Merkels Tochter - Petra Hammesfahr - E-Book

Merkels Tochter E-Book

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Merkel war Kriminalbeamter, als er den Liebhaber seiner Frau erschoss. Nach fünfzehn Jahren Haft wird er entlassen in eine Welt, auf die er nicht vorbereitet ist. Seiner Tochter Irene, die all die Jahre voller Liebe auf ihn gewartet hat, kann er nicht zeigen, was er für sie empfindet. Doch dann wird Irene ermordet, und Merkel hat seine eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit …

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Der Roman

Hein Merkel hat keine Ansprüche mehr ans Leben, nachdem er fünfzehn Jahre wegen Mordes im Gefängnis saß. Als er aus der Zeitung erfährt, dass seine Ex-Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, geht er zur Beerdigung und sieht dort Irene, seine Tochter, inzwischen Mitte zwanzig. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein, doch es dauert lange, bis Hein bereit ist, sie und ihren Mann zu besuchen.

Fortan treffen sie sich immer dienstags zum Frühstück, bis eines Morgens Blutspuren vom Wohnzimmer in Irenes Schlafzimmer führen. Irenes Leiche liegt auf dem Bett wie aufgebahrt und mit Nelken in den Händen. Blind vor Schmerz beginnt Hein, auf eigene Faust zu ermitteln. Er hat nichts mehr zu verlieren, wird nur noch getrieben vom Rachegedanken an den Täter …

Die Autorin

Petra Hammesfahr wurde mit ihrem Bestseller »Der stille Herr Genardy« bekannt. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, werden mit Preisen ausgezeichnet und erfolgreich verfilmt, wie auch »Die Sünderin«. Der Roman wurde unter dem Titel »The Sinner« mit Jessica Biel in der Hauptrolle als erfolgreiche US-Fernsehserie produziert und läuft derzeit weltweit auf Netflix.

PETRA

HAMMESFAHR

Merkels

Tochter

ROMAN

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Neuveröffentlichung 3/2020

Copyright © 2002 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

Copyright © 2019 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Plainpicture/Reililka Landen

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-25313-4V001

www.diana-verlag.de

1

Auch nach achtzehn Jahren hatte Irene noch nicht eine Minute des Tages vergessen, an dem sie alles verlor, was damals ihr Leben ausmachte. Das Zuhause mit den netten Nachbarn, die Schule mit der geduldigen Lehrerin und den ersten Freundinnen, Onkel Kurt und Agnes, mit der sie fast mehr Zeit verbrachte als mit ihrer Mutter. Und den Mann, den sie nicht nur liebte, sie betete ihn an, ihren Papa.

Sie war acht Jahre alt, kam aus der Schule an dem Tag, und vor dem Haus standen Papas Kollegen. Einer hielt sie auf und sagte, sie könne jetzt nicht hinauf in die Wohnung, dann brüllte er nach Seifert. Kurt Seifert, der viel mehr war als Papas Kollege, er war sein bester Freund, eine Art Bruder, deshalb war er für Irene Onkel Kurt.

Kurt Seifert kam aus dem Haus, er war blass, sah sehr traurig aus und sorgte dafür, dass sich einer von Papas Kollegen mit Irene in einen Streifenwagen setzte und sie beschäftigte, bis seine Frau kam, um sie abzuholen. Und mit jeder Minute, die mit Warten auf Agnes Seifert verging, wuchs das Begreifen, dass etwas ganz Furchtbares geschehen sein musste.

Während Papas Kollege ihr zeigte, wo man das Blaulicht einschaltete, wo das Martinshorn und wie das Funkgerät bedient wurde, kamen Männer mit einer großen Kiste aus dem Haus und luden die Kiste in ein schwarzes Auto, dessen hintere Scheibe mit Zweigen bemalt war. Und in so einem Auto, das wusste Irene, weil ein paar Monate zuvor eine alte Frau aus der Nachbarschaft gestorben war, wurden Tote zum Friedhof gefahren.

Dann kam ihre Mutter ins Freie, zusammen mit zwei Männern, auch Kollegen von Papa. Irene kannte einen, weil er Papa schon einmal zu Hause abgeholt hatte, an einem Abend, an dem irgendwo anders etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Mutter weinte und hatte Blut im Gesicht, sie wollte zu dem Auto mit den Zweigen auf der hinteren Scheibe. Die Männer hielten sie zurück und führten sie zu einem anderen Streifenwagen, der sofort abfuhr. Auch das schwarze Auto fuhr ab.

Und endlich fragte Irene: »Wo ist mein Papa?«

Und sein Kollege sagte: »In seinem Büro, glaube ich.«

Irene glaubte das nicht. Agnes Seifert kam und nahm sie mit. Und Agnes erklärte, was Irene längst wusste, dass etwas ganz Schreckliches passiert sei und Papa vielleicht nie wieder heimkäme. Vielleicht nie wieder, das klang, als gäbe es noch Hoffnung, dass er doch eines Tages wieder da sein könnte. Aber wer tot war, kam nicht wieder, das hatte Irene schließlich in der Nachbarschaft erlebt. Wer tot war, wurde auf den Friedhof gebracht, in ein Grab gelegt, und dann durfte man ihm nur noch Blumen und ein bisschen Erde hinterherwerfen.

Bei der alten Nachbarin hatten sie das so gemacht. Und ihre Mutter hatte gesagt, es werde nur der Körper begraben. Die Seele, eigentlich der Mensch selbst, weil ohne Seele sei niemand ein Mensch, lebe im Himmel weiter und habe es dort sehr schön. Es würde nie regnen im Himmel, weil er über den Wolken läge. Es gäbe jeden Tag Sonnenschein da oben, Musik und feines Essen.

Agnes machte ihr etwas Feines zu essen, Hackbällchen mit Champignons, die mochte Irene am liebsten, das war auch Papas Leibgericht. Aber an dem Tag hatte sie gar keinen Hunger. Sie saß noch vor ihrem Teller, als ihre Mutter kam, schob die Hackbällchen von einer Seite zur anderen, drapierte alle Champignons rundherum und fragte sich, ob Papa schon im Himmel gewesen war, als die Lehrerin sie für die richtigen Rechenaufgaben gelobt hatte, und ob er das durch die Wolken gesehen, ob er das Lob trotz der Musik gehört hatte.

Ihre Mutter nahm ihr den Teller weg. Sie weinte nicht mehr, hatte ihr Gesicht gewaschen und Lippenstift aufgetragen, setzte sich mit Agnes ins Wohnzimmer und befahl Irene, in der Küche zu bleiben und ihre Schularbeiten zu machen. Das tat sie auch, aber sie machte viele Fehler an dem Nachmittag. Wie hätte sie noch dreizehn mal acht ausrechnen können, während ihre Mutter im Wohnzimmer sagte: »Er hat einfach geschossen, kein Wort gesagt, nur abgedrückt, bis das Magazin leer war.«

Papa war tot. Niemand sprach es aus, aber Irene wusste es ganz genau und grübelte wochenlang, wer ihm bei seiner Beerdigung Blumen und ein bisschen Erde ins Grab geworfen hatte. Ihre Mutter, vermutete sie, Oma und Opa Seifert, Onkel Kurt und Agnes und alle seine Kollegen, nur sie nicht. Und oft fragte sie sich, ob er deshalb traurig war da oben im Himmel. Und ob er abends, wenn die Sonne unterging, fror. Er fror oft, eigentlich war ihm immer kalt gewesen. Ob er sich danach sehnte, dass Irene ihn wärmte und ihm einen Gutenachtkuss gab, weil er sonst nicht einschlafen konnte.

