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Die Einsatzmöglichkeiten: - Intervention bei bestimmten Störungsbildern wie Trauma und Borderline -Persönlichkeitsstörung - Arbeit in Familien und mit Eltern - Im Feld der sozialen Arbeit und der Anwendung in gesellschaftlichen Kontexten, etwa im Rahmen der Gewaltprävention oder in der Auseinandersetzung mit globalen Konflikten ZIELGRUPPE: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - PsychoanalytikerInnen - Kognitive VerhaltenstherapeutInnen Mentalisieren bezeichnet - die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen mit Bezugnahme auf ihre Grundhaltungen, Emotionen und Absichten zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, - das Wissen um die psychischen Beweggründe des eigenen Verhaltens. Mentalisierungsfähigkeit kann trainiert werden. Sie ist ausschlaggebend für die Organisation des eigenen Selbst und die Regulierung der Affekte.
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Seitenzahl: 803
Jon G. Allen; Peter Fonagy; Anthony W Bateman
Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis
Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Klett-Cotta
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mentalizing in Clinical Practice«
im Verlag American Psychiatric Publishing, Inc., Washington DC/London
© 2008 by American Psychiatric Publishing, Inc.
First published in the United States by American Psychiatric Publishing, Inc.,
Washington D.C. and London, UK.
Copyright 2008. All rights reserved.
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Roland Sazinger, Stuttgart
Unter Verwendung einer Abbildung von © styleuneed/fotolia.com
Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94631-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10203-1
Der Ochsenkarren
Ein philosophisches Rätsel aus der Antike lautet: »Was ist der wichtigste Teil eines Ochsenkarrens?« Die meisten Menschen antworten: »Die Räder.« »Der Ochse.« »Der Karren.« »Der Fuhrmann.« »Die Achsen.« »Das Geschirr, in das der Ochse gespannt wird.« Und so weiter. Ein erfahrener Psychoanalytiker versuchte es scherzhaft mit: »Die Peitsche.« Meine Lieblingsantwort lautet: »Das Konzept eines Ochsenkarrens.« Eine bessere Antwort auf die Rätselfrage kann es meines Erachtens nicht geben, denn sie zeigt, wie wichtig und wie wirkmächtig Konzepte sein können – obwohl man sie weder sehen noch anfassen und auch mit der funktionellen Magnetresonanztomographie nicht abbilden kann.
Damit kommen wir direkt zur nächsten Frage: »Wodurch zeichnet sich ein spezifisches Konzept im Universum der Konzepte aus, was macht es wertvoller als andere Konzepte?« Ich denke, dass sich der Wert eines Konzepts nach vier Aspekten bemisst: 1. nach seiner klaren Definition, 2. nach seiner Nützlichkeit, 3. nach seiner Überlebensdauer und 4. nach seinem Potential, als Grundlage künftiger Konzepte zu dienen. Wenden wir diese vier Aspekte auf den Ochsenkarren an: Die Verbindung von vier Rädern durch zwei Achsen, die unter einer hölzernen Kiste befestigt werden, und die Verbindung der mit Rädern versehenen Kiste mit einem Ochsen ist eine klare Begriffsdefinition (Aspekt 1); für den Transport von Personen und Gütern bestimmt (Aspekt 2); 3000 Jahre nach seiner Erfindung noch heute in vielen Teilen der Welt im Gebrauch (Aspekt 3). Darüber hinaus hat der Ochsenkarren Weiterentwicklungen erfahren und noch wirkmächtigere Konzepte entstehen lassen (Aspekt 4) – zum Beispiel den Personenkraftwagen und den Lastwagen, gleichfalls vierrädrige Fahrzeuge, die für den Transport von Personen und Gütern bestimmt sind, durch eine Antriebskraft meist im vorderen Teil bewegt und durch einen sitzenden Menschen gesteuert werden. Bitte beachten Sie, dass ich weder »Originalität« noch »Neuheit« als Bedingungen für das Potential oder den Wert eines Konzepts erwähnt habe. Vielmehr gehen bedeutende Konzepte aus bereits vorhandenen hervor – wie dem der Räder, Kisten, Joche und der Verwendung von |8|Tieren zu Transport- und Arbeitszwecken. Ich glaube, dass die wertvollsten Konzepte tatsächlich eine so hohe Kontinuität mit vorgängigen Konzepten aufweisen, aus denen sie hergeleitet sind, dass sie, wenn sie erstmals auftauchen, gar nicht originär oder neu zu sein scheinen.
Was ist neu?
