Mensch ohne Schatten - Jürgen Kuhl - E-Book

Mensch ohne Schatten E-Book

Jürgen Kuhl

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Beschreibung

Zur falschen Zeit am falschen Ort erleidet ein Arzt einen schweren Unfall, den er dank glücklicher Umstände überlebt. Er wechselt die Seiten und wird zum Patienten im Rollstuhl. Eindrucksvoll beschreibt er Pfusch und Inkompetenz seiner Kollegen, menschenunwürdige Krankenpflege, Hospitalinfektionen mit multiresistenten Keimen, Verwechslung der Medikamente. Auf die Parallelwelten im künstlichen Koma der Intensivstation folgen die Qualen der Rehabilitation und die Entlassung in das Leben eines behinderten Menschen im Rollstuhl.

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Über den Autor

Dr. med. Jürgen W. Kuhl, Jahrgang 1947, studierte Medizin an der Uni-versität Hamburg mit Staatsexamen und Promotion 1976. Er war als Arzt tätig am Israelitischen Krankenhaus Hamburg, am Allgemeinen Kranken-haus Bergedorf, am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg, Kantonsspital Thurgau, Schweiz sowie der Frauenklinik Finkenau. Gründung einer Fach-arztpraxis für Frauenheilkunde und Geburtshilfe 1984 in Hamburg.

In allem, was wir Erinnerung nennen, stecken zugleich auch Fantasie und Erfindung.

(Joachim C. Fest)

Für meine Mutter, die am 11. Dezember 2010 gestorben ist.

Jürgen Kuhl

Mensch ohne Schatten

Ein Arzt packt aus

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© 2013 Dr. med. Jürgen W. Kuhl, Hamburg

Verlag: tredition GmbH, Hamburg ISBN: 978-3-8495-5149-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Unfall

Vater im Himmel

Rückkehr auf die Erde

Im Flur

Im Film

Im Wassergraben

Im Flieger

Im Fernsehen

Im Gebirge

Im Schaufenster

Im Schlafzimmer

Auf der Intensivstation

Sprechen lernen

Verlegung von der Intensivstation

Verlegung von der Zwischenstation zur Rehabilitation

Sonnenblumen

Lagerung im Bett

Abführen im Bett

Das Badezimmer

Ende eines Wochenendbesuches

Mensch mit Erektion

Mobilisation am Wochenende

Badespaß

Verwechslung der Medikamente

Im Fahrstuhl

Ankündigung von Besuch

Zimmerverweis

Medizinische Trainingstherapie

Hallo Jürgen!

Auf dem Kran

Schicksale von Mitbetroffenen

Rehabilitant D., 68 Jahre

Rehabilitant W., 57 Jahre

Rehabilitant J., 23 Jahre

Rehabilitant W., 25 Jahre

Rehabilitant R., 35 Jahre

Rehabilitant P., 69 Jahre

Rehabilitandin W., 60 Jahre

Rehabilitandin K., 19 Jahre

Rehabilitant R., 52 Jahre

Rehabilitant U., 49 Jahre

Rehabilitant B., 53 Jahre

Rehabilitant J., 45 Jahre

Rehabilitant D., 51 Jahre

Rehabilitant A., 36 Jahre

Rehabilitant Y., 19 Jahre

Rehabilitant W., 42 Jahre

Rehabilitant M., 38 Jahre

Schwestern, die mich gepflegt haben

Die Dicke

Die Domina

Die Lüsterne

Die Blasse

Auswilderung in die Behindertenwelt

Auszüge aus dem Entlassungsbericht an meinen Hausarzt

Fünfzehn Monate Seniorenwohnanlage

Osteoporose – ist kein Beinbruch

Krankenhaus in E

Neurologie in N

Neurologie in H

Krankenhaus in H

Ärzte, die mich behandelt haben

Prolog

Der Poltergeist

Der Kugelblitz

Der Ignorant

Der Magensaure

Der Professor

Begegnung im aufrechten Gang

Am Unfallort

Der Unfall im Polizeiprotokoll (auszugsweise)

Stationärer Aufnahmebefund (vereinfacht)

Inzidenz einer Querschnittlähmung

Nahtoderfahrung

Körperlichkeit vor dem Unfall

Die neue Körperlichkeit

Meine Funktionsverluste

Störungen bedingt durch Medikamente

Störungen bedingt durch die Rückenmarkszerstörung

Störung der Sensibilität

Die Haut

Die Kopfschwarte

Die Ohren

Das rechte Augenlid

Auf der Nasenwurzel,

Halsmuskulatur,

Mund

Zähne

Kehlkopf

Finger

Fingernägel

Die Hände

Die Arme

Die Spastik

Die Beine

Die Füße

Die volle Blase

Der Darm

Der Rumpf

Die Narbe im Rückenmark

Das Gehirn

Ist Sitzen tödlich?

Müssen querschnittgelähmte Menschen, früher sterben?

Warum ist eine Querschnittverletzung nicht heilbar?

Nachhaltige Therapien

Stochastische Resonanztherapie

Training am Giger MD

Training im Easy Walker

Vierfüßlerbewegung (Krabbeln)

Wie kann ich meine Situation selbst verbessern?

Was können andere für mich tun?

Ausblick

Abbildungen

Danksagung

Hinweis:

Die in diesem Buch geschilderten Szenen sind authentisch, aber nicht chronologisch. Autor und Verlag wollen keine Einzelfälle anprangern, sondern auf Zustände hinweisen, die symptomatisch sind für Krankenhäuser, Arztpraxen, Krankenpflege und den Umgang mit behinderten Menschen. Die näheren Umstände der Ereignisse wurden verfremdet und Beteiligte nicht mit Namen genannt.

Vorwort

Daran gedacht haben wir alle. Getan hat es keiner, den ich kenne, nämlich sich selbst umzubringen. Zunächst sind wir auf den ältesten Verkäufertrick der Welt hereingefallen:

„Nehmen Sie die Ware erst einmal mit, wenn sie Ihnen nicht gefällt, können Sie sie immer noch zurückbringen und erhalten Ihr Geld zurück.“

Wer sich darauf erst einmal eingelassen hat, ist verloren. Das Thema Selbstmord hat sich für ihn erledigt. Die Ware mitnehmen heißt nichts anderes, als diesen Zustand Querschnittlähmung auszuprobieren, ob nicht doch eine Zukunft in ihm steckt. Das macht Hoffnung, auch wenn die Aussichten auf Besserung von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, oder aussichtslos sind. Und was sollen die Tetraplegiker machen, die keine Arm- und Handfunktion mehr haben, vom Rest ganz abgesehen. Die wären ohnehin auf fremde Hilfe angewiesen. Schon aus diesem Grund sind sie zum Leben verurteilt.

In der Medizin heißt der Trick anders: „Wir müssen die Angelegenheit beobachten.“ Das vermittelt nicht nur Hoffnung, sondern zeigt auch Interesse am Fall oder Zustand. Vielleicht sogar an der Person des Betroffenen. Außerdem lässt die Formulierung dem Behandler freie Hand, weil sie keinen Zeitfaktor enthält. Deshalb ist diese Formulierung für hoffnungslose Fälle aller Art bestens geeignet, Vertrauen und Hoffnung zu wecken, ohne sich festlegen zu müssen. Die Wissenschaft der Medizin ist wunderbar, aufregend und vielseitig. Sie könnte vielen Menschen helfen, wenn es einige Ärzte nicht gäbe.

Nur die wenigsten Patienten bekommen den Tod, den sie sich im Voraus wünschen. Er soll schnell und unerwartet kommen. Gerade mal jeder Dreissigste stirbt auf diese Weise. Meistens sorgt ein Tumor oder - in zunehmendem Maße - eine länger andauernde Demenz für das schleichende Ende. Den Wunsch, sich nicht unter Schmerzen verabschieden zu müssen, kann die Medizin inzwischen in den meisten Fällen erfüllen. Damit ermöglicht sie oft ein selbstbestimmtes, friedliches Dahinscheiden.

Tetraplegiker, die in der Lage sind, ihren Elektrorollstuhl mit dem Kinn zu bewegen, sind dem Prinzip Hoffnung bereits erlegen, denn die stirbt bekanntlich zuletzt. Sie hoffen täglich auf die Rückkehr einer weiteren, noch so kleinen Körperfunktion.