Sie konnte nur einschlafen, wenn sie ganz fest den Teddy in den Arm nahm, den Papa bei einer Tombola für sie gewonnen hatte. Es war ein großer Teddy mit hellblauem Fell und klugen Augen. Bis dahin hatte er keinen Namen gehabt, war nur Teddy gewesen. Nun nannte Irene ihn Heinrich, so hieß Papa, obwohl ihn alle immer nur Hein genannt hatten.

Abends im Bett erzählte sie Heinrich von den Merkwürdigkeiten, die sie nicht verstand. Dass sie nie auf den Friedhof gingen, nie Blumen auf Papas Grab legten. Heinrich konnte das genauso gut erklären, wie Papa es gekonnt hätte. »Das ist ja viel zu weit«, sagte er. »Wir sind doch umgezogen. Aber Onkel Kurt und Agnes bringen ihm sicher jeden Tag Blumen. Und Oma Seifert betet jeden Tag für ihn.« Irene konnte nämlich nicht selbst für ihn beten, das hatte ihr noch niemand beigebracht.

Heinrich wusste auch, warum Irene tagsüber nicht mehr von Papa sprechen durfte, ihre Mutter wollte kein Wort mehr über ihn hören. »Sie ist böse mit ihm«, sagte Heinrich. »Weil er sich hat totschießen lassen. Er hätte eben viel besser aufpassen müssen.«

Als sie die Wohnung ausräumten, stopfte ihre Mutter alle Fotos von Papa in einen Mülleimer. Zum Glück zerriss sie die Fotos vorher nicht. Irene, die nur mitdurfte, um ihre Spielsachen in einen Karton zu packen, fischte sie alle wieder aus dem Eimer, säuberte sie sorgfältig von verschimmelten Speiseresten und Zigarettenasche und versteckte sie gut. Es war sogar eins dabei, auf dem Papa noch ein kleiner Junge gewesen war. Hinten stand sein Name drauf und sein Geburtstag, das hatte seine Mutter geschrieben, ehe sie gestorben war. Damit alle Leute wussten, wer Papa war und wann man ihm etwas zum Geburtstag schenken musste. Agnes Seifert hatte ihr das einmal erzählt.

Und Irene besaß noch mehr Erinnerungen. Einen Nachmittag auf einem Volksfest, eine Fahrt auf dem Autoskooter. Papa neben ihr, so groß und stark, das kleine Fahrzeug lässig mit einer Hand durch das dichteste Gewühl steuernd, den freien Arm um ihre Schultern. Damit hielt er sie fest, damit sie bei den Rempeleien und den Stößen nicht nach vorne geschleudert wurde und sich am Ende die Lippen auf- oder die Zähne ausschlug.

Sechs Jahre alt war sie gewesen. Sie waren allein auf den Festplatz gegangen. Ihre Mutter hatte keine Lust zu einen Bummel zwischen Karussell und Buden mit Süßigkeiten gehabt, blieb lieber mit ihrer Schwester am Kaffeetisch sitzen und bat: »Geh du doch mal mit ihr, Hein.«

Er fuhr auch mit ihr auf der Geisterbahn, wo Irene überhaupt keine Angst hatte, weil er doch neben ihr saß. Und bevor sie zurückkehrten in die gemütliche Kaffeerunde, kaufte er ihr noch ein Stück Kokosnuss. Das war die intensivste Erinnerung, in der er nicht nur groß und stark war, sondern magische Kräfte besaß. Sie biss sich an der Nuss einen Zahn aus. Der Zahn war zwar vorher schon locker gewesen, es tat trotzdem sehr weh, blutete auch ein bisschen. Und dann saß sie neben ihm auf der Couch im Wohnzimmer von Tante Karola, presste ihr Gesicht ganz fest gegen sein Hemd, und allein von seiner Wärme ging der Schmerz weg, und es hörte auf zu bluten.

Daran dachte Irene oft, während der Zeit, in der sie bei Tante Karola wohnten. Ihre Mutter wollte um keinen Preis der Welt weiter in einer Wohnung leben, in der ein Mensch kaltblütig ermordet worden war. Das sagte sie einmal, ein Mensch. Sie sagte nicht: mein Mann oder Hein. Aber von ihm durfte ja gar nicht mehr gesprochen werden.

Ihre Mutter fand damals rasch einen neuen Mann. Schon nach wenigen Monaten bei Tante Karola zogen sie in das riesige Haus zu Friedel. Friedel war Anwalt, ein lieber Kerl, gutmütig und geduldig. Er hatte viele Bücher und viel Geld, und geizig war er überhaupt nicht. Ihrer Mutter kaufte er sofort ein Auto und schöne Kleider. Auch Irene gab er etwas ab.

Im ersten Jahr bekam sie jeden Sonntag einen Fünfer. Dafür hätte sie fünfzig Salino-Lakritze kaufen können, die mochte sie sehr gerne. Aber sie sparte all die Fünfer, wollte ihrem Papa dafür eines Tages eine Pyramide bauen lassen. In einem von Friedels Büchern war eine abgebildet. Und Friedel erklärte, in Pyramiden hätten die alten Ägypter ihre Pharaonen beerdigt, das seien Könige gewesen. Für Irene war Papa noch viel mehr gewesen als ein König. Ihn konnte niemand ersetzen.

Friedel war ein Kumpel, ein Vater wurde er für Irene nie. Sie bekam seinen Namen, als er ihre Mutter heiratete. Und er hätte es wohl gerne gehört, wenn sie ihn Papa genannt hätte. Aber das ging doch nicht. Da mochte Friedel noch so viele schwierige Mathematikaufgaben erklären, die allerbesten Formulierungen für einen Aufsatz finden – später interpretierte er sogar Kafka, mit dem Irene sich sehr schwertat. Er mochte noch so viele Partien Monopoly mit ihr spielen, wenn sie alleine waren, für Irene änderte das nichts.

Es ging ihr sehr gut bei Friedel, ihr Zimmer war um einiges größer, die Garderobe um einiges teurer, als sie es gebraucht hätte. Auch das Taschengeld wurde mit der Zeit immer höher. Kaum ein Wunsch blieb lange unerfüllt. Bis auf den einen, noch einmal Papas Arm um die Schultern spüren, mit ihm Autoskooter fahren und Geisterbahn. Oder an seiner Hand durch den Tierpark schlendern, da waren sie auch einmal gewesen, nicht allein. Ihre Mutter war dabei, und Papa hatte den Arm um Mutters Schultern gelegt, für Irene bloß eine Hand frei. Aber das reichte ihr, auch an Papas Hand war sie völlig sicher gewesen.

Mit zwölf schrieb sie darüber einen Aufsatz, den Friedel anschließend wie üblich verbessern wollte. Als er es las, bot er ihr sofort einen Besuch im Tierpark an, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Friedel verstand das, böse war er ihr nicht, vielleicht nur ein bisschen traurig. Er schaute sie so merkwürdig an, als müsse er sehr lange über etwas nachdenken. Und dann fragte er: »Möchtest du wissen, wie es ihm geht?«

Wie hätte es ihm schon gehen sollen? Sehr gut, hoffte Irene, obwohl ihre Vorstellung von einem Himmel mit ewigem Sonnenschein, Musik und gutem Essen mit den Jahren und den Büchern aus Friedels Bibliothek brüchig geworden war. Aber dass ihr Vater an einem Ort sein könnte, der alles andere als himmlisch war, der Gedanke war ihr noch nicht gekommen.

2

Schon in den ersten Jahren im Gefängnis hatte Merkel kaum einen Gedanken an seine Tochter verschwendet, mit der Zeit vergaß er beinahe völlig, dass sie existierte. Hin und wieder, wenn er die wenigen Bücher auf dem kleinen Regal an der Zellenwand umsortierte, fiel ihm ein Foto in die Hände. Das letzte, was vor seiner Verhaftung gemacht worden war. Darauf war Irene acht Jahre alt. Ein für sein Alter zu groß geratenes, dürres und verlegen grinsendes Geschöpf mit zwei lächerlich dünnen, blonden Zöpfen und einer Ähnlichkeit mit ihm, die ihn eigentlich hätte ansprechen müssen. Aber auf dem Bild stand sie neben ihrer Mutter, deshalb hatte er keine Augen für sie.

