Mensch-Gemacht -  - E-Book

Mensch-Gemacht E-Book

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Beschreibung

Buchdruck, Elektrizität, Computer - bahnbrechende Erfindungen die unsere Welt geprägt haben. Doch so segensreich der Fortschritt ist, so sehr bedroht er auch unsere Existenz. Nur mit nachhaltigen Technologien, können wir Technik und Natur in Einklang bringen und im Gleichgewicht miteinander leben. "Mensch-Gemacht" ist eine Anthologie über Mensch, Natur und Technik. Lasst euch in andere Welten entführen. Begegnet außer Kontrolle geratenen Haushaltsgeräten, echter künstlicher Intelligenz, Automatisierung bis zur Perfektion, humanoiden Robotern, Zeitreisen, atemberaubender Prothetik, Virtual Reality und dem "gemachten" Menschen der Zukunft. 22 talentierte Autor*innen laden euch ein, ihre Geschichten zu entdecken. Lest von den Chancen und Gefahren, die der technologische Fortschritt mit sich bringt. Lasst euch von ihren Figuren zum Lachen und Weinen bringen und begebt euch mit ihnen auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Autor*innen und Geschichten: Lucia Herbst - Pflichten Leona Bolt - Der große Schabernack Dani Aquitaine - Otter, Bug und Beee Tea Loewe - Drohnenflug Felix Hummel - Kein Frühstück in Torus-1 Franziska Bauer - Belladona Heidi Wagemann - Tief im Innern E. B. Branger - Lizenz für Arme Katja Jansen - Homo optimus K. Y. Fonding - Die Fremde Lena Hepting - Hoffnung in Kristallgläsern Lucas Snowhite - Schmutzige Hände Elenor Rabenheim - Projekt Wiedergeburt Michael Sperling - Familie 2.0 Nob Shepherd - Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft Pia Kneiphof - Wo uns niemand sieht, wo uns niemand hört, wo niemand ist Sabrina Sandig - Morgen, Gestern, Heute Sara G. Haus - Goldstandard Sebastian Steffens - Optimized Sophie Solchenbach - Autopilot Stefan Wetterau - Aus dem Kopf Valentin Hahn - Sehnsucht

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Seitenzahl: 345

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Mensch-Gemacht

Diese Anthologie wird im Rahmen des ehrenamtlichen Engagements bei den Münchner Schreiberlinge e.V. veröffentlicht. Mensch-Gemacht handelt von Mensch, Natur und Technik. Sie entführt euch in andere Welten. Begegnet außer Kontrolle geratenen Haushaltsgeräten, echter künstlicher Intelligenz, Automatisierung bis zur Perfektion, humanoiden Robotern, Zeitreisen, atemberaubender Prothetik, Virtual Reality und dem ›gemachten‹ Menschen der Zukunft. Die Herausgebenden suchten die 22 Geschichten mit viel Liebe aus und wünschen allen Leserinnen aufregendes Lesevergnügen. Alle Einkünfte gehen an den gemeinnützigen Verein.

Die Münchner Schreiberlinge e. V. sind ein Verein von engagierten, aufgeschlossenen Autor*innen.

Kennengelernt haben wir uns in suhreib-Kurseen, Leseirundebn, Buch-veranstaltungen und treffen uns seit Anfang 2017 regelmäßig einmal die Woche zum gemeinsamen Austausch, Schreiben und Lesen.

Einige von uns haben bereits Bücher veröffentlicht, andere schreiben nur für sich und genauso vielfältig wie wir sind auch unsere Texte und Genres.

Mehr zu uns und unseren Aktivitäten findest du in den Social Media.

Hast du einen Bezugzu München und möchtest dich uns anschließen oder uns unterstützen? Hier findest du alle Informationen zu unserem Verein:

www.muenchner-schreiberlinge.de

Dieses Buch enthält Inhaltshinweise / Content Notes auf der letzten Seite gegenüber der Deckel-Innenseite. Siehe auch:www.muenchner-schreiberlinge.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Leona Bolt

Der große Schabernack

Michael Sperling

Im Kreis der Familie

Lena Hepting

Hoffnung in Kristallgläsern

Valentin Hahn

Sehnsucht

Lucia Herbst

Pflichten

K. Y Fonding

Die Fremde

Franziska Bauer

Belladonna

Felix M. Hummel

Kein Frühstück in Torus-1

Dani Aquitaine

Otter, Bug und Beee

Tea Loewe

Drohnenflug

Katja Jansen

Homo optimus

Lucas Snowhite

Schmutzige Hände

Elenor Rabenheim

Projekt Wiedergeburt

Sara G. Haus

Goldstandard

Heidi Wagemann

Tief im Innern

Pia Kneiphof

Wo uns niemand sieht, wo uns niemand hört, wo niemand ist

E. B. Branger

Lizenz für Arme

Nob Shepherd

Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft

Sabrina Sandig

Morgen, Gestern, Heute

Sebastian Steffens

Optimized

Stefan Wetterau

Aus dem Kopf

Sophie Solchenbach

Autopilot

Danksagung

Die Autor* innen

Inhaltshinweise/ Content Notes

Vorwort

Liebe Lesende,

technische Innovationen haben in der Vergangenheit die Welt verändert. Vom Buchdruck über die Dampfmaschine bis hin zur Elektrizität, die Erfindungen wie den Computer oder das Smartphone erst möglich gemacht hat. Wir sind Zeug*innen, wie die nächste Innovation Weltgeschichte schreibt. ChatGPT hat das Thema Künstliche Intelligenz (KI) 2023 in den Fokus gerückt. Wie spannend es ist, diese rasante Entwicklung mitzuerleben und wohin unsere Reise gehen könnte, wird in vielen Geschichten dieses Sammelbandes aufgegriffen. »Mensch und Technik« ist unser zentrales Thema.

Aus 174 Einsendungen zum Thema »Mensch Gemacht« haben wir eine Auswahl getroffen und präsentieren stolz die 22 besten Geschichten in dieser Anthologie. Hinter den Geschichten stehen echte Menschen, die das Thema mit ihrer Kreativität gefüllt haben.

Um die Interaktion von Mensch und Technik darüber hinaus aufzugreifen, haben wir als Herausgebende jede Geschichte mit einer Illustration ergänzt. Dabei haben wir auf aktuelle Möglichkeiten der generativen KI zurückgegriffen. Es ist uns wichtig, den Prozess transparent darzustellen, da wir uns der kontroversen Diskussion bewusst sind.

Wir haben das Bildprogramm MidJourney für einzelne Bildelemente des Covers und als Grundlage für die Illustrationen verwendet. Insgesamt generierten wir 4288 Bilder und investierten ca. 160 Arbeitsstunden in die Erstellung und Nachbearbeitung in Photoshop, bis wir diese 21 Illustrationen präsentieren konnten. In unseren Augen haben wir damit den Kern dieser Anthologie getroffen: die Interaktion von Mensch und Technik.