Die ungekrönten Könige sind die inkomplett gelähmten Tetraplegiker. Sie können von allem etwas, aber nichts wirklich richtig. Und werden darum von den anderen beneidet, weil jeder sich so viele Funktionen zurückwünscht, wie nur möglich. Leider bedeutet das im Umkehrschluss, wer nichts richtig kann, kann eigentlich gar nichts. Sind da nicht die Paraplegiker besser dran, die wenigstens vollständige Arm- und Fingerfunktionen haben? Alle Querschnittgelähmten eint der Wunsch, wieder laufen zu können und so zu sein, wie früher. Nicht mehr als Behinderter ausgegrenzt, beäugt, oder im schlimmsten Fall bemitleidet zu werden.

Das Unglück lauert überall. Ich wäre dieser Katastrophe in meinem Leben, das ich anders geplant hatte, gerne entgangen. Aber sie ist passiert. Die einzige Art, für mich damit zu leben ist, darüber zu schreiben. Der Unfall hat meine Welt chaotisch verändert. Alles ist fremd. Alles muss neu gefunden, geordnet und gelebt werden. Barrierefreiheit ist ein schönes Wort für die Beschreibung einer idealen Umgebung. Aber wer sorgt für die Barrierefreiheit in den Köpfen der Mitmenschen? Wie geht man auf einen Behinderten zu, der im Rollstuhl sitzt? Wie spricht man ihn an? Geht das überhaupt? Oder fängt der an, Grimassen zu schneiden, zu kratzen, oder zu spucken?

Wie geht man als Rollstuhlfahrer auf seine Mitmenschen zu? Wie wird man wahrgenommen, wenn man aus der Nabelhöhe eines aufrecht stehenden Menschen nach oben spricht? Werde ich laut genug sprechen können, um Gehör zu finden? Woher werde ich die Kraft nehmen, alles zu leisten und zu ertragen?

Solche Gedanken hatte ich allerdings erst sehr viel später nach meinem Unfall. Zunächst hatte ich mich in der unmittelbaren Wirklichkeit zurechtzufinden. Keine Stadt, keine Wohnung, kein Wohnraum ist barrierefrei. Während die Barrierefreiheit in der häuslichen Umgebung eigenverantwortlich hergestellt werden kann, sieht das in der äußeren Umgebung völlig anders aus. Da ist man plötzlich darauf angewiesen, dass die Gehwegskante abgesenkt ist, sodass sie mit dem Rollstuhl überwunden werden kann. Bewegt man sich mit einem circa 100 kg schweren Elektrorollstuhl auf den Gehwegen, stellt jeder Hundehaufen eine Katastrophe dar. Jeder Wechsel des Gehwegsbelages ist eine Herausforderung für die Blase, weil sie trotz Federung des Rollstuhls unerwünschten Erschütterungen ausgesetzt ist, die sie mit Harndrang quittiert.

Wird der Elektrorollstuhl mit dem speziell umgerüsteten Fahrzeug transportiert, ergeben sich wieder neue Probleme. Oft sind die Behindertenparkplätze von Unberechtigten belegt, werden nur widerwillig geräumt und oftmals sogar aggressiv verteidigt. Keine Stadt ist barrierefrei. Zum Verladen des Rollstuhls und zum gefahrlosen Ein- und Aussteigen muss man sich deshalb zwangsläufig an der Grenze zur Ordnungswidrigkeit bewegen. In zehn Jahren als Rollstuhlfahrer hatte ich nur zweimal ernsthafte Konflikte mit der Ordnungsmacht. Meine übliche Erfahrung ist, dass nach kurzer Erklärung der Situation einerseits und notwendiger Belehrung andererseits die Sache erledigt ist. In einem Fall eskalierte sie allerdings bis zu einem Gerichtsverfahren.

Als ich noch auf der Intensivstation lag, wurde links und rechts von mir mit vollem Einsatz gekämpft, versorgt und dann gestorben. Die Nähe zum Tod hatte ich während meines ganzen beruflichen Lebens zu spüren bekommen. Das Neue an dieser Situation war meine Verurteilung zur Untätigkeit. Mir wurde plötzlich bewusst, dass das Schicksal mich an meiner empfindlichsten Stelle der Seele getroffen hatte. Ich konnte nicht mehr Arzt sein – zum Helfen verpflichtet – jedenfalls nicht in der bisher ausgeübten Art und Weise. Ich hatte die Seiten gewechselt. Statt meinen Patienten beizustehen, bedurfte ich selbst des Beistandes. Täglich, rund um die Uhr.

Diese Erkenntnis traf mich wie ein Donnerschlag.

Ich wollte nicht begreifen, dass ich gemeint sein sollte. Warum ich? Ich fühlte mich von jeher zum Arztsein berufen. Das war für mich kein Job, den man von acht bis sechzehn Uhr mit festgelegter Mittagszeit und Frühstückspause abwickelt. Im Laufe meines Lebens hatte sich herausgestellt, dass es Berufung war. Und das sollte jetzt vorbei sein? Alles in mir sträubte sich gegen diese Erkenntnis. Sollte das etwa die Wahrheit sein, der ich jetzt ausgeliefert war? Warum durfte ich nicht sterben? Ich begann, die zu beneiden, die ohne Kabel und Schläuche still aus dem Zimmer gerollt wurden. Das Schluchzen der Angehörigen ging schnell in den erklärenden Worten der Ärzte unter. Und dann waren auch diese menschlichen Äußerungen vorbei.

Nach solchen Ereignissen lag ich regungslos in meinem Bett und lauschte den Funktionen der Maschinen um mich herum. Das Piepen und Zischen im Raum war meine Wirklichkeit. Die wichtigste Funktion hatte das Beatmungsgerät links von mir. Mit gleich bleibendem Rhythmus sorgte es dafür, dass meine Lungen beatmet wurden und ich am Leben blieb. Wie Gottvater Adam den Atem einblies und ihn zum Leben erweckte, so mächtig kam mir diese Maschine vor. Würde man sie abstellen, wäre ich innerhalb weniger Minuten tot. Wollte ich das? So sehr ich nach einer Antwort suchte, kam ich zu keinem Ergebnis. Damals nicht und heute erst recht nicht. Heute weiß ich: Gott ist in uns, oder nirgends. Und von dort kommt die Kraft zum Überleben.

Wenn ich an die erste Zeit nach meinem Unfall an die Klinik zurückdenke, an die Menschen, die vom gleichen Schicksal betroffen waren wie ich, stehen mir die Gesichter nach mehr als einem Jahrzehnt noch deutlich vor Augen. Diese blassen Gesichter, gezeichnet von Qual und Anstrengung. Die großen Augen in denen sich Hoffnung und Schmerz gleichermaßen widerspiegelte. Das Verhalten teils aggressiv, teils resigniert. Wohin sollte man auch mit seinen Gefühlen, seinen Ängsten und Problemen, seiner Lebensfurcht, wenn weder der Psychologe, noch der Pfarrer infrage kamen.

Ich erinnere mich noch an eine Situation mit einer betroffenen Frau, die beim Rennradfahren gestürzt und fortan vom Lendenbereich abwärts komplett querschnittgelähmt war. Ich sprach sie im Fahrstuhl auf den Aufdruck ihres T-Shirts an, bei dem es ums Rennrad fahren ging. Sie reagierte äußerst aggressiv, als sei ich an ihrem Unglück schuld. Monate später musste sie ein weiteres Mal die Klinik aufsuchen, weil ihre Spastik mit den eingesetzten Medikamenten nicht beherrschbar war. Sie bot ein völlig anderes Bild: Ihre Wangen waren eingefallen, das Gesicht schien um Jahre gealtert und in ihren Augen lag grenzenlose Verzweiflung. Sie wusste noch, dass ich Arzt bin, und flehte mich mit ihren Blicken um Hilfe an. Wie gerne wäre ich dem nachgekommen. Aber ich konnte nicht einmal mir selbst helfen.