Nicht einmal in all den Jahren stellte er sich vor, wie sie heranwuchs, erst zum Teenager, dann zur Frau wurde. Nicht einmal fragte er sich, wie es ihr wohl ergehen mochte, ob sie ihn vermisste, ob sie litt, von Schulkameraden gehänselt oder sonst wie malträtiert wurde. Ob sie Schwierigkeiten hatte, Freunde zu finden, einen Beruf zu ergreifen. Oder wie sie sich mit der Tatsache auseinandersetzte, dass ihr Vater ein Mörder war.

Wenn er das Foto betrachtete – was selten genug vorkam, wenn es aus dem Buch fiel, steckte er es meist augenblicklich zurück zwischen die Seiten –, sah er nur die Frau. Heike, eine schöne Frau, seine Frau, bildschön, das sagten alle. Und das wollte sie hören, so oft wie eben möglich.

Er hatte sie mehr geliebt, als gut war für einen Mann, der sich seinen Stolz bewahren wollte, seine Würde und die Selbstachtung. Er hatte sie so sehr geliebt, manchmal war er fast ein wenig verrückt darüber geworden. Und wenn er im Gefängnis an sie dachte, dann immer mit dem Bewusstsein, dass es vorbei war. Aber ganz vorbei war es nicht, konnte es doch gar nicht, solange sie lebte. Etwas mehr als zehn Jahre waren sie verheiratet gewesen. Kein Tag davon ließ sich auslöschen.

Irene hatte irgendwie dazugehört, doch sehr viel zu tun gehabt mit seiner Tochter hatte Merkel nie. Zuerst war sie zu klein, viel zu zerbrechlich. Da hatte er jedes Mal befürchtet, etwas kaputt zu machen. Solange sie noch ein Säugling gewesen war, hatte er sie vielleicht drei- oder viermal im Arm gehalten, und regelmäßig hatte Heike gemahnt: »Vorsicht, Hein, ihr Köpfchen.« Oder ihr Ärmchen oder ihr Rücken, irgendwas hielt er immer falsch. Als sie etwas robuster wurde, war er beruflich schon sehr stark eingespannt, kam abends oft erst heim, wenn sie längst schlief, verließ die Wohnung morgens, bevor sie aufwachte.

Kriminalhauptkommissar war er gewesen, zuständig für Kapitaldelikte. Man brauchte Pflichtbewusstsein und diese Portion an Sturheit, die einen veranlasste, am Ball zu bleiben, auch wenn es aussichtslos schien. Eine Menge Überstunden hatte er geschoben, aber nicht unbedingt den Ehrgeiz gehabt, auf der Karriereleiter weiter nach oben zu steigen. Die wirkliche Arbeit wurde unten erledigt, bestand aus unzähligen Kleinigkeiten, bei denen man den Kopf zusammenhalten musste, damit einem nichts entging.

Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, abends mit Zeugen zu sprechen, die man nur spät erwischte, oder noch etliche Stunden am Schreibtisch zu sitzen, noch einmal sämtliche Fotos vom Tatort oder Fundort anzuschauen, Berichte zu lesen, Berichte zu schreiben. Viele Kollegen empfanden das als lästig. Er nicht, es gehörte eben dazu. Genauso wie seine Frau zu ihm gehörte. Er wusste immer, dass Heike daheim auf ihn wartete. Sie beschwerte sich nie, jammerte nie, er würde sie vernachlässigen. Es schien, dass sie die ideale Frau für einen Polizisten war. Wenn nachts um zwei ein Anruf kam oder er aus einer Geburtstagsfeier gerufen wurde, lächelte sie ihm hinterher, es gab nie ein langes Gesicht.

Zehn Jahre lang ließ sie ihn im festen Glauben, es sei alles in bester Ordnung, dass sie stolz auf ihn war, ihn verstand und bewunderte für seine Hartnäckigkeit. Wenn er sehr spät heimkam, lag sie meist schon im Bett. Aber sie stand immer noch einmal für ihn auf. Ging mit ihm in die Küche, machte ihm etwas zu essen oder saß nur dabei, wenn er noch ein Bier trank. Sie erkundigte sich, wie sein Tag gewesen war, erzählte ein bisschen, wie sie sich die Zeit vertrieben und was Irene tagsüber gemacht hatte. Und wenn sie dann zusammen ins Bett gingen, kroch sie dicht an ihn heran, ließ sich in die Arme nehmen und blieb da die ganze Nacht. Das zweite Bett hatten sie nie benutzt.

Merkel war die ganzen Jahre der felsenfesten Überzeugung, dass sie eine sehr glückliche Ehe führten, die durch nichts und niemanden zu erschüttern sei. Und dann kam eines Tages einer von diesen wohlmeinenden Freunden, der im gleichen Haus lebte, und eröffnete ihm, dass seine Frau vermutlich einen anderen habe. Vermutlich! Einen Beweis dafür gab es nicht, nur: »An deiner Stelle würde ich ein bisschen aufpassen, Hein. Ich habe den Kerl jetzt schon zweimal aus deiner Wohnung kommen sehen.«

Den Kerl! Es konnte ein Vertreter gewesen sein, der ihr etwas hatte verkaufen wollen, einen neuen Staubsauger oder eine Versicherung. Den Heike um ein bisschen Bedenkzeit gebeten hatte, sodass er zweimal kommen musste. Nur hatte sie ihm nichts davon erzählt, das war der Stachel im Fleisch. Trotzdem, Merkel wollte das nicht glauben. Heike liebte ihn, sagte ihm das bei allen möglichen Gelegenheiten. Manchmal rief sie tagsüber an, nur um ihm das zu sagen.

Zuerst versuchte er, das merkwürdige Gefühl zu ignorieren, das ihn beschlich, wenn er morgens die Wohnung verließ, und den Drang, nach Hinweisen zu suchen, wenn er abends heimkam. Tagsüber wusste er nie, was er denken sollte. Er ging es mit Vernunft an. Heike konnte ihn doch gar nicht betrügen. Abends auf keinen Fall, weil sie nie genau wusste, wann er nach Hause kam. Und tagsüber, sie war eine gute Mutter. Irene war am Nachmittag meist bei ihr. Da konnte sie es sich doch nicht leisten, einen fremden Kerl in der Wohnung zu empfangen. Aber morgens war Irene in der Schule! Drittes Schuljahr inzwischen, da ging der Unterricht bis zwölf oder halb eins.

Und dann saß er eines Morgens an seinem Schreibtisch und dachte, wenn überhaupt, hat sie jetzt Gelegenheit. Er fuhr auf der Stelle heim, schlich wie ein Dieb in die eigene Wohnung und hörte schon im Flur diese eindeutigen Geräusche. Sie war tatsächlich nicht allein. Und sie saß auch nicht mit einem Vertreter in der Küche oder im Wohnzimmer. Die Szene auf dem Bett war wie eine Faust. Und die schlug ihm nicht einfach nur in den Magen, sie riss ihm das Herz aus dem Leib und warf es irgendwo auf einen Müllhaufen, wo es unter Bergen von Unrat verschwand.

Er hatte gleich geschossen, noch von der Tür aus, mit der Dienstwaffe. Nicht auf sie! Ihr hätte er niemals auch nur ein Haar krümmen können. Aber diesen Kerl, der in seinem Bett, auf seiner Frau lag und ihm im Bruchteil einer Sekunde alle Illusionen und den Glauben, vor allem den Glauben, wegnahm, den konnte er nicht leben lassen. Er drückte ab, bis das Magazin leer war, ganz gezielt auf die Stellen, die er treffen wollte. Und er war immer ein guter Schütze gewesen.