Alle fertigen Bilder haben wir zusätzlich mit https://haveibeentrained.com/, der »Google Reverse Image Search« und »Google Lens« überprüft, um möglichst keine Urheberrechte zu verletzen. Ebenso wurde bei der Formulierung der Prompts darauf verzichtet, den Stil bestimmter Künstlerinnen nachzuahmen.

KI ist eine Technologie mit großem Potenzial, birgt aber Risiken für uns als Gesellschaft. Derzeit ist KI (noch) ein mathematischer Algorithmus, der nicht von selbst Kunst schafft oder Bücher schreibt. Es liegt also an uns, einen bewussten Umgang mit diesem Werkzeug zu finden, die Leistung anderer wertzuschätzen und uns nicht gegenseitig auszubeuten.

Die einzelnen Illustrationen sollen das Buch auflockern und die Geschichten schmücken. Das Kernstück der Anthologie bleiben die großartigen Geschichten von echten Menschen. Unsere Entscheidung, die Illustrationen zu verwenden, spiegelt in keiner Weise die persönliche Meinung der einzelnen Autorinnen zur KI-Thematik wider. Wir sind ihnen dankbar, dass sie an diesem gemeinnützigen Projekt mitgewirkt haben.

Derzeit ist der Umgang mit Kl-generierten Inhalten nicht geregelt und der europäische Ansatz stößt gerade bei uns Kreativen auf viel Kritik. Es braucht einen fairen rechtlichen Rahmen zum Umgang mit KI.

Ein guter erster Schritt wäre aus unserer Sicht, die Unternehmen zur Offenlegung der Trainingsdaten zu verpflichten und die Menschen zu zeigen, deren Kreativität diese technische Entwicklung erst möglich gemacht hat. Darüber hinaus sollten Kl-generierte »Produkte« entsprechend gekennzeichnet werden, damit Konsument*innen die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob sie diese kaufen möchten.

Als Münchner Schreiberlinge e.V. heißen wir alle Autorinnen offen willkommen. Wir sind inklusiv und divers. Die aktuelle Debatte über generative KI zur Erstellung von Texten, Bildern und anderen Produkten betrifft uns! Wir möchten respektvoll,sachlich und offen darüber diskutieren. Vereinsintern einigten wir uns, keine weiteren Anthologien mit KI-unterstützten Inhalten zu veröffentlichen, bis der rechtliche Rahmen geschaffen wurde. Diese Anthologie dringt bewusst in dieses kontroverse Feld vor, denn es geht um die Interaktion von Mensch und Technik und es braucht jede Stimme bis wir, als Gesellschaft, uns auf den Umgang mit dieser neuen Technologie geeinigt haben.

Die Erlöse dieser Anthologie spenden wir an eine Organisation, die sich für die Verwirklichung des EU AI Acts einsetzt. Damit wollen wir erreichen, dass die Verwendung von KI zukünftig innerhalb von fairen Regeln erfolgen kann.

Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

Sara und Lucas

Leona Bolt

DER GROßE SCHABERNACK

Ich hätte dieses Nickerchen nicht machen dürfen. Normalerweise bin ich nicht der Typ dafür, tagsüber zu schlafen, aber die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Und als die Sonntagnachmittagssonne dann genau auf mein kleines grünes Sofa schien, war die Versuchung zu groß. Doch wenn ich geahnt hätte, dass der kleine Mistkerl ausbüxt, hätte ich es mir verkniffen und bis zum Abend gewartet.

Ich war ja selbst schuld - immerhin hatte ich den kleinen Roboter so programmiert, dass er auf Unfug ausgerichtet war. Nur über die potenziellen Ausmaße dieses Unfugs war ich mir nicht im Klaren gewesen. Alles, was ich wollte, war ein kleiner Quatschkopf, der mir Gesellschaft leistete, damit meine Abende nicht so langweilig blieben und mein Leben nicht so vorhersehbar war.

Mein klingelndes Handy weckte mich, und noch im Halbschlaf ging ich dran.

»Ruth!« Meine Mutter klang aufgeregt. »Hast du mitbekommen, was gerade in München passiert?«

Ich seufzte und setzte mich auf. »Mama, München ist groß. Ich bekomme nicht alles mit, was hier los ist.«

»Aber das hier ist genau was für dich.«

Sie hatte nie verstanden, was genau es war, das ich beruflich tat. Programmiererin war nicht greifbar - sie wusste nur, dass ich mit Computern zu tun hatte, und so glaubte sie, dass alles, was nur im Entferntesten mit Technologie in Berührung kam, für mich von Interesse sein musste. Und ich liebte Technik, ja, unbedingt - ich liebte es, meinen Alltag unterhaltsamer zu machen. In meinem winzigen Bad hatte ich Lautsprecher mit einem MP3-Player verbunden und ihn so programmiert, dass automatisch das Lied gewechselt wurde, wenn mein Mitsingen allzu schief wurde. Meine Spülmaschine pfiff das Lied vom Tod, wenn sie fertig gespült hatte. Aber was meine Mutter unter Technik verstand, war dann oft noch mal etwas ganz anderes.

»Die ganze Stadt spielt verrückt!«, sagte sie nun. »Das Glockenspiel hat mittags eine unbekannte Melodie gespielt, und die Ansagen in der U-Bahn sind alle in Reimform und schicken die Leute in die falschen Richtungen. Im Radio haben sie gesagt, es ist, als ob ein Pumuckl am Werk wäre!«

Schlagartig war ich wach. »Ein was?«

»Ein Pumuckl, Spatz, weißt du nicht mehr? Ein kleiner Kobold, der immer gern -«

Weiter kam sie nicht, denn ich sprang mit einem entsetzten Laut auf. Scheiße. Scheiße!

»Okay, danke, Mama, das klingt... interessant«, brachte ich heraus. »Danke fürs Bescheidsagen. Ich muss los, ja? Bis bald, hab dich lieb!« Ich legte auf und starrte suchend um mich.

»Pumu!« rief ich. Er war ein Prototyp und nicht ausgereift, aber auf Sprache hatte er bisher immer gut reagiert, mein Persönlicher Unruhestifter aus dem Münchner Untergrund. Doch meine kleine Maxvorstädter Wohnung blieb still, und ich fluchte vor mich hin. Ich war sicher, dass ich alle Fenster und Türen geschlossen hatte, denn so schön die Sonne durchs Fenster schien - warm war dieser Apriltag nicht. Trotzdem sah ich nach, und tatsächlich stand das Fenster in der Küche einen Spaltbreit offen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das hatte er doch nicht selbst gemacht?

