Menschliche Gesellschaft 4.0 -  - E-Book

Menschliche Gesellschaft 4.0 E-Book

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Beschreibung

Der Digitale Wandel verändert unsere Gesellschaft so stark wie der Buchdruck oder die Industrialisierung. Dieser Wandel wird mit Euphorie oder Skepsis beobachtet. Wie stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die digital und gleichzeitig menschlich ist? Wie wirkt sich das auf unser Menschenbild, die Arbeitswelt, Demokratie und Pflege aus? Haben Christen etwas dazu zu sagen?

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Roland Knillmann / Michael Reitemeyer (Hg.)

Menschliche Gesellschaft 4.0

(Christliche) Beiträge zum Digitalen Wandel

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: ©2kras99 / AdobeStock

Satz: Röser Media, Karlsruhe

ISBN E-Book EPUB 978-3-451-82101-1

ISBN E-Book PDF 978-3-451-82102-8

ISBN Print 978-3-451-38791-3

Inhalt

Einführung

ROLAND KNILLMANN / MICHAEL REITEMEYER

Digitalisierung: Fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit

HARALD WELZER

Caritas by Design? Wohlfahrtspflege in der digitalen Gesellschaft

EVA M. WELSKOP-DEFFAA

Teil 1 – Neues Menschenbild?

Anthropologie und Künstliche Intelligenz

MAGNUS STRIET

Trans- und Posthumanismus – ein Überblick

JANINA LOH

Teil 2 – Veränderte Arbeitswelt?

Verheißung oder Bedrohung – was verbirgt sich hinter Arbeit 4.0?

ANDREAS PASCHKE

Menschenwürdige Arbeit in der digitalen Welt

ANDREAS LUTTMER-BENSMANN

Digitalisiert, effizient & global? Die fortlaufende Technisierung der Erwerbsarbeit

BETTINA-JOHANNA KRINGS

Teil 3 – Gefährdete Demokratie?

Demokratie im (Digitalen) Wandel

STEFAN MUHLE

Herausforderungen für die Demokratie im digitalen Zeitalter

MICHAEL BRENDEL

Sieben Thesen zu Digitalisierung und Demokratie

OLIVER ECKERT

Demokratie und Digitalisierung – christliche Ethik als herausfordernde Einmischung

URSULA NOTHELLE-WILDFEUER

Teil 4 – Erleichterte Pflege?

Wo stehen wir in Robotik und Datenanalyse – der Versuch einer kritischen Einordnung

MARTIN SCHNELLHAMMER

Autorenverzeichnis

Anmerkungen

Einführung

ROLAND KNILLMANN / MICHAEL REITEMEYER

»Willkommen in der Zukunft. Hier läuft alles rund. Arbeit, Freizeit und Beziehungen sind von Algorithmen optimiert. QualityPartner weiß am besten, wer zu dir passt. Das selbstfahrende Auto weiß, wo du hin willst. Und wer bei TheShop angemeldet ist, bekommt alle Produkte, die er haben will, automatisch zugeschickt. Ganz ohne sie bestellen zu müssen. Denn das System weiß, was du willst. Kein Mensch ist mehr gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen, denn in QualityLand lautet die Antwort auf alle Fragen: o. k.«1

Das ist der Anfang des Werbefilms für QualityLand, einem beeindruckenden und gleichzeitig beunruhigenden Buch von Marc-Uwe Kling. Worum geht es? Um den Digitalen Wandel.

Der Digitale Wandel verändert alles. Das darf man wörtlich nehmen. Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, die Zeit des Umbruchs, in der wir stehen, mit der Entstehung der Sprache, der Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks zu vergleichen. Trotzdem ist die Feststellung korrekt.

Wir spüren das im Alltag. Einige willkürliche Beispiele: Das Smartphone macht uns überall erreichbar. Die Taschencomputer haben eine Rechnerleistung, die weit über das hinausgeht, was selbst ein guter PC vor einigen Jahren unter der Haube hatte. Zum Zeitpunkt, als diese Zeilen geschrieben werden, wird große Hoffnung auf eine Corona-Warn-App gesetzt, die helfen soll, Infektionsketten sehr früh zu identifizieren und zu unterbrechen. Sprachassistenten wie Alexa und Siri erheben den Anspruch, das Leben zu erleichtern und bequemer zu machen; sie schaffen blitzschnelle Zugänge zu fast allem, was wir wollen. Spotify, Deezer, Netflix, Amazon Prime usw. ermöglichen teils kostenlos, teils für kleines Geld unmittelbaren Zugang zu Millionen von Musik- und Filmtiteln. Das alles geschieht sofort.

