Eierbecher, wartete, bis Melvil sich gesetzt hatte, zündete sich eine Zigarette an. Ihr Haar hing weich fallend von den Wangen herunter. Es waren gepflegte, braune Haare,  holzbraune Haare. Der Rauch ihrer Zigarette glich den Schaumlocken, die von ihrem Gesicht herunterbaumelten. »Um zehn Uhr treffe ich Col«, verabschiedete sich Melvil, gab ihr einen Kuss auf die weiche Wange, sie behielt die Zigarette im Mund, es störte ihn nicht.

Im Straßencafé wartete Colin Birkwell vor seinem vierten Kaffee, ein Schulfreund aus College-Zeiten, der viel zu viel Zeit mit sich selbst verbrachte, weil er kaum noch Aufträge erhielt, auch er ein Ingenieur, mit eigenem Büro, Elektrotechnik, Lüftungsbereich, schon längt hatten größere Unternehmen mehr in die Forschung investiert. Er sah abgekämpft aus, hatte die Zeitung vor sich liegen, zerlesene Seiten im hellen Morgenlicht. Melvil ging auf ihn zu. Das lederne Zigarettenetui lag vor ihm auf dem Tisch. Darin hatte er eine  Holzschachtel, naturlackiert. In dieser Schachtel wiederum befanden sich bis zu vierundzwanzig braune Zigaretten. Melvil wusste das alles, es war die Marke Holz in brauner Filterqualität. Melvil setzte sich.

Birkwell fragte: »Wie geht es deinem Wald?«

»Ich habe ihn abholzen lassen, bis zu neunzig Prozent, es war nötig gewesen.«

»Ah, ja«, meinte Birkwell. Sein brauner Cordanzug war abgetragen, sein schwarzes Haar hing in dünnen Strähnen über die Stirn. »Willst du eine Holz?«

»Gerne«, antwortete Melvil. »Die Luft ist gut heute, nicht wahr, Col?«

Colin griff nach dem Kaffeelöffel, seine Hand ließ den viel zu großen Ärmel seines Jacketts unmerklich zittern. »Und Rose?« Er kratzte die Reste des Zuckers aus der leeren Tasse, richtete sich auf, ein leichtes, mit großer Mühe überspieltes Entsetzen in seinen freundlichen Augen. »Mein lieber Melvil, du hast also deinen Wald abholzen lassen; was sagt denn Rose dazu?«

»Sie weiß es noch gar nicht.«

Colin lehnte sich zurück, betrachtete den Himmel über ihnen, der im November dieses helle, matte und doch klare bleierne Licht trug, das sich in den vier Tassen spiegelte und die schmierigen Spuren abgestandenen Kaffees an den Tag brachte. »Echt? Du willst ihr das verschweigen?«

»Das eilt nicht.«

»Und wenn sie danach fragt?«

»Das wird sie nicht. Du kennst sie doch.«

Colin wischte über seine Cordhose, als ob sie voller Krümel wäre. »Du magst nicht, wenn jemand nachfragt. So war es immer. Du hattest doch diese Freundin im College, du hattest sie verlassen, weil sie immer genau hören wollte, wie sich etwas zugetragen hatte: Weshalb dieses Sandwich ohne Butter oder mit? Weshalb sprechen deine Eltern so wenig miteinander? Was ist mit Onkel Eddie, was bedeutet er dir? Weshalb begleitet er dich immer zum Golf? Was denkst du über Professor Dout, den Mathelehrer? Du hast immer tausend Wege gefunden, ihr keine Antworten zu geben, bis es nicht mehr ging zwischen euch. Du magst nicht, wenn jemand nachfragt.« Colin blickte immer noch über Melvil hinweg.

»Das wird sie kaum tun. Komm, lass uns von etwas anderem reden.« Melvil trank seinen Kaffee aus und bestellte beim Kellner die Rechnung. Melvil und Colin bezahlten, brachen auf, schlenderten den Gehsteig entlang und sprachen über Belangloses.

»Guten Morgen«, sagte Melvil zum Tabakwarenhändler. »Eine Holz gelb, bitte.« Der Verkäufer schob ihm die flache Packung über den Ladentisch. Aus einem Transistorradio auf der Ladentheke war Musik zu hören, die leise und rauhe Stimme von Frank Sinatra. Als Melvil die Packung mit der linken Hand zu sich zog und mit der rechten Hand die drei Dollar fünfzig hinlegte, wurde die kaum hörbare Musik von einer Frauenstimme unterbrochen: »Ich lasse sie nicht los! Ich lasse sie nicht los! Ich lasse sie nicht los!« Der Verkäufer griff nach dem Geldschein, er senkte seinen Kopf leicht nach links, hin zum Radio.

»Kennen Sie den Film Smoke von Wayne Wang?«, fragte Melvil.

