Memento mori - Klaus Schneider - E-Book

Memento mori E-Book

Klaus Schneider

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Beschreibung

Das Buch beschreibt eine Existenz, die bereits zu Beginn morbi­de Züge aufzeigt. Dies führt zu einem rastlosen, gehetzten Leben, voller Angst und Zweifel. Ein Junge, durch eine Veranlagung in die Rolle eines Außenseiters gedrängt, versteht erst nach Jahr­zehnten, als erwachsener Mensch, sich, seine Zeit und die Gesell­schaft, in der er lebt. Eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich, immer wieder ereignet. Ein Spiegel für Menschen, die unbedacht durch ihre Zeit treiben, sich plagen ihr Glück zu finden und dabei überse­hen, dass Glück nur ein abstraktes Ideal verkörpert, das es in ei­ner Existenz, die im Beginn gleich ihr Ende impliziert, gar nicht ge­ben kann. Was bleibt ist die Hoffnung, die sich in der endlichen Zeit eines Lebens weit wertvoller erweist, als ihre Erfüllung.

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Seitenzahl: 518

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Klaus Schneider

Memento mori

Niemand ist vor seinem Ende glücklich

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Schlussbetrachtungen

Impressum neobooks

1

Spüren sie manches Mal auch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwi­schen dem, wie sie sich selbst sehen, dem, wie andere sie sehen und dem, wie sie gerne wären? Dieser Zwiespalt zeigt sich meist nur sporadisch, oft in denkbar unpassenden Momenten, und auch wenn er nicht im­mer offensichtlich präsent ist, spaltet er die schon subjektive Realität in weitere, gegensätzliche Frag­mente. Was bleibt, ist eine unglückliche Exis­tenz in Raum und Zeit, verloren zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Diese Diskrepanz steht ihm, seit er sich ihrer bewusst wurde, treu zur Seite, ein Umstand, der hin­ter alles Denken, alles Handeln, ein großes Fragezeichen setzt. Er, das sollten sie noch wissen, bin ich, Ende fünfzig, männlichen Geschlechts, verstrickt in einer ziemlich allumfassenden Sinnkrise. In Zei­ten solch verdrießlicher Stimmungen, rede ich mich, um etwas Abstand zu mir selbst zu wahren, vorwiegend in der dritten Person an. Damit ist er ich, und ich bin er. Die so konstruierte Dualität meiner Person stellt einen gewissen imaginären Schutz vor Er­kenntnissen, mehr oder weniger unan­genehmer Art her, die das schon arg lädierte Selbstverständ­nis vollends ruinieren könnte. Diese Peinlichkeiten sind bei einem ausgelagerten „Ich“ besser aufgehoben. Ihm kann ich die Konfrontati­on mit sich selbst ohne größere Bedenken zumuten. Ohne eigenes Selbst ist er eine ideale Deponie für den Müll meiner Existenz.

Er reflektiert seine Gedanken, bringt sie mit pseudo- intellektuellem Schwachsinn in Verbindung, was dann in dessen Konsequenz eine objektive Auseinanderset­zung mit sich, oder mit der Person, die er glaubt zu sein, noch mehr erschweren würde. Davor fürchtet er sich, denn die Vergangenheit präsentiert sich abweisend und düster wie ein dunkler See, dessen unergründliche Tiefe einem Be­trachter Unbehagen bereitet. Sie scheint nicht willens, sich auf leichte Weise zu offenbaren. Dazu be­schränkt ein zeitweise lähmender Phlegmatismus sein Denken, sein Handeln, und erschwert geistige Aktivitäten nicht nur, er blo­ckiert sie. Kennen Sie das auch? Jeder Gedanke ist eine mühevolle Ein­zelaktion, ohne Zusammenhang, ohne zeitlich logisch, zwingende Verknüpfungen, ein Abklatsch der existenziellen Situation. Keine Be­wegung, weder Zu- noch Abfluss, weder Leben noch Sterben; nichts als lähmender Stillstand.

Er ver­sucht krampfhaft einen Fluss in seine Gedanken zu bringen. Mit Hilfe von brachialer, geisti­ger Ge­walt, müsste doch in diesen dunklen See von Erinnerungen, ein Abfluss zu schaffen sein! Weit gefehlt, jede gedankliche Anstrengung verdüstert diesen Tümpel noch mehr, wie wenn sich in ihm das bedrohliche Licht heranziehender Gewitterwolken widerspiegeln würde. Er fühlt sich in sol­chen Augenblicken dem Sterben näher als dem Leben. Diese morbiden Gefühle stehen in eklatan­tem Wi­derspruch zu dem Vorha­ben, seinem gesamten Lebensinhalt eine neue Richtung, einen neuen Fluss zu geben. Fluss, Zufluss, Abfluss, diese trägen Substantive zerren an seiner Geduld. Leblose Begrif­fe, der lähmenden, konkret existierenden Starre, in ihrer Auswirkung nicht unähnlich. Gram­matikalisch wäre dieses Di­lemma einfach zu lösen, wenn man diese ruhenden Begriffe verbalisieren könnte. Der Fluss könnte wieder fliesen, könnte...

Wenn seine Gedanken nur wieder fließen würden, das würde Bewegung bedeuten. Bewegung, die ver­misste er am meisten, seit er sich entschloss sein Leben grundsätzlich zu ändern. Es fehlte ihm zunehmend ein Teil dessen, weswegen er die Veränderung wollte. Bewegung, Lebendigkeit, wenn auch nicht in der hektisch belastenden Form der Vergangenheit, aber wenigstens einen Hauch davon möchte er wieder spüren. Er vermisste nicht so sehr die gewohnte Arbeit, nach vierzig Jahren konn­te er sich gut mit dem Gedanken anfreunden, nicht mehr so wie früher zu arbeiten. Wenn nur dieser verfluchte, alles abstumpfende Stillstand, nicht so erdrückend wäre.

Zudem wusste er im Moment einfach nicht mehr, wie er seine Existenz finanzieren sollte. Das Auto war weg, die Bezahlung der Wohnung stand jeden Monat auf dünnen Beinen, keine Kranken­versicherung, ein Leben auf Pump und Spenden... welch unerfreuliche Perspektive einer besseren Zu­kunft! Die reflektierende Betrach­tung der Genese dieser Situation bereitete ihm Unbehagen. Meh­rere aufdrängende Ansätze blockte er schon erfolgreich ab, führt auch zu nichts, außer zu destrukti­ven Selbstzweifeln! Die Vergangenheit ist unwiederbringlich vorbei. Die Möglichkeiten der Zukunft, ihre tägliche Erneuerung und das alles tragende Prinzip der Hoffnung, forderte seine uneinge­schränkte Aufmerksamkeit.

Ein tröstlicher, doch auch ein unbehaglicher Gedanke. Für einen Moment streckt sich sein Körper, sei­ne Stimmung hellt sich auf, um gleich darauf wieder auf das gewohnte Niveau abzusinken. Aus dem Radiogerät tönen noch immer die schmeichelnden Klänge der Ohrwürmer aus vergangener Zeit. Vergangenes drängt sich nun zögerlich, ohne verständlichen Zusammenhang, in sein Bewusst­sein, sinnloses, wirres Zeug. Seine Haltung wirkt angespannt, ablehnend. Unschlüssig seines zaghaf­ten Verlan­gens nach Erinnerung, legt sich nun wieder diese Zögerlichkeit über das Vorhaben. Wel­cher Teufel hat ihn da überhaupt geritten, in diesem Müllhaufen zu stochern?

Die ersten, unterschwellig auftauchenden Bruchstücke der Vergan­genheit, scheinen nicht geeignet, seine Stimmung aufzuhellen. Vor allem der Anfang, der Beginn sei­nes Lebens, liegt wie stickige, ab­gestandene Luft über seiner Psyche. Versuche, dies zu ändern, brach er in der Vergangenheit, stets nach mäßigem Erfolg, immer wieder resignierend ab. Führte zu keinem verständlichen Ergebnis, brachte keine verwertbare Erkenntnis, nichts außer wei­teren Fragen. Schublade zu lassen, den Schlüssel herumdrehen und wegwerfen, ging bis vor kurzem ganz gut, bis vor kurzem...

Wo sollte seine Erinnerung auch beginnen, wo begann die Entwicklung dessen, was ihn heute aus­macht? Sicher schon damals, als Embryo, und unterstellt man dieser frühen Lebensform eine Ah­nung, in was für einer Umgebung es bald leben würde, müsste es bereits ein Grausen vor den kom­menden Jahren verspürt haben. Es ist schon eine gewagte Annahme, keine Erinnerung, doch denk­bar. Bei solch unerfreulichen Gedanken hört er doch lieber, zum wiederholten Mal, einem Beitrag aus dem Radio über Marder, und die, meist untauglicher Ratschläge, diese Tiere vom Auto fernzu­halten, an.

Solch banale Themen interessierten früher auch ihn , es war einmal… Fahrräder sind nun mal we­niger anfällig gegen Marderbiss, als ein Auto. Manchen Dingen kann man mit einer Portion Ironie durchaus positive Seiten abringen. Er überlegt, wie lange er ein Auto besaß, es waren 39 Jahre, ohne Unterbre­chung und bis vor kurzem noch eine undenkbare Vorstellung, kein Auto zu besitzen, nicht mobil zu sein. Nun, sie brachten ihm die Denk- und Lebbarkeit dieser Möglichkeit nahe und nah­men ihm sein Automobil weg. Sachlich eine richtige, vertretbare Entscheidung der finanzierenden Bank, ohne Moos nichts los! Menschlich gesehen aber doch eine sehr verwerfliche, herzlose Untat. Und das, gerade jetzt in seiner Lage, wo er auf eine Veränderung, eine neue Chance hofft, nur stol­zer Besitzer eines Fahrrades zu sein, keine sehr motivierende Perspektive. Doch was soll das Lamen­tieren, es ist wie es ist!