»Pumu!« Ein verzweifelter Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen. Er konnte doch nicht weg sein! Der kleine Roboter war eine Spielerei - ein Versuch, wie weit ich mit meinen Programmierkünsten und ein wenig Bastelei kommen konnte. Eine künstliche Intelligenz in einem kleinen, koboldgroßen Roboterkörper, darauf trainiert, Schalk im Nacken und Lust an Gedichten zu haben. Hin und wieder hatte er mir schon eine Gabel versteckt oder die Sprache meiner Laptoptastatur auf Spanisch umgestellt, was mich zufrieden hatte kichern lassen. Aber die U-Bahn-Ansagen verändern? Konnte er das?

Und wenn ja, was um alles in der Welt hatte ihn da geritten? Was hatte mich geritten, bei einer solchen Programmierung keine Sicherheiten einzubauen, die verhinderten, dass er ein zu großes Eigenleben entwickelte?

Mist, Mist, Mist. Ich musste ihn finden. Jetzt. Schnell sah ich an mir herab. Leggings und Hoodie, die braunen Haare im unordentlichen Dutt aufgetürmt - das musste reichen. Schnell schnappte ich mir Schlüssel und Handy, stopfte beides in die Bauchtasche des Hoodies und lief die vier Stockwerke nach unten.

Wo sollte ich anfangen? Er war ein so kleiner Kobold - Roboter, meinte ich natürlich, auch wenn ich ihn immer Kobold nannte - er war quasi unsichtbar in einer so großen Stadt wie München. Okay, Ruth, bleib ruhig. Tief durchatmen. Du kannst logisch denken, also geh logisch an die Sache ran.

Was wäre der beste Ansatzpunkt? Die U-Bahn-Verwaltung? Gab es das überhaupt? Wo wurden die Ansagen aufgenommen?

Während ich unentschlossen vor meinem Haus stand und mich umsah, fuhr ein Staubsaugerroboter an mir vorbei. Ich blinzelte verwirrt und sah ihm hinterher. Zuerst dachte ich, mich zu täuschen, aber die flache runde Form war unverkennbar. Er schien nicht zu saugen, sondern ein Ziel zu verfolgen. Beinahe so, als hätte er einen Plan. War das neu? Hatte die Stadtverwaltung jetzt modernisiert?

»Egon!«, rief jemand hinter mir, und ein Mann etwa in meinem Alter kam aus einem Haus gestürzt. Er hatte dunkle, leicht verwuschelte Haare und trug Jogginghose und eine dezente Brille. »Bleibst du wohl stehen, du Drecksding!« Er rannte an mir vorbei, dem Staubsauger hinterher, und ich begriff, dass das hier keine offizielle Anwendung der Stadt München war. Sondern ein Problem, das mit großer Wahrscheinlichkeit ich verursacht hatte. Scheiße.

»Egon! Verdammt!« Der Mann lief aus und blieb keuchend stehen, während der Staubsauger mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhr, die Straße überquerte und bald außer Sichtweite war.

»Das, äh - das ist deiner?«, fragte ich und zeigte mit dem Finger in die Richtung, in die Egon verschwunden war.

Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, sodass sie ihm wirr vom Kopf abstanden. »Ja. Verdammt.« Das konnte er laut sagen. »Ich wohne im dritten Stock! Ich habe nur dem Paketboten aufgemacht, und plötzlich ist er abgehauen. Hat sich die Treppe runtergestürzt, so schnell konnte ich gar nicht gucken.«

»Ah«, machte ich und biss mir auf die Unterlippe. »Sony.«

Er seufzte und schob sich die Brille auf der Nase nach oben. »Kannst du ja nix für. Ist deiner auch abgehauen?«

Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Bisher war Pumu mein Geheimnis gewesen, doch bisher hatte er auch nicht das Leben anderer Leute beeinflusst. Das schlechte Gewissen bohrte tief in meinem Magen. »Tja ... nicht direkt.« Die Häuser um uns blockierten die Sonne, und im Schatten, in dem wir standen, war es merklich kühl. Ein leichter Wind blies mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Entnervt strich ich sie wieder hinters Ohr. »Ich glaube, ehrlich gesagt, ich bin schuld an deinem Egon.«

Das brachte ihn zum Lachen. Sein bisher so düsteres Gesicht hellte sich auf, und plötzlich sah er richtig süß aus. Innerlich verdrehte ich die Augen über diesen Gedanken. Nicht das Thema gerade, Ruth!

»Das kann ich mir schwer vorstellen«, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf. »Das verdammte Mistding.«

»Gibst du allen deinen Elektrogeräten Namen?«, fragte ich, hauptsächlich um den Zeitpunkt des Geständnisses weiter hinauszuzögern.

Nun war es an ihm, rot zu werden, und sein brauner Bart hob sich deutlich ab von der geröteten Haut. »Blöde Gewohnheit«, sagte er. »Ich bin Elektrotechniker, und ich bastle an den meisten meiner Geräte zu Hause rum. Das ist schlecht für die Garantie, aber ich kann meistens noch bisschen mehr Leistung aus ihnen rausholen. Na ja, und dann baue ich eine Verbindung auf zu ihnen und gebe ihnen Namen. Albern, ich weiß. Aber mein Kühlschrank heißt Beatrix.«

»Wie cool!« Ich war ernsthaft begeistert. Ein anderer Bastler war mir im echten Leben noch nicht untergekommen. »Ich mache auch –« Ich brach ab. Prioritäten, Ruth. Sein Staubsauger ist abgehauen.

»Hey, sollen wir, ähm –« Ich zeigte vage in die Richtung, in die Egon verschwunden war, und er seufzte und nickte. Wir setzten uns in Bewegung, und ich sagte: »Ich bin Programmiererin, aber ich bastle auch wahnsinnig gern an Elektrogeräten herum. Aber nicht, um sie besser zu machen, dafür reicht mein technisches Know-how nicht. Ich finde sowieso, wir sollten Maschinen nicht so ernst nehmen. Ist doch lustig, was man mit denen alles machen kann, wir sollten viel öfter zulassen, dass sie unser Leben bereichern.« Ups. Das war alles sehr schnell aus mir herausgerutscht. Die Begeisterung darüber, mit einem anderen Menschen zu sprechen, der verstand, wie es mir ging, war mit mir durchgegangen.

Doch zum Glück schien er mich nicht peinlich zu finden, denn er hatte mir aufmerksam zugehört und lächelte mich von der Seite her an, während wir in Richtung Innenstadt spazierten.