Ist das alles kostenlos? Natürlich nicht. Die Digitalwirtschaft steht in immensen wirtschaftlichen Zusammenhängen. Basisfaktoren sind die Unmengen von Daten, die mittlerweile jede Sekunde generiert werden, ihre Analyse und die faszinierenden Möglichkeiten, die auf diesem Weg eröffnet werden.

Sieben der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt verdienten 2019 ihr Geld im Internet.2

Es geht also auch um sehr viel Geld und sehr viel Macht. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi nennt das »Plattformkapitalismus«. Dabei komme es nicht darauf an, was da angeboten werde, »sondern … welche Daten anfallen«. Das Produkt sei lediglich Vehikel zur Abschöpfung von Daten für weitere Geschäfte.3

Vieles von dem, was den Digitalen Wandel ausmacht, spielt sich im Rücken des Alltags ab, ist zunächst kaum oder gar nicht wahrnehmbar. Oder wissen Sie, welche Daten Ihr Auto erfasst, speichert oder gar an den Hersteller sendet, wenn Sie den Zündschlüssel umdrehen? Wissen Sie, was Ihr Smartphone über Sie weiß und mit wem es dieses Wissen teilt? Können Sie einschätzen, weshalb Google Ihnen gerade die Treffer zeigt, die Sie bei bestimmten Suchbegriffen sehen, und nicht die Treffer, die zum Beispiel Ihr Nachbar bei den gleichen Suchbegriffen geliefert bekommt?

Die Entwicklung geschieht in atemberaubender Geschwindigkeit und in nicht zu durchschauender Komplexität. Die allermeisten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sind völlig überfordert. Das gilt für normale Bürgerinnen und Bürger, für Politikerinnen und Politiker und auch für Kirchenleute.

Es bleibt ein Schwanken zwischen staunender Faszination, Resignation und alltäglicher, fast gleichgültiger Akzeptanz.

Beinahe verloren geht die Wahrnehmung, dass in dieser Dynamik auch Linien verschoben werden, die nicht mehr einzuholen sind: gesellschaftliche Autonomie, individuelle Freiheitsrechte, das normative Bild des Menschen.

Die Überforderung, die durch Geschwindigkeit und Komplexität verursacht wird, geht hier direkt in Gleichgültigkeit über, die mit dem resignierten Stoßseufzer einhergeht, dass man doch sowieso nichts machen könne.

Die beiden Autoren dieses Beitrags sind davon überzeugt, dass dies die falsche Perspektive ist, auf die aktuellen Entwicklungen zu schauen. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche geschehen nicht von allein, sondern sind zumindest zum Teil gestaltbar.

Wem überlassen wir die Gestaltung – und damit die Antworten auf die Frage, was der Mensch ist –, wie die Arbeitswelt sich verändert, ob unsere Demokratie zukunftsfähig ist, wie die Pflege älterer Menschen zukünftig vonstatten gehen soll?

Sollen wie in Marc-Uwe Klings QualityLand die Algorithmen und die Firmen, die sie programmieren, die Antworten geben, oder wollen wir mitreden?

Dieses Buch ist der Rückblick auf eine Fachtagung, die im Juli 2019 vom Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V. und dem Ludwig-Windthorst-Haus, der Katholisch-Sozialen Akademie des Bistums Osnabrück, ausgerichtet wurde.

Die zentrale Frage, die der Tagung »Menschliche Gesellschaft 4.0« zugrunde lag, lautete:

Was haben Christen zu diesen Fragen zu sagen? Was sollten sie sich sagen lassen? Damals wie heute ist der Befund ziemlich ernüchternd: Suchen Sie mal in Buchhandlungen, in den Feuilletons der großen Zeitungen, im Internet nach reflektierten christlichen Stimmen. Da gibt es nicht viele.

Manchmal hört man aus kirchlichen oder theologischen Kreisen mahnende Stimmen, die die Bedrohungen und Gefahren an die Wand malen. Das ist bestimmt wichtig – aber so gestaltet man keine Zukunft.

Wer Zukunft mitgestalten will, braucht eine Vision, einen positiven Entwurf seines Ziels. Eine Haltung, die nur abgrenzt und verneint, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern überflüssig.