»Sagt mir nichts, weshalb fragen Sie?«

»Es geht um einen Tabakwarenhändler an einer Straßenecke wie hier. Der Verkäufer sammelt Fotoaufnahmen von jedem Tag in jedem Jahr, immer die gleiche Ecke.«

»Merkwürdig ist das.«

»Seltsam, die Sendungen heutzutage«, bemerkte Melvil. »Jeden Tag die gleiche Ecke zu fotografieren.«

»Er sammelt Stapel von Fotoalben.«

»Ich sammle keine Fotoalben.«

»Paul Auster hat das Drehbuch geschrieben.«

Der Verkäufer bemerkte die fünfzig Cent, die er vergessen hatte, und griff nach ihnen.

»Seite um Seite blättert er zusammen mit einem Kunden die Aufnahmen durch. Der Kunde entdeckt das Gesicht seiner verstorbenen Frau auf einer der Aufnahmen. Ich glaube, er ist Schriftsteller. Die Geschichten aller Kunden werden im Film zusammengeführt. Oh ja, die fünfzig Cent, sie gehören Ihnen.« Der Verkäufer trug ein blau-grün kariertes Flanellhemd, sein Haar war ungeschnitten und grau, das Gesicht hell und blass, auf der Stirn zeigten sich in Wellenlinien die ersten Falten, während seine wässrig-blauen Augen sich auf Melvil richteten: »Ich danke Ihnen«, sagte der Verkäufer, »auf Wiedersehen.«

Melvil griff nach der Schachtel mit dem gelben Band und steckte sie in die linke Jacketttasche. Er folgte der Michigan Street, die zur nächsten U-Bahn-Station führte. Eiskalte Luft wehte vom Lake Michigan Richtung Westen. Das Licht in Chicago war heller als sonst. Im Winter, im November strömte es hell und gleißend Richtung Stadt. Melvil dachte an seine Ankunft im Flughafen, an den Jungen mit dem Transistorradio, der hinter ihm gestanden hatte. Er hatte sich nur kurz nach ihm umgedreht: »Kaum war er weg, stürzte sie sich auf den Boden und weinte bitterlich.« Und nun diese Stimme aus dem Transistorradio, auf der Theke seines Tabakwarenhändlers an der Wabash Street, den er fast täglich besuchte, um Zigaretten oder Zeitungen zu kaufen: »Ich lasse sie nicht los! Ich lasse sie nicht los! Ich lasse sie nicht los!« Er hätte zurückgehen können, um noch einmal genauer hinzuhören. Das gleichmäßige Rauschen der Straßen im linken Ohr, den Klang von Sinatras Stimme im rechten, blieb er stehen: »Auf dem Rückweg vielleicht«, sagte er.

Melvil nahm die Untergrundbahn nach Downtown Chicago, zu seinem Arbeitsort. Die Reisenden, die mit ihm zusammen die Untergrundbahn verließen, schienen heute fröhlich zu sein, beinahe erleichtert, einige sahen aus, als hätten sie eine Prüfung bestanden oder als hätten sie eben die Zusage für eine helle, wunderschön besonnte Wohnung mit Aussicht erhalten.

Melvil dachte an seinen Wald, der jetzt abgeholzt war, und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Wieso hatte Birkwell nicht gefragt, weshalb er den Wald zerstört hatte? Einen Wald von der Fläche von immerhin zwanzig Fußballfeldern. Melvil war froh, dass Col nicht gefragt hatte. Er mochte es nicht, wenn Leute nachforschten. Deshalb war Rose ihm so nah: weil sie selten nachfragte. Er stellte sich vor, wie Birkwell sich um die Käfer, um die Ökobilanz hätte sorgen können, die Melvil mit einem Schlag zerstört, aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. »Stell dir vor, wie viele Milliarden an Mikroorganismen, Bakterien, Milben, Rädertieren, Springschwänzen, Schnecken, Spinnen, Asseln du zerstört hast«, hätte Col einwerfen können. Hatte er aber nicht. Melvil war entzückt von diesem Entsetzen, mit dem andere ihm möglicherweise entgegnen würden, wie viele Mikroorganismen er zerstört hatte. »Mikroorganismen«, wiederholte er, »was für ein lächerliches, absurdes Wort!«

Asseln gab es in der Vorstadt von Chicago, in Glencoe, Illinois, mehr als genug. 94 Prozent weiße Bewohner, unweit des Lake Michigan. Die Gärten seiner Kindheit waren sauber, nicht eingezäunt, die Mutter sorgte mit tatkräftigen Händen in leicht transparenten, hellgrünen Gummihandschuhen dafür, dass dies so blieb, mindestens zweimal die Woche, der Vater legte mit einem Rasenmäher-Fahrzeug in Mintblau nach. Melvil und seine zwei Brüder verbrachten die schulfreien Tage mit Fahrradfahren, dem Sporttraining – Bill spielte Eishockey, Eton Basketball, Melvil Golf – und vor dem Fernseher. Hinter dem Haus standen Tontöpfe, die die Mutter nicht mehr brauchte, eine leichte Kruste aus Erde an den Innenwänden, die hin und wieder herunterrieselte, wie ein dünnes Erdenkleid. Unter den Töpfen herrschten die Asseln. Ohne Kopf und ohne Hinterteil krabbelten sie los, sobald Melvil sachte einen Topf anhob. Die schiefer- und gelbgrauen Asseln bahnten sich scheinbar ziellos ihre Wege. Krochen durch- und übereinander und schafften es selten, aber manchmal auf den patschigen Handrücken des fünfjährigen Melvil und, daran erinnerte er sich genau, berührten mit ihren vierzehn Beinen seine Haut kaum merklich, aber ekelerregend.