Seit ich vor über 30 Jahren meine psychiatrische Facharztausbildung antrat, habe ich an ungefähr 1500 Fallkonferenzen teilgenommen. Zu den Fallvorstellungen, an die ich mich ganz besonders gut erinnere, zählt eine Präsentation von Aaron T. Beck während meiner Assistenzzeit am Columbia University’s New York State Psychiatric Institute – mehrere Jahre bevor er 1979 sein bahnbrechendes Werk Cognitive Therapy of Depression veröffentlichte. Auf diesen Fallkonferenzen beschrieb Beck die kognitive Verhaltenstherapie als ein neues psychotherapeutisches Verfahren, zu dessen zahlreichen Vorteilen unter anderem die Überprüfbarkeit seiner Effektivität zählt. Beck besaß tatsächlich die Kühnheit zu behaupten, dass er einen neuen und besseren Ochsenkarren erfunden habe. Meine Erinnerung an dieses Ereignis ist aber weniger durch die Originalität und weitreichende Relevanz des Themas seiner brillanten Präsentation bestimmt als vielmehr durch die hitzigen Reaktionen der zahlreichen Teilnehmer, die genau das Gegenteil behaupteten: »Nichts daran ist wirklich neu. Wir alle tun in unserer täglichen Praxis nichts anderes.« »Aaron schüttet ja nur alten Wein in neue Flaschen.« »Die kognitive Behandlung bildet die Grundlage aller psychotherapeutischen Verfahren.« »Ich glaube, er macht aus einer ganz einfachen Sache etwas Hochkompliziertes.«
Als ich Jon Allen, Peter Fonagy und Anthony Bateman auf einem Symposium in Houston vor etlichen Jahren zum ersten Mal über »Mentalisierung« sprechen hörte, fiel mir eine gleichsam unheimliche Ähnlichkeit zwischen den emotionalen Reaktionen und Bemerkungen ihrer Zuhörer und der Resonanz auf, die Aaron Beck vor Jahrzehnten ausgelöst hat. Eingedenk der Veränderungen, die Becks Arbeit auf dem psychotherapeutischen Sektor und für die Menschen, denen wir dienen, angestoßen hat, sensibilisierten mich diese Reaktionen für die Möglichkeit, dass Allen, Fonagy, Bateman und all die übrigen Kollegen, die mit dem Konzept »Mentalisieren« arbeiten, möglicherweise einer sehr wichtigen Sache auf der Spur waren. Becks neues Konzept hat zweifellos alle vier Kriterien, an denen sich jeder neue »Ochsenkarren« messen lassen muss, erfüllt. Wenden wir dieselben Kriterien nun auf das Mentalisieren an, wie es in diesem neuen Band von Allen, Bateman und Fonagy beschrieben wird.
|9|Kriterium 1: Klarheit der Definition
Mein erstes Kriterium für das Potential und den Wert eines neuen Konzepts ist die Klarheit der Definition. In der Einleitung zu diesem Band formulieren die Autoren eine prägnante und luzide Definition des Mentalisierens; im nächsten Atemzug werfen sie ihren potentiellen Kritikern den Fehdehandschuh hin: »Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren – die aufmerksame Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen – der grundlegende gemeinsame Faktor psychotherapeutischer Behandlungen ist und dass infolgedessen jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsversorgung arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens und einiger seiner klinischen Anwendungsmöglichkeiten profitieren wird« (S. 21). Die Verfasser stehen auch nicht an zu behaupten, »dass das Verständnis des Mentalisierens sowie seines zentralen Rangs Klinikern und Patienten hilft, aus jeder psychotherapeutischen Behandlungsmethode das Beste zu machen. Das gesamte Buch ist darauf angelegt, diese Behauptung zu untermauern.« (S. 22). Anders formuliert: Die Verfasser erklären keck, einen neuen und besseren Ochsenkarren erfunden zu haben.
Wie wir am Beispiel Becks sahen, ruft diese Behauptung eine reflexartige Ungläubigkeit hervor, in die sich oft auch Gereiztheit ob einer solchen Provokation mischt. Ich vermute, dass sich die Leser dieselbe Frage stellen werden wie ich selbst: »Wollen die Autoren etwa behaupten, dass das Verstehen und die Anwendung des Mentalisierungskonzepts für die Psychotherapie elementarer und wichtiger seien als das therapeutische Bündnis oder die Fähigkeit des Patienten, Bindungen einzugehen, zu abstrahieren, rational zu denken oder objektiv zu sein? Wollen die Autoren sagen, dass das Mentalisieren so grundlegend ist, dass es eine konstitutive Komponente des therapeutischen Bündnisses, der Bindung und wesentlicher kognitiver Fähigkeiten darstellt?« Die Autoren rechnen natürlich mit solchen Fragen und halten den Widerständen eine etwas ausführlichere Definition entgegen:
Der springende Punkt beim Mentalisieren ist das Sich-Vergegenwärtigen psychischer Vorgänge. […] Wir mentalisieren, wenn wir einen psychischen Zustand in uns oder anderen wahrnehmen – zum Beispiel, wenn wir über Gefühle nachdenken. […] Wir definieren »Mentalisieren« als imaginatives Wahrnehmen oder Interpretieren von Verhalten unter Bezugnahme auf intentionale mentale Zustände. (S. 23)
|10|Diese Definition fordert den Leser zweifellos zu gründlichen Überlegungen heraus und verlangt den Autoren weitere einleuchtende Erklärungen ab – diese Aufgabe haben sie im ersten Teil des Buchs, »Das Mentalisieren verstehen«, auf bewundernswerte und erfolgreiche Weise gelöst. Um auch den Leser zu einem solchen Verständnis hinzuführen, begleiten sie ihn auf einer weitläufigen Tour durch das faszinierende Gebiet der integralen Facetten des Mentalisierens, ein Terrain, auf dem sich neue und nirgends sonst mögliche Ausblicke eröffnen, Ausblicke auf die Imaginationskraft, die Achtsamkeit, die Geistesblindheit, das Gedankenlesen, die Metakognition, die emotionale Intelligenz, die Einsicht, Urheberschaft, mentale Repräsentation, Bindung und intergenerationelle Weitergabe – auf all dies erhält der Leser klare Sicht, und all dies wird erforscht. Eine Stärke dieses Buchs ist das Geschick, mit dem die Autoren wesentliche Komponenten der mentalisierungsgestützten Therapie mit aufschlussreichem klinischen Material verbinden – geeignet, das therapeutische Instrumentarium des Lesers direkt zu verbessern und zu erweitern.