Dieses Anliegen hat auch der Deutsche Caritasverband aufgegriffen, der seine Jahreskampagne 2019 unter das Motto #sozialbrauchtdigital gestellt hat.4 Die Vision des katholischen Wohlfahrtsverbandes: »Digital ist sozial!«5

In den sozialpolitischen Positionierungen der Caritas finden sich Ansätze, mit denen die Basis christlichen gesellschaftlichen Engagements neu durchdekliniert und weiterentwickelt werden könnten. Denn: Seit mehr als hundert Jahren hat die katholische Kirche mit der christlichen Soziallehre eine hervorragende Basis, von der aus wir in die Diskussion ziehen könnten.

Worum geht es bei alledem? Nicht um die Frage, was Technik kann, so faszinierend sie auch sein mag. Es darf auch nicht allein um die Frage gehen, wer das meiste Geld oder die größte Macht hat.

Es muss um die uralte Frage gehen, was das gute Leben ist, wie Technik und Wirtschaft dem Menschen nutzen. Oder, wie Harald Welzer formuliert: »Die Frage, was das gute Leben ist, bildet die unabhängige Variable, die Mittel, mit denen man es am besten verwirklichen kann, die abhängige.«6

Es geht letztlich auch um die Frage, mit welchem Bild des Menschen wir an die Vision unserer Zukunft herangehen.

Das wird gerade in den Tagen deutlich, in denen dieses Buch zur Veröffentlichung vorbereitet wird: Der größenwahnsinnige Fort-schrittsoptimismus und die Hybris, mit der manche Protagonisten des Digitalen Wandels den Menschen als gottgleich fantasieren, wird gebrochen durch ein mikroskopisch kleines Virus. Die Coronapandemie bedroht innerhalb von Wochen die gesamte Welt. Wo immer es letztlich seinen Ursprung genommen hat – es ist ein biologisches, kein digitales Virus, das zu einer ungeahnten Gefahr wird. Die Heldinnen und Helden dieser Krise leben und arbeiten nicht im Silicon Valley, sondern stehen an Kranken- und Pflegebetten, an den Kassen der Supermärkte oder sitzen hinter Lkw-Lenkrädern, um die Lieferketten nicht abreißen zu lassen.

In der Krise wird zugleich ganz konkret deutlich, welche Chancen der Digitale Wandel bergen kann: Die bereits erwähnte Corona-Warn-App könnte die Verbreitung des Virus erheblich ausbremsen. Die Möglichkeit, wenigstens per Video-Chat mit Familienmitgliedern oder Freunden in Kontakt zu bleiben, hat vielen Menschen die Isolation etwas erleichtert.

Wenn wir den Horizont weiterziehen und von der Coronakrise weg auf andere Einsatzgebiete digitaler Technik schauen, ergibt sich eine Fülle weiterer positiver Perspektiven. Die Analyse von Big Data und der Einsatz komplexer Algorithmen muss nicht zwangsläufig in den Überwachungsstaat oder zur Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger führen. Im Gegenteil: Klug eingesetzt können algorithmische Analysesysteme zum Beispiel Benachteiligungen identifizieren und damit die Ansatzpunkte liefern, mit denen kluge Sozialpolitik Chancen verbessern und bislang benachteiligte Menschen fördern kann.

Diese Liste lässt sich beliebig verlängern.

Wenn Christinnen und Christen, wenn kirchliche Institutionen diese Chancen ergreifen, Risiken identifizieren und minimieren und die Zukunft unserer Gesellschaft mitgestalten wollen, dann müssen sie ins Gespräch gehen. Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner müssen die Gestalterinnen und Gestalter des Wandels sein. Von ihnen können wir lernen, mit ihnen müssen wir, wenn nötig, streiten.

Ein Phänomen der Fachtagung »Menschliche Gesellschaft 4.0« hat uns, die beiden Organisatoren, überrascht: Mehrfach war in den Vorträgen der Wunsch, ja die Aufforderung zu hören: »Bringen Sie sich ein, denn wir brauchen Ihre ethische, theologische und menschliche Kompetenz, damit wir bei unserer Arbeit keine gravierenden Fehler machen!«

Die behandelten Themenbereiche sind Spots auf wesentliche Entwicklungen. Sie sind willkürlich, aber nicht zufällig gewählt. Wenn wir über den Digitalen Wandel sprechen, dann brauchen wir dringend eine Diskussion um das Menschenbild, das sich – teils offen diskutiert, teils unter der Hand – verändert; wir müssen diskutieren über die Einflüsse, denen unser demokratisches System ausgesetzt ist; wir müssen diskutieren über die Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Und natürlich muss es um die Zukunft der Pflege gehen, wenn der Caritasverband Mitveranstalter solch eines Fachtags ist.