»Das ist cool«, sagte er. »Gibt nicht viele, die das verstehen. Was ist denn das Beste, was du bisher gebaut hast?«

Ah. Womit wir wieder beim Thema wären. Ich räusperte mich und sah suchend in eine Seitenstraße, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Tja. Wie gesagt, ich fürchte, ich bin schuld am Ausflug von deinem Egon ... Genauer gesagt, meine beste Konstruktion bisher.«

Und als er mich fragend ansah, fuhr ich fort: »Ich habe mir einen kleinen Roboter gebaut, der von einer künstlichen Intelligenz gesteuert wird. Und gefüttert habe ich ihn so, dass er immer darauf ausgelegt ist, möglichst viel Unfug anzustellen.«

Wieder entkam ihm ein Lachen, leise und fein, wie Gasbläschen im Spezi, die ein prickelndes Gefühl im Bauch hinterlassen. Er sah aber auch wirklich süß aus, wenn er das tat. »Warum um alles in der Welt sollte man so etwas tun? «

Verlegen hob ich die Schultern, denn ich verstand, dass das seltsam war. »Ich habe als Kind den Pumuckl geliebt«, sagte ich dann. »Und wollte schon immer meinen eigenen haben. Na ja, und mittlerweile bin ich so weit, dass ich das hinbekommen habe. Jetzt habe ich meine Pumu-KI.«

»Pumuckl«, sagte er, als wäre es ein exotisches Fremdwort, »was um alles in der Welt soll das sein?«

Entgeistert blieb ich stehen und sah ihn an. »Du hast noch nie von Pumuckl gehört? In was für einer Welt bist du denn aufgewachsen?«

Er stoppte ebenfalls und grinste flüchtig. »Norddeutschland? Zählt das? «

Amüsiert schüttelte ich den Kopf, doch ich beließ es dabei. »Ich bin übrigens Ruth«, sagte ich, als mir auffiel, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt hatten.

»David. Und erzählst du mir jetzt, was es damit auf sich hat?« Er begann wieder zu gehen, und ich schloss mich ihm an.

»Pumuckl ist ein Kobold, der gerne dichtet und noch viel lieber Schabernack treibt. Er versteckt Sachen oder vertauscht sie, und weil er unsichtbar ist, weiß niemand, dass er es war.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum dir das in deinem Leben gefehlt hat.«

Wir hatten den Königsplatz erreicht und waren plötzlich in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Ich musste blinzeln, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen, und als ich wieder klar sehen konnte, blinzelte ich gleich noch mal.

»Sieht aus, als wäre dein Egon kein Einzeltäter«, brachte ich schwach heraus. »Shit! Was hab ich getan?«

Aus allen Ecken des Platzes kamen Saugroboter angefahren, und sie alle schienen nur ein Ziel zu haben: auf schnellstem Weg zum Stadtzentrum.

»Ruth, dein Pumuki, hat der vielleicht Pläne, die Weltherrschaft an sich zu reißen?« David klang definitiv amüsiert, doch ich hatte Schwierigkeiten damit, den Humor in der Situation zu sehen.

»Pumu-KI«, sagte ich abwesend und legte den Kopf in den Nacken, um mir das Elend nicht länger ansehen zu müssen. »Und nein, er ist gutartig. Aber eben ein kleiner Unruhestifter. Genau das wollte ich ja auch«, griff ich unsere vorherige Unterhaltung wieder auf. »Ich wohne alleine, und wenn man aus einer großen Familie kommt, so wie ich, dann kann das sehr ungewohnt still sein. Pumu macht das Leben interessant. Er liebt es zu dichten, auch wenn seine Reime oft noch krumm und schief sind. Aber ich weiß nicht, wann mir zuletzt langweilig war.«

David betrachtete mich eingehend, und ich stellte fest, was für schöne Augen er hatte, warm und haselnussbraun. Falscher Zeitpunkt, Ruth. Ganz falscher Zeitpunkt. Ich sah ihm an, dass er mir nicht folgen konnte in dem, was ich ihm erzählte, doch er sagte nichts weiter dazu, sondern deutete nur auf das Eck des Platzes, wo all die Roboter verschwanden. »Ich würde sagen, wenn wir denen folgen, ist die Chance groß, dass wir deinen Pumuki finden.«

Ich hörte ein lautes Hupen, und dann quietschende Bremsen. »Oh Gott.« Ich vergrub das Gesicht in den Händen. »Den Verkehr hab ich wahrscheinlich auch komplett lahmgelegt. Das wollte ich doch alles nie! Ich wollte nur ein bisschen mehr Unberechenbarkeit in meinem Leben.«

David grinste. »Tja, vielleicht solltest du dir einen Saugroboter zulegen. Ich kann dir nämlich sagen, heute hast du sehr viel Unberechenbarkeit in mein Leben gebracht.« Er zwinkerte mir zu, und schon wieder wurden meine Wangen heiß, doch diesmal aus anderen Gründen.

Dann riss ich mich zusammen. Es war egal. Gerade ging es um andere Dinge. »Ja ... sorry dafür. Okay, komm, dann lass uns schauen, wo uns das ganze Chaos hinführt.«

Zum Stachus, stellten wir wenig später fest. Wir waren nicht die Einzigen, die der Spur der Staubsauger folgten, und es hatte sich schon eine kleine Menschenmenge angesammelt. Wo sonst die Wasserfontänen sprühten, war alles trocken. Stattdessen - ich konnte gar nicht hinsehen. Stattdessen war eine regelrechte Armada an Saugrobotern zusammengekommen, und sie blinkten und rotierten in perfektem Einklang. Der Autoverkehr war fast zum Erliegen gekommen, und sogar die Trams fuhren langsamer, um mitzubekommen, was da für solche Aufregung sorgte. Es sah cool aus, das definitiv, wenn auch ein wenig gruselig - ohne Musik, ohne Dirigenten.

Obwohl - einen Dirigenten gab es sehr wohl. Er hatte sich nur gut versteckt. Wie sollte ich ihn finden, ohne die Aufmerksamkeit aller auf mich zu ziehen?

In der Nähe des Karlstors standen mehrere Polizeiwagen, und plötzlich wurde mir ganz anders. Würden sie mich verhaften? Einsperren? Alles nur, weil mein Pumu zu übermütig geworden war?

David war meinem Blick gefolgt und verstand meine Sorge, ohne dass ich sie hätte aussprechen müssen. »Hey - kannst du deinen Pumuki finden?«, fragte er leise. »Meine Werkstatt ist nicht so weit weg von hier, gemeinsam können wir vielleicht an den richtigen Stellschrauben drehen, damit der ganze Spuk hier ein Ende hat.«

»Stellschrauben im wahrsten Sinne des Wortes!« Wir tauschten ein kurzes Grinsen, dann nickte ich entschlossen. »Ich werde ihn finden.«

Langsam, um nur ja keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, bahnte ich mir einen Weg durch die Menschenmenge. »Pumu!«, flüsterte ich immer wieder - mal zischend und fordernd, mal sanft und einladend. Nichts half.

»Ähm - das ist er nicht zufällig, oder?« David, der mir die ganze Zeit folgte, tippte mir auf die Schulter und deutete auf den Obletter-Eingang. Ich brauchte einen Moment, denn die wilden roten Drahthaare, die ich ihm verpasst hatte, ließen ihn beinahe mit dem Schriftzug verschmelzen. Doch da saß er - ohne Zweifel. Klein genug, um auf meine Schulter zu passen, und frech genug, die ganze Stadt in Atem zu halten. Mein Pumu - genau so, wie ich ihn wollte! Nur eben ein bisschen zu sehr außer Kontrolle.