Als Neuropsychiater, der seinen Beruf liebt, und Mitglied der American Neuropsychiatric Association war ich über das 4. Kapitel, »Neurobiologie«, natürlich hocherfreut. Ich halte die hier formulierten Überlegungen, die sich auf die neuesten entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Kenntnisse stützen, für eine entscheidende Komponente sowohl der hier vertretenen Thesen über das Mentalisieren als auch seiner Definition. Die Autoren scheuen nicht davor zurück, ihr Mentalisierungskonzept durch die Brille der modernen Evolutionstheorie, der strukturellen Neurobiologie, der Neuropsychologie und Neurochemie zu untersuchen und kritisch zu beleuchten. Auch Leser, denen dieses Terrain nicht gründlich vertraut ist, gelangen in den Genuss einer brillanten, fesselnden Beschreibung eines der spannendsten und verheißungsvollsten Gebiete der biologischen Wissenschaften. Zudem wirft die Neuropathologie seit jeher Licht auf die normative Hirnaktivität (zum Beispiel hat die Erforschung der durch Schlaganfälle hervorgerufenen Beeinträchtigungen entscheidend zu unserem Verständnis der regionalen Hirnfunktionen beigetragen). Die Untersuchung emotionaler Dysfunktionen, fehlgeschlagener Sozialisationsprozesse, die Erläuterungen über die Bindung und über interpersonale Beziehungen – mit speziellem Blick auf »Mentalisierungsstörungen« wie den Autismus und die Soziopathie – haben die Grenzen unseres Verständnisses erweitert. Unter dem Strich betrachtet, ist es den Autoren in den Kapiteln 1 bis 4 famos gelungen, mein erstes Kriterium, die Klarheit der Definition, und damit die Voraussetzung für die Einführung eines potenten und wertvollen neuen Konzepts zu erfüllen.
|11|Kriterium 2
Mein zweites Kriterium für die Beurteilung des Potentials und des Werts eines neuen Konzepts ist sein nachgewiesener Nutzen. Der zweite Teil, »Das Mentalisieren praktizieren« – der annähernd 40 Prozent des gesamten Bandes ausmacht –, ist ebendiesem Nachweis gewidmet. Weil Jon Allen, Peter Fonagy und Anthony Bateman meisterliche Kliniker sind, können sie aus einer Fundgrube an aktuellen, einschlägigen Erfahrungen mit mentalisierungsgestützten Behandlungen schöpfen. Sie haben sich vorgenommen, dem Leser zu zeigen, »wie sich die Theorie in die Praxis übersetzt« (S. 201), und sie lösen diese Aufgabe auf staunenswerte Weise. An den Anfang stellen sie ein Bekenntnis: Das praktizierte Mentalisieren ist nämlich »eine Kunst […] und keine Wissenschaft« (S. 201). Wir alle wissen, wie schwierig es ist, eine »Wissenschaft« zu lehren; noch schwieriger aber ist es, zu lehren, wie man eine Fertigkeit zur »Kunst« kultivieren kann. Dementsprechend steht das erste Kapitel des zweiten Teils unter der Überschrift: »Die Kunst des Mentalisierens«. Die Autoren erläutern, wie sie zwischen Wissenschaft und Kunst in der psychotherapeutischen Praxis unterscheiden:
Wir zweifeln keineswegs daran, dass das Systematisieren für die Durchführung psychotherapeutischer Behandlungen von Belang ist; ohne Fachkenntnisse, ohne Prinzipien und ohne Strategien muss der Prozess scheitern, weil dann jede Orientierung fehlt. Und natürlich ist das Systematisieren auch für die Forschung unerlässlich, ohne die wir unsere Effektivität nicht verbessern können. Der Interaktionsprozess aber bedarf der minuziösen empathischen Einfühlung. (S. 204)
Ich stimme vorbehaltlos zu, dass die optimale empathische Einfühlung im psychotherapeutischen Setting einer »Kunst« nahe kommt. Sodann lassen die Autoren eine versierte Exegese der Kunst des Mentalisierens folgen, die sie mit Auszügen aus den Schriften Daniel Sterns illustrieren. Ich hatte die Ehre, von Dan Stern während meiner Assistenzzeit supervidiert zu werden – und erlebte einen Therapeuten, der fürwahr ein Künstler ist. Jede Kunst ereignet sich innerhalb bestimmter Grenzen, sei es der Rahmen der Leinwand oder die Auslinie, die bei zahlreichen sportlichen Disziplinen nicht überschritten oder überspielt werden darf. Die Autoren versehen die Praxis des Mentalisierens mit einer solchen Struktur, indem sie ihren therapeutischen Kollegen nachdrücklich raten, eine formale »mentalisierende Fallformulierung« zu verfassen, zahlreiche technische Aspekte mentalisierungsgestützter |12|Behandlungen erläutern und praktische Tipps geben, die die Anwendung des Konzepts in der »täglichen« therapeutischen Praxis erleichtern.