Entsprechend dieser Leitthemen sind auch die Beiträge dieses Buches gegliedert.

Von vielen der Referentinnen und Referenten des Fachtags konnten wir die Vorträge und Impulse verarbeiten; zudem haben wir weitere Autorinnen und Autoren gewonnen, die wichtige zusätzliche Aspekte benennen und Position beziehen.

Der Soziologe und Zukunftsforscher Harald Welzer fordert in seinem Eingangsstatement, »die Dinge politisch zu sortieren, und zwar nach Maßgabe der Frage, was von den zweifellos hervorragenden Möglichkeiten dieser Technologie für das zivilisatorische Projekt nützlich ist und was nicht«. Sich von Algorithmen vorschreiben zu lassen, wie man zu leben habe, sei die Rolle rückwärts in die von Kant gebrandmarkte selbst verschuldete Unmündigkeit. Einer Demokratie stehe es gut zu Gesicht, diesen Diskurs erst zu führen, um dann eine solche Großtechnologie zu implementieren.

Eva Welskop-Deffaa, Vorstand für Sozial- und Fachpolitik im Deutschen Caritasverband, sieht die Coronakrise mit ihrem Lockdown als Lackmustest für die Caritas-Jahreskampagne #sozialbrauchtdigital. Sie gibt einen umfassenden Einblick in den Diskussionsstand auf Ebene der Freien Wohlfahrtspflege, was die Innovationsfähigkeit im Sozialwesen anbetrifft: »Digitale Kompetenzen im Verband aufbauen, die Entwicklung passender digitaler Werkzeuge befördern, die Spielregeln digitaler Möglichkeitsräume mitgestalten – das war und ist der Anspruch, der mit dem Motto der Jahreskampagne sichtbar wurde«. Leitende Grundsätze des wohlfahrtlichen Handelns sollten Anwaltschaftlichkeit und Dienstleistungsangebot in ihrer Bezogenheit aufeinander sein. Entscheidend sei es, mit den digital erworbenen Möglichkeiten Not zu sehen und sichtbar zu machen. Dabei befasst sie sich auch mit der Frage, unter welchen Bedingungen der Einsatz einer Corona-Warn-App gelingen könnte.

Magnus Striet unternimmt einen Angang aus der Perspektive theologischer Anthropologie, um Digitalität und Künstliche Intelligenz einzuordnen. Zunächst gelte: Von den ersten, einfachsten Werkzeugerfindungen an bis zur Entwicklung moderner Medizintechnik, von der Erfindung des Rades angefangen bis hin zur Entwicklung modernster Mobilität bedeutet Technikerfindung Erleichterung des Lebens und Zuwachs von Lebensmöglichkeiten. Ein weiterer entscheidender Aspekt im Umgang mit dieser Technik sei der Vertrauensaspekt. Gerade weil moderne Gesellschaften hochkomplex funktionieren, sei Vertrauen nötig. Die neuen Digitaltechniken würden allerdings den alten Grundkonflikt verschärfen, frei und selbstbestimmt sein zu wollen und gleichzeitig vertrauen zu müssen. Wo Digitalität die gesellschaftliche Spaltung zwischen Arm und Reich offenlege und verstärke, sei es Aufgabe der Theologie, für die Situation der Schwachen zu sensibilisieren und sich für diese einzusetzen.