Bilder aus der Vergangenheit klopfen an, verhalten, unaufdringlich, doch sich ihrer Wirkung be­wusst. Aus einer Mischung von Neugier und Frust öffnet er die Türe einen Spalt weit, einen Mo­ment abgelenkt durch die Klänge einer Operettenmelodie, er liebt diese Musik. Er öffnet die Türe weiter, denn wer A sagt… Verschwommen sieht er im Türrahmen einen jungen Mann stehen, opti­mistisch, voller Neu­gier, etwas unsicher, er mag so achtzehn Jahre alt sein. Der schaut ihn an, fra­gend, mit hellen, offenen Augen voll trotzigem Optimismus. Wortlos dreht er sich um und öffnet die Tür der Erinnerung. Er und er verschmelzen zu einer Person, der Symbiose aus Vergangenheit und Gegenwart.

Die Prüfungsfahrt, der praktische Teil der Fahrprüfung, lief eigentlich ganz gut, er war überzeugt, oder besser, er hoffte, alles richtig gemacht zu haben. Selbstvertrauen lag nicht mit in seiner Wiege, auch zeigte sich sein bisheriger Lebensweg wenig geeignet, diesen Charakterzug zu formen. doch dieses Mal machte er alles richtig, fast alles, er wollte die Prüfungsfahrt nur zu schnell hinter sich bringen. Etwas zu schnell, bemerkte der schräg hinter ihm sitzende, ältere, Prüfer. Er sei ja ganz gut gefahren, nur viel zu schnell. Es überraschte ihn nur kurz, sein bisheriges Leben lehrte ihn, mit der­artigen Widrigkeiten klarzukommen. Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Probleme, Pleiten, Pech und Pannen. Treue Begleiter, verlässlich und immer zur Stelle, wenn prägnante, entscheidende Ereignisse anstanden.

Wieder einmal hatte er versagt! Nein, so wollte er es doch nicht sehen, und so auch nicht weiter er­zählen. Die unabänderliche Tatsache, dass er durchgefallen war, verpackte er gekonnt mit dem Um­stand, dass er ja zu schnell fuhr. Das zumindest stellt, bei einer gewissen Altersgruppe, fast schon eine heldenhafte Tat dar und danach sehnte er sich doch, etwas Großes zu tun, etwas Besonderes zu sein. So durch die Stadt rasen, das hat doch etwas Herausragendes an sich, oder nicht? Seinen Ge­danken wuchsen Flügel, sie trugen ihn in die höchsten Sphären seiner Sehnsüchte. Zügellos, jeden Bezug zur Realität verlierend, baute er so immer wieder neue Luftschlösser auf die Trümmer implo­dierter Illusionen. Er, der Gewinner, mutig, selbstsicher, souverän, erfolgreich. Diesmal war der An­lass für solche Spinnereien eben eine versaute Prüfung.

Die Erinnerung beginnt unangenehme Züge anzunehmen, die Endlosschleife alter Melodien aus dem Rundfunkgerät führen ihn schnurstracks in eine Zeit, die ihn, wenn er sie nur gedanklich streift, frösteln lässt. Sein Gefühl warnt ihn, berechtigt, hat er diese Lebensphase doch abgeschlossen. Ab­geschlossen? Mühevoll überwunden beschriebe es besser. Wie lange brauchte er, seine zahlreichen Komplexe, das Resultat einer verkorksten Kindheit, zu verdrängen! Zu lange, wenn er sie denn über­haupt schon alle verdrängt hat.

Die Kindheit, auf diese Erfahrung hätte er liebend gern verzichtet. Er spürt, irgendwo, tief in ihm liegen Erinnerungen, zu denen er nur schwer einen Zugang finden wird. Der lächelnde junge Mann, der ihn auf seinen ersten Schritten in die Vergangenheit begleitete, ist verschwunden. Existiert eine Dualität der Person nur in seiner Phantasie, dieses er und ich? Doch sie ist ihm gut vertraut, im Lau­fe seines Lebens entwickelte er eine Genialität, die es ihm ermöglichte in allerlei Rollen zu schlüpfen, sie ge­danklich zu leben, sie für sein diffuses Ego auszusaugen. Oft lebte er dabei mehr im „er“ als im „ich“. Kein Interesse an einer Psychographie! Sie kreiert doch nur ein unnützes, peinliches Psycho­gramm seiner Person. Eine objektive Bewertung wäre vielleicht nützlich, doch wenn es so etwas überhaupt gibt, ist das etwas für Menschen, die sie ertragen und in dieser Situation befand er sich überhaupt nicht.

Wo ist der junge Mann geblieben? Der Gedanke lähmt ihn, drückt ihn auf sei­nen, etwas wackeli­gen Stuhl. Er zündet sich eine Pfeife an, Ablenkung für einige Minuten, er lauscht auf die Stimmen im Radio, das er inzwischen zu leise stellte. Es strengt ihn an, die Worte oder gar den Sinn zu verste­hen. Aus der Pfeife steigt dichter Qualm, er fächert ihn mit der Hand beiseite und starrt zum Fenster hin­aus. Der Wald sieht dunkel aus, es wird wohl regnen. Teilnahmslos fixiert er die Wolken Formation, erkennt in ihnen keine Gestalten oder Gesichter, wie sonst immer, wenn er das Spiel der Wolken be­trachtet. Mehr als triviale Eindrücke kann er nicht aufnehmen, nichts außer einem dumpfen Trüb­sinn findet Zugang in sein Bewusstsein.

Was für ein Scheiß Leben musste er doch führen! Drohende Erinnerungen, machtvoll und ohne die Möglichkeit, sich derer zu verwei­gern, ziehen ihn in ihren Bann. Wie weit geht die Reise, funktio­niert der un­bewusste Schutz seiner Psyche noch? Ist doch egal, wer nichts riskiert, kann nichts ge­winnen. Eigentlich verabscheut er so dümmliche Weisheiten, wenn sie von anderen zum Besten ge­geben werden, bei sich macht er gern einmal eine Ausnahme. Er ist nicht wie die anderen, er ist et­was Be­sonderes, das fühlt er. Glücklich war er nicht immer darüber. Die widrige Seite dieses An­dersseins stand, zumindest in der Kindheit, immer düster im Vordergrund. Kindheit, die Bilder der Erinne­rung nehmen Konturen an, zuerst nur verschwommen und schemenhaft. Zögernd, etwas wi­derwillig, öffnet er sich, lässt die Bilder in ihrer Deutlichkeit zu und flüchtet sich dann rasch in die Dualität seiner Person. Er, der Akteur und er, sein Betrachter.

Ein kleiner Junge steht verloren, etwas hilflos in einem Zimmer. Er ist nicht allein. Unheimliche Ge­stalten, Frauen mit ungepflegten, schütteren Haaren, strähnig, fettig, meist ergraut, bis zur Schul­ter reichend, bewegen sich gespenstisch leise in dem unangenehm riechenden Raum. Einem aus sei­ner Perspektive sehr hohen Raum. Die Kleidung der Frauen besteht aus langen, bis fast auf den Fußbo­den reichenden weiß- grauen Gewändern, einfach geschnitten, wie Säcke. Ihre Füße stecken, teilwei­se nackt, in schwarzen, klobigen Schuhen. Er fühlt sich unbehaglich. Ein natürliches Gefühl für Äs­thetik lässt in ihm ein starkes Gefühl von Abscheu und Ekel aufkommen. Vor ein paar Minu­ten sah er sie noch in respektabler Kleidung, die Nonnen, Schwestern, ehrwürdig, barmherzig oder mit wel­chen Attributen sie sich immer aufwerten.

Damals, als er noch ein kleiner Junge war, leiteten und betreuten diese Frauen meist die Kindergär­ten, und in einem solchen muss er sich gerade befinden. Doch was hatte er allein, ohne die anderen Kinder, in diesem Raum zu suchen, was wollten diese Frauen von ihm? Die Erinnerung verblasst. Nur noch Bruchstücke, zusammenhanglos, sind sichtbar. Eine ältere, stämmige, resolute Schwester, sie schien seine Bezugsperson zu sein, eine etwas dickliche, behäbige und zwei jüngere Frauen, hiel­ten sich zeitweise ebenfalls in dem Raum auf. Der muffige Geruch, der merklich von den halbbeklei­deten Nonnen ausging, raubte ihm beinahe die Luft zum Atmen. Körperausdünstungen jeglicher Form ekeln ihn an, er spürt dabei nahezu körperlichen Schmerz.

Was wollten sie von ihm? Es gab doch zahlreiche andere Kinder; sicher er war ein zarter, hübscher Junge. Warum kann er sich an nichts mehr erinnern, als an diese eine Szene, warum erinnert er sich überhaupt daran? Ist es einfach nur eine Momentaufnahme, ein Bild, ohne weitere Bedeutung, ohne Geschichte? So recht kann er diese Deutung nicht glauben, irgendwas in ihm wehrt sich dagegen. Diese Begebenheit, Jahrzehnte später Thema einer Therapiestunde, veranlasste den Therapeuten das Wort „Missbrauch“ in den Raum zu stellen, „weitläufig definiert“, wie er noch ergänzend anmerkte.

Es macht ihn nachdenklich, er versucht die Eigendynamik seiner Reise zu unterbrechen und zu ver­weilen, vielleicht gibt es ein paar redseligere Eindrücke, überdrüssig ihres Statistendaseins und ge­willt, die Szene zu beleben. Stille, keiner traut sich, keine Souffleuse gibt ein Stichwort. Resignierend lehnt er sich zurück. Was soll diese Reflektion auf sein bisheriges Leben bringen, wenn sich nur die Fragen manifestieren? Er spürt jedoch einen Drang, eine Unruhe, so schnell will er noch nicht auf­geben. Er fühlt es, irgendeine prägende Begebenheit, unguter Natur, verbirgt sich hinter dieser Mau­er des Vergessens. Seine Lethargie, zu Beginn seines Nachdenkens noch dominierend, weicht einer leichten Euphorie. Im weiten Spektrum seiner Gedanken und Gefühle tauchen verschüttet ge­glaubte Begriffe auf, wie „ ich habe ein Ziel, ich will das unbedingt“. Erregende und auch gleichzeitig besorgniserre­gende Gedanken!