Einzigartig, bewegend und überzeugend ist der hier abgedruckte Bericht, den eine Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung über ihre therapeutische Erfahrung mit der mentalisierungsgestützten Behandlung verfasst hat. Zusammen mit den Auswertungen der Behandlungsergebnisse, die die Autoren in diesem Band vorlegen und in weiteren Büchern sowie in einer atemberaubenden Vielzahl von Beiträgen in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht haben, trägt dieser persönliche Erfahrungsbericht dazu bei, dass mein 2. Kriterium – die Nützlichkeit des Konzepts – ebenfalls vollauf erfüllt ist. Bestätigt wird der Nutzen der mentalisierungsgestützten Therapien auch durch die übrigen Kapitel des zweiten Teils, die dem Bindungstrauma, der Mutter-Kind-Therapie und Familientherapie, der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Psychoedukation gewidmet sind. Letztere integriert Therapie und Edukation auch insofern, als sie die Familienangehörigen von Patienten mit psychiatrischen Störungen in die Arbeit mit einbezieht. Dem Leser, der sich mit den »zwei Kulturen«, der Wissenschaft und der Kunst, intensiver beschäftigen möchte, lege ich die beiden folgenden Bücher ans Herz: Die zwei Kulturen von Charles P. Snow und Die Einheit des Wissens von Edward O. Wilson.
Kriterium 3 und 4: Die Zukunft
Dass die psychoanalytischen Theorien, die Freud entwickelt hat, seit über 100 Jahren angewendet werden und anerkannt sind (Kriterium 3), steht außer Frage. Unbestritten ist auch, dass sie robusten konzeptuellen Weiterentwicklungen als Grundlage gedient haben (Kriterium 4). Dazu zählen auch die Beck’sche kognitive Verhaltenstherapie und sämtliche mentalisierungsgestützten Therapieverfahren, die in diesem Band vorgestellt werden. Da die mentalisierungsgestützten Interventionen relativ neu sind, steht das letzte Wort über ihre Lebensdauer und ihr Potential, Weiterentwicklungen zu inspirieren, noch aus. Gleichwohl sprechen erste Anzeichen dafür, dass die mentalisierungsgestützten Therapien ihre Qualitäten unfehlbar unter Beweis stellen werden.
Eines der zahlreichen Beispiele, die ich in diesem Zusammenhang nennen könnte, stammt aus dem Brown Human Neuroimaging Laboratory (HNL) des Baylor College of Medicine, an dem Fonagy und ich lehren. Das HNL verfügt über extrem leistungsstarke Magnetresonanztomographen und neuartige Computerprogramme und ist auf die hochentwickelte funktionelle Hirnbildgebung spezialisiert. |13|Mit Hilfe einer Technik, die als sogenanntes »Hyperscanning« bezeichnet wird, können die Wissenschaftler die Gehirne von zwei oder mehr Personen abbilden, während diese miteinander interagieren. Dank solcher Technologien haben unsere Forscher zum Beispiel Hirnregionen dargestellt, die aktiviert werden, wenn die Probanden im Kontext von Interaktionsaufgaben Entscheidungen treffen müssen. Die HNL-Forscher – vorwiegend Neurowissenschaftler, Mathematiker, Verhaltensforscher zahlreicher Disziplinen und Radiologen – waren von dem Konzept des Mentalisierens und von den mentalisierungsgestützten Therapien fasziniert, weil man mit ihrer Hilfe nicht nur wichtige spezifische Funktionen bei sogenannten »normalen Probanden« bestimmen kann; sie erleichtern überdies das Formulieren von Modellen der primären hirnvermittelten Dysfunktionen von Menschen mit Beziehungsstörungen, die vom Autismus bis zu den Persönlichkeitsstörungen reichen. Das Interesse an der Lokalisierung von Hirnregionen und Hirnsystemen, die mit dem Mentalisieren zusammenhängen, ist groß; Gleiches gilt für die Frage, ob die mentalisierungsgestützte Therapie bei Menschen mit gestörter Beziehungsfähigkeit Veränderungen herbeiführt, die sich auch im Gehirn abbilden. Solche Entdeckungen könnten unser Verständnis der genetischen, zellulären, molekularen und neurophysiologischen Begleitphänomene dieser Erkrankungen verbessern.