Zum Glück reagierte er auf mich, als ich nah genug dran war. Kaum hatte ich wieder »Pumu!« gerufen - so laut, wie ich mich traute -, hüpfte er schon von seinem Schauplatz herab und ließ sich auf meiner Schulter nieder. »Da bist du ja«, sagte ich leise und fuhr ihm über den drahtigen Kopf. »Was machst du nur für Sachen, du Quatschkopf?«

»Hey.« David lehnte sich vor, um den kleinen Kerl aus der Nähe betrachten zu können, was sein Gesicht nah an meines brachte. »Du hast also meinen Egon gekidnappt, ja? Ich hoffe, du gibst ihn mir wieder zurück?«

Pumu grinste ihn an, soweit das mit dem Gesicht möglich war, das ich ihm verpasst hatte. »Mein Freund, ich geb Egon dir wieder«, sagte er, »doch merk dir gut, leg Ruth nicht nieder! In ihrer Nähe strahlt Glück und Licht, vernachlässig nur die Dame nicht!«

»Pumu!«, zischte ich schon wieder, diesmal aus peinlicher Berührtheit. Mein Gesicht fühlte sich an, als stünde es in Flammen. Ja, langweilig wurde es mit diesem kleinen Wirbelwind definitiv nicht, doch ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er sich auch als Verkuppler betätigen würde. »Sorry«, sagte ich schnell, »das ist -«

»Gut zu wissen«, ergänzte David und lächelte mir zu. »Was gibt es denn sonst noch, was ich über Ruth wissen sollte?«

Pumu zwinkerte ihm zu. Zwinkerte! Ich hatte bis eben keine Ahnung, dass er das konnte! »Über Ruth gibt’s viel zu sagen, sie wird dich mit ihrem Wissen erfreuen und plagen. Mit ihr an deiner Seite, Freund, sei gewiss, das Leben wird bunter, ein wahrer Genuss!«

Die beiden grinsten einander an, und bevor mein Kopf noch gefährlichere Schattierungen annehmen konnte, räusperte ich mich. »Können wir uns jetzt bitte den wichtigeren Themen zuwenden?«, flehte ich schon fast. »Zum Beispiel, wie wir die Stadt wieder in den Normalzustand versetzen?«

»Ah«, machte David, als wäre ihm das kurzzeitig entfallen. »Ja, klar. Ich sehe ihn mir mal an, wenn du magst. Meine Werkstatt ist ganz in der Nähe vom Sendlinger Tor, wir müssen nicht lange laufen.«

Angespanntes Schweigen befiel uns, als wir durch die wenig benutzten Nebenstraßen unserem Ziel entgegeneilten. Wir brachen es erst wieder, als wir an einem etwas heruntergekommenen Gebäude anhielten. David kramte einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, und ich sah mir das Schaufenster an. »Meisterbetrieb D. Eder«, las ich vor. »Elektrotechnik - Wartung - Reparatur.«

»Zu Diensten.« Über die Schulter warf er mir ein kurzes Grinsen zu, dann streckte er die Hand aus, und zu meinem großen Erstaunen hüpfte Pumu von meiner Schulter aus zu ihm und ließ sich auf seiner breiten Handfläche nieder. Pumu hatte noch nie andere Menschen gesehen, ich hatte nicht erwartet, dass er gleich so zutraulich wäre. »Na komm, kleiner Mann«, sagte David, »wir schrauben mal kurz an dir herum, damit das alles hier wieder in geregelteren Bahnen verläuft.«

Ich nickte und friemelte mein Handy aus der Hoodie-Tasche, um die selbst geschriebene App aufzurufen, mittels derer ich Pumu mit neuen Informationen speiste. Dann machte etwas klick in meinem Kopf, und ich sah noch mal zum Schaufenster. Plötzlich musste ich lachen, und David, der schon im Inneren verschwunden war, steckte noch mal den Kopf nach draußen.

»Was ist?«

Pumu thronte mittlerweile auf seiner Schulter und schien sich dort pudelwohl zu fühlen.

»Du bist Meister Eder?«, fragte ich und deutete auf den Aufdruck auf der Scheibe.

»Ja, wieso?« Er klang fast empört. »Ich weiß, ich sehe jung aus, aber ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, um diesen Titel -«

»Nein, nein, das ist es nicht«, fiel ich ihm ins Wort, und plötzlich wirkten die Ereignisse des Tages beinahe schicksalhaft. Ich musste immer noch kichern.

»Es entbehrt nur nicht einer gewissen Ironie. Aber das ist jetzt nicht unser Hauptproblem.« Mit dem Kinn ruckte ich in Richtung Stachus. »Lass uns das hier in Ordnung bringen, und dann erklär ich dir, was so lustig ist... bei einer kühlen Halben im Biergarten, ja?«

Einen Moment lang sah er mich forschend an, dann nickte er und lächelte, dass mein Magen in Aufruhr geriet. »Deal. Und jetzt komm, wir haben einen Koboter, um den wir uns kümmern sollten.«

»Koboter? Das gefällt mir.«

Halb Kobold, halb Roboter - das war er, mein Pumu. Und irgendwie war ich ihm jetzt doch sehr dankbar, dass er heute ausgebüxt war.

Michael Sperling

IM KREIS DER FAMILIE

Müde rieb Kira sich den verspannten Nacken und warfeinen verschwommenen Blick auf ihre Uhr. Sie blinzelte, doch das änderte wenig. Schuld war das fahle Licht des Bildschirms, auf den sie täglich bis zu vierzehn Stunden starren musste, während sich ihre steifen Finger wie einstudiert über die ergonomische Tastatur bewegten. Die vermochte es leider kaum, etwas an der chronischen Sehnenscheidenentzündung zu ändern, die sie nun schon seit zwei Jahren begleitete, auch wenn sie Tom für die Empfehlung dankbar war. Ging es anderen Menschen genauso? War es normal, dass sich zweiunddreißig so verdammt alt anfühlte? Seufzend lehnte sie sich zurück und beschloss, für heute Feierabend zu machen.

Pfeifend bahnte sie sich ihren Weg durch das beinahe gänzlich entvölkerte Großraumbüro. Dieses Pfeifen, das hatte sie sich erst vor Kurzem angewöhnt. Auf einmal war es da. Natürlich kam sie sich dabei leicht schrullig vor. Wer pfiff denn schon einfach vor sich hin? Egal. Es gehörte nun zu ihr. Blieb nur zu hoffen, dass ihre Kollegen sie nicht für allzu verrückt hielten. Nichts dass es eine Rolle spieltel Zeit für Freundschaften besaß Kira ohnehin kaum. Das Wenige, was vom Tag übrig blieb, war für die Familie reserviert.