Kann etwas Aufregendes oder anregendes denn Besorgnis auslösen? Es kann, wenn das Ziel nicht klar, der Erfolg nicht messbar und der Aufwand unkalkulierbar ist. Vor gerau­mer Zeit handelte er weitaus pragmatischer: Schublade auf, Vergangenheit rein, zu sperren und den Schlüssel wegwerfen. Ein plausibles Verhalten, nur wenig nützlich, wenn diese Schublade, das Archiv der Seele und des Unterbewussten, vollgestopft und über­quellend mit Ereignismüll, im Besitz eines Ersatzschlüssel ist und sich öfters Platz schafft.

Seltsam, dass er sich an dieses Ereignis erinnert. An sei­ne Eltern ist kaum eine Erinnerung aus die­ser Zeit vorhanden. Vage glaubt er die Stimme der Mutter zu hören, die so etwas wie Stolz aus­drückt, dass ihr Sohn von den Schwestern bevorzugt wird. Für sie persönlich scheint dies eine Eh­rung, eine Aufwertung ihrer Person, gewesen zu sein.

Was um alles in der Welt war in seinen ersten Lebensjahren los? Irgendwas im Leben dieses Kna­ben ist in irgendeiner Form abnorm verlaufen. Die Bemerkung eines Arztes fällt ihm ein, der sich auf Grund einer körperlichen Anomalie erkundigte, ob er als Kleinkind, eine nicht behandelte Rachit­is hatte. Die Nachfrage bei der Mutter und seiner Oma löste bei beiden eine heftige, em­pörte Vernei­nung aus. Etwas zu heftig, zu emotional für seinen Geschmack, und mit der unausgesproche­nen und doch unüberhörbaren Aufforderung „Frag nie wieder“! Ein seltsames Verhalten, oder nicht?

Seine Mutter – eine Zumutung für ein Kind! Eine lapidare Aussage, die ihm dennoch so treffend vorkommt. Es ist sicher eine diskreditierende Bemerkung, doch gedacht ohne Reue und entschuldi­genden Nachsatz. Die Struktur ihrer Psyche wies Vergleiche mit der eines Geröllfeldes auf, nur mit Mühe und Risiko begehbar, ein Straucheln immer möglich und kaum zu verhindern. Eine uner­schöpfliche Fundgrube für jeden Psychologen, Lebenswerk inklusive seiner Habilitation. Wäre der Begriff „widersprüchlich“ nicht schon im Sprachgebrauch verankert, für sie müsste er eingeführt werden. Er spürt eine leichte Müdigkeit. Nein, das ist keine Müdigkeit, es ist purer Frust. Die Erin­nerung an diese Frau zehrt an den Eingeweiden seiner Seele. Er fühlt sich wie ein kurz vor dem Bersten stehender Dampfkessel. Seine ganze Erregung und Unruhe windet sich um diese Person. Ein Wesen, für ihn unbegreiflich, unbekannt, nur aus unerfreulichen Erinnerungsfetzen bestehend.

Es kann doch nicht sein, dass eine Mutter, die in der allgemeinen Begriffsdefinition des Wortes, et­was mit Liebe, Geduld, Fürsorge und Verständnis zu tun hat, keine positive Gefühlsregung, weder spontan noch zeitlich versetzt, auslöst. Er unterbricht seine Gedanken, unfähig sich zu konzentrie­ren, und starrt wieder zum Fenster hinaus. Die Schatten der Wolken treiben mit dem Wind über die Kornfelder. Ein Spiel der Natur, beruhigend, einneh­mend. Seine Gedanken legen sich in die wogen­den Pflanzen wie in eine Wiege, die sich sanft bewegt. Könnte er diesen Augenblick anhalten, er würde es ohne Zögern tun und alle Zeit beenden. Aussteigen, umsteigen, ein Teil der Natur sein, eingebettet in diesen Kernbegriff allen Seins, losgelöst von einer erbärmlichen Existenz mit ihren ba­nalen und doch so existenziellen Problemen.

Weglaufen, er fragt sich, warum er als Kind nie weggelaufen ist, was hat ihn abgehalten? Stärke oder Schwäche? Kam ihn nie der Gedanke, es zu tun? Gründe waren zu Hauff vorhanden, täglich prä­sent. Die langsame, unmerkliche Gewöhnung ist wohl die Basis allen Erduldens. Er musste sie lange erdulden, diese Mutter. Viele Jahre war sie gegenwärtig, eine unüberwindliche, festgeschriebene Tat­sache. Die Abhängigkeit von ihr, in ihrer Intensität nach dem Lebensalter zwar abgestuft, war die Basis sei­nes Lebens, seines Überlebens. Zurückblickend stellt sich die Frage, ob er das Leben so wollte?

Da­mals, als Kind, stellte sich die Frage etwas anders. Wollte er leben? Ja, das wollte er wohl, wie die anderen Kinder auch. Er wollte wie andere Kinder eine Mutter haben, sicher ohne die Kenntnis, wie andere Mütter waren, doch er fühlte, dass ihm etwas fehlte. Was ihm fehlte, konnte er nur ah­nen. Die passenden Begriffe sind einem Kind noch nicht geläufig, es kennt die Worte nicht, um sei­ne Ge­fühle zu beschreiben. Ähnlich einem Erwachsenen, der über seinen begrifflichen Horizont hinaus zu denken versucht und sein Denken, seine Vorstellungen in Worte fassen möchte, Worte die er nicht kennt, ein unverständliches Gestammel.

Die ersten schemenhaften Erinnerungen an die Mutter beginnen mit der Geburt seiner Schwester, eine Hausgeburt, im Schlafzimmer der Eltern. Im Wohnzimmer eines alten, maroden Bauernhau­ses, wartete er mit seinem Vater auf etwas. Er kann sich weder an seinen Vater noch an ein Gefühl erin­nern, es bewegte ihn nicht sonderlich, seine sechs vergangenen Lebensjahre bescherten ihm anschei­nend wenig emotionale Reife.

Nach einiger Zeit des Wartens, sein Vater ging schon früher ins hintere Zimmer, riefen sie auch ihn. So, nun freue dich, du hast jetzt ein Schwesterchen! So oder so ähnlich lautete ihr Verlangen bei der Vorstellung dieses runzligen, hässlichen Wesens, das da bei der Mutter lag. Die glücklich strah­lenden Gesichter von Vater und Mutter und einer älteren Frau, einer Hebamme, wirkten auf ihn hä­misch und abstoßend. Alles wegen diesem Ding da? Er ver­stand überhaupt nichts. Nicht, dass er den Zu­wachs ablehnte, er war ihm einfach gleichgültig.

Diese Begebenheit hätte jetzt bei weitem nicht so eine Bedeutung, wenn er nicht ab dieser Zeit in den Genuss der unerschöpflichen Vielfalt menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe gekom­men wäre. Mutter und Tochter, Vater und Sohn. Nein, das ginge ja noch, doch es stellte sich anders dar: Mutter und Tochter, ein Vater und ein Sohn. Sein Dilemma: Er war allein. Die Mutter verfuhr nun nach dem einfachen Prinzip: Klappt es mit dem alten Kind nicht, leg es beiseite und versuche es mit etwas Neuem. Somit hatte er ausgespielt, er war nun ein Kind zweiter Wahl. Der Vater, in sich zurückgezogen, depressiv, kaum zu einer stabilen Gefühlsregung fähig, schien keine rechte Hilfe für ihn und schon gar kein Gegenpol zu dem weiblichen“ Duo Infernale, “ Mutter und Tochter.

Nun, die Welt drehte sich in der Hauptsa­che fortan um die Tochter der Familie. Zielstrebig trieb die Mutter seine Demontage voran, hatte sie jetzt doch Ersatz für ihn... und zwei Kinder waren für sie eines zu viel. Keine Zuneigung zu erhalten und nicht zu wissen, was das ist, Zuneigung, ist mit ei­ner Portion angeborener Ignoranz sicher lebbar, auch für ein Kind. Zu sehen, was das ist, Zunei­gung, und sie dann nicht zu erhalten, das ist bitter für ein Kind.

Die Entfremdung wuchs, unterschwellige, beidseitige Abneigung belastete zusehends die Mutter – Sohn Verbindung. Den Machtverhältnissen entsprechend gab es einen klaren Verlierer, ihn. Dies markierte den Beginn einer Zeit, die man keinem wünschen sollte. Die Psyche des Jungen zeigte sich dieser Belastung nicht gewachsen, sie reagierte, sie reagierte mit ihren Mög­lichkeiten, sie rief um Hil­fe. Dummerweise wählte sie die falsche Sprache; sie ließ ihn stottern. In Ermangelung gewisser intel­lektueller Grundlagen, verstand das niemand in seinem familiären Umfeld. „Helft mir, ich komm nicht zurecht“, mehr wollte sie nicht sagen. Der Schuss ging gründlich nach hinten los. Nun war die­ser Sohn nicht nur lästig, er war auch noch peinlich.

Peinlich, da sich das Leben der Frau Mutter zu einem Teil öffentlich abspielte. Sie war aktives Mit­glied in einem ört­lichen Verein und dadurch fest eingebunden in den Tratsch und Klatsch des Dorf­geschehens. Ein enormer Ehrgeizig trieb sie an, ihre gesellschaftliche Stellung in der „High Society“ des Dorfes aufzuwerten, da sie doch eine „Zugezogene“ aus der Stadt war. Aus dem Dorf, wo sie lebten, stammte nur der Vaters. Und jetzt diese Blamage! Ein erstgeborener Sohn, der Stolz jeder Fa­milie, der Kronprinz, zumindest nach außen, fängt an zu stottern. Das feine Stadt­kind, wie manche ältere Frau ihn schon nannte, stottert, er ist behindert. Ein Kronprinz stot­tert nicht!