Die Wiener Philosophin Janina Loh befasst sich in ihren Ausführungen mit den aktuellen philosophischen bzw. anthropologischen Reflexionen zu den technologischen Entwicklungen und analysiert das jeweils dahinterliegende Menschenbild. Dabei geht sie insbesondere auf Transhumanismus und Posthumanismus ein. Der Transhumanismus (TH) wolle den Menschen mithilfe technischer Möglichkeiten weiterentwickeln, optimieren, modifizieren und verbessern. Die menschliche Evolution wird im TH als generell unabgeschlossen verstanden, Technik spiele die Rolle des Mediums und Mittels zum Zweck der Optimierung des Menschen zum Menschen x.0. Der Posthumanismus hingegen möchte den Menschen überwinden, bricht mit dem humanistischen Menschenbild, nimmt also eine Position hinter (»post«) einem für die Gegenwart essenziellen Verständnis des Menschen ein. Es geht ihm nicht mehr um eine verbesserte Variante des jetzigen Menschen, sondern um ein vollkommen neues Menschenbild, das jeglichen Dualismus zu überwinden versucht. Eine weitere Strömung besteht im so genannten technologischen Posthumanismus (tPH). Ihm geht es nicht mehr um eine Verbesserung des Menschen durch Technik wie beim Transhumanismus, sondern er strebt eine artifizielle Alterität, eine Art künstlicher Superintelligenz an – Technik ist nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Damit soll der Mensch abgelöst bzw. überwunden werden.

Im zweiten Teil unserer Überlegungen steht die Arbeitswelt im Mittelpunkt.

Andreas Paschke, Geschäftsführer und erfahren im Aufbau von ITStrukturen in produzierenden Unternehmen, schlägt den Bogen von der industriellen Revolution mit der Erfindung der Dampfmaschine und dem mechanischen Webstuhl (Industrie 1.0) über die Entwicklung der Fließbandfertigung und Elektrifizierung (zweite industrielle Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts) und Einführung von Robotik-Automatisierung (dritte industrielle Revolution Mitte des 20. Jahrhunderts) bis hin zur Industrie 4.0, welche die Digitalisierung und Vernetzung der Produktion mit dem Internet of Things (IoT) meint. Seine These: Es fallen zwar jeweils viele Arbeitsplätze weg, dafür entstehen aber auch immer wieder neue.

Aus einem anderen Blickwinkel sieht das Andreas Luttmer-Bens-mann, Bundesvorsitzender der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB): Er fordert, dass der Digitale Wandel in der Arbeitswelt nicht zu einer Degradierung des Menschen als Objekt der Arbeit führen darf. Dabei orientiert er sich an den Grundsätzen der katholischen Soziallehre, wie sie u. a. Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Laborem exercens aus dem Jahr 1981 entfaltet hat. Eine Arbeit ist demnach dann menschenwürdig, wenn sie alle Formen von Abhängigkeit, Ungleichbehandlung, Sklaverei, Ausbeutung und Umweltzerstörung ausschließt, und zwar global.

Bettina Johanna Krings, Forschungsbereichsleiterin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe, definiert Digitalisierung zunächst als Informatisierung und Formalisierung von Arbeitsstrukturen und beschreibt die digitalisierungsbedingten Transformationsprozesse mit analytischem Blick auf die unterschiedlichen Branchen. Dabei vermisst sie industriesoziologische Debatten, welche nach den zukunftsfähigen und nachhaltigen Arbeitsanforderungen fragen und entsprechend neue Arbeits- und Lebensmodelle entwickeln. Dazu gehöre insbesondere die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen technischen Innovationen und Erwerbsarbeit; die Arbeitnehmer müssen dabei mitgenommen werden. Die Analyse der Digitalisierung in den unterschiedlichen Arbeitswelten könnte durchaus dazu beitragen, identitätsstiftende (neue) Formen des Arbeitshandelns für die Beschäftigten auch in der Industrie zu entwickeln.

Der dritte Teil setzt sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere demokratischen Prozesse und Institutionen auseinander. Stefan Muhle, Staatssekretär für Digitalisierung im niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung, nimmt einen Gedanken zum Ausgangspunkt, welcher der Piratenpartei einen kurzzeitigen Boom bescherte: Die technischen Möglichkeiten des Internets stärken – zumindest in der Theorie – ganz erheblich die Voraussetzungen, von denen ein demokratisches System lebt: Teilhabe, unabhängig von individuellen Faktoren; unbeschränkter Zugang zu Informationen, die eine fundierte Meinungsbildung möglich machen; Diskurs und Debatte, hierarchiefrei und zu jeder Zeit. Das aber hat insgesamt zu einem gnadenlosen Wettbewerb um Aufmerksamkeit geführt, der die Nutzerinnen und Nutzer durch die Überfülle an Datenmaterial schlicht überfordert. Das Potenzial wird letztlich von Verzerrungseffekten bedroht, die den Meinungsprozess – auch bei demokratischen Wahlen – erheblich beeinflussen können. Muhle zeigt einige positive Ansätze auf, die Debattenkultur gegen Hate Speech bewusst pflegen, bereits in der Schule den fairen Diskurs einüben und auf die Kraft des Arguments setzen. Dabei steht auch der Staat in der Pflicht, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.