Somit hat sich das Mentalisieren als klar definiertes, nützliches und überprüftes Konzept erwiesen. Es kann unser Verständnis der Menschen, die unter Störungen ihrer Beziehungsfähigkeit leiden – Störungen, die bislang als unvermeidliche und unveränderliche Geißel der Menschheit galten –, erheblich voranbringen und ihre evidenzgestützten Behandlungen signifikant verbessern. Dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen, die auf die künftige Arbeit mit dem Konzept des Mentalisierens und auf die weiteren Anwendungen und Modifizierungen der mentalisierungsgestützten Therapien vorausweisen. Es lohnt sich also, in diesen Ochsenkarren einzusteigen.
Stuart C. Yudofsky, M. D. Baylor College of Medicine
Der Begriff Mentalisieren bezeichnet eine mentale Aktivität, nämlich das Verstehen des Verhaltens und seiner Beziehung zu mentalen Zuständen wie Gedanken und Gefühlen. Das Interesse am Mentalisieren hat sich unserer Ansicht nach in drei Wellen entwickelt. Die erste Welle baute sich auf, als Uta Frith, John Morton und ihre Kolleginnen und Kollegen Mentalisierungsbeeinträchtigungen als das psychologische Kernproblem des Autismus beschrieben. Kurz danach erzeugten Peter Fonagy, Mary Target und ihr Team eine zweite Welle, indem sie das Mentalisieren auf die mit Traumatisierungen zusammenhängende Entwicklungspsychopathologie erweiterten, die in der Borderline-Persönlichkeitsstörung manifest wird. In diesem klinischen Kontext haben Anthony Bateman und Peter Fonagy stationäre und intensiv-ambulante Behandlungsprogramme für Patienten entwickelt, die explizit auf die Verbesserung des Mentalisierens zielen. Vor etlichen Jahren rollte dann die dritte Welle an, als die klinische Anwendung des Mentalisierens auf ein größeres Störungsspektrum, auf mannigfaltige Behandlungsverfahren und unterschiedliche theoretische Perspektiven erweitert wurde. Diese dritte Welle des Interesses führte zahlreiche Tagungen, aber auch unser Handbuch Mentalisierungsgestützte Therapie mit sich, das wir 2006 veröffentlichten (deutsch 2009). Wir verstehen den vorliegenden Band gewissermaßen als den Kamm dieser dritten Welle, denn in ihm stellen wir unseren Kollegen das Mentalisieren als Grundlage aller psychotherapeutischen Behandlungen vor. In den folgenden Kapiteln wollen wir zeigen, dass diese scheinbar tollkühne Behauptung auf einer Binsenweisheit beruht: Kliniker mentalisieren zwangsläufig, wenn sie Psychotherapien durchführen, und sie animieren zugleich auch ihre Patienten zum Mentalisieren. Mit unserem Buch wollen wir diese Grundlage der psychotherapeutischen Praxis stabilisieren, indem wir den Kliniker mit der breiten Basis des rasch anwachsenden Wissens über das Mentalisieren bekannt machen.
Der Enthusiasmus, mit dem unsere Kollegen an Tagungen und Workshops zum Thema Mentalisieren teilnehmen, aber auch das breite internationale Interesse, mit dem das Konzept weltweit – von Nord- und Südamerika über Großbritannien, |16|den europäischen Kontinent bis nach Asien, Australien und Neuseeland – aufgenommen wird, haben uns überrascht. Natürlich überrascht es uns nicht, dass Therapeuten etwas lernen wollen, das ihnen die schwierige Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung – der Kontext, in dem die mentalisierungsgestützte Therapie mittlerweile fest verankert ist – erleichtern kann. Doch der Enthusiasmus scheint über diesen Kontext hinauszureichen, denn Kliniker und Forscher unterschiedlicher Orientierung bekunden ihr Interesse an der allgemeineren Signifikanz des Mentalisierens. Freilich haben wir uns auch daran gewöhnt, auf Widerstand zu stoßen, wenn wir unseren Kollegen das Mentalisierungskonzept ans Herz legen. Mary Target hat zwei Formen dieses Widerstands ausgemacht: Erstens klingt »mentalisieren« für viele Kliniker fremd und merkwürdig – unser Kollege Jeremy Holmes hat das Wort zu Recht als »unelegant« bezeichnet. Auch wir hatten gewisse Bedenken, einen solchen technischen Terminus zu bemühen, um eine von Grund auf menschliche Fähigkeit zu bezeichnen. Es dauert eine Weile, bis man das Wort in sein normales Vokabular aufgenommen hat, doch vielen Klinikern wie auch manchen Patienten ist es gelungen. Und es ist der Mühe wert, denn das Konzept hat klar definierte Grenzen, die wir in diesem Buch darlegen werden. Deshalb verliert es seine Fremdartigkeit, sobald man es gründlich versteht und es in der klinischen Praxis anzuwenden beginnt – wozu wir Sie anregen möchten.