Im Zustand der Querschnittlähmung befindet man sich in einer ständigen Grenzsituation. Für die einen sind die Schmerzen zum ständigen Begleiter geworden verbunden mit Hilflosigkeit, für die anderen kommt noch die totale Abhängigkeit dazu. Das, was übrig bleibt, ist das neue Leben. Alle müssen ständig und jeden Tag um Anerkennung kämpfen, um Wahrnehmung, um als Mensch wahrgenommen zu werden. Und dennoch hängen alle an diesem Leben. An solchen Tagen, wenn sicher Geglaubtes verloren geht und stattdessen anderes eintritt, wandelt man zwischen unbändiger Wut und verzweifelter Hoffnungslosigkeit.

In diesem Zustand zu fragen, wie es geht, ist eigentlich nicht sinnvoll. Die richtige Frage müsste lauten: „Wie kommst Du mit dem Zustand zurecht?“ Das ist die einzig sinnvolle Frage. Denn an einem Tag gelingt es besser, diesen Zustand zu ertragen. An anderen Tagen gelingt es schlecht oder fast gar nicht, sich mit einem Zustand abzufinden, der alles auf den Kopf stellt, was man bis dahin gewohnt war. Der Körper ist zum Feind geworden. Gegen ihn richten sich primär die Aggressionen. Er ist zur Fessel des Geistes geworden, wenn die Schmerzen das Denken blockieren.

Wenn man älter geworden ist, wird man schwächer; das ist der natürliche Verlauf. Dabei bin ich noch nicht alt und fühle mich auch nicht so, aber ich bin schwach und hilflos. Und sitze im Rollstuhl schon seit Jahren. Ohne fremde Hilfe kann ich nicht einmal vierundzwanzig Stunden überleben. Diese Erkenntnis drückt mich noch tiefer in meinen Rollstuhl.

Als ich noch Sport treiben konnte, hatte ich ein straffes und schlankes Profil, auch jenseits des fünften Lebensjahrzehnts. Zehn Jahre im Rollstuhl haben mein Körperprofil verändert, das ich inzwischen nur widerlich empfinde: wie ein aufrecht gehendes Hängebauchschwein. Manchmal ekle ich mich vor meinem Spiegelbild. In diesem Zusammenhang hat das Wort „Bauchpresse“ für mich eine völlig neue Bedeutung erhalten. Wenn ich meinen Tag im Rollstuhl absitze, presse ich mit meinem Bauch alles zusammen, was sich zwischen ihm und meinen Oberschenkeln befindet. Die Erkenntnis meines neuen Lebens ist jedoch, dass ohne Bauch im engeren Sinne nichts geht, nicht einmal Rollstuhl fahren. Ohne die Aktivität der Rumpfmuskulatur ist es nicht möglich zu stehen, gehen, sitzen, den Oberkörper zu drehen, sich nach vorne, oder zur Seite zu beugen. Im Sitzen die Beine zu heben oder zu strecken ist genauso wenig möglich, wie sich zu erheben. Ohne Bauchmuskulatur kann man sich im Liegen nicht umdrehen. Und irgendwann gewinnt die Spastik die Oberhand.

Als ich aus der ersten Rehabilitation entlassen wurde, war ich froh, dass ich so fit war. Ich dachte, den Querschnitt sitze ich auf der linken „Backe“ ab. Der Begriff „absitzen“ war mir bisher nur aus einem anderen Zusammenhang geläufig. In der Reha fühlten wir uns alle in gewisser Weise als Gefangene. Ich konnte außerdem nicht wissen, dass ich nur die Spitze des Eisbergs sehe. Heute bin ich froh, wenn mir die Pflegekräfte nicht die Schuhe im Stehen ausziehen, oder meine Hose, wenn ich darauf sitze. Und nicht vergessen, am Rollstuhl die Kippstützen auszuklappen, die ein Umkippen nach hinten verhindern sollen. An manchen Tagen fordert es meine ganze Kraft, die Schmerzen zu bekämpfen und niederzuhalten, damit sie das Bewusstsein nicht trüben. Und andererseits mich gegen die Pflege, die ja nur Assistenz sein soll, zu wehren. Ich muss mich davor hüten, ungerecht zu werden. Die Menschen, die mir helfen wollen, tragen am wenigsten Schuld an meinem Zustand.

Dennoch bin ich mir bei einigen Assistenten nie sicher gewesen, wer von uns eigentlich die Hilfe brauchte: die, oder ich. Manchmal hatte ich den Eindruck, die würden nicht einmal bemerken, wenn ich tot im Rollstuhl sitze. Grammatikfreie „Einwortsätze“, dafür aber begleitet mit den entsprechenden Handbewegungen und Gesten und Zusatzworten wie „da“, „dort“, „mach“, usw. färben ab und gehen auf den Geist. Wenn die Toleranzschwelle bei mir erreicht ist und ich mein Körperprofil wahrnehme, spreche ich nicht mehr von meinen Assistenten, sondern von meinen „Wärtern“.

Es gab eine Zeit, da setzte ich keine Sonnenbrille auf, weil ich der Sonne entgegen sehen wollte. Ich war dankbar und glücklich, dass ich die Strahlen der Sonne sehen, dass ich ihre Wärme auf dem Gesicht spüren konnte. Es hätte doch nicht viel gefehlt und ich hätte nie wieder die Freude gehabt, die Sonne im Gesicht spüren zu können. Sollte ich jetzt, wo die Sonne scheint, einen trennenden Filter zwischen ihre Strahlen und mich bringen? Nein! Auf keinen Fall wollte ich mich von der göttlichen Kraft der Sonne trennen. Auch heute verzichte ich weitgehend auf das Tragen einer Sonnenbrille. Ich bin froh, dass ich die Sonne sehen kann und alles was sie um mich herum erleuchtet und bestrahlt und Schatten werfen lässt.

Der menschliche Schatten hat in den Kulturen eine teils mystische (Schamanen, Vampire), teils magische Bedeutung (Voodoo). Er zieht sich als Symbol durch die antiken Kulturen (Platon, Höhlengleichnis) und findet seine Fortsetzung in der Literatur bis in die moderne Psychologie in vielfältiger Weise. Der Schatten gilt als das Spiegelbild der Seele und ist deshalb mit dem Menschen eng verbunden.

Wenn ich an Schatten denke, kommt mir zuerst der Gelehrte Doktor Faust in den Sinn, der auf seiner Suche „Was die Welt im innersten zusammenhält“ einen Pakt mit dem Teufel eingeht, der allmählich zu seinem Schatten wird. Nur Leichen haben keinen Schatten, allenfalls im physikalischen Sinne, wie jeder beleuchtete Körper: Kernschatten und Halbschatten.

Baclofen Tabletten gegen die Spastik machen müde und hemmen das Denken. Dennoch kommt es bei der Abstimmung der Bewegungen zur Hilfestellung zu netten Erfindungen: Statt eins, zwei, drei zu zählen, kann man auch „Hirsch-ge-weih“ zählen, oder „Zwer-gen-brei“. Und, um sich den Handlungsablauf einer Tätigkeit zu merken, benutzen wir die Alliteration „Spiegel-Spray-Spritze“. Das Leben eines Behinderten hat auch seine lustigen Seiten!

Aufgaben bringt es genug mit sich. Wenn man als inkomplett Querschnittgelähmter seine Funktionen erhalten will, muss man sie benutzen. Andernfalls verliert man sie ganz. Jeder Therapeut meint es gut mit einem: Der Arzt empfiehlt regelmäßige Kontrollen der Körpersäfte, stündliches Trinken von nicht mehr als 100 ml Flüssigkeit, damit der Körper sie behält und nicht sofort wieder ausscheidet. Der Ergotherapeut empfiehlt regelmäßige Bewegung der Finger. Der Physiotherapeut empfiehlt stündlich zehn Minuten stehen, täglich zehn Minuten gehen. Die Ratschläge nehmen wohl gemeint kein Ende. Dazu kommen die Eigentherapie und die Behandlungseinheiten, die sich über die Woche verteilen. Wenn ich das alles täglich umsetzen würde, müsste meine Umwelt von mir denken, dass ich dem Veitstanz erlegen sei.

Und der Rest ist mein Leben?

Der Unfall

Da stand sie nun vor mir, leicht zur Seite geneigt und funkelte mich an. Das Licht der warmen Nachmittagssonne funkelte durch die schaukelnden Blätter der uralten Platane über uns und ließ sie in einem Glanz erscheinen, als sei sie mit Tausenden von Diamanten besetzt. Ich ging um sie herum und hörte jenes feine Knistern, wie man es manchmal hören kann, wenn ein Kuchenblech im heißen Ofen backt.