Ihr Büro lag in der Nähe der Bushaltestelle. Der fuhr kostenlos alle fünf Minuten und brachte sie glücklicherweise bis fast vor ihre Haustür. Sie wohnte etwas außerhalb von München, weil hier die Immobilien günstiger waren und sie sich so eine größere Wohnung leisten konnte. Die war auch nötig. Schließlich lebte sie mit ihrem Mann, den zwei Kindern und ihren Eltern unter einem Dach. Von Bekannten erntete sie dafür oft Mitleid. Kira selbst hatte das jedoch nie als belastend empfunden. Ganz im Gegenteil. Ihre Familie war das Einzige, was Kira im Leben Halt gab. Fünf Menschen, die ihr die Welt bedeuteten und die gerade am großen Esstisch aus abgedunkeltem Eichenholz versammelt darauf warteten, dass sie nach Hause kam.

Ein kleines Stück Weg musste sie dann doch in leichtem Nieselregen zurücklegen, was sie allerdings kaum störte. Zu groß war die Freude, nach einem harten Arbeitstag ihre Lieben wiederzusehen.

An der Eingangstür angekommen, betätigte sie den Schalter. Das war ein festes Ritual. Sie betrat ihre Wohnung niemals, ohne auf den Schalter gedrückt zu haben. Einmal hatte sie es vergessen, weil sie so unglaublich müde war. Einmal. Danach nie wieder.

Als sie die Tür öffnete, brandete ihr lebhaftes Geschnatter entgegen. Kiras Vater mahnte gerade Anja, mit dem Essen auf sie zu warten. Der Eifer ihrer Jüngsten schien Tom köstlich zu amüsieren. Sein glockenhelles Lachen füllte den Raum. Kira seufzte. Dieses Lachen, das klang noch genauso wie an dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten. Damals dachte Kira, dass es keinen schöneren Klang auf dieser Welt gab. Sie erinnerte sich, Tom heimlich mit dem Smartphone gefilmt zu haben, weil sie dieses Lachen bewahren wollte. Nun, nach all den Jahren, hatte sich nichts daran geändert. Weder an dem Gefühl noch an dem Lachen.

»Ich bin zu Hause!«, rief sie in das bunte Treiben hinein, was ihre Tochter mit aufgeregtem Quietschen quittierte.

»Wie geht es dir, Liebling?«, fragte Tom vergnügt, während Kiras Eltern ihr ein herzliches Lächeln schenkten, bevor sie sich weiter der Erziehung ihrer Jüngsten widmeten. Die wiederum konnte es kaum erwarten, ihre Gabel in den kalten Hackbraten zu stecken, den Kira am Morgen vor der Arbeit zubereitet hatte.

»Es war ein anstrengender Tag«, seufzte Kira erledigt und rieb sich das Handgelenk. »Die Entzündung hält sich hartnäckig.«

Toms dauerhaft fröhliches Gesicht legte sich in leichte Falten. »Weißt du, ich habe da etwas gesehen, dass dir helfen könnte. Kennst du die neue Salbe von Agnoderm©? Heilt Entzündungen jeder Art, rein pflanzlich!«

Kira nickte unbestimmt und setzte sich neben ihren Mann. Dies war das unausgesprochene Zeichen, dass das Abendbrot beginnen konnte. Sie beteiligte sich ein wenig an den Gesprächen am Tisch, lauschte jedoch hauptsächlich den Erzählungen ihres Kindes. Anja wurde es nicht müde, ihr bestimmt zum einhundertsten Mal von den Puppen vorzuschwärmen, die alle anderen in ihrer Klasse natürlich längst besaßen. Gerne hätte sie sich auch mit ihrer ältesten Tochter unterhalten, doch das war nicht möglich.

Noch nicht.

Tom, der die leichte Feuchtigkeit in ihren Haaren bemerkt hatte und der den Wetterdienst ohnehin so genau im Blick behielt wie andere Männer die Bundesligatabelle, empfahl ihr einen Regenschirm. Aber keinen gewöhnlichen. Dieser arbeitete wohl mit Luftdruck und erzeugte so einen Bereich um seinen Nutzer, der von Regen gänzlich unberührt blieb.

»... Radius auf bis zu sechs Personen erweiterbar!«, schloss er mit gewichtigem Nicken.

Leider war Kira zu müde, um mit alldem viel anzufangen. Schon nach kurzer Zeit verabschiedete sie sich schweren Herzens, warf Anja einen Luftkuss zu und marschierte ins Schlafzimmer. Glücklicherweise schlief sie schnell ein, jedoch nur, um von tanzenden Puppen mit elektrischen Regenschirmen zu träumen.

Nach diesem Schema verging jeder Tag der Woche. Kira stand auf, frühstückte allein, bereitete das Abendbrot zu und stellte alles an seinen Platz, bevor sie sich ins Großraumbüro begab. Dort arbeitete sie den Rest des Tages, bis es endlich so weit war, dass sie sich mit ihrer Familie an den schweren Eichenholztisch setzen konnte, um zu Abend zu essen und über die Geschehnisse des Tages zu reden.

Am Freitagabend prahlte Anja damit, das beste Ergebnis der Klasse erzielt zu haben. Ein Moment, der Wehmut in Kira hervorrief. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie Anja ihr das erste Mal von dieser Prüfung erzählt hatte. Mit hochrotem Kopf war sie an jenem Tag aus dem Schultor gestürmt, wo Kira auf sie wartete. Damals war das kein Problem, weil sie das System noch nicht bezahlen musste und Tom in seinem Job so gut verdiente, dass Kira es eigentlich nicht nötig hatte zu arbeiten.

Plötzlich fühlte sie sich, als könnte sie noch immer den warmen Kopfabdruck ihrer Tochter auf ihrem Bauch spüren. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit Anjas Schilderungen zu widmen, welche die altbekannte Geschichte mit neuen Details ausschmückte, die Kira noch gar nicht bekannt waren. Fast gelang es ihr, die Illusion aufrechtzuerhalten, doch dann informierte sie ihre Smartwatch über eine Mail, deren Betreff die Immersion für heute völlig zerstörte.

Tina abgeschlossen.

Kira atmete tief ein und aus, ganz so, wie es ihr die Psychologin beigebracht hatte. Wenn die Realisation kam, fühlte sich das immer an, wie von einem Zug erfasst zu werden.

»Alles ist gut«, sagte sie laut zu sich selbst. Es war ja auch alles gut. Endlich konnte sie ihre älteste Tochter wiedersehen. Nach diesem Augenblick hattesie sich so sehr gesehnt. Sie reagierte umgehend und kontaktierte den Support, um eine sofortige Installation zu veranlassen.