Michael Brendel, Blogger und Studienleiter im Ludwig-Windthorst-Haus, sieht die Gefahr einer deutlichen Entfremdung von (mehrheitlich jüngeren) netzaffinen und (mehrheitlich älteren) in der analogen Welt beheimateten Personengruppen, was sich auf den demokratischen Diskurs auswirke; das allerdings sei eine Strukturfrage. Während die demokratische Meinungsbildung im Parteiapparat relativ festen Strukturvorgaben folgt und daher träge ist, sind die Beteiligungsstrukturen im Netz hierarchiefrei, unmittelbar und schnell. Brendel sieht allerdings die mangelnde Transparenz der Algorithmen von Google, Twitter und den Facebook-Diensten als eine der größten Gefahren für die Demokratie. Er fordert daher die Politik auf, gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, die die Betreiber von Social-Media-Plattformen zwingen, ihre Sortieralgorithmen offenzulegen. In crossmedialen Initiativen der Verlage journalistischer Medien sieht er einen sinnvollen Weg zu einem guten Medienmix. Schließlich solle die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger in der digitalen wie analogen Welt Kernelement der Curricula werden.

Einen sehr kritischen Blick auf die großen Betreiber aus dem »entfesselten amerikanischen Internet« wirft Oliver Eckert, Chef des Medienunternehmens BurdaForward. Aufgrund ihrer erdrückenden ökonomischen Macht werde die Wahrheit zerstört, Meinungs- und Pressevielfalt und damit die Demokratie seien akut bedroht. Lösungen könne es in einem europäischen Staat und insbesondere in einer eigenen Plattform als »Betriebssystem« für unabhängigen Journalismus und Meinungsvielfalt geben.

Ursula Nothelle-Wildfeuer, Professorin für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Freiburg, fragt, mit welcher Berechtigung sich die christliche Ethik in die Fragen von Digitalisierung und Demokratie einmischt. Ethische Richtlinie in diesem Kontext sei die Menschenwürde. Dabei müsse der Mensch selbst Autor seines eigenen Lebens bleiben und das Heft in der Hand behalten. Im Paradigma sozialer Gerechtigkeit ausgedrückt: Zunächst müssen die Menschen überhaupt einen Zugang zu den sozialen Medien haben. Das heißt auch, dass der Mensch weiterhin aktiv an der menschenwürdig humanen Qualität der Gesellschaft arbeiten muss.

Für die Praxis-Perspektive, also für die konkreten Konsequenzen der Digitalisierung für die Alten- und Krankenpflege, stehen die Ausführungen von Martin Schnellhammer, Geschäftsführer des Living Lab Wohnen und Pflege Osnabrück. Schnellhammer unterstreicht, dass sich der Einsatz von Robotern bei industriellen Produktionsprozessen grundsätzlich von dem in der Pflege unterscheide: In dem einen Fall handelt es sich um standardisierte Tätigkeiten, im anderen Fall, in der Pflege, ist ein Zusammenwirken mit den Patientinnen und Patienten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern notwendig, die Anforderungen wechseln stets nach Befindlichkeit und individuellen Bedürfnissen. Von Interesse sind auch Systeme zur Datengewinnung und -analyse zur Nachbetreuung von z. B. psychisch oder an Diabetes erkrankten Patienten: Durch die Erkennung und Übermittlung von Abweichungen können frühzeitig Maßnahmen zu Prävention oder weiterer Therapie ergriffen werden. Eine andere Möglichkeit besteht in der Übermittlung von Vitaldaten, die gleichzeitig eine Antwort auf den gravierenden Fachkräftemangel darstellt.

Wir danken allen, die einen Beitrag zu diesem Sammelband gegeben haben. Besonderer Dank gilt den Verlagen, die großzügige Erlaubnis zur Nutzung von bereits veröffentlichten Texten erteilt haben. Zudem sind wir dem Bistum Osnabrück und allen anderen Unterstützerinnen und Unterstützern sehr verbunden.

Digitalisierung: Fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit

HARALD WELZER

Dieser Text erschien zuerst inDIE ZEIT Nr. 34/2019, 15. August 2019

Die Digitalisierung führt zu künstlicher Dummheit: Die Netzkonzerne blenden alle Konflikte und Ungleichheit aus. So sollten wir nicht leben wollen.