Danach fuhr er zurück in sein Büro und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er fror entsetzlich, doch abgesehen von der Kälte, die seine Muskeln verkrampfte und seine Zähne aufeinanderschlagen ließ, war es fast so, als sei nichts geschehen.

Eine halbe Stunde später kam Kurt Seifert herein. Kurt war vier Jahre jünger als er, sein kleiner Bruder sozusagen, obwohl sie nicht blutsverwandt waren. Aber sie hatten sechs Jahre lang wie Brüder gelebt, an einem Tisch gegessen, in einem Zimmer geschlafen, und Kurt hatte die Hosen verschleißen müssen, die Merkel zu kurz geworden waren, das schweißte zusammen.

Kurt schüttelte den Kopf und versuchte zu sagen, was gesagt werden musste. »Hein, ich muss dich …« Er konnte es nicht aussprechen, nahm ihm nur die Waffe weg. Und das war’s dann!

Merkel war achtunddreißig Jahre alt und so gut wie tot. Kurt besorgte ihm einen sehr guten Anwalt, den besten, den man kriegen konnte. Der Anwalt wollte auf Totschlag im Affekt plädieren. Aber da spielte Merkel nicht mit. Dem Staatsanwalt erklärte er schon in der ersten Vernehmung, er habe mit Vorsatz und kaltblütig gehandelt, den Mord seit Wochen geplant, nur auf einen günstigen Augenblick gewartet. Und er habe seine Frau ebenso töten wollen wie ihren Liebhaber. Er sei auch der Meinung gewesen, er habe sie getroffen, sonst wäre er doch nicht so einfach wieder gegangen. Aber das Versäumnis ließe sich jederzeit nachholen. Er werde das auch tun, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu böte. Dabei blieb er. Er konnte es keinem Menschen erklären, nicht einmal sich selbst.

Kurt gab sich Mühe, ihm etwas zu erklären, damit er sich nicht lebendig einmauern ließ. Dass der Mann in seinem Bett nicht der erste gewesen sei. Ein arbeitsloser Elektriker aus der Nachbarschaft, den Heike gebeten hatte, mal nach dem Sicherungskasten zu schauen. Und davor hatte sie einen Installateur gerufen, davor einen Versicherungsvertreter, und davor hatte sie den Postboten um einen Gefallen gebeten.

Mit dem Postboten hatte Agnes Seifert sie einmal überrascht zu einer Zeit, in der Irene gerade die erste Woche in den Kindergarten ging. Und später hatte Heike die kleine Tochter oft am Nachmittag zu Agnes gebracht, angeblich um zum Friseur, zum Arzt oder sonst wohin zu gehen, wo es für ein Kind langweilig wäre. Aber Kurt mochte erzählen, so viel er wollte, er machte damit alles nur noch schlimmer für Merkel.

Noch während der Untersuchungshaft reichte Heike die Scheidung ein. Er schrieb ein paar Briefe an sie, versuchte ihr in jedem zu sagen, was sie ihm bedeutete, nur schickte er keinen einzigen ab. Beim Prozess sah er sie noch einmal. Sie machte ihre Aussage, hatte keinen Blick für ihn. Kaum wurde sie aus dem Zeugenstand entlassen, verließ sie den Saal, wartete nicht einmal auf das Urteil.

Ein hartes Urteil. Weil er Polizist gewesen war. Weil er keine Reue zeigte, kein Wort des Bedauerns hatte für die Familie des Opfers, eine Frau und zwei kleine Kinder. Und weil er sagte, er würde es wieder tun. Lebenslänglich! Es war ihm egal, sie hätten ihn auch erschießen, aufhängen, köpfen oder vierteilen können. Genau genommen war er gestorben, bei der Tür zum Schlafzimmer. Er! Und nicht ein arbeitsloser Elektriker, dessen nackter Hintern ihm nun vor den Augen tanzte, lebenslänglich!

3

Friedel tat sich schwer, Irene zu erklären, was damals tatsächlich geschehen und wo ihr Vater war. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie es erfuhr. Aber mit ihren zwölf Jahren sei sie alt genug für die Wahrheit, meinte Friedel. Vielleicht hoffte er, dass sie ihren Papa vergaß oder sich zumindest von ihm distanzierte. Aber auch einen Mörder riss man sich nicht so einfach aus dem Herzen, wenn man ihn mehr geliebt hatte als sonst etwas auf der Welt.

Friedel sah schließlich ein, dass er einen Hein Merkel nicht ersetzen konnte, nicht bei Merkels Tochter. Ein paar Wochen später fuhr er sie zu Kurt und Agnes Seifert, die Irene seit vier Jahren nicht mehr gesehen hatte, weil ihre Mutter keinen Kontakt zu Leuten wollte, die einen kaltblütigen Mörder gekannt, gemocht und verteidigt, die sogar versucht hatten, einen Teil der Schuld auf sie abzuwälzen.

»Das bleibt aber unter uns«, sagte Friedel, als sie ins Auto stiegen. Und von dem Tag an lebte Irene in zwei Welten.

Agnes Seifert weinte Tränen der Freude, sie wiederzusehen, wurde nicht müde zu fragen, wie es ihr in den vier Jahren ergangen war, wie sie mit ihrem Stiefvater zurechtkam, ob er gut zu ihr war, ob sie neue Freunde gefunden hatte. Opa und Oma Seifert waren in der Zwischenzeit gestorben. Und Agnes erzählte, Oma habe noch auf dem Sterbebett dafür gebetet, dass es Irene an nichts fehlen möge. Und wenn es die Möglichkeit gäbe, aus dem Jenseits eine schützende Hand über das Kind zu halten, dann würde sie das tun, hätte Oma gesagt, ehe sie die Augen schloss.

Nun meinte Agnes, obwohl sie ein eher praktisch veranlagter Mensch und nicht abergläubisch war, ihre Schwiegermutter habe bei diesem Wiedersehen ihre Hände im Spiel gehabt. Und endlich erzählte sie Irene auch, ihrem Vater ginge es gut, soweit man unter diesen Umständen von gut sprechen konnte.

Kurt besuchte ihn regelmäßig. Agnes rief ihn im Büro an, und Kurt kam sofort nach Hause, um Irene zu sehen, ehe Friedel sie wieder abholte. Kurt versprach ihr auch, beim nächsten Besuch im Gefängnis liebe Grüße von ihr auszurichten. Einmal mitnehmen könne er sie leider nicht, sagte Kurt, Kinder und Jugendliche dürften da nicht rein, Mädchen schon gar nicht, es sei ja eine Haftanstalt für Männer.

Irene begann, Briefe zu schreiben, jede Woche einen: »Lieber Papa!« Sie berichtete ihm, wie es ihr ergangen war in den vier Jahren und was nun in ihrem Leben vorging. Es war nichts Weltbewegendes, aber sie dachte, es interessiere ihn bestimmt. Und sie glaubte, es sei wichtig für ihn zu wissen, dass da jemand war, der ihn liebte und brauchte, ihn vermisste und die Tage zählte, die vom Lebenslänglich noch übrig waren. Kurt Seifert sagte, das Wort klinge zwar schlimm, aber es bedeute nicht, dass ein Mensch bis an sein Lebensende im Gefängnis bleiben müsse.

Die Briefe sammelte sie, versteckte sie im Bettkasten, damit ihre Mutter keinen zu Gesicht bekam und wütend wurde. Einmal im Monat fuhr Friedel sie heimlich für einen Nachmittag zu Agnes Seifert. Dort gab sie ihre Briefe ab, Agnes machte jedes Mal ein Foto mit einer Sofortbildkamera von ihr, das sie mit in einen der Umschläge steckte. Angeblich schmuggelte Kurt die Briefe ins Gefängnis. Er brachte auch immer einen mit zurück, der mit »liebe Irene« begann und mit »Dein Vater« endete. Den las sie dann, bis ihr das dünne, graue Papier fast in den Fingern zerbröselte.