Der Duft, den sie verströmte, war betörend. Er betäubte und reizte meine Sinne gleichzeitig. Ich fühlte, wie sich mein Puls beschleunigte und mein Herz im Hals klopfte. In der Magengegend verspürte ich jenen sanften Druck, den ich noch aus meiner Kindheit kannte. Er trat immer am Heiligabend auf, bevor sich die Tür zum Zimmer mit dem Weihnachtsbaum öffnete, wo die Überraschungen warteten.

Ich ging um sie herum und betrachtete sie noch einmal von allen Seiten. Ich blickte ihr mitten ins Gesicht und nahm ihr verhaltenes Lächeln wahr, das um die Scheinwerfer spielte. Ich hockte mich vor sie, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Täuschte ich mich? Nein, sie hatte drei Nasenlöcher, die sie frech nach vorne stülpte.

Mein Blick fiel in den Ausschnitt ihrer Verkleidung, bis tief hinein in ihre Eingeweide. Es sah aus, als sei sie einem Piquadero entkommen. Von der Seite betrachtet, hatte man den Eindruck, dass der Spieß sie ihren Rücken aufbäumen ließ. Ich war versucht, den Spieß zu entfernen, ihr zu Hilfe zu kommen. Doch dann schien es mir besser, alles so zu lassen, wie es war. Bei dem Spieß handelte es sich nämlich um den Lenkungsdämpfer meines Motorrades. Und der hatte natürlich einen anderen Sinn. Mein Blick glitt an der Seite der schweren Maschine entlang. Wie eine silberne Brosche am Kleid einer vornehmen Dame war das Auspuffrohr nach hinten hochgezogen.

Ihr Herz schlug weiter drinnen hinter der Verkleidung. An einer Stelle konnte man eine Ecke des Motorblocks sehen, der die Verkleidung zu sprengen schien. Endlich hatten die Bayern eingesehen, dass ein Motorrad mit Verkleidung auch schön aussehen kann. Zu früheren Zeiten hat man die „K“ der „Backsteinfraktion“ zugerechnet, weil ihr Motorblock wie ein Backstein unter dem Fahrgestell hing. Wer damals die ABS-Bremshilfe haben wollte, erhielt einen weiteren Backstein an die linke Seite gepackt. Zu allem Überfluss stand auf diesem auch noch in großen, verchromten Buchstaben „ABS“ zu lesen. Die filigranen Bremsleitungen aus grün lackiertem Aluminiumrohr zogen sich wie Krampfadern durch das Fahrwerk.

Da war der Blick in das Cockpit schon aufregender. Hier hatte die Moderne bereits Einzug gehalten, in das – wie viele behaupteten – sicherste Motorrad der Welt. So an die zwanzig Kontrollleuchten informierten über den inneren Zustand der Maschine. Das ABS schnurrte immer etwas länger, bis die Umdrehung der Räder fünf Stundenkilometer Geschwindigkeit erreichte. Dann sprang das Geräusch vom Trommelfell ab wie eine Katze vom Sofa, wenn sie genug geschnurrt hatte. Nachdem der Anlasser zwei, drei Mal sich mühelos gedreht hatte, wurde der Sound kerniger. Ein leichter Zug am Gas ließ sofort die geballte Kraft ahnen, die durch die Katalysatoren und Schalldämpfer auf die gesetzlichen Normen gebracht wurde. Jedesmal, wenn die Oberschenkel über den Tank Kontakt zu der Maschine aufnahmen, stellte sich spontan ein Gefühl der Sicherheit ein. Die Reifen vermittelten nicht nur den Straßenzustand, sondern gaben auch jenes sichere Gefühl an das „Popometer“ zurück.

Ich wachte auf. Es war Sonnabend. Mit einem Ruck saß ich auf der Bettkante und blinzelte in die Morgensonne, die im Osten aufgehend, mich geweckt hatte. Tatsächlich, ich hatte von meinem Motorrad geträumt. Ein Traum war in der Tat in Erfüllung gegangen. Mein letztes Motorrad, das ich anschaffen wollte, sollte eine BMW sein. In Bikerkreisen das Synonym für „Beste Motorrad Ware“. Neben Kardanantrieb, Katalysator und ABS sollten auch Fahrwerk und Design auf dem neuesten Stand sein. Reichlich Drehmoment und PS würden gern in Kauf genommen. Schließlich wollte ich gemütliches Fahren mit Kraftreserven verbunden wissen.

Die bauchigen Transportkoffer aus schlagfestem Kunststoff und Einschlüssel-Technik, mit einem Handgriff rechts und links rüttelfest zu montieren, waren eine Freude für sich. Nach meinem Test mit dem Gartenschlauch erwiesen sie sich auch als wasserdicht. Des Öfteren wurde ich schon gefragt, warum die BMW-Fahrer immer ihren Hausrat in den Koffern spazieren fahren: Wahrscheinlich ist die einfache Handhabung ein Grund dafür. In den vier Monaten, die ich diese Maschine fuhr, habe ich nur wenige Male die Koffer benutzt, umso mehr Pläne habe ich geschmiedet, wo sie zum Einsatz kommen sollten. Zum Beispiel die Fahrt flussaufwärts zur Elbquelle, durch die Tschechoslowakei zur Schneekoppe. Eine andere Tour sollte sich auf den Spuren der Ottonen bewegen. Besonderer Höhepunkt war der Gedanke, sich eines Tages mit dem Motorrad durch die Alpen zu schlängeln. So wie damals, als wir noch mit den Choppern unterwegs waren.

Ich stand vollends auf und ging unter die warme Dusche. Ich machte keinen Hehl daraus, zu den Warmduschern zu gehören. Schließlich war ich keine dreißig mehr.

Im Geiste ließ ich den heutigen Tag mit meiner Planung ablaufen. Da war die Fahrt zum Getränkemann, dann zur Tankstelle, Autowaschen und auf dem Rückweg noch ein paar Sachen für das Wochenende einkaufen. In einer Woche wollte ich meinen Geburtstag feiern. Insgeheim freute ich mich darauf, denn ich wollte groß feiern. Aber es sollte nicht mehr dazu kommen.

Beim Mittagessen besprachen meine Partnerin Birgitt und ich, wer unbedingt auf die Gästeliste gehörte. Ich wünschte mir wie immer eine Basilikumtorte von ihr, weil sie die meisterhaft zubereiten konnte. Neben Basilikum und Knoblauch werden Frischkäse und Greyerzer Käse verwendet. Beim Gedanken daran konnte ich schon die Komposition schmecken. Wir hatten uns darauf verständigt, dass wir zwanzig Personen werden würden. Wir wollten unsere Gäste mit einem Glas Prosecco begrüßen und dann einige italienische Speisen reichen. Zur Auswahl an Getränken hatten wir neben einem Chianti classico, Wasser, alkoholfreies und richtiges Bier vorgesehen. Falls Kinder mitgebracht würden, wollten wir Limonade und Coca-Cola bereithalten.

Die Sonne schien immer noch und hatte den beginnenden Herbst mit goldenen Strahlen eingeleitet. Ich ging auf die Terrasse hinaus und blinzelte ihr durch die schaukelnden Blätter der Rotbuche entgegen. Aus dem Garten stieg schon die würzige Luft des kommenden Herbstes herauf. Ich beschloss, diese friedliche Stimmung, die mich überkam, noch eine Weile auf mich wirken zu lassen. Ich sog die Luft tief in meine Lungen. Dann verließ ich den Garten und betrat das Haus durch die Garage.