Zweitens neigen interessierte Therapeuten, sobald sie ihren Anfangswiderstand überwunden und ein oberflächliches Verständnis des Konzepts gewonnen haben, zu der Annahme, dass die Sache überhaupt nicht neu ist und dass sie schon längst Bescheid wissen. Diese Schlussfolgerung beginnt sich vermutlich in Luft aufzulösen, wenn Sie einen kurzen Blick in die Literaturliste am Ende dieses Bandes werfen. Uns Autoren liegt es natürlich fern zu behaupten, dass wir alles wissen, was man über das Mentalisieren wissen kann; schon gar nicht sind wir in der Lage, in unserer eigenen klinischen Praxis – oder auch im Alltagsleben – konsequent zu mentalisieren. Vielmehr finden wir das Konzept auch deshalb so spannend und faszinierend, weil das Feld relativ neu ist und weil wir noch so vieles lernen können. Ebendies versuchen wir in unserem Buch immer wieder klarzumachen.
Nachdem wir unser Handbuch Mentalisierungsgestützte Therapie (Allen und Fonagy [2006] 2009) fertiggestellt hatten, schlug uns Stuart Yudofsky, Leiter des Menninger Department of Psychiatry and Behavioral Science am Baylor College of Medicine, vor, eine Einführung in das Konzept des Mentalisierens und seine vielfältigen Anwendungen für Kliniker unterschiedlicher Orientierung zu schreiben. Dies wäre, so Yudofsky, ein hilfreicher Beitrag zur Arbeit auf diesem Feld. Als geeigneten Verlag schlug er uns American Psychiatric Publishing vor. Wir waren einverstanden. |17|Das Handbuch hat natürlich den Vorteil, dass in ihm viele Stimmen zu Wort kommen; trotzdem hielten wir es für sinnvoll, den aktuellen Wissensstand zu bilanzieren und das Ergebnis mit einer Stimme (die freilich drei in sich vereint) zu präsentieren. Die einschlägige Literatur geht aus zahlreichen Disziplinen hervor und wächst ungemein rasch an; wir haben uns bemüht, sie zusammenzufassen und auch für Kollegen klar verständlich wiederzugeben, die nicht mit ihr vertraut sind. Die Praxis des Mentalisierens ist im Großen und Ganzen etwas so Natürliches, dass wir diesen Band weitgehend im Gesprächsstil verfasst haben. Trotzdem kostet uns das Mentalisieren häufig große Mühe, und Mühe kostet es auch, die subtilen Details des Konzepts und seiner breiten wissenschaftlichen Basis zu begreifen. Um dem Facettenreichtum des Mentalisierens gerecht zu werden, haben wir nicht an fachwissenschaftlichem Material unterschiedlicher Provenienz gespart, das zu gewissen intellektuellen Anstrengungen herausfordert. Wir können unseren Lesern aber versichern, dass die Strecke nach einigen steilen Anstiegen, mit denen der erste Teil aufwartet, einfacher wird. Außerdem werden Sie unzähligen langen Zitaten aus den Schriften anderer Autoren begegnen, deren Kunstwerke wir hier präsentieren – auch wenn viele dieser Autoren das Wort »mentalisieren« selbst noch nie gehört haben.
Die Aufteilung des Buches ist leicht zu überschauen: Im Anschluss an die Einleitung, in der wir das Mentalisieren als basalen gemeinsamen Faktor aller effektiven psychosozialen Behandlungsmodalitäten erläutern, wird das Konzept im ersten Teil ausführlich und eingehend erklärt, bevor wir dann im zweiten Teil die klinischen Anwendungen beschreiben. Natürlich werden manche Kliniker es vorziehen, sich mit einer allgemeinen Definition des Mentalisierens zu behelfen und sich auf die Kapitel über die Behandlungspraxis zu konzentrieren. Wir raten aber davon ab, den ersten Teil zu überspringen, denn ein gründliches Verständnis des Konzepts und solide Kenntnisse über seine wissenschaftlichen Grundlagen können die Anwendung nach unserer Erfahrung erheblich verbessern. Man kann die Bedeutung dieses Projekts gar nicht überschätzen: Wir wollen herausfinden, wie die menschliche Psyche entsteht. Darüber hinaus übersetzen sich die Entwicklungsbedingungen, die das Mentalisieren fördern und untergraben, direkt in die psychotherapeutische Praxis. Deshalb haben wir den ersten Teil als eine Art Buch im Buch geschrieben, als umfassende Darstellung der für das Mentalisieren relevanten Forschungsliteratur, der zahlreichen Facetten des Mentalisierens und ihrer Beziehungen zu ähnlichen Konzepten, seiner Entwicklungsgrundlagen in den Bindungsbeziehungen und seiner neurobiologischen Basis. Der zweite Teil hebt mit einem Kapitel an, in dem wir erklären, dass die Aktivität des Mentalisierens in der |18|Psychotherapie trotz all der Wissenschaft, die dahinter steckt, eine Kunst ist; mit dieser Grundeinstellung beschreiben wir im anschließenden sechsten Kapitel die mentalisierenden Interventionen in der Psychotherapie. In den weiteren Kapiteln illustrieren wir die Anwendbarkeit dieser Interventionen für die Traumabehandlung, die Mutter-Kind-Therapie, die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die Psychoedukation und die Gewaltprävention in sozialen Systemen.