Ein Debakel, eine Katastrophe, berücksichtigt man die, noch sicherlich prä­senten, Merk­male eines richtigen, deutschen Jungen. Fünfzehn Jahre staatlich verordnete Verleugnung lieb­gewonnener Ideologien, löschen keine tief verwurzelten Überzeugungen gänzlich aus. Man redet le­diglich nicht mehr offen darüber, wie ein wertvoller deutscher Mustermensch zu sein hat. Groß, blond, ha­ger, stolz, mutig und blöd genug, sich vor den Karren jeglicher dümmlichen Ideolo­gie spannen zu lassen. Man redet auch nicht mehr offen über die Begeisterung, mit der man sich im Bund deutscher Mädchen engagierte, nicht darüber, dass der Bruder in der Waffen SS war, er hat ja nichts ge­macht, sie haben ja alle nichts gemacht. Man schweigt, wiegelt ab.

Diese verdammte Generation spielt in ihrer Mehrheit die Rolle der Unschuldigen, oder Geschädig­ten, ganz Dreiste bezeichnen sich gar als Opfer. Nur in ihrem Inneren sind sie immer noch das, was sie immer waren, wozu sie erzogen wurden; überzeugte Anhänger der abartigen Ideologie ihres ehe­maligen Führers. Kein Gedanke, dass sie mit ihrer Feigheit, ihrer Dummheit, den Tod von Millionen von Menschen mit zu verantworten haben. Ehemalige Widerstandskämpfer und Menschen, die emi­grierten, weil sie dem Unrecht nicht dienen wollten, wurden noch offen als Vaterlandsverräter be­zeichnet und geächtet. Dieses Volk erwartet kollektive Dummheit, kein verantwortungsvolles Han­deln und sei es ethisch noch so geboten. Nicht aus der Reihe tanzen, dem Ideal so gut wie nur irgendwie möglich ent­sprechen, diese Prämissen werden als unbedingte Voraussetzung für die Anerkennung in der Gesell­schaft gesehen und gelebt, früher, heute und wenn nicht die Sonne einmal im Westen aufgeht, auch morgen.

Aus diesem Sumpf von Dummheit und Ignoranz konnte er wohl wenig Verständnis erwarten, viel­leicht etwas Mitleid. Das wird er noch schmerzlich spüren, nur gut, dass er dies damals noch nicht wusste. Damals plagten ihn andere Sorgen, er wollte sprechen. Von schierer Verzweiflung getrieben, versuchte er Wörter, vor allem diejenigen, die mit einem Vokal beginnen, auszusprechen. Ausspre­chen wäre zu viel gesagt; er presste sie aus seinem Mund, um anschließend die folgenden Silben ab­gehackt auszuspucken. Ein Zuhörer musste schon etwas Zeit mitbringen, sich die Worte merken, um nach einer gefühlten Ewigkeit, den Zusammenhang noch zu erkennen. Und vor allem sollte er sich das Lachen verkneifen.

Der Junge bemerkte dies bald, sah die Ungeduld, das Mitleid, den Spott in den Gesichtern, ver­suchte trotzdem zu sprechen. Später nahm dann seine Neugier zu. Er wollte mehr wissen, wollte Fragen stellen, wenn er es nur gekonnt hätte. Das „W“ gesellte sich zu den Vokalen, damit waren die Frage­wörter auch problematisch geworden. „Rede langsam, was bist du denn so aufgeregt!“ so laute­ten die dümmlichen Anmerkungen seiner Mutter. Mit solch hilfreicher Unterstützung, liebevollem Lä­cheln und einer unendlichen Ge­duld, war sie ihm eine stets eine wertvolle Hilfe. Oh ja, sie bemüh­te sich schon, beziehungsweise sie ließ andere sich bemühen. Zuerst konsultiert sie mit ihm den Haus­arzt, er sollte den Makel wohl operativ entfernen. Später zog sie noch einen Professor zu Rate, aller­dings nur ein einziges Mal. Diese Koryphäe war für sie etwas umständlich zu erreichen, er prak­tizierte weit ab von regelmäßig verkeh­renden, öffentlichen Verkehrsmittel, und die Familie besaß kein Auto. Mit diesem Professor ging sie lange in ihrem Umfeld hausieren, so lange jedenfalls, bis sie die verdiente, umfassende und allseitige Anerkennung für ihr Bemühen erhielt. Damit schloss sie das Kapitel ab, mehr konnte man nicht tun und jeder wusste nun, sie hatte ja alles versucht.

Er hält inne, fragt sich, ob er sie nicht zu hart beurteilt oder gar verurteilt. Nein, das tut er nicht. Sein Zögern ist lediglich das alte Problem der geprügelten Hunde und deren Herren, der Schei­dungskinder, der misshandelten Frauen und Kinder, die die Schuld bei sich suchen. Verdammt noch mal, er ist doch nicht mehr abhängig von dieser Frau, au­ßerdem ist sie schon tot. Was soll dieser An­flug von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen, er ist doch das Opfer. Die Zweifel sind ihm zu­wider, er weiß, es ist Unsinn und doch kann er diesen Un­sinn nicht ganz ausblenden. Ist er doch un­gerecht? Gibt es nicht Erklärungen für ihr Verhalten? Erklärt ihre Kindheit und Jugend, die sozia­len und gesellschaftspolitischen Zwänge dieser Zeit, ihre Art?

Geht man von neueren neurologischen Erkenntnissen aus, so steuert sich unser Verhalten nicht im­mer bewusst mit dem Intellekt, sondern es wird aus einem unbewussten Bereich, dort wo die Struk­tur unserer Persönlichkeit determiniert ist, bestimmt. Soll er nun gedanklich umschwenken und sie erklären, sie rechtfertigen? Nein! In drei Teufels Namen, nein, das will er nicht! Er hat nicht mehr die geringste Lust, nur gut und edel zu sein, das hat ihm in seinem Le­ben zu viele Blessuren einge­bracht. Diese Frau stand in der Verantwortung und hat versagt, nicht er.

War es zu viel verlangt, ihn, das Kind, zu trösten, wenn er aus der Schule heimkam, deprimiert, ver­zweifelt? Stundenlang saß er in einem Klassenzimmer, ängstlich, da der Lehrer ihm jeden Mo­ment eine Frage stellen konnte. Gab es dann auf die Frage eine Antwort, dessen erstes Wort er aus­sprechen konnte? Er kann diese Angst heute noch spüren. Damals kroch sie ihm vom Bauch in die Bei­ne, in den Kopf, ließ das Blut erstarren, sie schnürte ihn ein, unfähig zu jeder Reaktion, er wusste die Antworten, jedoch ohne die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Getuschel der Mitschüler, unzählige Augenpaare auf sich gerichtet, Gelächter, für die anderen Kinder eine willkommene Un­terbrechung, für ihn ein Desaster. Mobbing in der Pause und auf dem Heimweg. Kinder können grausam sein. „Bitte, bitte fragen sie mich nicht,“ ununterbrochenes stilles Flehen an die Lehrer, so­bald der Unter­richtsstoff die Mitarbeit der Schüler forderte. Er hatte bald ein untrügliches Gefühl dafür; ein paar Sätze noch, dann kommt sie, die eine Frage an ihn. Jede Schulstunde die gleiche Angst, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Rückblickend fragt er sich, wie das eigentlich auszuhalten war. Was hat ihm die Kraft gegeben, acht lange Jahre? Die Mutter war es jedenfalls nicht. Nach einem oft fluchtartigen Heimweg erwartete sie ihn, meist in unterkühlter, frostiger Stimmung.“ Wo kommst du jetzt her“? Die Standartfrage, nicht im Kontext zur Uhrzeit zu sehen, eher willkürlich, aus ihrer miserablen Laune heraus gestellt . Si­cherlich kam er manchmal etwas später nach Hause, doch nie ohne Grund, welcher sie aber nicht ernstlich zu interessieren schien. Öfters musste er einen Umweg gehen um den Gehässigkeiten und Angriffen der Mitschüler zu entkommen. Und der Umweg konnte in einem kleinen, übersichtlichen Dorf sehr weit sein. Die Verfolger im Rücken, den Terror zu Hause vor Augen, es waren traumhafte Perspektiven.

„Was war heute wieder los, kannst du nicht pünktlich heimkommen, koche ich denn umsonst“? Ihr zutiefst frostiger Blick, ihre mürrische Stimme genügten ihm, er verzichtete dann meistens auf die Schilderung seiner Erlebnisse. Sie gab ihm ja immer wieder zu verstehen, wo die Schuld eigent­lich zu suchen sei, bei ihm selbst. Das prägte sich ein, ließ ihn verstummen. Trost oder gar Verständ­nis konnte er von der nicht erwarten. Dieser Erkenntnis musste er sich wohl oder übel beugen. So zim­merte er sich in seiner Seele eine große Kiste, in der er seinen Kummer verstaute. Kummer rein, De­ckel zu. Der Deckel blieb aber meist offen, da der Nachschub nie versiegte.

Liebevolle Zuwendung war nicht im Fundus ihrer möglichen Gefühlsregungen zu finden, wenigs­tens nicht für ihn. Bei ih­rer dicken Tochter sah das schon etwas anders aus. Die Kleine machte das auch etwas cleverer als er. Ein Wonneproppen, schleimend, lieb, treuherzig und doof, welches Mut­terherz schmilzt da nicht wie Eis in der Sonne? Er fand seine Schwester zusehends unsympathischer. Sie nahm ihm zwar nichts weg, aber sie hatte etwas, was er nicht hatte, eine Mutter. Als er auch noch unter Zwang in die Betreu­ung des Sonnenscheins eingebunden wurde, war das Verhältnis zu der Schwester vollends zerrüttet. Sein „Loser-Leben“ dehnte sich nun auch auf den Nachmittag aus. Kinderwagen schieben vor den Augen einfach urteilender Dorfkinder, schlimmer ging es wirklich nicht mehr.

Es fällt ihm immer schwerer, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Er fühlt sich müde, leer, ausgebrannt. Was hält ihn davon ab, sich hinzulegen und zu schlafen, sehr lange zu schlafen, schla­fen bis sich etwas verändert, etwas, was das Leben wieder lebenswert macht? Warum muss er für al­les kämpfen, kämpfen für Minimales, nicht für die großen Dinge. Verfolgt ihn diese verfluchte Kind­heit ein Leben lang?