Im Fahrstuhl war immer Musik, die leise dahinrieselte. Sonst. Doch heute war es still. Als er den Fahrstuhl verließ, hörte er Wortfetzen nachklingen, vielleicht ließ die Geschäftsleitung neuerdings Wortbeiträge laufen. Col war enttäuscht gewesen, dass er den Wald hatte abholzen lassen, das wusste Melvil.

Melvil teilte sein Büro mit Mister Leary, Mister Greg Leary. Leary war ein seltsamer, etwas altmodischer Kauz, weder dick noch dünn, korrekt und altmodisch verschroben. Er schwelgte gerne in Erinnerungen, erzählte von seiner Jugend in Utah, einem »Bienenstaat«, wie Utah auch genannt wurde: »Weil wir so fleißig arbeiten«, wie Greg zu ergänzen pflegte.

Als Melvil eintrat, saß Greg tief über ein Papier gebeugt, als ob er sich auf seinem Schreibtisch zum Schlafen legen wollte. Im Radio neben ihm lief belanglose Musik.

»Hey Greg, alter Junge.«

»Hey«, antwortete dieser, ohne seinen Kopf anzuheben.

»Bist du müde oder brauchst du eine Brille?«

Greg antwortete nicht. Unvermittelt richtete er sich in einem Anfall von Draufgängertum auf und blickte Melvil, der soeben an seinem Schreibtisch gegenüber Platz genommen hatte, geradewegs ins Gesicht. »Hallo, hallo, Melvil, ich war nicht sicher, ob das, was da geschrieben steht, auch stimmt, sie sagen, dass sie das Barrel Petroleum jetzt für vierzig Dollar verkaufen, das kann nicht möglich sein!« Greg starrte vor sich hin.

Melvil schüttelte den Kopf und zündete sich eine Holz grün an, eine Hg 1, wie man in Raucherfachkreisen diese neuartigen Zigaretten zu nennen pflegte. Greg und Melvil teilten sich seit Jahren das Büro, obwohl Melvil ihn schon längst überholt hatte. Ein eigenes, weitläufiges, gläsern eingepacktes Vorgesetztenzimmer würde bereitstehen. Gregs Zustand hatte sich nicht wesentlich verbessert. Melvil war überzeugt, dass Greg ihn brauchte. Greg hing an veralteten Geschäftsmodellen, studierte Aktienkurse von Petroleum-Firmen, warf sich in leidenschaftliche Diskussionen mit Vorgesetzten über die Notwendigkeit technologischer Neuerungen, denen er offen feindlich gesinnt war. Melvil mochte ihn gerade deswegen.

»Darf ich den Sender wechseln? Ich möchte lieber klassische Musik hören, keinen Country.«

»Mach ruhig, Melvil. Nur kommt auf deinem Empfangsgerät jetzt ein Wortbeitrag oder sonst ein hochgestochenes Gelaber, vermutlich geht es wie immer um künstliche Intelligenz – ›Wie Computer lernen, Hunde zu unterscheiden‹ oder so.«

Melvil drehte am Knopf, um den Sender zu wechseln, und drehte wieder zurück. Es war tatsächlich eine Stimme zu vernehmen, die in ernsthaften Worten etwas wiederholte. Melvil wollte nicht hinhören. »Da lassen wir besser deinen Sender, Greg.«

Melvil schaute seine Post durch, Greg vergewisserte sich immer wieder von Neuem, ob das Barrel Petroleum wirklich vierzig Dollar kostete. Er schaute in den Preisbestimmungen nach, in ausgedruckten Computerblättern, im Bulletin der Energiewirtschaft, im Monats-, im Wochen-, Tages-, ja sogar im aktuellen Stunden-Bulletin konnte er nichts darüber finden, ob der Preis wirklich so tief gefallen sein konnte.

»Mein Gott, was mache ich nur? Die lynchen mich! Ich bin verantwortlich für das Petroleum in unserer Firma, wir müssen einkaufen, sofort, sonst kriege ich einen Anschiss. Gib die Theorie her, die Energiebilanztheorie des letzten Jahres, sofort, Melvil, ich brauche sie, oder gib sie mir gleich für die letzten zehn Jahre! Oh, Melvil! Was soll ich bloß tun?«

»Sei doch bitte nicht so aufgeregt, Greg, du bist ja nicht das erste Mal hier, bist doch schon ein alter Hase.

---ENDE DER LESEPROBE---