Wahrend sie wartete, knabberte sie an den Fingernägeln und saß in der nun stillen Wohnstube. Das System hatte sie abgeschaltet. Der Techniker würde ohnehin einen Neustart vornehmen müssen, und sie konnte sich nicht vorstellen mitanzusehen, wie ein Fremder ihre Familie abschaltete. Der Raum wirkte dunkel, ganz ohne die Hologramme. Dunkel und so unglaublich leer. Doch Kira verzweifelte nicht. Der Gedanke an ihre Älteste gab ihr Kraft. Lange hatte sie gedacht, dass sie Tina bei dem Absturz für immer verloren hatte. Tom und Anja und auch ihre Eltern ließen sich regelmäßig vom System scannen. Erstellten digitale Abdrücke ihrer selbst. So, wie es jeder heutzutage tat. Selbst Kira, obwohl es eigentlich niemanden mehr gab, der mit ihrer Kopie etwas anfangen konnte. Nicht seit jeder Mensch, der ihr etwas bedeutete, bei dem schrecklichen Absturz gestorben war.

Sie hätte damals strenger mit ihrer Ältesten sein müssen. Die Pubertät erfasste Tina mit einem Schlag. Plötzlich wurde sie rebellisch. Nicht schlimm oder gar unausstehlich, wie man es von anderen Eltern hörte, deren Kinder diese Lebensphase durchmachten. Nein. Tina behagte nur die Idee nicht, dass man all ihre Gedanken und Erinnerungen, ihre Gefühle und Emotionen im großen System speicherte, wo eine Kopie ihrer Persönlichkeit und tiefsten Empfindungen für alle Ewigkeit verwahrt werden konnte.

Die Türklingel riss Kira aus ihren Gedanken. Ihre Handflächen wurden feucht. Es hatte keine halbe Stunde gedauert, bis der Techniker bei ihr eingetroffen war. Ein Hoch auf die Großstadt!

Nach einer kurzen Begrüßung machte sich der Mann schweigend ans Werk. Dafür war Kira dankbar. Ihr war nicht nach reden zumute. Sie wüsste auch gar nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie darüber nachdachte, dann könnte sie die paar Worte, die sie in letzter Zeit mit echten Menschen gesprochen hatte, vermutlich an einer Hand abzählen.

Der Techniker arbeitete schnell. Gekonnt tanzten seine Finger über die Tastatur des Laptops, der per Kabel mit ihrem Holoprojektor verbunden war. Das war zwar etwas altmodisch, doch auch sicherer. Kira schätzte, dass es andernfalls zu Problemen bei der Gewährleistung des Datenschutzes kommen konnte.

Sie schmunzelte. Über solche Dinge hätte sie ohne Tina vermutlich nie nachgedacht. Irgendwie war es tröstlich, sie in kleinen, alltäglichen Gedanken wiederzufinden.

Als der Techniker sich aufrichtete, trat Kira schnell aus dem Weg, doch der Mann machte keine Anstalten zu gehen. Stattdessen blickte er sie zerknirscht an und zeigte ihr ein Dokument auf seinem Laptop.

»Hören Sie, ich mache das nur ungern, aber aufgrund der besonderen Situation muss ich Sie um eine direkte Zahlung bitten«, sagte er so umsichtig, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

»Welche Situation?«, fragte Kira, von der unerwarteten sozialen Interaktion überrumpelt. Natürlich wusste sie, was er meinte. Tinas Persönlichkeitskopie war aus allem zusammengebaut, dessen Kira habhaft werden konnte. Aus alten Chatverläufen, Video- und Audiodateien, Social-Media-Posts und den Nutzerdaten aller möglichen Websites schufen die Programmierer vom System eine Kopie ihrer Tochter, die der Realität so nah kam, wie Kira nur hoffen konnte. Aus Nächstenliebe geschah das natürlich nicht. Diese Dienstleistung hatte ihren Preis.

»Entschuldigen Sie. Natürlich. Was schulde ich Ihnen?«, fügte Kira schnell hinzu und warf einen Blick auf den hellen Bildschirm, der sich deutlich von der Dunkelheit des Raumes abhob.

Einen Moment lang schwieg Kira. Sie wusste, dass es teuer werden würde, doch das war ihr egal. Sie musste ihre Tochter einfach wiedersehen. Bis zu diesem Moment hatte sie sich noch nie Gedanken über die Konsequenzen dieser Entscheidung gemacht. Es hätte ohnehin nichts geändert.

Als sie die Zahl dann sah, wurden ihr die Knie schwach. Einen ganzen Moment lang starrte sie einfach nur auf den Bildschirm und kämpfte eine aufkeimende Panikattacke nieder. Plötzlich machte sie sich Gedanken, was passieren würde, wenn sie das System nicht bezahlen konnte. Die Arbeit war bereits erledigt. Tina war speziell für sie programmiert worden. Ein Zurück gab es nicht mehr. Würde man ihr etwa das komplette Programm streichen? Würde sie ihre Familie verlieren? Erneut? Nein! Alles, alles, nur das nicht! Es musste einen Weg geben.

»Das kann ich nicht bezahlen«, erwiderte Kira lahm. Ihr Geist arbeitete auf Hochtouren, der Körper reagierte jedoch wie in Trance.

Sie zwang sich, ihre Starre abzuschütteln.

»Es tut mir leid«, sagte sie tonlos. »Ich weiß, das ist nicht üblich, doch gibt es irgendeine Möglichkeit, wie sie mir entgegenkommen könnten? Wäre eine Ratenzahlung möglich? Was würde das kosten?«

Der Mann runzelte die Stirn und richtete sich die Brille, die ein wenig zu groß für ihn wirkte, wie Kira erst jetzt auffiel.

»Lassen Sie mich kurz nachschauen«, bat er, und schon bald tanzten seine Finger wieder in geübter Manier über die Tastatur des Laptops. Irgendwann taten sie das dann plötzlich nicht mehr, und er runzelte erneut die Stirn und richtete sich die übergroße Brille.

»Sie haben bereits eine Ratenzahlung vereinbart«, sagte er. Kira antwortete nicht darauf. Es war keine Frage, nur eine Feststellung.

Ein paar weitere Klicks folgten, und der Mann konfrontierte sie mit einer neuen Zahl, die wesentlich kleiner war als die vorherige, aber dennoch illusorisch hoch.

»In Kombination mit der bestehenden Ratenzahlung kann ich Ihnen diesen Monatssatz bei dreißig Jahren Laufzeit anbieten«, verkündete er sachlich.