Da stand sie nun, meine neue BMW. Auf dem Mittelständler aufgebockt, streckte sie ihr Hinterteil keck in die Höhe. Im Dämmerlicht der Garage schimmerte die Blaumetalliclackierung der K 1200 RS verlockend. Der schräg nach oben ragende Auspuff erschien jetzt wie ein gestreckter Zeigefinger, der sagen wollte: „Hallo, hier bin ich. Zieh dich um, und dann kann es losgehen.“ Dieser Verlockung konnte ich nicht widerstehen. Ich betrachtete meine Maschine von allen Seiten, prüfte, ob ich mit ihr losfahren könnte. In früheren Zeiten, als noch Chopper angesagt war, wurde viel Wert auf sauber poliertes Chrom gelegt. Hier gab es, vom Auspuff abgesehen, nur die nostalgischen Zierringe aus Chrom um die Instrumente. Und die waren immer sauber. Dass es Tote gab, dafür sorgte die Windschutzscheibe. Hier schlugen nämlich die Insekten zu Tausenden ein und hinterließen bizarre Formen, wenn ihre zerplatzten Körper ihr Inneres freigaben. Der Verschmutzungsgrad hielt sich heute in Grenzen, sodass eine Reinigung nicht notwendig erschien. Viel wichtiger war es, das Helmvisier frei von den Insektenleichen zu halten. Es schien eine magische Anziehungskraft von ihm auszugehen, denn im Sommer war nach wenigen Kilometern bereits eine Zwischenreinigung notwendig, wollte man den Durchblick behalten.

Es war noch früh am Nachmittag in diesem September 2001. Meine Pflichten hatte ich alle erfüllt, und so war es naheliegend, meine Sicherheitskleidung anzulegen und noch eine gemütliche Runde mit dem Motorrad zu fahren. Mich einfach mit dieser herbstlichen Stimmung in der Sonne treiben zu lassen. Nicht zu rasen, sondern genussvoll diese Hightechmaschine zwischen den Knien durch die Landschaft zu dirigieren. Jeder Biker braucht ein Ziel. Das war schon immer so. Und so beschloss ich, die Hamburg-Harburg-Nordheide-Tour zu nehmen. Das Reizvolle an dieser Strecke ist die Mischung aus Stadtgebiet, Autobahn, Landstraßen sowie Straßen der zweiten Kategorie mit kleinen Ortsdurchfahrten.

Auf den Elbbrücken ordnete ich mich in der mittleren Spur ein. Die Fahrbahn hatte durch den regen Lkw-Verkehr Spurrinnen. Und so konzentrierte ich mich darauf, nicht in diese Rinnen zu fahren, sondern dazwischen zu bleiben und nicht auf den Ölflecken auszurutschen. Da ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt, wurde ich rechts und links von den Lkw überholt. Bei denen war oft mehr kaputt als nur die Tachowelle. Manchmal wurde mir angst und bange, wenn die riesigen Reifen immer näherkamen. Als ob sie mich in ihrem rasenden Wirbel mitreißen, auf den Asphalt schmettern und mit den folgenden Rädern festwalzen wollten. Deutlicher konnte einem die eigene, schwächere Position kaum demonstriert werden. Die Tipps aus dem Sicherheitstraining traten mir ins Bewusstsein. Abstand halten!

Die Fahrt über die Elbbrücken hatte für mich immer eine doppelte Bedeutung. Verlässt man über sie die Hafenstadt, so ist es, als sei man einer Umklammerung entronnen. In umgekehrter Richtung hatte ich jedes Mal das Gefühl, nach Hause zu kommen, mit offenen Armen empfangen zu werden, flankiert von den hohen Stahlbögen der Brückenkonstruktion. Rechts und links der Autobahn das Hafenpanorama, besonders nachts durch die vielen Lichter reizvoll anzusehen. Hier herrscht Leben. Hier atmet die Stadt im Rhythmus einer Metropole. Aus der Ferne fast filigran anmutend, die Köhlbrandbrücke, die den gleichnamigen Seitenarm der Elbe überspannt und die Trasse schwebend in den Freihafen führt.

Nach fünfzehn Minuten Autobahnfahrt hatte ich die Ausfahrt Harburg erreicht. Hier verließ ich die „größte offene Psychiatrie“, wie die Autobahn im Polizeijargon auch heißt. Nachdem ich Harburg hinter mir gelassen hatte, lenkte ich meine Maschine in die flache Landschaft. Die Straße schlängelte sich zwischen grünen Wiesen hindurch, durchschnitt kleine Dörfchen. Ich war in der Nordheide. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken und zeichnete scharf begrenzte Schatten auf die Straße. Ich ließ mich treiben, ohne Hektik, mal in Richtung Lüneburg, mal in Richtung Winsen.

Da war es wieder, dieses Gefühl im Bauch. In jeder Kurve war es da. Es begleitete mich und gab mir jenes angenehme Kribbeln, das ich als Kind oft verspürt hatte, wenn ich mich auf eine Sache ganz besonders freute. Wie damals, als ich mir das neue Fahrrad gewünscht hatte. Es war Ostern, und die Eltern hatten es im Hof hinter einem unserer Lkw versteckt. Dort habe ich es natürlich sofort entdeckt. Ich war ganz taumelig vor Freude, dass ich es tatsächlich bekommen sollte. An dieses Glücksgefühl erinnerte ich mich an jenem sonnigen Nachmittag im September. Außerdem wollte ich in einer Woche meinen vierundfünfzigsten Geburtstag feiern.

Die Straße hob mich sanft über Hügel hinweg und leitete meinen Weg in ein Dörfchen, wo ich vorher noch nie war. Zu meiner Rechten erschien das Ortseingangsschild. Aus dem Augenwinkel nahm ich den Namen wahr und vergaß ihn sofort wieder. Ich hatte mir angewöhnt, am Ortseingang nicht nur das Gas wegzunehmen, sondern auch zwei Gänge herunterzuschalten. Die Vorteile dieser Maßnahmen lagen auf der Hand: Durch den jetzt hochtourig laufenden Motor hatte ich ein angemessenes Fahrgefühl und gleichzeitig eine Sicherheitsreserve durch die Beschleunigungsmöglichkeit. Über Motorräder kann man letztlich denken, was man möchte; sie sind nun einmal Beschleunigungsmaschinen, von null auf 100 Stundenkilometer in etwa drei Sekunden ist normal. Und das mit einem kleinen Dreh am Gasgriff. Das Herz schlägt in dieser Zeit zwei bis drei Mal.

Zu meiner Rechten stellte ich fest, dass das Dorf sogar über eine Tankstelle verfügte, die das Benzin recht preiswert anbot. Ein kurzer Blick auf meine Tankanzeige lockte mir nur ein Grinsen ins Gesicht. In dem voluminösen Tank steckten noch einige Dutzend Kilometer. Dann kamen die ersten Häuser. Gleich das Erste vor der Kurve war ein Souvenirladen. Offenbar war seine Spezialität der Verkauf von Hartbrandwichteln in allen Formen, Größen und Ausführungen. Diese Dinger sind die Lieblinge vieler Deutscher. Sie stellen sie sich in den Garten oder sonstwo hin, weshalb sie auch Gartenzwerge genannt werden. Der Gedanke an all diese Wichtelliebhaber ließ mich unter dem geschlossenen Visier meines Motorradhelmes erneut grinsen.

Im Scheitelpunkt der Kurve der Dorfstraße, die das Dorf nach rechts verließ, musste ich anhalten, weil vor mir ein Fahrzeug hielt, um nach links abzubiegen. Eigentlich wollte ich weiterfahren und überlegte, ob ich mich rechts zwischen Fahrzeug und Bordsteinkante vorbeischlängeln sollte. Es war aber zu eng, die Bordsteinkante war zu hoch und hätte einem Zweirad niemals erlaubt, sie im spitzen Winkel zu überrollen. Mit einem Auto hätte man das geschafft, mit einem Motorrad auf keinen Fall.

Viele Motorradfahrer schlängeln sich allzu gerne zwischen den Fahrzeugen hindurch, oder an ihnen vorbei. Es gibt das Gefühl der Überlegenheit zurück, das einem sonst fehlt. Besonders im Stadtverkehr, wenn es zu eng wird, nimmt man als Motorradfahrer wahr, wie schutzlos man der Rücksichtslosigkeit seiner Umgebung ausgeliefert ist. Da wird geschnitten und ausgebremst, als ob es darum ginge, die Qualifikation für ein Formel-1-Rennen zu erreichen. Ich habe mir oft Gedanken gemacht, woher diese Rivalität kommen könnte. Die einzige Erklärung, die mir plausibel erschien, war der Neid auf die Beschleunigung der Motorräder. Selbst teure und teuerste Sportwagen träumen nur von dieser Beschleunigungsleistung, die ein Serienmotorrad so locker auf die Straße bringt. Was liegt da näher, als abzudrängen, auszubremsen, zu hupen, aus dem offenen Fenster zu spucken, oder Gegenstände hinauszuwerfen. Oft konnte ich beobachten, welche hämische Freude sich auf den Gesichtern von Autofahrern breitmachte, wenn sie den Motorradfahrer getroffen hatten. Auch mich traf einmal eine leere Bierdose an der Schulter. Kein Problem, wenn man mit einem Protektoranzug unterwegs ist. Trotzdem musste ich tief durchatmen, bis sich mein Adrenalinspiegel wieder normalisiert hatte.