Auch wenn wir in diesem Buch mit einer Stimme sprechen, repräsentiert es doch das Denken eines großen internationalen Teams engagierter Kliniker und Forscher und die Arbeit eines Konsortiums von Institutionen, die uns unterstützen: das Anna Freud Centre, London, das University College London, das Yale Child Study Center, The Menninger Clinic, das Menninger Department of Psychiatry and Behavioral Sciences at the Baylor College of Medicine und das Human Neuroimaging Laboratory, ebenfalls Baylor College of Medicine. Die klinischen Überlegungen, die wir darstellen, haben wir in Zusammenarbeit mit vielen gleichgesinnten Kollegen entwickelt; genannt seien Efrain Bleiberg, Pasco Fearon, Elliot Jurist, George Gergely, Jeremy Holmes, Linda Mayes, Richard Munich, Lois Sadler, John Sargent, Carla Sharp, Arietta Slade, Howard und Miriam Steele, Helen Stein, Mary Target, Stuart Twemlow und Laurel Williams.
Außerdem haben wir das Mentalisierungsteam an der Menninger Clinic um Patienten erweitert. Wir haben vor vielen Jahren entdeckt, dass eine der besten Möglichkeiten, klinische Probleme zu begreifen, darin besteht, sie Patienten in psychoedukativen Gruppen zu erklären – und dadurch selbst Neues zu lernen. Deshalb haben wir davon profitiert, mit einer großen Zahl wissbegieriger und scharfsinniger Patientinnen und Patienten über das Mentalisieren zu diskutieren; unsere Kollegen Efrain Bleiberg, Toby Haslam-Hopwood, Noelle McDonald und April Stein haben sich mit wichtigen Beiträgen an diesem edukativen Projekt beteiligt.
Darüber hinaus danken wir folgenden Kollegen für ihre kritische Lektüre einzelner Teile des Manuskripts: Susan und Yvonne Allen, Melvin Berg, Throstur Björgvinsson, Norma Clarke, John Hart, Toby Haslam-Hopwood, Leonard Horwitz, Lisa Lewis, James Lomax, Noelle McDonald, Richard Moran, Richard Munich, Carla Sharp und Roger Verdon. Wir danken auch Cassandra Shorter für ihre Hilfe bei der Literaturrecherche und den Nachweisen. Katherine Connor Martin hat die Etymologie des Wortes »mentalisieren« im Oxford English Dictionary eruiert; auch ihr gilt unser Dank. Und schließlich bedanken wir uns bei Robert Hales, Editor-in-Chief, und John McDuffie, Editorial Director des Books Department |20|bei American Psychiatric Publishing, Inc., die uns bei der Planung des Buches zur Seite standen und uns bis zu dessen Fertigstellung geholfen haben. Roxanne Rhodes, Senior Project Editor, danken wir für ihr umsichtiges Lektorat in der Abschlussphase.
Jon G. Allen, Peter Fonagy, Anthony W. Bateman
|21|1. KAPITEL
Vor Jahrzehnten schrieb Jerome Frank ([1961] 1985) in seinem Klassiker Die Heiler, dass »die verschiedenen Psychotherapieformen einen großen Teil ihrer Wirkung eher den Eigenschaften verdanken, die ihnen allen gemeinsam sind, und weniger jenen, die sie unterscheiden« (S. 466f.). Franks Beobachtung ist heute so zutreffend wie damals. Die Herstellung eines therapeutischen Bündnisses beispielsweise ist unabhängig von der theoretischen Orientierung des Therapeuten für den Erfolg jeder Behandlung von ausschlaggebender Bedeutung (Bordin, 1979; Roth und Fonagy, 2005). Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren – die aufmerksame Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen – der grundlegende gemeinsame Faktor psychotherapeutischer Behandlungen ist und dass infolgedessen jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsversorgung arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens und einiger seiner klinischen Anwendungsmöglichkeiten profitieren wird. Wir räumen ein, dass wir mit dieser These weniger auf etwas Neues abheben als vielmehr auf das, was wichtig ist.