Sicher gab es auch angenehmere Erlebnisse. Diese sollte er nicht vergessen, auch wenn sie, im Ver­gleich zum Alltag, höchstens wie einige sonnige Stunden in einem verreg­neten Frühling zu spüren waren. Er erinnert sich vage an einen Freund und an ein Mädchen, die sich aus irgendeinem Grund, sei es Mitleid, er weiß es nicht, mit ihm abgaben. Nach Jahren wurden es derer mehrere, so ent­spannte sich seine Situation außer Hause etwas. Zum Ende der Schulzeit fühlte er sich dann soweit integriert, dass es sich leben ließ, was bedeutete, dass er sich im Dauerregen mit einem Schirm schüt­zen konnte, zwar einem kleinen, aber er wurde nicht mehr gänzlich nass.

Seine Seele war krank, krank vor Angst. Angst vor dem Versagen, Angst vor der Beachtung, Angst vor der Nichtbeachtung, Angst vor dem Reden. Er zitterte inzwischen wie ein Alkoholiker, er zitter­te beim Essen, Trinken und Schrei­ben. Ein zitternder Stotterer, Hauptschüler. Der Besuch weiter­führender Schulen lehnte seine Mutter ab, Stotterer schaffen das sowieso nicht!

Doch spürte er nur eine geringe Resignation. Er wollte doch leben und wenn auch nur auf beschei­denem Niveau, kleine Siege, kleine Erfolge und schon war er glücklich. Einmal beim Vorlesen nicht zu stottern, oder einmal eine Rauferei als Sieger zu beenden, welch seltenes, kostbares Kleinod! Bei einem solch seltenen Ereignis drohte ihm ein, den Streit beendender Erwachsener, er werde auch noch seinen Meister finden; dümmer ginge es wirklich nimmer.

Kleine Höhepunkte machten hin und wieder auch sein Leben lebenswert. Mit zunehmender Ak­zeptanz seiner Person in seinem äußeren Umfeld, widersetzte er sich nun der Tristesse seines Zu­hauses, seinem emotional abwe­senden Vater, seiner lieblosen Mutter und der sich zur Made entwi­ckelnden Schwester. Seine Stel­lung innerhalb der Jugend war sicher nicht sonderlich hoch, aber wenn kein an­derer da war, kein an­derer seinen Platz beanspruchte, wurde er doch akzeptiert. Diese Stellung er­trotzte er sich gegen alle Widrigkeiten.

Und dennoch, er fühlte sich meist allein. Nachträglich herzlichen Dank der Frau, die er Mutter nannte, für ihre Hilfe! Danke für all das Verständnis, die Liebe und die tröstenden Worte, wenn die Verzweiflung kaum mehr zu ertragen war, dan­ke für die zitternden Hände, das Stottern, die Ängste! Er weiß, er wiederholt sich.

Diese Frau klebt wie eine Klette an ihm. Er fühlt, er wird keinen Frieden finden, wenn er sich die­ser posthumen Auseinandersetzung nicht stellt. Bei allem, was er denkt und fühlt, spürt er ihren kal­ten Atem. Steigt sie jetzt aus dem Sumpf seiner Gedanken in die Freiheit einer spirituellen Existenz auf? Eine seltsame Vorstellung, doch denkbar, er glaubt an das Ewige der geistigen Existenz. Nur wo sich all die geistige Energie aufhalten soll, ist ihm ein Rätsel, das auch das Studium gängiger phi­losophischer Ansichten noch nicht lösen konnte. Es bleibt ihm nur die Überlegung, wie er diese Auseinan­dersetzung führen soll. Es streiten sich in altbekannter Manier die Fraktionen Ablehnung und Ver­ständnis. Sollen sie streiten, es eilt nicht, die Mutter stört noch Jahrzehnte sein Leben, er blendet sie erst einmal aus.

Es klingelt, ein älterer Herr steht an dem breiten Tor, dem straßenseitigen Zugang zu dem Innen­hof des großen bäuerlichen Anwesens, das sie vor zwei Jahren mieteten. Durch die Terrassen Tür be­obachtet er, wie seine Frau, begleitet von ihrem Hund, auf den wartenden Mann zugeht. Es kommen nicht viele Besucher, doch deren Anliegen sind meist die gleichen, sie präsentieren irgendwelche Verbindlichkeiten, Zahlungsaufforderungen und fordern deren Begleichung. Er kann sich nicht be­klagen, alle sind freundlich, nett, sympathisch und entgegenkommend. Er versteht die vielen negati­ven Vorbehalte gegen diese Berufsgruppe nicht, sie können doch kaum für die missliche Lage ihrer „Kundschaft“ die Schuld tragen. Sie sind nur das letzte Glied in einer Kette von Fehlentscheidun­gen, Schicksalsschlägen, Dummheiten, und Pleiten ihrer Klientel. Ob Selbst- oder Fremdverschul­den, die Ursache spielt letztendlich keine Rolle. Es bleibt das Problem des Schuldners, seine Ver­bindlichkeiten zu bezahlen. Unter diesem Aspekt beurteilte und behandelte er die Menschen, die sich mit ihm und seiner misslichen finanziellen Lage auseinandersetzten müssen. Es war in der Regel nie zu seinem Nachteil.

Seine Situation war eigentlich schon etwas sonderlich, man könnte sie als pervers bezeichnen, denn so wollte er sie. Zwar nicht ganz so, wie sie sich mit einer unkontrollierbaren Eigendynamik entwi­ckelte, vom Prin­zip her aber schon. Nun musste er damit leben, und mit seinen Besuchern. Eins hat­te er erreicht, es konnte nur noch besser werden und die Erfahrung lehrte ihn, dass dies mit sehr ho­her Wahrscheinlichkeit auch geschehen würde. Er musste im­mer wieder in seinem Leben ganz von unten neu beginnen, und verfolgte dabei die, in jeder menschlichen Existenz ein­gebundene Wellen­bewegung, von Erfolg und Misserfolg. Er hoffte zwar immer, dass die Welle des Erfolgs ihn an die Oberfläche spülte und er dort verweilen könnte, doch entweder war die Welle des zeitweiligen Erfol­ges zu schwach, oder er konnte oder wollte sich da oben nicht festhalten.

Nicht alles ist Gold, was glänzt. Manche Erfolge verlieren bei rückblickender Betrachtung schnell ih­ren Glanz, oder man schätzte oder achtete die Erfolge nicht, sei es willentlich oder unwis­send. Bei ihm war es ein Konglomerat aus all diesen Möglichkeiten. Er kostet es fast genüsslich aus, das Auf und Ab des Lebens. Nun wollte er diese, für ihn logisch richtigen Gesetzmäßigkeiten der Wechsel­wirkung von Misserfolg und Erfolg, für sich in Anspruch nehmen und in Konsequenz der Gegeben­heiten den Erfolg einfordern. Brechen mit all dem, was ihn ein Leben lang belastete, angefangen mit seinem Beruf, den er nie liebte, höchstens akzeptierte. Mit allem neu beginnen. Darin sah er die ein­zige Möglichkeit, und sei sie noch so riskant, auf eine gute, lebenswerte Zukunft.

2

„Können sie sich vorstellen, dass ihnen ihre Mutter oder ihr Vater den Beruf aussucht?“ Seine Mut­ter tat es, sie griff regulierend ein, um ihre Vorstellungen, was für den Sohn gut zu sein hat, um­zusetzen. Sein Wunsch, den Beruf eines Fein­mechaniker oder Uhrmacher zu erlernen, eliminierte sie in einer gemeinsamen Aktion mit einem „Berufsberater“. Sie fand nicht gut, was er wollte, warum auch immer, und der Berater vom Amt stellte sich hinter sie, es war wohl einfacher für ihn. Der klei­ne Stotterer hatte in diesem Büroraum der Berufsberatung nie eine Chance sich durchzusetzen. Die Ge­genseite verfügte über die besseren Argumente, er dagegen über fast gar keine, woher auch, er wollte es ja nur, eine unreife Spinnerei eben. Dagegen war das Ausbildungsangebot bei einer staatli­chen Be­hörde, das der Berufsberater präsentierte, krisensicher, auch für kleine Stotterer und analog potenti­elle Versager.

Keiner sprach es laut aus, doch irgendwie spürte er, was sie dachten. Weitere drei Jahre Berufs­fachschule für einen Beruf, bei dem ein Zitterer nach deren Meinung fehl am Platz war, das musste nicht sein. Dass der Beruf des Uhrmachers oder Feinmechanikers mit dem Beruf eines Bauzeichners gar nichts gemein hatte, fand in ihren Überlegungen keine Beachtung. So wurde binnen einer halben Stunde der kleine Loser umprogrammiert und fertig.

Etwas perplex und mit der Adresse der Behörde, wo er sich vorstellen sollte, ein paar guten Rat- schlägen für eine erfolgreiche Bewerbung und Vorstellung, sowie einer zufriedenen Mut­ter, troll­te er sich. Was da eben passiert war, begriff er in der Kürze der Zeit nicht so recht, er musste wohl ak­zeptieren, dass er doch am allerwenigsten zu wissen schi­en, was gut für ihn sei. Sie hatten ihn ein­fach überfahren, ihm wie Staubsaugervertreter ihre Vorstellungen von seiner Zukunft verkauft.

Damals war die Berufswahl noch etwas fürs ganze Leben, eine schwer revidierbare Entscheidung. Gesellschaftlich toleriert wurden nur berufliche Aufstiege oder krankheitsbedingte Umschulungen, ansonsten blieb man in der Regel seinem Beruf von der Wiege bis zur Bahre treu. Eine vage Hoff­nung, dass er seine Wünsche vielleicht nochmals ins Spiel bringen könnte, blieb ihm noch. Die, bei denen er sich bewerben sollte, könnten ihn ja nicht wollen. Diese Illusion erfüllte sich nicht. Bewer­bung, Vorstellungsgespräch, Lehrvertrag, problemloser könnte es wirklich nicht laufen. Hatte die Mutter einen Vertrag mit dem Teufel? Er fügte sich, was blieb ihm schon übrig?