Kira unterdrückte den Drang zu schluchzen. Mittlerweile zittere sie am ganzen Körper. Was sie da zahlen musste, entsprach etwas mehr als ihrem gesamten Monatslohn. Selbst wenn sie ihre mageren Ersparnisse anzapfte und die Wohnung verkaufte, verschaffte ihr das höchstens ein oder zwei Jahre, bevor sie unter den Schulden zusammenbrechen würde. Dennoch war sie versucht, das Angebot einfach anzunehmen. Alles, was sie gerade wollte, war, ihre Tochter endlich wiederzusehen. Egal wie, egal zu welchem Preis. Die Sehnsucht, das Wissen, nur einen Druck auf den Schalter von Tina entfernt zu sein, raubte ihr beinahe den Verstand.

Das schien auch dem Techniker nicht zu entgehen. Irgendwo aus seinem Repertoire zauberte er ein beinahe überzeugendes Lächeln hervor, das wohl Mitleid ausdrücken sollte.

»Es gäbe da noch eine weitere Möglichkeit«, wagte er sich vor. »Aktuell liegt ihr Werbeanteil bei nur dreißig Prozent. Da wäre noch deutlich Luft nach oben!«

Sein Tonfall hatte sich schlagartig verändert. Erneut ließ er seine Finger über die Tastatur tanzen. Sogar eine Spur enthusiastischer, wie es Kira schien.

»Wenn sie auf fünfzig Prozent upgraden, dann sähe die monatliche Rate schon ganz anders aus!«, verkündete er stolz. Tatsächlich sah Kira zum ersten Mal an diesem Abend einen Betrag auf dem Bildschirm, den sie bezahlen konnte, ohne ihre gesamte Existenz zu gefährden. Sicher, sie würde ein paar Abstriche in ihrem Leben machen müssen. Aber was bedeutete das schon, wenn ihre Familie endlich wieder vollständig war?

Mit zitternden Fingern unterschrieb sie, bevor sie oder der Techniker oder irgendwer es sich anders überlegen konnte, und wartete ungeduldig darauf, dass er seine Sachen packte und sie mit ihrer Familie allein ließ. Er bot an, dem Neustart des Systems beiwohnen, um eventuelle Fehler zu beheben, doch Kira deutete nur unwirsch in Richtung der Tür.

Ihr gesamter Körper war von einem Film aus kaltem Schweiß bedeckt, als sie sich auf unsicheren Beinen dem Schalter näherte und das System aktivierte. Die Wand, hinter der sie stand, verdeckte den Blick auf den Esstisch. Zur Sicherheit wartete sie noch einen Augenblick. Sie wollte den Moment nicht durch irgendeine abgehackte Startfrequenz zerstören.

Dann geschah es. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr erschallte die Stimme ihrer ältesten Tochter aus der Wohnstube.

»Mama?«

Haltlos rannen Kira Tränen über die Wangen, während sie sich Zentimeter für Zentimeter von der Wand wegschob.

Da war sie. Tina. Genauso, wie Kira sie in Erinnerung hatte. Strahlend lächelnd, in dem Pullover, den sie so abgöttisch geliebt hatte und den Kira immer nur per Handwäsche reinigen durfte.

»Tina?«, sagte Kira mit brüchiger Stimme. Zu mehr war sie nicht fähig. Ein unbeschreibliches Gemisch aus Gefühlen schnürte ihr die Kehle zu, während sie sich ihrer Tochter näherte.

»Weine doch nicht, Mama«, lachte Tina und kam ihr dabei so weit entgegen, wie es das System erlaubte.

Tausend Gedanken schossen Kira durch den Kopf, doch keiner ließ sich greifen. Nach all der Zeit sah sie endlich ihre Tochter und wusste gar nicht, was sie ihr zuerst sagen sollte. Sie schob sich noch einen Zentimeter weiter vor und starrte voller Sehnsucht in die grünen Augen, die Tina von ihrem Vater geerbt hatte.

»Ich habe dich so vermisst«, brach es schließlich aus ihr hervor. Wider besseres Wissen näherte sie sich dem Hologramm und schlang verzweifelt ihre Arme um die Projektion. Tinas Gestalt flackerte kurz auf, währen Kiras Hände nur durch Luft griffen.

Kraftlos sackte sie zu Boden, während sich ihre älteste Tochter zu ihr niederkniete. Kiras gesamte Familie umringte sie und schenkte ihr lächelnd Trost.

»Sei nicht traurig, Mama«, sagte Tina sanft. Auch Tom kniete sich jetzt zu ihr nieder, und schon bald folgten auch die anderen Tinas Beispiel.

»Wir wollen dich auch in die Arme schließen, Mama«, sagte jetzt ihre jüngste Tochter, was Kira bitterlich schluchzen ließ.

»Und dafür gibt es jetzt auch eine Lösung! «, verkündete Tom fröhlich.

»Nämlich die Realdolls von Art Ware©, mit denen das System jetzt eine Kooperation eingegangen ist!«, fugten ihre Eltern unisono hinzu.

Tina blickte ihr tief in die Augen, und ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. Kira konnte spüren, wie sich die Wärme in ihrem Herzen ausbreitete.

»Wie viele soll ich deinem Warenkorb hinzufügen?«

Lena Hepting

HOFFNUNG IN KRISTALLGLÄSERN

»Was Brauchbares gefunden?« Mallax’ Atem wärmt meine eiskalten Ohren.

»Nein. Wir sind wie immer zu spät.«

Seufzend stecke ich meine Hände wieder in den Schrottberg vor mir. In der vergangenen halben Stunde habe ich jedes Stück Metall in alle Himmelsrichtungen gedreht. Ohne Erfolg. Es ist weder der Rohstoff Subranium noch etwas, mit dem ich auf dem Schwarzmarkt eine warme Mahlzeit zahlen kann.

»Wahrscheinlich haben die Trader schon alle Funde an die Regierung vertickt. So wie gestern und vorgestern.«

»Möglich.«

Unter meinen Stiefeln knistern leere Dosen, als ich wütend auf den Boden stampfe.

»Du bist ein Arschloch, weißt du das?«

Mallax hebt seine Brauen. »Wieso diesmal?«

»Weil du recht hast. Wir werden kein Subranium finden. Nicht mal ein Fragment davon.«

»Ein Ex-Soldat weiß eben, wann der Kampf zu Ende ist.« Mit Kraft zieht er mich nach oben.

»Und wenn doch, musst du mir einen Drink ausgeben!«

»Vergiss es.«

Bockig versuche ich, aus seinen Armen zu gleiten, aber er greift mich fester.

»Nö. Du bleibst schön hier.«

»Wieso?«

»Weil ich dir wenigstens einen Lichtblick geben will. Ein Erfolgserlebnis und vielleicht einen Grund zu lachen.«

Er küsst mich auf eine Wange und auf den Mund, mit dem ich so vieles sagen will. Besonders Flüche. Sie vergehen mir, als ich mich in Mallax’ Grübchen verliere. Er sieht jünger aus, wenn seine Augen in diesem Licht funkeln. Keine künstliche Härte, wie damals, als er im Krieg seine Seele an die Regierung verkauft hat.

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