Ich hielt hinter dem Mercedes an. Mit seiner lindgrünen Lackierung aus den fünfziger Jahren war er irgendwie fehl am Platze. Sein Besitzer hatte ihn gut gepflegt und fürs Wochenende auf Hochglanz gebracht. Die Chromteile blitzten und funkelten in der Sonne, frei von blinden Stellen. Der Lack schien frisch poliert und glänzte aus der Tiefe heraus. Der Fahrer hatte sein Fahrzeug schräg über die Straße gestellt und stand ziemlich dicht an der Mittellinie. Den Gedanken, mich links an seinem Oldtimer vorbei zu mogeln, gab ich auf. Es hätte bedeutet, in den Gegenverkehr zu fahren, nur um als Erster in der Reihe zu stehen. Für ein solches Manöver war der Verkehr zu dicht. So blieb ich in der linken Hälfte der Fahrspur stehen. Das Gewicht der Maschine hatte ich auf dem rechten Bein abgefangen und den rechten Fuß auf der Straße abgestellt, während der linke Fuß auf der Raste darauf wartete, den ersten Gang einzulegen. Die Hitze knisterte im Motor und schickte mir jenes würzige Aroma nach oben, das für das Motorradfahren typisch ist.

Die Sonne schien mir warm auf den Rücken. Ihre Wärme zog in meinen Körper und ließ in mir ein angenehmes Gefühl aufsteigen. Ihr Licht zeichnete meinen Schatten scharf vor mir auf die Straße, von der durch die Wärme Teergeruch aufstieg und sich mit dem Duft des nahen Herbstes vermischte. Ich genoss diesen Augenblick und sog die Luft durch die Nase ein. Um mein Stimmungsbild perfekt zu machen, fehlte nur noch das glitzernde Wasser der Elbe, das mich als silbernes Band oft auf meinen Fahrten begleitete. Das war höchster Genuss, das war Motorrad fahren, das war Bauchgefühl. Ich liebte diese gemütlichen Fahrten am Wasser entlang, weil die Seele im Fahrtwind baumeln konnte. Hier konnte ich meine Träume leben, während andere ihr Leben träumten.

Am Fluss entlang hatte ich meine Rastpunkte, dicht am Wasser gelegen, sodass der leichte Wellenschlag zu hören war. Wenn ich am Ufer im Gras in der Sonne lag und auf das vorbeiströmende Wasser blickte, fühlte ich, wie meine Sorgen mit der Strömung wegschwammen.

Es ist ein Ritual. Ich atme tief durch. Die Augen halb zu Schlitzen geschlossen, blinzele ich dem grellen Licht der Sonne entgegen, das Diamanten gleich auf dem Wasser glitzert. Das gegenüberliegende Ufer scheint sich im gleißenden Licht aufzulösen. Ich liege am Meer.. Schiffe ziehen in Sichtweite vorbei. Ich höre die Motoren stampfen. Eine Brise weht um die Nase und zerzaust die Haare. Es riecht nach Diesel. Manchmal kreisen Möwen. Ihr kreischen schrillt im Ohr. Es ist schön hier.

Fuhr ich dann weiter, war ich immer erleichtert; mein Kopf war freier, meine Gedanken klarer und ich fühlte mich wohl. Wie hätte ich wissen sollen, dass ich diese Stimmung nie wieder erleben würde?

Ich dachte, dass bei der Beleuchtung die Sicherheitsstreifen, die in die Jacke eingearbeitet waren, reflexhaft glitzern müssten in der Sonne. Außerdem hatten meine Stiefel Reflektoren im Fersenbereich. Wieso dachte ich jetzt zum ersten Mal daran? Es hatte mir immer genügt zu wissen, dass Rücklicht, Bremslicht, Blinker und Fahrlicht funktionieren. Natürlich musste auch der Luftdruck der Reifen stimmen und die anderen Dinge, die man überprüft, wenn man Motorrad fährt und wieder heil ankommen möchte. Aus welchem Grund gingen mir jetzt solche Gedanken durch den Kopf?

Der Gegenverkehr hatte immer noch kein Weiterkommen zugelassen. Ich stand hinter dem grünen Mercedes und wartete darauf, nach ihm links abbiegen zu können. Ich hatte mich umentschieden und beschlossen, dem Wegweiser nach Hamburg zu folgen. Den rechten Fuß hatte ich etwas weiter nach außen abgestellt, um das Gewicht der schweren Maschine auszubalancieren und in der Sonne eine breitere Silhouette abzugeben. Ein Hintermann würde mich dann besser wahrnehmen können.

In meinem ganzen Motorradfahrerleben hatte ich mir noch nie Gedanken um meinen Hintermann gemacht. Schließlich war ein Motorrad eine Beschleunigungsmaschine. 130 PS für knapp 500 kg einschließlich Fahrer mit Motorradbekleidung bedeuteten Kraft im Überfluss.

Mir ging die Szene durch den Kopf, als bei meinem Pfingstausflug eine flotte BMW-Cabriofahrerin wissen wollte, wer von uns beiden schneller ist. Bei 250 km/h wurde sie elektronisch abgeriegelt, sodass ich spielend an ihr vorbeiziehen konnte. Solche Spielchen sind manchmal ganz lustig, machen aber nicht den Reiz des Motorradfahrens aus. Im Gegenteil: Je schneller man fährt, desto anstrengender wird die Fahrt. Der Wind pfeift unter dem Helm. Die Arme werden immer länger und der Kopf will auch gehalten werden.

Ich konzentrierte mich auf den Gegenverkehr, um zu sehen, wann sich eine Lücke zum Abbiegen auftäte. An diesem wunderbaren Samstag schien es jedoch, als ob halb Deutschland durch den Ort fahren wollte. Ein Auto nach dem anderen kam und hinderte mich daran, endlich nach links abzubiegen. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass diese Abzweigung nicht ganz ungefährlich sei, weil sie sich direkt am Scheitelpunkt der Rechtskurve der Dorfstraße befand. Drüben links auf der anderen Seite der Kreuzung nahm ich kurz den Wegweiser wahr, auf dem stand: Hamburg 54 Kilometer. Das bedeutete für mich noch eine knappe Stunde Fahrzeit, denn ich hatte ja beschlossen, ganz entspannt und defensiv zu fahren. Ich wollte die Ortsdurchfahrten genießen, die Fachwerkhäuser rechts und links der Straße, die von riesigen, uralten Bäumen überspannt wurden. Die Kontraste zwischen Autobahn, Landstraße und Dorfstraßen, die durch beschauliche Ortschaften führten, waren es, die den Reiz dieser Fahrt ausmachten. Meine Gedanken waren schon fast zu Hause, bei der Gästeliste, meiner Geburtstagsfeier. Ich freute mich darauf, meine Freunde wiederzusehen, die größtenteils auch Motorrad fuhren und manchmal weite Touren machten. Da standen wieder eine ganze Reihe Benzingespräche und andere Themen an. Unsere Motorradgruppe bestand aus fünf Ehepaaren, Ärzte, Zahnärzte und leitende Angestellte. Wir trafen uns des Öfteren im Jahr zu gemeinsamen Ausfahrten oder an Treffpunkten für Biker, wo man ungestört über sein Hobby sprechen und Nachrichten und Erfahrungen austauschen konnte.

Ein riesiger Sog erfasste mich und zog mich nach vorne; ich dachte, was ist jetzt schon wieder los?