Der einhellige Tenor, verwandter oder bekannter Mitmenschen war, was für ein Glück er doch hät­te. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemand fragte, was mit seinen Wünschen, die er in sei­nem überschaubaren, intimen Umfeld schon andeutete, geschehen war. So ganz unwohl fühlte er sich in Folge dann doch nicht, die permanente, lauwarme Berieselung mit den Vorzügen „seiner Be­rufswahl“, zeigte Wirkung. Er drehte sich in den Wind und ließ sich treiben. Es war nun keine richti­ge Niederlage mehr, er wandelte all das, was geschehen war, gedanklich einfach zu einem Erfolg um. Das machte in der unabänderlichen Situation mehr Sinn. Er hatte ja eine Stellung, um die man ihn beneidete.

Nun blendete er einfach alles aus, was dieses Gefühl des Erfolgs schmälern würde. Unbewusst be­griff er, dass alles eine Frage der Sichtweise ist. Vogelscheiße kann ja auch ein wertvoller Dünger sein, der tausende von Kilometer transportiert wird, um mit der richtigen Darstellung seiner Vorzü­ge teuer verkauft zu werden. Die Tatsache, dass Scheiße Scheiße bleibt, kann man getrost vernach­lässigen, wenn der Nutzen überwiegt. Er erfuhr nun eine gewisse Anerkennung, eine angenehme Er­fahrung. Es spielte nun letztendlich keine Rolle mehr, ob der Umstand willentlich herbeigeführt wurde oder nicht.

Er hatte keine konkrete Vorstellung von dem, was er lernen sollte, was er da zu tun hatte, bei die­ser Behörde. Technisches Zeichnen, Vermessen, sie hatten ihm einiges erklärt, er sagte brav „ja“ und begriff wenig. Fragen wollte er nicht viel, es dauerte immer noch sehr lange, bis er eine passen­de, aussprechbare Frage formulieren konnte. So wurde das Meiste, ohne es verstanden zu haben, ab­genickt. Wahrscheinlich dachten die, was für ein verständiger, kluger Junge er doch sei.

Er fühlte sich in einer Aufbruchsstimmung, das Ende der Kindheit deutete sich an. Weg aus der sti­ckigen Atmosphäre dieses dreitausend Seelen Dorfes, in das Leben der acht Kilometer entfernten Kreisstadt. Das war für ihn Zukunft, Hoffnung. Gefühle, überschwänglich, faszinierend neu, aufre­gend, ja fast euphorisch verdrängten die Resignation in seinen Empfindungen. Seine Fantasie trat über sämtliche Ufer der Realität. Was würde er alles erreichen können? Er sah sich schon auf höchs­ten Gipfeln gesellschaftlicher Stellung.

Träumen war doch so schön und behaglich. Gleichzeitig ruh­te und agierte er in seinen Träumen, un­willig, sie grundlos zu verlassen. Das reale Leben, unterkühlt, konsequent in seinem Ablauf, ver­langte nach diesem Gegenpol. Das frostig kalte Leben ängstigte ihn, hatte er doch in der Vergangen­heit nicht viel Gelegenheit, diese Realität unbeschwert zu leben. Sie hat ihn höchstens gelehrt, Nie­derlagen zu akzeptieren und zu verarbeiten. Darin hatte er ein ge­wisses Talent entwickelt, aber sonst? In seinen Träumen dagegen konnte er die Wirklichkeit so for­men, dass sie seinen Wünschen entsprach. Gott, war das schön!

Dummer Weise formte sich so ein Teil seiner Persönlichkeit in seiner Fantasie. Definiert er nun Per­sönlichkeit mit der Befähigung, das Leben auf Grund eigener Einsicht und Ent­scheidungen selbst­ständig zu bewältigen, so wird ihm das Absurde dieser Entwicklung erst richtig bewusst. Eine Per­sönlichkeit in der irrealen Welt von Himmelskuckucksheim geformt, soll im realen Leben beste­hen? Wie um alles in der Welt hat er es bis hier und heute geschafft? Es drängt ihn nicht weiter dar­über nachzudenken. Die Dimension dieser Aufgabe würde ein ernsthaftes Interesse und konsequen­tes Suchen nach einer Antwort voraussetzen. Zu mühevoll und zu riskant überlegt er und außerdem sollte man nur Fragen stellen, deren Beantwortung zu keinem ideellen Eklat führen, was hier kaum auszuschließen war.

Er sitzt auf seinem Stuhl, seinen Oberkörper wiegend, den Kopf gesenkt, und fragt sich, ob er die Geister, die er rief, auch beherrsche, oder ob ihm das Schicksal des Zauberlehrlings drohe? Nur, des­sen gutes Ende bedurfte eines Meisters, den er in seiner Abgeschiedenheit kaum finden wird. Et­was missmutig blickt er durch das verschlossene Fenster. Herrliches Wetter, ein paar silbergraue Wolken in langsamer Bewegung, blendender Sonnenschein, kurze Schatten der türkisgrünen Pflanz­tröge le­gen sich auf die Terrasse, es ist die Zeit inmitten des Sommers. Die Sonne zog sich kurz zu­rück, um nach wenigen Minuten mit neuer Energie die Luft wieder zu erhitzen. Das Wolkenspiel zeigt das Bild einer riesigen Gans mit prägnantem Kopf, der sich kurz, nachdem das Bild zu erfassen war, wieder auflöst, um mit einem neun Bild die Fantasie des Betrachters anzuregen. Die Wolken ziehen doch etwas zu eilig auf ihrem Weg, als dass er ihr schnell wechselndes Formenspiel auskosten kann.

Sein Blick fällt auf ein kleines, rotes, achtlos abgelegtes Buch: Erster Teil: Lautlehre, §1 Schrift und Aussprache. Das griechische Alphabet besteht aus folgenden 24 Buchstaben. Er überlegt kurz. Was hat ihn eigentlich dazu bewogen, sich dieses Buch anzutun? Wohl seinem erklärten Vorhaben fol­gend, auch Dinge zu tun, die keinen praktischen Nutzen haben, sie nur zu tun, weil sie ihn interes­sieren. Eine andere Möglichkeit der Erklärung gibt es wohl nicht.

Ob seine Handlungen in der Zeit vorher alle zielstrebig und folgerichtig waren, würde er rückbli­ckend stark bezweifeln. Was heißt überhaupt folgerichtig? Gibt es einen allgemein gültigen Maßstab für folgerichtig oder ist das immer individuell zu betrachten? Folgerichtig, das heißt dass sich eine Aktion, gleich welcher Art, in der Folge als richtig erweist oder wenigstens in einem pragmatischen Sinn sinnvoll war. Lässt man jedoch die Folge, die Abfolge des Lebens offen, so ist jede Handlung für sich richtig. Sie gibt dem Leben einer individuellen Existenz eine Abfolge vor. Reduziert man den Sinn einer individuellen Existenz auf die angenehme Gestaltung, Wohlstand und Gesundheit seines Verweilens hier, so gibt es natürlich Dinge, die folgerichtig und zielstrebig auf die Verwirkli­chung dieser Annehmlichkeiten ausgerichtet werden sollten.

Kann man solch profane Wünsche mit höheren ethischen Idealen ge­danklich verbinden, oder gar leben? Der unserem direkten Einfluss entzogene Lebensablauf, manipu­liert durch menschliche Be­gehrlichkeiten, Eitelkeiten und Dummheiten, in widersprüchlicher Ge­meinschaft mit objektiven Wahrheiten, ist das vorstellbar? Es ist nicht nur vorstellbar, es ist wohl die gelebte Realität. Hat er sich nicht oft selbst aus Begehrlichkeit in Situationen gebracht, die er moralisch ablehnte, jedoch we­gen eines persönlichen Nutzens billigte? Entscheidungen, die in ihrer Auswirkung seinen Lebenslauf entscheidend verändert hatten.

Gibt es überhaupt einen zielgerichte­ten Lebensfluss? Ist er nicht vielmehr eine zufällige, gar wirre Abfolge von guten, sowie schlechten Ereignissen? Sein neuer hoffnungsvoller Lebensabschnitt, schön gedacht, wirr verlaufend, war das Bestimmung oder selbst fabrizierter Unsinn? Bestimmung wäre schön, das könnte allem, was daraus entstehen würde, etwas Entschuldigendes verleihen, er könnte mit den Schultern zucken, die Mund­winkel ironisch verziehen und sich gelangweilt abwen­den.

Von solch destruktiven Überlegungen war er zu Beginn seiner Ausbildungszeit noch fast unbelastet. Er fühlte sich eigenartig beschwingt, sicher etwas ängstlich, an diesem ersten August auf dem Weg zur Bahnstation, um mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. Es fuhren nicht viele Menschen in Richtung dieser Stadt, in der vor allem Schulen und Behörden ihren Sitz hatten. Alle seine Mit­schüler, auch der größte Teil der Bevölkerung des Ortes, arbeiteten in einer entgegengesetzt liegen­den Stadt mit vielen Fabriken. Den direkten Weg über eine offene Tür neben dem Bahnhofgebäude, der direkt zu den Bahnsteigen führte, mied er und betrat das Bahnhofsgebäude durch den Haupteingang, ging durch die leere, dunkle Wartehalle und trat auf den Bahnsteig. Er war viel zu früh da, so hoffte er, der Erste zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen, keine neugierigen Blicken zu spüren, allein zu sein, allein mit seinen Vorstellungen und Träumen. Die Hoffnung trog.

Erstaunt, fast gar erschrocken, sah er zu seinem Missfallen ein Mädchen auf einem der schmutzig grauen Holzbänke sitzen, die entlang zu den Gleisen an der Wand des Bahnhofgebäudes standen. Ihr Gesicht, über ein Buch gebeugt, verbarg sich hinter einer üppigen Haarfülle von langen, braun gelockten Haaren. Er wollte sich gerade abwenden, in die Wartehalle gehen und der unerwarteten Si­tuation den Rücken kehren, da hob das Mädchen den Kopf und sah ihn an.