Damit zum Beispiel ein tragfähiges therapeutisches Bündnis geschlossen werden kann, müssen wir als Kliniker geschickt mentalisieren und gleichzeitig unsere Patienten zum Mentalisieren anregen können. Wenn die Patienten bereits geschickte Mentalisierer sind, kommen auch Behandler über die Runden, die das Mentalisieren als gegeben betrachten – obwohl wir überzeugt sind, dass es nie schaden kann, diese spezifische geistige Aktivität sorgfältig im Blick zu behalten. Wer als Kliniker mit Patienten arbeitet, deren Mentalisierungsfähigkeit eindeutig beeinträchtigt ist – zum Beispiel Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung –, muss der Förderung des Mentalisierens besondere Aufmerksamkeit widmen.
Dass wir einen wenig bekannten Begriff – mentalisieren – für einen vertrauten Prozess – das Verstehen des eigenen Selbst und anderer Menschen – benutzen, verlangt nach einer Erklärung. Wir stellen zunächst das Konzept und unsere Auffassung von seinem Stellenwert in der Behandlung vor. Danach wenden wir uns dem |22|eigentlichen Thema dieses Buches zu und erläutern den Facettenreichtum des Konzepts, indem wir seine Ursprünge in der Psychoanalyse und Bindungstheorie beschreiben. Im Anschluss daran illustrieren wir unsere These, dass das Mentalisieren der zentrale gemeinsame Faktor der Psychotherapien ist, indem wir einige bewährte Behandlungsverfahren (kognitive Therapie, interpersonelle Psychotherapie und klientenzentrierte Therapie) unter dem Blickwinkel des Mentalisierens betrachten. Wir beschließen diese Übersicht, indem wir noch einmal darlegen, dass das Verständnis des Mentalisierens sowie seines zentralen Rangs Klinikern und Patienten dabei hilft, aus jeder psychotherapeutischen Behandlungsmethode das Beste zu machen. Das gesamte Buch ist darauf angelegt, diese Behauptung zu untermauern.
Grundfragen
Zu Beginn werden wir das Mentalisieren in all seinen Facetten darlegen, um dem Leser Orientierungshilfen an die Hand zu geben. Obwohl das Mentalisieren unser Menschsein ausmacht, ist das konzeptuelle Terrain beängstigend: Unter der Vorherrschaft des logischen Positivismus und Behaviorismus schreckten viele Philosophen und Psychologen Mitte des 20. Jahrhunderts jahrzehntelang vor dem Versuch zurück, den Geist, die Psyche, das Mentale begreifen zu wollen. Und wenn wir uns mit dem Mentalisieren beschäftigen, müssen wir nicht nur den Geist, die Psyche, das Mentale verstehen, sondern auch unser Verstehen verstehen. Sei’s drum, wir lassen uns nicht bange machen.
Im 2. Kapitel, »Mentalisieren«, erläutern wir die unterschiedlichen Facetten dieser Aktivität. Der Erhellung des Konzepts und seiner unzähligen Anwendungsmöglichkeiten ist im Übrigen das gesamte Buch gewidmet. Diese Einleitung macht gewissermaßen die Bahn frei: Sobald wir eine Definition erarbeitet haben, an der wir uns orientieren können, werden wir das, was die Konzentration auf das Mentalisieren in der Behandlung ausmacht, zu erklären versuchen und dann eine Frage wiederaufgreifen, die sich zwangsläufig anschließt: Was ist überhaupt neu daran?
Was ist Mentalisieren?
Wir mentalisieren, wenn wir einen psychischen Zustand in uns oder anderen wahrnehmen – zum Beispiel, wenn wir über Gefühle nachdenken. Um Diskussionen über das Mentalisieren in Gang zu bringen, benutzen wir und unsere Kollegen eingängige Formulierungen, die wir in Tabelle 1.1 aufgelistet haben:
|23|Tabelle 1.1. Eingängige Definitionen des »Mentalisierens«
Sich psychische Vorgänge vergegenwärtigen
Achtsamkeit für eigene psychische Zustände und für die psychischen Zustände anderer Menschen entwickeln oder pflegen
Missverständnisse verstehen
Sich selbst von außen und andere von innen betrachten
Eine mentale Eigenschaft zuschreiben oder »mental kultivieren«
Der springende Punkt beim Mentalisieren ist das Sich-Vergegenwärtigen psychischer Vorgänge. Für die meisten Menschen klingt das Wort »mentalisieren« fremd – und das ist ganz natürlich, denn in vielen Wörterbüchern taucht es nicht auf. Wie im Vorwort erwähnt, schreckt schon die Fremdheit des Begriffs Kliniker davon ab, sich das Konzept anzueignen. Doch diese Fremdheit kennzeichnet alle neuen Wörter, wie uns Michail Bachtin (1967) erklärt hat:
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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