Weil Kurt an den Nachmittagen meist nicht zu Hause war, er musste ja arbeiten, erzählte Agnes, wie sehr ihr Vater sich über die Briefe gefreut habe, dass er jede ihrer Zeilen mindestens dreimal las, ihre Fotos an die Wand über seinem Bett klebte und es kaum abwarten könne, die nächste Sendung in Empfang zu nehmen. Irene hätte auch gerne ein neues Foto von ihm gehabt. Aber Agnes sagte, im Gefängnis sei fotografieren nicht erlaubt. Kurt könne das auch nicht heimlich tun, weil immer ein Wärter dabei sei, wenn er einen Besuch machte.

Irene glaubte das, bis sie an einem Nachmittag aus Versehen in Agnes’ Küche die falsche Schranktür öffnete, um ein Glas herauszunehmen, und einen Block mit dem dünnen, grauen Papier fand. Das oberste Blatt war schon zur Hälfte beschrieben. »Liebe Irene.«

An dem Tag war sie sechzehn, trug seit acht Jahren dieses Nagen und Bohren im Innern mit sich herum, Sehnsucht nach seinem Arm, seiner Stärke. Es tat so entsetzlich weh, war viel schlimmer als der Tag, an dem sie aus der Schule gekommen war und seine Kollegen sie in Empfang genommen hatten. Viel schlimmer als die vier Jahre, in denen sie ihn im Himmel gewähnt hatte und ihm eine Pyramide auf Erden bauen lassen wollte.

Agnes versuchte, noch etwas zu retten, erklärte hastig, es sei nicht so, wie sie denke. Die Briefe kämen schon alle von ihm, er habe sie nur nicht selbst geschrieben. Im Gefängnis hätte er tagsüber nicht die Zeit, zu schreiben, und abends würde früh das Licht ausgemacht. Da könne er nur noch fast unleserliche Notizen machen, die Agnes dann für ihn ins Reine schriebe. Aber das glaubte Irene nicht mehr.

Es war ein Weltuntergang. Nächtelang weinte sie das Kissen nass, hätte ihn am liebsten aus ihren Gedanken gestrichen, wie ihre Mutter es getan hatte. Doch das schaffte sie nicht, weil sie ihn immer noch liebte und allmählich lernte, ihn zu verstehen.

Agnes erklärte so einfühlsam, zuallererst einmal, dass ihr diese von Friedel arrangierten heimlichen Besuche selbst ungeheuer wichtig waren. Agnes hatte keine Kinder, litt sehr darunter und versuchte, es durch ihren Beruf zu kompensieren, Kinderkrankenschwester war sie. Aber die Kleinen in der Klinik durfte man nicht zu lieb gewinnen, weil man sie immer nur für kurze Zeit hatte und ihnen auch noch wünschen müsste, sie nie wiederzusehen.

Und Agnes meinte, es sei sehr schön gewesen für sie in den letzten vier Jahren, etwas zu haben, worauf sie sich freuen konnte, dass alle vier Wochen ein junges Mädchen kam, das man so lieb hatte wie ein eigenes Kind, dem man für die Zukunft nur das Allerbeste wünschte. Da wünschte man sich eben auch, man dürfe ein wenig zum Glück für die Zukunft beitragen.

Agnes trug entschieden mehr bei als ihre Mutter, weil Agnes eine Frau war, für die andere Werte zählten. Ihr musste niemand dreimal am Tag sagen, sie sei eine Schönheit. Sie brauchte nicht den Schrank voller Abendkleider und keinen teuren Schmuck, nur hin und wieder ein Lob für ihre Hackbällchen mit Champignons. Aber sie machte wirklich die besten.

Es war Agnes Seifert, die aus Irene den Menschen formte, der sie am Ende war, bescheiden, tüchtig und hilfsbereit, aber auch energisch, hartnäckig und willensstark. Eine Tochter, auf die jeder Vater stolz gewesen wäre. Nur war Merkel nie ein Vater gewesen. Er war bloß ein Mann, dem man das Herz aus dem Leib gerissen hatte, um es auf eine Müllkippe zu werfen, wo er allein es niemals wiederfinden konnte.

Agnes erklärte auch das, erzählte in den Stunden, die Irene bei ihr verbrachte, von dem jungen Hein, so wie sie ihn damals kennengelernt hatte. Unbeholfen und unsicher in Gefühlsdingen, weil lange Jahre niemand da gewesen war, der ihm Gefühle gezeigt hätte. Seinen Vater hatte er in Russland verloren und seine Mutter bei der Flucht aus Ostpreußen. Sie war erfroren. Irgendeine mitleidige Seele hatte sich erbarmt, den kleinen Buben mitgeschleppt und ihn beim Roten Kreuz abgeliefert.

Dann war er einige Jahre in einem Heim gewesen, wo Oma Seifert als junge Frau gearbeitet hatte. Sie hatte ihn wohl lieb gewonnen, aber als sie heiratete, blieb er zurück. Nur konnte Oma Seifert ihn nie völlig vergessen, weil er zu Weihnachten, Ostern und ihrem Geburtstag immer eine Karte schrieb.

Kurt wurde geboren und blieb der Einzige bei aller Mühe um Geschwister. Als Kurt heranwuchs, sagte er oft, er hätte gerne einen Bruder, am liebsten einen großen, der ihm auf der Straße und dem Schulhof zur Seite stand, wenn die anderen ihn wegen seiner abstehenden Ohren hänselten. Von Hein kamen immer noch drei Karten pro Jahr. Da holte Oma Seifert ihn eben zu sich.

Er war schon zwölf, und was an ihm versäumt worden war, ließ sich nicht mehr nachholen. Oma Seifert war auch keine Frau gewesen, die ihr Herz auf der Zunge trug oder einen Jungen mal spontan in den Arm nahm. Das tat sie nicht einmal bei Kurt. Es war zu der Zeit noch so, dass man meinte, Jungs dürften nicht verweichlicht werden, weil sie im Leben ihren Mann zu stehen hätten. Und so hatte er zwar ein Zuhause, ein warmes Bett, geregelte Mahlzeiten, in Kurt sogar einen Bruder, aber er blieb trotzdem irgendwie allein, bis er Heike begegnete.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie ihm bedeutet hat, Irene«, sagte Agnes. »Du warst ja damals noch klein, für Kinder ist es normal, dass Eltern sich lieben. Aber er hat sie nicht einfach nur geliebt, er hat sie vergöttert, sie war seine Welt. Zu Anfang habe ich deine Mutter beneidet. Kurt – ich will mich bestimmt nicht über ihn beklagen, er war immer ein aufmerksamer und liebevoller Mann, aber auf seine Art ist er auch sehr nüchtern. Trotzdem war dein Vater im Vergleich mit ihm immer ein steifer Klotz, bis er sie kennenlernte. Und plötzlich erkannte man ihn nicht wieder. Plötzlich konnte er sogar tanzen, war in Gesellschaft locker und witzig. Ich habe oft gedacht, wenn er dahinterkommt, was mit Heike los ist, gibt es eine Katastrophe. Die haben wir dann ja auch bekommen. Sie hat nie begriffen, was sie ihm angetan hat. Vielleicht können wir es auch nicht begreifen.«

Irene begriff es wohl mit der Zeit. Und gleichzeitig stellte sie fest, dass sie ihn nicht mehr brauchte, jedenfalls nicht mehr als den starken Mann mit magischen Kräften. Sie kam alleine zurecht in ihrem Leben, wusste, was sie wollte, und wusste auch, wie sie ihre Ziele erreichte.