Ein vertrautes Gesicht, in das er blickte, eine der wenigen Erinnerungen, die keine bedrückenden Gefühle aufwühlten. Eine der er ersten und wenigen Begegnungen aus der Kindheit, deren er sich ohne düstere Empfindungen erinnern konnte. Doch im Moment wusste er jedoch nicht recht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sie schauten sich verlegen an, mehr als ein „Hallo“ brachten sie zuerst nicht über die Lippen.

Ganz vorsichtig, er war über alle Maßen unsi­cher, traute er sich dann, in ihre großen braunen Au­gen zu schauen. Sie kannten sich schon so lange, soweit seine Erinnerung reichte. Doch als sie vor Jahren die Schule wechselte und das Gymnasium besuchte, verloren sie sich aus den Augen, nicht abrupt, es ergab sich so mit der Zeit. Er schaute sie an, ihr Lächeln berührte ihn, sie war wunder­schön, so sah er sie noch nie. Einen, eine kleine Ewigkeit dauern­den Augenblick, blieb er noch stumm. Er spürte Schmetterlinge in seinem Bauch, die Beine wollten zu zittern beginnen, eine uner­wartete, wenig vertraute Regung.

Unbeholfen taumelnd, im Wirr­warr dieses seltsamen Gefühls, verstand er aber nicht recht, was da mit ihm passierte. Er, dessen höchstes Glück bisher darin bestand, nicht unglücklich zu sein, ver­spürte ein mächtiges Gefühl, das ihm das Herz sprengen wollte. Solche Gefühle passten doch über­haupt nicht in seinen imaginären Tagesplan und auch nicht zu ihm. Er stemmte sich mit aller Macht gegen die­se Eruption seltsamer Emotionen. Wie dumm er damals war! Dieses Verhalten würde er nach Jahren noch bitter bereuen. Doch, das war an diesem Tag in weiter Ferne.

Die beiden fanden ihre Sprache wieder und redeten dann allerlei belangloses Zeug. Alsbald dräng­ten sich bei ihm wieder die Gedanken, die schon Wochen um diesen Tag kreisten, in den Vorder­grund. Er begann heute seine Ausbildung und er wusste bei Gott nicht, was ihn da erwartete. Das Mädchen verunsicherte ihn, auch sie erinnerte ihn an die Zeit, die er am liebsten vergessen, aber si­cher heute beenden wollte. Der Zug kam, sie stiegen ein und fuhren in die Stadt. Kurz bevor er mit mulmigem Gefühl vor dem Gebäude dieser Behörde stand und sich bewusst wurde, dass er da jetzt hinein gehen musste, trennten sie sich.

Ein schmuckloser moderner Bau, einfachster zweckmäßiger Architektur, mit einem enorm großen Trep­penhaus und langen, dunklen Fluren. Er fand sich kurz darauf etwas verloren und unsicher, in dem direkt neben dem Aufzug liegenden Geschäftszimmer wieder. Neu­gierig und abschätzend von zwei Damen des Sekretariats begrüßt, wartete er nun auf die Dinge, die da kommen würden. Die Euphorie der vergangenen Tage wich zusehends einer bangen Unsicherheit. Ob er da wohl bestehen konnte?

Die Türe ging auf und ein respekteinflößender Mann, groß und wohlbeleibt, mit Halbglatze und fester Stimme stand vor ihm. Er erschrak, duckte sich innerlich und schrumpfte nun ganz auf das Normalmaß eines Lehrlings zusammen. Träume ade! Recht unsanft schlug er in der Realität als un­wissender, unbedeutender kleiner Azubi auf.

Sein Ausbilder erwies sich in der folgenden Zeit als Segen und Fluch zu­gleich. Unter seinen Fitti­chen befand er sich im Gefüge dieser Behörde an einem sicheren Ort. Er war nun sein Lehrling und dieser Mann wurde allseits respektiert. Korrekt vom Scheitel bis zur Sohle, ein ehemaliger Offizier der Wehrmacht, der keine Schwächen und Blößen erkennen ließ, und auch nicht sehr viel Verständnis für die Schwächen anderer aufbrachte. Der Junge verstand schnell, er war durch die jahrelange Sprachlosigkeit ein guter Zuhörer und Beobach­ter geworden, analysierte seine Lage und passte sich an.

Es war ja nicht von Nachteil für ihn, was ihm deutlich bewusst wurde, als zwei ältere Auszubil­dende ihn zum Einkaufen für ihre Mittagspau­se schicken wollten. Der Alte, der zufällig dazukam, kürzte sie binnen ein paar Augenblicken auf eine übersehbare Größe. Nie wieder hat sich jemand er­dreistet, ohne ausdrückliche Erlaubnis seines Ausbilders, ihn mit irgendeiner Aufgabe zu betrauen. Verglichen mit seiner Schul­zeit fühlte er sich hier wie in einem Schutzgebiet für noch nicht gänzlich lebenstüchtige Heranwach­sende.

Die ersten Wochen verliefen angenehm ruhig und waren doch aufregend und interessant. Keine Gedan­ken mehr, dass er einmal, in vergangener Zeit, diesen Beruf gar nicht wollte. Er ging in der Gleich­mäßigkeit der Tage auf, er genoss sie. Keine Hänseleien, kein Spott. Nur die tägliche Anspan­nung, jeglichen Fehler zu vermeiden, lastete noch auf seiner Seele. Welch ein Unterschied, diese Be­freiung von den meisten Dingen, die ihm bisher so viel Kummer bereiteten; ganz langsam aber stetig wurde ihm leichter ums Herz.

Dann fiel ihm etwas Unglaubliches an sich auf. Er konnte öfter spre­chen ohne zu stottern, sicher nicht in jeder Situation, aber doch wenigstens in manchem Ein­zelgespräch. Unfassbar, nach einer Ewigkeit der gefühlten Sprachlosigkeit endlich sprechen zu kön­nen. Er konnte sich einbringen, sich bemerkbar machen, oder wenigstens ohne diese lähmende Furcht eine Frage beantworten. Diese Annahmen bewahrheiteten sich im Laufe der Zeit leider nur teilweise. Ja, er konnte Fragen beant­worten, wenn er nicht aufgeregt war, ja, er konnte sich unterhal­ten, doch war es am besten, wenn er mit seinem Gegenüber alleine war. Er konnte sich aber nur schwer an Gesprächen beteiligen, an de­nen noch andere mitwirkten, das hatte er nie gelernt.

Hier zeigte sich wieder seine Angst, unangenehm aufzufallen, sei es durch Unwissen, durch stot­tern, oder einfach durch die Unfähigkeit, zwanglos zu plaudern. Doch es genügte ihm fürs Erste. Wieder ein Schritt die Treppe hoch und seien es vorerst nur die Stufen der Kellertreppe. Es bewegte sich etwas. Die Statik seiner unseligen Kindheit geriet aus dem Gleich­gewicht, seine Entwicklung machte einen Schritt nach vorne. Ein Gefühl von realem, praktischem Selbstvertrauen regte sich in ihm. Das aus Träumen und Phantasien konstruierte Selbstverständnis bekam ein etwas stützendes Gerüst, wenn auch das Fundament noch auf keinen tragfähigen Grund stand.

Hatte ihn etwa dieser ehemalige Wehrmachtsoffizier, sein Ausbilder, korrekt, gradlinig, etwas ego­zentrisch, auf diesen Weg gebracht? Wenn diese Entwicklung von menschlicher Hand beeinflusst wurde, dann von ihm, der Bezugsperson in dieser Zeit. Er respektierte diesen Mann, er achte­te ihn, seine Persönlichkeit, sein Auftreten, er war ein Vorbild an dem er sich orientieren konnte.

Ob das Vorbild in all seinen Facetten seinem Ideal entsprach, war zu Beginn dieser Beziehung nicht von großer Bedeutung. Viele lebende Vorbilder und Ideale hatte er noch nicht kennen gelernt. Irgendwie tat er ihm gut, dieses Prachtbild eines Beamten, der immer pünktlich auf die Minute den Dienst antrat und beendete, ohne dienstliche Erfordernisse keine unnötigen privaten Plauderstünd­chen im Amt einlegte, irgendwie war er aus einer anderen Zeit übrig geblieben.

Er bildete ihn gut aus und lehrte ihn alles, was zur Ausübung des Berufs nötig war. Auch vergaß er nie, sein besonderes Kön­nen, seine beruflichen Glanzpunkte zu erwähnen. Hier war er eine Prima­donna, eitel und süchtig nach Anerkennung und Applaus. Es musste kein erlesenes Publikum sein, das ihn hochleben ließ, auch einfache Messgehilfen oder Stammtischbrüder jeglicher Art waren ihm genehm und natürlich auch die Bewunderung seines Lehrlings.

Während die Demonstration seiner intellektuellen und fachlichen Überlegenheit teils bewundernd aufgenommen wurde, führte die Präsentation des felderprobten Soldaten manches Mal zu schmerz­haften Erfahrung des Lehrlings. Die in der freien Natur zu erledigenden Arbeiten wurden in der Re­gel in den Wintermonaten ausgeführt. Vermessen von landwirtschaftlichen Wegen und Wasserläu­fen. Schöne Arbeiten in reizvoller Landschaft könnte man meinen, wenn in dieser Jahreszeit die Temperaturen nicht so weit außerhalb eines gewissen Wohlfühlbereiches liegen würden. Kommt dann noch romantischer Schneefall und kalter Wind hinzu, ist das klimatische Horrorszenario per­fekt.

Bei normal gearteten Beamten, dem Rest der Belegschaft, waren Witterungsbedingungen dieser Art ein willkommener Grund, entweder früher nach Hause zu fahren oder den Tag gemütlich in ir­gendeiner abgelegenen Gaststätte zu verbringen. Von solchem Verhalten war der Vorzeigebeamte weit entfernt, es war für ihn gar verachtungswürdig. So eine Schwäche würde er nie zeigen und sein Lehrling durfte, natürlich ungefragt, an dieser Einstellung teilhaben.