Der Lichterkranz, den ich wahrnahm, war so grell, dass ich die Augen schließen musste. Die Lichtstrahlen schossen hervor wie aus unzähligen Schweißbrennern mit weißen und blauen Flammen. Da bemerkte ich, dass die Helligkeit zum Zentrum hin abnahm, bis sich ein dunkler Raum wie ein Tunnel auftat. Dann sah ich mich. In Motorradfahrerhaltung schwebte ich auf den Tunnel zu. Ich blickte nach unten. Dort lag ein kleines friedliches Dörfchen, das von einer Landstraße durchzogen war. Auf der Landstraße standen Autos, statt zu fahren. Nichts bewegte sich, nur einige Menschen liefen hin und her. Offenbar hatte es dort einen Unfall gegeben, denn in beiden Fahrtrichtungen sah man Blaulichter von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen blitzen. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, denn zwei Autolängen vor einem klobigen Geldtransporter lag in einer großen dunklen Pfütze ein Motorrad. Öl und Benzin waren ausgelaufen, und einige Meter davon entfernt lag ein Mensch.

Ich! Und mein Motorrad!

Dann blickten alle nach oben. Meine Verwunderung, ob sie mich hier oben sehen könnten, ging im Motorenlärm des Rettungshubschraubers unter, der sich einen Landeplatz auf der Kreuzung suchte.

Auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich in Motorradfahrerhaltung in das dunkle Zentrum schwebte. Meine Haltung hatte embryonale Form angenommen. So schwebte ich diesem Dunkel entgegen. Dieses nahm mich auf und umgab mich von allen Seiten. Nicht furchterregend, sondern auf eine unbekannte aber angenehme Art und Weise. Ich fühlte mich geborgen. Je weiter ich eindrang, desto mehr erkannte ich, dass ich mich in einem Tunnel befand; endlos, mit einem perlmuttartigen Schimmer am anderen Ende. Als ich dort ankam, spürte ich: Hier war alles friedlich, schmerzfrei, wohltuend, warm und schwebend leicht. Der Raum, in den ich gelangte, schien unendlich groß zu sein und dennoch hatte ich das Gefühl, hier nicht alleine zu sein. Ich versuchte herauszufinden, woher dieses Licht zu mir drang; ich konnte keine Stelle erkennen, von der dieser Schimmer hätte ausgehen können.

Irgendwie durchströmte mich ein seltsames Gefühl von Glück, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. So sehr mich dieses Gefühl beruhigte, so neugierig wurde ich auch, herauszufinden, was es mit dem Licht auf sich haben könnte. Dieses unbekannte Glücksgefühl machte mich ruhig und zufrieden; als müsste ich nie mehr Angst vor irgendetwas haben. Ich fühlte mich schwerelos und frei, aller irdischen Verbundenheit enthoben. Dann nahm dieses schwerelose Schweben Geschwindigkeit auf. Es wurde immer schneller, ohne bedrohlich auf mich zu wirken. Genauso wenig konnte ich eine Richtung ausmachen, in die ich mich bewegte. Ich hatte nur das Gefühl, dass meine Bewegung im Raum immer schneller wurde. Keine rasende Fahrt wie in der Achterbahn, sondern eine gleichförmige, stetige Bewegung. Zielgerichtet, jedoch ohne das Ziel zu erkennen – oder gar zu wissen, wo es sei.

Als ich sehr viel später mit meinem Psychotherapeuten über dieses Erlebnis sprach, erklärte er mir, dass ähnliche Erlebnisberichte von Menschen vorliegen, die todesnahe Erlebnisse hatten.

Vater im Himmel

Raum und Zeit waren ineinander übergegangen. Ohne Konturen und ohne Überlappungen schienen sie deckungsgleich zu sein. Ich konnte mich schwerelos im Raum bewegen und hatte keine Empfindung für oben und unten. Meine Augen suchten nach etwas, das sie fixieren konnten, und fanden nichts. Ich war von Unendlichkeit umgeben.

Plötzlich erregte ein schwarzer Punkt meine Aufmerksamkeit. War er doch die einzige Unregelmäßigkeit in der Weite des Raumes. Meine Augen saugten sich an ihm fest, um eine Identifikation bemüht. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, weil der Punkt viel zu klein und viel zu weit entfernt war. Er wollte keine Kontur preisgeben. Meine Augen begannen zu tränen; und als ob sie das Licht mit größter Anstrengung brechen könnten, schienen sie mir mitteilen zu wollen, dass der Punkt seine Form verändert hatte. Und tatsächlich, die runde Kontur löste sich auf, wurde beim Näherkommen größer und gleichzeitig länger, bis mir klar wurde, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte. Je näher die Gestalt kam, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass mir diese Gestalt nicht fremd sei. Noch wusste ich nicht warum. Die Entfernung war zu groß. Aber ich konnte deutlich sehen, dass es sich um eine männliche Gestalt handelte, die Schritt für Schritt auf mich zuging. So sehr ich mir auch Mühe gab, die Umgebung wahrzunehmen: Ich konnte nichts erkennen, nicht einmal den Untergrund, auf dem die Gestalt sich fortbewegte. Es war alles konturloser, heller Raum. Und dennoch schritt sie langsam und kontinuierlich, scheinbar schwerelos, mir entgegen.

Die Gestalt hatte ein älteres, aber volles Gesicht, dunkle, gewellte Haare, die links gescheitelt und trotz Alters kaum gelichtet waren. Beim Näherkommen wurde meine Wahrnehmung deutlicher, und ich konnte sehen, dass es sich bei diesem Mann um einen leicht untersetzten, mittelgroßen Menschen handelte. Er trug Freizeitkleidung. Über dem Baumwollhemd mit großen roten Karos erkannte ich eine anthrazitfarbene Wolljacke, die einen Rollkragen hatte, wenn man sie mit dem Reißverschluss verschloss. Er trug weiche, bequeme Cordhosen und seine Füße steckten in hinten offenen Hausschuhen aus Leder.

Obwohl die Gestalt immer näherkam, hatte das Gesicht noch keine Kontur angenommen und ließ mich im Zweifel über seine Identität. Ich schloss die Augen, um abzuwarten. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich Klarheit: Ich blickte in das freundliche Gesicht meines Vaters. Er war stehen geblieben und lächelte mich an. So standen wir uns gegenüber und keiner sprach ein Wort. Die Zeit schien unendlich. Wir standen uns gegenüber, sahen uns an und sprachen kein Wort. Mit seiner Anwesenheit hatte ich am allerwenigsten gerechnet. Er war doch schon vor Jahren gestorben.

Ich erinnerte mich genau an die Situation; damals, als meine Mutter mich anrief, um mir mitzuteilen, dass der Vater mit seinem zweiten Schlaganfall in die Klinik eingeliefert worden sei. Es ginge ihm aber soweit zufriedenstellend. Er sei bei Bewusstsein, könne aber nicht mehr sprechen. Infusionen und Dauerkatheter hatte er dennoch abgewehrt.

Als ich mit der Morgensprechstunde in meiner Praxis fertig war, rief ich in der Klinik an, um mich nach dem Befinden meines Vaters zu erkundigen. Meine Mutter war bei ihm, und da gerade Visite war, ließ ich mir die Oberärztin ans Telefon geben. Als Kollegen tauschten wir medizinische Daten und Erkenntnisse aus. Bis ich im Hintergrund die Atmung meines Vaters hörte. Die Ärztin bestätigte mir, dass sich die Atmungsintervalle verlängerten und mein Vater mittlerweile das Bewusstsein verloren habe. Mehr brauchte ich nicht zu wissen und zu hören. Für den Rest des Tages sagte ich meine Sprechstunde ab. Meine Mitarbeiterinnen hatten alle Hände voll zu tun, die Patientinnen zu erreichen. Ich fuhr schnell nach Hause, um ein paar Sachen zusammenzupacken. Von der Praxis aus hatte ich einen Flug nach Frankfurt gebucht, den es jetzt zu erreichen galt.

Die üblichen Kontrollen ertrug ich gelassen. Ich fühlte mich, als ob ich in einen zähen Brei eingehüllt sei. Mit meinen Gedanken war ich längst bei meinem Vater. Der Flug an sich dauerte eine knappe Stunde. Ich hatte es sehr eilig, denn die Atemgeräusche, die ich am Telefon gehört hatte, kannte ich nur zu gut aus meiner Zeit als studentische Sitzwache. Mehr als einmal hatte ich diese Atmung gehört, nach den Erstbeschreibern dieses Zustandes Cheyne-Stokes-Atmung genannt; bei Patienten, die an der Grenze zum Tode stehen. Ich hatte es wirklich eilig, weil ich nicht zu spät kommen wollte, nicht zu spät kommen durfte.