Mit zwanzig verliebte sie sich in Gernot Brandes, sein Vater war Immobilienmakler und einer von Friedels Stammklienten. Gernot hatte gerade seine Ausbildung zum Bankkaufmann beendet, als sie sich kennenlernten. Er war ein gut aussehender Mann, vom Wesen her ganz anders als sie. Agnes Seifert stellte das einmal fest, als Irene ihn auf einen Besuch mitbrachte.

»Gegensätze ziehen sich an«, sagte Agnes und meinte, dass auch zwei grundverschiedene junge Menschen gut zueinander passten, wenn der eine ausglich, was der andere versäumte, und wenn der andere bremste, wenn der eine aus lauter Gutmütigkeit zu weit übers Ziel hinausschoss.

Man müsse auch bei der Hilfsbereitschaft auf dem goldenen Mittelweg bleiben, sagte Agnes. Einem Bedürftigen jede Verantwortung abzunehmen sei falsch. Es verführe dazu, sich gemütlich zurückzulehnen und nur noch die Hände aufzuhalten. Da bliebe man selbst vielleicht irgendwann bis aufs letzte Hemd ausgezogen und mit leeren Händen zurück.

Mit einundzwanzig ließ Irene sich von Gernot Brandes einen Verlobungsring über den Finger streifen und zog mit ihm in eine Wohnung, in der sie sich entschieden wohler fühlte als in Friedels Villa. Sie begann zu arbeiten in einem Beruf, der ihr täglich vor Augen führte, wie gut es ihr ging, und der ihr das Gefühl gab, von vielen gebraucht zu werden. Sozialarbeiterin war sie geworden und zufrieden mit ihrem Leben.

4

Das war Merkel zu der Zeit eigentlich auch. Nicht dass er sich im Gefängnis rundum wohlgefühlt hätte. In den ersten Jahren war es nicht leicht für ihn gewesen. Ein ehemaliger Bulle, ein gefundenes Fressen für die anderen. Es waren auch ein paar dabei, die er selbst hinter Gitter gebracht hatte. Die ließen sich etwas einfallen, um ihm das Leben so sauer wie nur möglich zu machen. Aber er war durchtrainiert und kräftig, mit der Zeit verschaffte er sich Respekt und Ruhe.

Die Nächte waren auch nach zehn, zwölf Jahren noch schlimm. Es verging kaum eine Nacht, in der er seine Frau nicht vor sich sah. Von Kurt Seifert wusste er, dass Heike schnell wieder geheiratet hatte. Einen Mann mit Vermögen, ihren Scheidungsanwalt. Und er musste sich zwangsläufig vorstellen, wie sie mit dem lebte, nun mit ihm in einem Bett schlief, ihn tagsüber in seinem Büro anrief, nur um ihm zu sagen, dass sie ihn liebe. Manchmal stellte er sich auch vor, dass sie das immer dann tat, wenn sie ihn gerade betrogen hatte. Viel half ihm das nicht.

Doch tagsüber war alles überschaubar, der Tagesablauf, die Beziehungen zu Wärtern und Mitgefangenen. Niemand erwartete etwas Außergewöhnliches von ihm, und er erwartete nichts von den anderen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es so bis an sein Lebensende weitergehen können. Aber nach fünfzehn Jahren wurde er auf dem Gnadenweg entlassen. Kurt Seifert setzte sich dafür ein, machte den zuständigen Leuten klar, dass es damals alles andere als ein kaltblütiger Mord gewesen war, und redete bei jedem Besuch auf ihn ein, ihm nur ja keinen Strich durch die Rechnung zu machen.

Kurt war im Laufe der Jahre auf der Karriereleiter aufgestiegen bis zum Kriminaldirektor. Doch Merkel war für ihn immer noch der Bruder, nicht mehr der große, starke, der auf dem Schulhof und der Straße die größeren Jungs verprügelte, damit sie Kurt nicht hänselten wegen seiner abstehenden Ohren. Nun hatten sie die Rollen vertauscht.

Am Tag der Entlassung stand Kurt vor dem Tor bereit, um ihn in Empfang zu nehmen. »Fahren wir nach Hause, Hein«, sagte er. »Agnes wartet schon mit einem richtigen Frühstück.«

Die ersten Tage in Freiheit verbrachte er bei Kurt und Agnes, in dem Haus, in dem sie die sechs gemeinsamen Kinder- und Jugendjahre verbracht hatten. Und auch wenn mit der Zeit fast alles umgebaut worden war, es wimmelte in den Zimmern nur so von Erinnerungen. Aber nicht nur deswegen war es ihm nicht recht. Er wollte niemandem zur Last fallen. Irgendwie störte es ihn, plötzlich wieder mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Hein, daran war er nicht mehr gewöhnt. Hein, das klang immer nach Verpflichtungen. Merkel klang nach kargen Mauern, einem Gitter vor dem Fenster und einer verschlossenen Tür, die er nicht mehr öffnen wollte.

Agnes nervte ihn mit ihren zarten Andeutungen in Richtung Familie. Mindestens dreimal täglich kam von ihr der Hinweis, dass er eine inzwischen dreiundzwanzigjährige Tochter hatte, die sich bestimmt freuen würde, ihn einmal wiederzusehen. Ein lieber Mensch sei Irene und so tüchtig, behauptete Agnes, er könne stolz auf sie sein. Manchmal käme sie auf einen Kaffee vorbei.

Merkel war nicht stolz, worauf denn auch? Was immer aus seiner Tochter geworden war, er hatte damit nichts zu tun gehabt, nichts dazu beigetragen. Er drängte darauf, dass Kurt ihm eine andere Unterkunft beschaffte, ehe seine Tochter mal auf einen Kaffee zu Agnes kam.

Kurt fand binnen weniger Tage ein möbliertes Zimmer, nicht zu groß, nicht zu teuer, sparsam und zweckmäßig eingerichtet mit einem Schrank, einer Liege, die sich zum Bett umfunktionieren ließ, einem Tisch, zwei Stühlen und einem weiteren Schrank, in dem eine Miniküche untergebracht war. Dazu gehörte noch ein winziges Duschbad mit Toilette. Kurt meinte, es sei eine Übergangslösung. Aber Merkel fand, das Zimmer sei genau richtig für ihn. In den fünfzehn Jahren hatte er sich daran gewöhnt, auf engstem Raum zu leben. Mehr Platz, meinte er, hätte ihn nur nervös gemacht.

Kurz darauf vermittelte Kurt ihm auch eine Arbeit. Es nannte sich hochtrabend Objektschutz und war im Grunde nur ein Posten als Nachtwächter. Aber dass ein auf dem Gnadenweg entlassener Mörder den Job bekam, war nur der Tatsache zu verdanken, dass ein leibhaftiger Kriminaldirektor sich für ihn verbürgte.

Der Verdienst war nicht üppig, doch für Merkel alleine reichte es allemal. Er stellte keine Ansprüche mehr ans Leben, brauchte keinen Farbfernseher, nicht mal ein Radio und bestimmt kein Auto. Er hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr hinter einem Steuer gesessen. In der Zeit hatte sich auf den Straßen eine Menge verändert. In dem Gewühl war er mit einem Rad entschieden besser bedient. Auf einer Auktion erstand er für zehn Mark ein altes Damenfahrrad, das er sich mit viel Geduld zurechtflickte. Dann fuhr er damit zur Arbeit – oder aus alter Gewohnheit zum Dienst.

Im ersten Jahr bewachte er eine alte Gießerei, die aus einem Fabrikgebäude und einer Lagerhalle bestand, in der Halle waren auch die Büros untergebracht. Es war ein ruhiger Job, um nicht zu sagen langweilig. Aber langweilig war ihm nicht, er drehte gewissenhaft jede Nacht Runde um Runde über das menschenleere Gelände, kontrollierte halbstündlich sämtliche Schlösser und Fenster, das Tor und den Zaun. Das war besser, als in einem Bett zu liegen, in die Dunkelheit zu starren und den nackten Hintern eines arbeitslosen Elektrikers vor sich zu sehen.