Er, der fünfzehnjährige Hungerhaken, ein Strich in der Landschaft, eingehüllt in einen zu großen Bundeswehrparka, musste an solchen Tagen die gesamten acht Arbeitsstunden im Freien verbringen. Nach zwei, drei Stunden fühlten sich die Füße so kalt an, dass sie wie leblose, abgestorbene Glieder in den Schuhen steckten und so unwirklich fühlte sich dann auch jeder Schritt an. Ein Körper, der sich an den eigenen, ununterbrochenen Zitterbewegungen erlebte. Hände so kalt und schmerzend, dass sie das Schreibgerät kaum halten konnten. Eigenartig unempfindlich gegen derartige Widernis­se, stand sein Chef mit geschwellter Brust den ganzen Tag neben ihm, und überwachte mit Argus­augen seine Arbeit.

Seine Verzweiflung nahm manches Mal Dimensionen an, die nahe bei Suizidgedanken lagen. Stun­den können lang sein, wenn man die Minuten zählt und diese noch in gezählte Sekunden gliedert. Sehr lang, wenn ei­nem die Kälte jede Minute, ja jede Sekunde, körperliche Schmerzen bereitet. Die Art der Tätigkeit ließ nur gelegentliche Bewegung zu, zu wenig, um sich zu erwärmen und diese Iko­ne von einem wetterharten, strammen Soldaten stand wie sein eigenes Denkmal an seiner Seite, un­erbittlich in dem Vorhaben, die vorgenommene Ar­beit zu Ende zu bringen. Seit diesen prägenden Erlebnissen pflegt er ein gestörtes Verhältnis zu der Jahreszeit, die ihn in diese Bredouille brachte. Doch seltsamer Weise war er damals stolz nach geta­ner Arbeit, nach überwundenem Leiden, er hatte seinen Mann gestanden. Ein paar anerkennende Worte und alles Leiden war vergessen.

Was war er doch für ein Kerl, verglichen mit seinen, in den warmen Fabriken und Büros arbeiten­den, ehemaligen Mitschülern. Sein Ego dankte ihm jede Auf­wertung, jede sich bietende, wenn noch so kleine, aufwertende Besonderheit. Sie richtete ihn in­nerlich wieder ein Stückchen mehr auf. Er meinte, sich dem gedachten Ideal zu nähern, der Person, die er sein wollte, stark, erfolgreich, gut und edel. Er, eben ein Träumer mit fließenden Grenzen zum realen Leben.

Eine der Besonderheiten einer Lehre bei einer technischen Behörde war die, dass die schulische Ausbildung der Lehrlinge des ganzen Landes zusammengefasst war. Die Bildungsstätte, in der dies stattfand, lag je­doch nicht in unmittelbarer Nähe, sondern in der einhundert Kilometer entfernten Landeshaupt­stadt. Ein ideeller Quantensprung, diese Möglichkeit, dazu noch zwingend vorgegeben, in dieser Stadt wochenweise zu leben und zu wohnen. Weg von zu Hause, weg aus dem Zwang der sich täglich wiederholenden Rituale zu Hause, denen er sich nicht gänzlich entziehen konnte. Zu die­ser Zeit wuchs sein Verlangen immens, die Vergangenheit aus seinem neuen Leben zu drängen. Sie war ihm lästig, doch klebte sie wie eine Klette an ihm, ein Gefühl, das er insbesondere zu Hause empfand.

Diese Vergangenheit störte die neue Konstruktion, das neue Bild, das er von sich kreiert hatte. Eine gewisse Arroganz kam auf. Seine Unsicherheit, so ganz glaubte er noch nicht an sich, überspiel­te er mit einem introvertierten Verhalten. Eine Distanz zu seiner Um­gebung zu schaffen war dabei nicht seine Absicht, er wollte nur den schützenden Effekt eines sol­chen Verhaltens für sich in An­spruch nehmen. Es drängte ihn, sich auf irgendeine Art neu zu positionieren oder vielleicht auch sich, seine Legende, neu zu erschaffen und dazu brauchte er die Freiheit einer neuen Umgebung, neue Menschen, einen Neubeginn ohne die Altlasten der Ver­gangenheit. Die Umstände meinten es nun gut mit ihm, sie zwangen ihn geradezu, das zu tun, was er aus eigenem Antrieb zu dieser Zeit wohl nicht getan hätte, wegzugehen.

An einem Morgen, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, zog er dann für mehrere Wo­chen in die Großstadt. Untergebracht in einem Lehrlingsheim, einer karitativen Organisation christli­cher Prägung, stand er da in der großen Stadt. Vor ihm türmte sich ein Berg von zwar eher kleinen Pro­blemen auf. Die Sorge, wie er diese lösen könnte, war dagegen umso größer. Welche Straßenbahnli­nie verbindet das Heim mit der Schule? Was kostet das? Wie bekomme ich eine Fahrkarte? Wann muss ich losfahren, um nicht zu spät zu kommen? Wie würde er ankommen bei den Mitschü­lern und den neuen Lehrern?

Sein Denken erinnerte sich an das Empfinden der Kindheit. Unangenehme, verdrängte Erinnerun­gen zerrten an seinem, noch sehr labilem, Selbstverständnis. Kur­zerhand verwehrte er ihnen jedoch den Zutritt in die Illusionen seiner mühsam aufgebauten, subjek­tiven, doch leidlich lebbaren Welt. Es gab sowieso keine Möglichkeit eines Rückzuges mehr, auch wenn er ihn in einem Anflug von aufkommender Panik, kurz konkret andachte.

Eine unerträgliche Anspannung lähmte ihn fast, als er den Hof der Schule betrat. In diesem Au­genblick glaubte er, die Kontrolle über sein Denken und Handeln zu verlieren. Wie eine riesige Wel­le schwappte mühsam Verdrängtes wieder hoch und begrub sein neues Selbstverständnis unter sich. Weg war die Aufbruchsstimmung, die Euphorie, sein neues Lebensgefühl der letzten Monate. Er fühlte sich wie­der als der kleine, abgelehnte Stotterer, der er einmal war.

Unsicher blickte er um sich. Standen vielleicht schon Mitschüler da, die ihn kritisch beobachteten und ihm seine Schwächen ansahen? Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen, die Heftigkeit dieser Gefühle war niederschmetternd. Er wollte raus aus dieser Situation, doch wie? Er konnte nur da­vonlaufen. Nur wohin sollte er laufen, wie sollte er sich dann erklären, zu Hause, im Amt? Da musste er wohl weiter gehen, wenn seine Zukunft nicht abrupt enden sollte. Er weiß nicht mehr, wie die nächsten Minuten vergingen, wie er das Klassenzimmer fand, auf einem der hinteren Bänke Platz nahm und mit düsteren Gedanken der Dinge harrte, die nun kommen würden.

Ein Lehrer betrat den, seinen Gedanken ähnlich, düster wirkenden Raum, schaute sogleich auf die in den hinteren Bänken sitzenden Schüler. „Meine Damen, meine Herren, setzen sie sich doch etwas vor, besetzen sie bitte auch die ersten Reihen“. Er fühlte sich nicht angesprochen, so wenig wie die anderen Hinterbänkler auch. Folglich wurden sie alle in die erste Reihe zwangsversetzt. Eine Situati­on, die er eigentlich unbedingt vermeiden wollte, die aber in der Gemeinschaft der anderen doch ganz erträglich schien. Vor allem war er dadurch, ohne eigenes Zutun, mit einer Gruppe verbunden, was seine Stimmung sehr anhob. So sehr, dass er sich danach recht lässig in der ersten Bank lümmel­te und mit ansteigender Zuversicht gelang­weilt den Ausführungen des Lehrers lauschte.

Es ging alles gut. Aufatmend, erleichtert verließ er das Schulgebäude. Für den Augenblick bekam alles seine gewohnte Zuordnung wieder. Er konnte durchatmen und es schien so, dass er sogar in der realen Gegenwart eine Nische finden könnte.

Zwei Mitschüler wohnten im gleichen Heim wie er und damit war er ein Teil dieser Zweckgemein­schaft. Sie bot ihm eine gewisse Sicher­heit in dieser neuen Umgebung, ohne dass er einer eingefahre­nen Hierarchie, bei der er meist am unteren Ende seinen Platz fand, unterworfen war. Sie beschlos­sen, einmal aufs Geratewohl in die Stadt zu fahren, man würde dann schon sehen. Markanter Punkt, oder das Herz fast einer jeden Stadt, ist ihr Bahnhof, meist zentral in der Mitte gelegen. Es lässt sich kaum vermeiden, sich früher oder später dort einzufinden, da, wo Tausende von Menschen ihre Rei­se, ihre Fahrt beenden oder be­ginnen.

Das Gebäude war groß und mindestens so hässlich, graubraun, mit gewaltig hohen Hallen. Ver­zerrte Stimmen aus den Lautsprechern durchdrangen nur undeutlich das Stimmengewirr der Masse von Menschen. Dieser Ort lebte, faszinierte die Buben. Einmal die Hallen durchlaufen, betont lässig, sichtlich uninteressiert am Geschehen... ein Höhepunkt für die Neuen aus der Provinz.

Das Knurren des Magens, das sich nach ein paar Stunden ohne Nahrung bemerkbar machte, still­ten sie mit einer Currywurst aus einer dieser schmuddeligen Imbissstände, die sich entlang der Ein- und Ausgänge wie Perlen aufreihten. Er meint heute noch, dass er nie wieder eine Bessere gegessen habe. So standen sie da, aßen und redeten miteinander. Eigentlich waren sie grundverschieden, doch das war nicht von Bedeutung, es belastete sie keine gemeinsame Vergangenheit. Es lief wieder gut für ihn. Die Panik des Vormittags war verges­sen, es war so, als hätte es sie nie gegeben.