Als ich endlich sein Zimmer betrat, nahm ich meine Mutter wahr, die mit bleichem Gesicht und großen, schreckgeweiteten Augen an seinem Bett saß, und sofort anfing, hemmungslos zu weinen, als sie mich sah. Wir fielen uns in die Arme, und auch ich musste weinen.

Sie hatten das Oberlicht des Zimmerfensters geöffnet, und die frische Luft des späten Frühlings mischte sich mit der katabolen Ausatmungsluft meines Vaters zu einem Geruch, der morbide, nach Ende, nach Tod roch.

Ich wandte mich meinem Vater zu, nahm seine Hand und sprach mit ihm. Ich sagte, dass ich jetzt da sei und bei ihm bliebe. Er unterbrach seine schnarchende Atmung und schluckte, und ich hatte den Eindruck, dass er versuchte, die Augen zu öffnen. In Wirklichkeit war es wohl kaum mehr als ein Blinzeln. Ich gab mir Mühe, mit fester Stimme zu sprechen, um ihm die Sicherheit zu geben, dass er nicht alleine war. Meine Mutter hatte mir ihren Wunsch übertragen, ihm seine Zahnprothese einzusetzen. Ich sprach ihn an, um anzukündigen, dass ich jetzt die Prothese einsetze. Er ließ den Unterkiefer herabsinken, und als ich ihm die Teile einpasste, hatte ich das Gefühl, dass sich sein Gesicht entspannte.

Meine Mutter und ich saßen am Bett des Sterbenden auf unseren Stühlen und sprachen mit gedämpfter Stimme miteinander. Was wir im Einzelnen besprochen haben, weiß ich nicht mehr. Wichtiges wird es wohl nicht gewesen sein, denn mit einem Ohr verfolgte ich die Atemzüge, die an Tiefe zunahmen, während sich ihre Anzahl immer weiter verminderte. Schließlich war kein Atemzug mehr zu vernehmen.

Er war eingeschlafen. Er war tot.

Und jetzt stand er mir gegenüber. Er hatte sich nicht verändert. Sein Gesicht war so, wie ich es in Erinnerung behalten hatte. Über den kräftigen Augenbrauen furchte sich die Stirn. Sein Gesicht hatte einen freundlichen Ausdruck angenommen. Er schaute mich nicht an, seine Augen fixierten vielmehr einen fernen Punkt hinter mir. Er sagte, dass ich zu früh gekommen sei. Keinesfalls könne ich hierbleiben, sondern müsse mich umgehend auf den Rückweg machen. Er sagte das mit einer ruhigen, gleichmäßigen, aber kräftigen Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. Warum sollte ich auch widersprechen. Ich hatte keine Ahnung, welchen Vor- oder Nachteil es für mich haben würde, mein Verbleiben zu erzwingen. Was es auch immer zu bedeuten hatte, mein Bewusstsein weigerte sich, Klarheit zu schaffen.

Was hatte das zu bedeuten – „zu früh gekommen“?

Wohin war ich zu früh gekommen?

Wer hatte das entschieden?

An eine Verabredung konnte ich mich nicht erinnern. Ich versuchte zu erkennen, in welcher Umgebung wir uns befanden, um einen Hinweis auf die Örtlichkeit zu erhalten und in welche Richtung mein Rückweg hätte erfolgen sollen. Wir standen in einem lichterfüllten, konturlosen Raum. Aber worauf standen wir? Ein Fußboden war nicht auszumachen. Ein befremdliches Gefühl hatte ich trotzdem nicht. Der Untergrund war nicht zu fühlen. Auch konnte ich keinen Schatten von mir erkennen, obwohl alles um mich herum hell und licht war. Wo war mein Schatten?

Mit vollem Vertrauen zu meinem Vater drehte ich mich um und ging. Ohne zu wissen, welchen Weg und welche Richtung ich zu nehmen hätte.

Rückkehr auf die Erde

Eben noch hatte ich vor meinem Vater gestanden. Und jetzt befand ich mich auf dem Rückweg, aber ich wusste nicht, von wo nach wo. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um einen Weg zu finden. Ich hatte nicht das Gefühl, einen geraden oder gebogenen Weg zu gehen, auch wusste ich nicht, ob ich bergauf oder bergab ging. So sehr ich mich auch bemühte: Um mich herum war nichts zu erkennen, was mir einen Hinweis hätte geben können. So beobachtete ich meine Füße, wie sie einen Schritt nach dem anderen mit mir machten.

Ich hatte die Zeit verloren, die einzigartig und unwiederbringlich ist. So wie damals, als ich etwa sieben Jahre alt war, stundenlang auf meinem Kastanienbaum saß, seine Stärke genoss, mit der er mich trug; seine Zweige verfolgte, bis in die letzten Spitzen, an denen die Blätter schaukelten und die Blüten ihren Duft verströmten.

Wir mochten uns und sprachen miteinander. Meinem Baum konnte ich alles erzählen, alles anvertrauen, wie man es von einem Freund erwarten durfte. Er erfuhr alle meine Geheimnisse, ich erzählte ihm von Freude und Leid, und wenn er mich verstanden hatte, raschelte er mit seinen Blättern, entweder vor Freude oder um mich zu trösten. Die längsovalen Blätter, die sich zu sechst einen Stiel teilten, empfand ich immer wie eine Hand, die zum Schwur drei Finger hebt. Niemals hätte ich meinem Baum misstraut. Wir verstanden uns. Meine Geheimnisse habe ich niemandem erzählt. Nicht einmal meiner Freundin, die mit mir auf den Baum klettern durfte. Sie hieß P. und hatte brünette, halblange Haare. Wunderschöne große, braune Augen mit langen Wimpern und eine gerade Nase. Wenn sie die Lippen öffnete, blitzten ihre Zähne. Sie verzauberte mich mit einem Lächeln, das mir das Herz höher schlagen ließ. Heute trug sie ihre Hirschlederhose, mit den roten Herzen als Taschen aufgenäht, und ihr rotweiß kariertes Hemd, in dem sie fast wie ein Junge aussah. Das war mir ganz recht so, denn die Erwachsenen brauchten auf den ersten Blick nicht zu sehen, dass ich eine Freundin hatte und mit ihr auf meinem Baum saß. Sie hätten nur wieder überflüssige Fragen gestellt, „Was habt ihr gemacht?“, oder „Worüber habt ihr geredet?“ Alles Dinge, die sie nichts angingen.

Die Kastanie war ein sehr alter Baum. Ich konnte den Stamm alleine nicht umfassen. Allenfalls zu dritt gelang es uns Kindern, wenn wir uns an den Händen hielten. Der Stamm wurzelte in einem von einer schmalen Steinmauer umgrenzten Bereich von etwa drei mal vier Metern. Der war für uns Kinder als Sandkiste hergerichtet. Dort konnten wir nach Herzenslust und ungestört spielen. Die Krone der Kastanie war riesig. Uns Kindern war der Gedanke nicht fremd, dass sie bis in den Himmel reichte, wo der Gott war, zu dem ich jeden Abend mein Gebet sprach: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich zu Dir in den Himmel komm.“

Im Frühjahr, wenn sie in voller Blüte stand und an einen mit Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum erinnerte, konnte ich ihren betörenden Duft in meinem Zimmer im zweiten Stock riechen. Dort war ich ihr ganz nahe. Wenn der Abendwind durch ihre Blätter streifte, stand ich an meinem Fenster und hörte ihr zu, wie sie Geschichten aus ihrem langen Leben erzählte. Sie hatte schon manches gesehen und vieles zu berichten, und ich habe es nie erlebt, dass sie eine Geschichte wiederholt hätte.

Nach der Blüte bildete sie Früchte, die sie in Stacheln einhüllte. Wenn diese runden stacheligen Gebilde dann zu Boden fielen und aufplatzten, kamen die herrlichen braunen Kastanien zum Vorschein; wie frisch poliert, glänzten sie. Wir sammelten sie für den Großvater, der sie in einem Säckchen aufbewahrte und darauf schwor, dass im Winter aus ihnen die Sonne des Sommers wohltuend auf sein schmerzendes Knie wirken würde.