Vormittags schlief er. Und nachmittags – er brauchte nicht lange, um die Adresse seiner Frau ausfindig zu machen. Sie war in der Stadt geblieben, nur von einem Ende ans andere gezogen, in eine noble Gegend – wie in eine andere Welt. Ein paar Mal fuhr er schon kurz nach Mittag hin, obwohl er mit dem Rad über eine Stunde brauchte.

Dann stand er auf der Straße im Schatten eines Alleebaumes, fror, auch wenn es um die zwanzig Grad waren, und hoffte darauf, dass sie einmal aus dem Haus käme. Ein fantastisches Haus, eine richtige Villa mit einem großen Garten davor und einem noch größeren dahinter. Und er wusste nicht einmal genau, warum er davorstand. Vielleicht nur, um sich selbst etwas zu beweisen. Sie leibhaftig vor sich sehen, nicht in einem Traum, wo man sich nicht wehren konnte gegen das, was auf einen einstürmte. Wo man so hilflos war, ausgeliefert wie ein kleiner Ball, der von zwei großen Händen zwischen den Gefühlen hin- und hergeworfen wurde, bis er sich zitternd und frierend in einer Schneewehe wiederfand. Sie noch einmal wirklich sehen, dabei in sich hineinhorchen und feststellen, dass da nichts mehr war. Es konnte doch rein theoretisch nichts mehr da sein nach fünfzehn Jahren.

Zweimal sah er ein Auto aus der Garage fahren und meinte, sie hätte am Steuer gesessen. Aber das mochte täuschen, weil sich die Sonne in der Scheibe spiegelte und er im Grunde gar nichts von ihr sah. Es vergingen Monate, ehe er sie endlich einmal richtig zu Gesicht bekam, zusammen mit ihrem Mann. Im Winter war das, es war erst fünf Uhr, aber schon dunkel. Seit fast einer Stunde stand er da auf Füßen, die so kalt waren, dass er sie gar nicht mehr fühlte. Auch seine Finger waren längst steif gefroren, als endlich ein Wagen vor dem Grundstück hielt. Sie stiegen beide aus, gingen nebeneinander auf das Haus zu. Der Mann hielt ihren Arm, und sie trug einen Pelzmantel.

Ihn beachtete sie nicht, obwohl sie ihn sehen musste. Aber wahrscheinlich erkannte sie ihn nicht, Agnes Seifert sagte oft, man erkenne ihn nicht wieder. Und mit dem alten Damenfahrrad, eine Plastiktüte am Lenker, in der seine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Wurstbrote steckten, weil er um sechs von seinem Beobachtungsposten zum Dienst musste. Bis zum Kinn eingepackt in die dicke Winterjacke, die dringend mal in die Reinigung gemusst hätte. Seine Hose hätte auch eine Wäsche vertragen können, aber er hatte keine Waschmaschine. Vermutlich hielt Heike ihn für einen Penner. Und sie war immer noch so schön, und es tat immer noch so entsetzlich weh. Es hatte sich überhaupt nichts verändert.

In den nächsten zweieinhalb Jahren sah Merkel sie vor sich, wie sie in ihrem Pelzmantel am Arm ihres Mannes auf das prächtige Haus zuging. Wie das Licht hinter den Fenstern aufflammte. Und im Geist sah er auch, wie sie sich auszog, aufs Bett legte und ihr Mann auf sie. Dann starb sie ganz plötzlich, zusammen mit ihrem Mann.

Merkel las die Todesanzeige zufällig in der Tageszeitung, die er sich inzwischen leistete, um sich wenigstens ein bisschen über das Weltgeschehen zu informieren, obwohl ihn das eigentlich nicht interessierte. Durch einen tragischen Verkehrsunfall mitten aus dem Leben gerissen, stand da. Heike und Friedmann Gersolek. Fast eine halbe Seite nahm die Anzeige ein. Eine endlose Latte von trauernden Hinterbliebenen war aufgelistet. Ganz oben stand der Name seiner Tochter, Irene Brandes, dass sie seit einem Jahr verheiratet war, wusste er von Agnes.

Die Beerdigung fand an einem Freitagnachmittag statt. Und natürlich ging er hin, musste hingehen, unbedingt dabei sein, mit eigenen Augen sehen, wie man sie unter die Erde brachte, damit er es glauben und vielleicht endlich ein bisschen Abstand gewinnen konnte. Er nahm sogar eigens frei für den Abend, weil er dachte, danach sei er ohnehin nicht mehr diensttauglich. Wegen eines Trauerfalls in der Familie, sagte er. Das war es doch auch!

Heike mochte vor achtzehn Jahren die Scheidung eingereicht haben, aber sie war seine Frau gewesen. Daran hatte niemand etwas ändern können, kein Richter, auch kein Friedmann Gersolek. Und jetzt war sie tot. Jetzt war es wirklich vorbei. Und er dachte, für den Rest seines Lebens habe er nun seine Ruhe.

Auf dem Friedhof hielt er sich im Hintergrund, das war nicht schwer bei all den Trauergästen. Gut hundert Leute waren da. Da fiele einer mehr oder weniger gar nicht auf, dachte er, obwohl er sich ziemlich aus der Masse abhob in der fadenscheinigen schwarzen Hose und dem schlecht sitzenden Jackett, das er sich in aller Eile gekauft hatte. Aber von der noblen Gesellschaft kannte ihn doch keiner, mit Ausnahme seiner Tochter. Doch dass Irene ihn erkannte, nach achtzehn Jahren, hielt er für ausgeschlossen. Sie war doch damals noch ein Kind gewesen.

Er jedenfalls erkannte sie nicht, schloss nur aus der Tatsache, dass sie ganz vorne am offenen Grab stand, dass sie es sein musste. Neben ihr stand ein junger Mann, ihr Mann, so wie es aussah. Eine Hand an ihrem Ellbogen, als müsse er sie stützen. Dabei sah sie nicht aus, als brauche sie einen Halt.

Groß war sie, fast so groß wie Merkel, sehr schlank, eher schon knochig. Und sehr aufrecht stand sie da. Das immer noch zu dünne blonde Haar hatte sie unter einem schwarzen Hut verborgen. Das, wie Merkel etwas später feststellte, herbe Gesicht unter einem Schleier. Eine Schönheit war sie wahrhaftig nicht, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, das machte es für ihn etwas leichter.

Viele gingen nach vorne, um zu kondolieren. Er nicht, er hätte nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. Sie war ihm genauso fremd wie all die anderen. Er wollte nur abwarten, bis alle verschwunden waren, und dann noch einen Blick ins offene Grab werfen, um sich zu verabschieden.

Als der Kondolenzstrom nachließ, drehte sie sich um und damit in seine Richtung. Sie ging ein paar Schritte vom Grab weg, sah ihn und stutzte. Dann kam sie langsam auf ihn zu, hob dabei den Schleier von ihrem Gesicht.

Merkel sah, dass der junge Mann neben ihr versuchte, sie am Arm zurückzuhalten, dass er heftig auf sie einsprach und sie ihm etwas zuflüsterte, dass der Mann daraufhin seine Bemühungen noch verstärkte. Aber sie ließ sich auf nichts ein, schüttelte den Arm ab, kam die letzten Schritte. Als sie ihn erreichte, streckte sie ihm die Hand entgegen. Ihr zögernd fragendes »Papa?« hörte Merkel noch, als er zwei Jahre später an ihrem Grab stand.