Im vergangenen Herbst war ich auf einem Kongress der deutschen Stadtwerke. Da gab es vormittags Expertenvorträge zur Verletzlichkeit digitaler Infrastrukturen von sehr kompetenten Offizieren der Bundeswehr sowie Fachleuten der Bundesämter für Sicherheit in der Informationstechnik beziehungsweise für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Deren Aussagen zur Versorgungssicherheit unter Bedingungen eines großen Stromausfalls oder erfolgreicher Cyberattacken stimmten einen eher nicht optimistisch. Am Nachmittag dann gab es Vorträge zu Smart Citys, und die zeichneten ganz wunderbare Bilder unserer digitalen Zukunft – sorglose Menschen in intelligenten Umgebungen, geshuttelt von autonomen E-Autos und in den Schlaf gesungen von Alexa. Oder so ähnlich. Was interessant war: Niemand stellte eine auch nur zarte Verbindung zum Vormittag her. Die smarte neue Weltbeglückung spart die nicht gar so smarte analoge Energieversorgung sowieso aus. In der Smart City gibt es auch keine soziale Ungleichheit, keine Konflikte, keine Graffiti, keine Kriminalität, keine Prostitution und so weiter, also eigentlich überhaupt keine soziale Welt, die nun mal weder smart noch binär ist.

In solchermaßen aseptischen Visionen stellt sich auch nie die Frage, was denn in den künftigen Fernsteuerungsumgebungen eigentlich geschieht, wenn der Strom ausfällt, und zwar für einen, zwei oder gar drei Tage. Diese fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit ist symptomatisch für die gesellschaftliche Debatte über die Digitalisierung – sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann: Auf der einen Seite gibt es die Bequemlichkeitsreklame der Digitalwirtschaft, die Bedürfnisse zu befriedigen behauptet, die man kurz zuvor noch gar nicht hatte; auf der anderen Seite mit Spezialwissen ausgestattete Warner vom Typ Manfred Spitzer, die alarmieren, aber den smarten Betrieb in keiner Weise stören. Dazwischen: wenig oder nichts.

Was das Dazwischen ausmacht, lässt sich mit dem schlichten Sachverhalt andeuten, dass die Algorithmen der Tumorerkennung derselben Logik folgen wie die der Gesichtserkennung. Die Entscheidung über ihren Einsatz kann mithin nicht durch das Vorhandensein der Technologie begründet werden. Die Digitalisierung wirkt sich, wie jede Technologie, nach ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Gebrauch höchst unterschiedlich aus, weshalb wir Digitalisierung endlich als gesellschaftspolitische Frage begreifen müssen – zumal die Verkehrsformen und Verfahren der Demokratie selbst von den Wirkungen des Technikeinsatzes stark betroffen sind. Man denke nur an Wählermanipulation, Fake-News, Dauererregung et cetera.

Aber die Politik beschränkt sich dessen unbeschadet noch hauptsächlich darauf, smarte Technikwelten zu imaginieren, als wäre man in den 1950er-Jahren. Ob es Doro Bärs Flugtaxis sind, die Raumfahrtutopien von Jeff Bezos oder die autonom bestellenden Kühlschränke der Digitalkonzerne, alles sieht aus wie in der futuristischen Zeichentrickserie Die Jetsons. Und beim meist wenig kenntnisreichen Schwadronieren über 4.0, 5G oder KI werden schwach begründete, aber bestens finanzierte Interessen artikuliert, die Benutzeroberfläche des demokratischen Rechtsstaats upzudaten. Und zwar, wie das bei Updates so üblich ist, ohne zu fragen, wer die eigentlich haben möchte. Und warum.

Das alles ist unterlegt mit einem Solutionismus, der die Welt nur insoweit zur Kenntnis nimmt, als sie in »lösbare« Probleme filetierbar ist. Ob und für wen diese Probleme Probleme sind oder in welchen Kontexten und Handlungsketten sie entstehen, tritt dabei nicht in den Blick. Alles, was in diesem Sinn dirty, also nicht binär zu definieren ist, fliegt raus. Das erzeugt allerdings erst wirklich Probleme.

Nehmen wir als aktuelles Beispiel die Abstürze zweier Maschinen vom Typ Boeing 737 Max. Diese Maschinen haben gegenüber der konventionellen 737 effizientere, aber größere Triebwerke, was es erforderlich