5

Papa! Nach achtzehn Jahren! Und in den letzten drei hatte Irene nicht mehr daran geglaubt, ihn jemals wiederzusehen. Dass er aus der Haft entlassen worden war, hatte sie natürlich sofort von Agnes Seifert erfahren. Und Kurt hatte sie gebeten, ihm ein paar Tage Zeit zu lassen, damit er sich wieder an die Freiheit gewöhnen könne. Aber nach ein paar Tagen war er schon umgezogen. Und Kurt sagte: »Er hat sich völlig in sich zurückgezogen, Irene, braucht wohl etwas mehr Zeit, um wieder Fuß zu fassen im Leben. Lass ihn vorerst in Ruhe.«

Das fiel ihr nicht einmal schwer. Sie wusste nur nicht genau, ob sie sich aus Respekt vor seinen verletzten Gefühlen von ihm fernhielt oder aus einer allmählich gewachsenen Gleichgültigkeit. Wenn sie an ihn dachte, dann mit Wehmut und Bedauern, aber nicht mehr mit Sehnsucht nach seinem starken Arm. So einen Arm brauchte sie nicht mehr. Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben und konnte inzwischen ihre Arme an andere verleihen.

Sie betreute Familien im sozialen Abseits, alleinerziehende Mütter, auch ein paar Jugendliche, bei denen es noch möglich schien, den totalen Abstieg zu verhindern. Jeden Tag sah sie Hilflosigkeit und Elend, erlebte Sprachlosigkeit und Abwehr, manchmal sogar Feindseligkeit. Es gab einige, die sich nicht helfen lassen wollten, denen sie zu Anfang ihre Unterstützung energisch aufdrängen musste.

Nur war er nicht einer von einigen, er war Papa. Acht Jahre lang ihr Held. Vier Jahre lang ein Engel im Himmel, dem sie auf Erden eine Pyramide hatte bauen wollen. Vier weitere Jahre ein gefallener Engel, dem sie ihre Hand hinhielt mit all den Briefen darin, um ihn wieder aufzurichten. Er hatte ihre Hand nicht gewollt. Und jetzt sagte Agnes oft: »Er ist ein sturer Hund, Irene. Mach dir um ihn keine Gedanken. Ihm ist nicht zu helfen.«

Gleichzeitig sagte Agnes jedoch: »Lange geht das nicht mehr gut. In der alten Gießerei konnte nicht viel passieren. Da haben sich nachts nur ein paar Ratten umgetan.«

Nur war er nicht mehr in der alten Gießerei. Die Firma hatte nach einem Jahr Konkurs angemeldet. Seitdem versah er seinen Wachdienst in einem Einkaufszentrum, in dem doch einiges zu holen war. Kurt hatte dafür gesorgt, dass er nur Nachtschicht machte, weil nachts schwere Rollgitter vor den Zugängen heruntergelassen waren und so leicht niemand eindringen konnte.

Und Agnes sagte: »Da muss sich abends nur mal einer einschließen lassen. Was will Hein denn machen? Er kriegt ein paar aufs Maul und anschließend die Papiere. Und in seinem Alter kriegt er keinen neuen Job.«

Deshalb machte Irene sich zwangsläufig einige Gedanken, sah ihn im Geist bereits auf dem Flur des Sozialamtes sitzen, sah sich eines dieser Schreiben öffnen, in dem ihr mitgeteilt wurde, ihr Vater habe laufende Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt, und sie möge nun ihre Einkünfte offenlegen. So weit musste es doch nicht kommen.

Manchmal nahm sie sich vor, ihn einfach mal zufällig irgendwo zu treffen. Sein Dienst im Einkaufszentrum begann um acht Uhr abends, er musste etwas früher da sein. Und die meisten Läden hatten bis um acht geöffnet. Da hätte sie ihm einmal als späte Kundin über den Weg laufen können. Oder sonntags, jeden zweiten Sonntag besuchte er Kurt und Agnes, nicht freiwillig, Agnes hatte das angeordnet und Kurt dem Befehl Nachdruck verliehen, damit er wenigstens jedes zweite Wochenende für ein paar Stunden registrierte, dass er nicht völlig allein auf der Welt lebte. Bei Agnes und Kurt hätte sie jederzeit unangemeldet zu einem Kaffee erscheinen können.

Aber sie tat es nicht und schämte sich oft dafür, weil es einfacher war, sich nicht um ihn zu kümmern. Bei all den anderen, die sich partout nicht helfen lassen wollten und am Ende auf der Straße oder der schiefen Bahn landeten, konnte sie zur Not noch denken wie Götz von Berlichingen. Bei ihm hätte sie das nicht gekonnt, das wusste sie.

Als Gernot und sie vor einem Jahr geheiratet hatten, hatte sie ihn einladen wollen. Natürlich nicht zu der Feier, an der ihre Mutter, Friedel und Gernots Eltern teilnahmen, aber am Tag danach. Gemütlich und zwanglos im kleinen Kreis, mit Agnes und Kurt, die auch nicht zu der großen Feier eingeladen waren, weil ihre Mutter nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte.

Und Kurt sagte: »Erspar dir das, Irene. Es hat wirklich keinen Sinn. Er würde nicht kommen.«

Aber zur Beerdigung kam er. Niemand hatte damit gerechnet. Es war ein Schock für sie. Wie er da stand, so klein und verloren. Sie hatte ihn viel größer in Erinnerung und jünger natürlich. Agnes hatte gesagt, er habe sich sehr verändert, aber so sehr, das hatte sie nicht erwartet. Er war alt geworden, sah viel älter aus, als er tatsächlich war. Und nichts an ihm war mehr stark.

Sekundenlang schwebte ihr das verblasste Kinderfoto vor den Augen. Sie sah ihn als kleinen Jungen auf der Flucht aus Ostpreußen durch Eis und Schnee stolpern, weinend und frierend neben seiner toten Mutter sitzen, bis eine mitleidige Seele ihn mitzerrte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und hatte in der ersten Verlegenheit nicht mehr für ihn als eine Einladung, die er gar nicht annehmen konnte. »Komm doch mit, Papa. Wir trinken noch einen Kaffee zusammen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Es sind nicht viele Leute dabei.«

Nicht viele! Natürlich kamen nicht alle, die auf dem Friedhof waren, auch mit in das Restaurant. Die Einladung dazu galt nur für gut zwei Dutzend, überwiegend Verwandtschaft von Friedel, ein paar Geschäftspartner und langjährige Klienten. Gernots Familie und Angehörige ihrer Mutter, Tante Karola, die bereits misstrauisch zu ihm hin äugte.

Dass er keinen Wert darauf legte, sich von dieser Gesellschaft dumm anglotzen zu lassen, verstand sie. Da hätte er gar nicht wortlos den Kopf schütteln müssen. Doch einfach gehen lassen wollte sie ihn auch nicht wieder. Sie kramte in ihrer Handtasche und drückte ihm eine von den Visitenkarten in die Finger, die ihr Mann normalerweise seinen Kunden andrehte in der Hoffnung, dass sie ihn mit so einer Karte für ebenso wichtig hielten wie seinen Vater und Friedel. Sie hatte immer zwei oder drei davon bei sich, für Notfälle.

»Dann ein andermal, Papa, komm doch mal sonntags auf einen Kaffee vorbei, wenn du Zeit und Lust hast. Sagen wir um vier Uhr? Wir würden uns wirklich sehr freuen.«

Wir! So ein Quatsch! Er hatte doch gesehen, wie Gernot an ihrem Arm riss und auf sie einsprach. Den halben Abend stritt sie mit ihrem Mann darüber. Bis dahin hatten sie zwar hin und wieder Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Aber es hatte noch nie etwas gegeben, worüber sie richtig hätten streiten müssen.

»Du weißt ganz genau, dass dieser Mann nichts von dir wissen will«, sagte Gernot. »Warum musst du dich ihm aufdrängen?«

»Weil er mein Vater ist«, erwiderte sie.

Das war für Gernot kein Argument. »Bist du sicher, dass er das weiß?«, fragte er. »Ich nicht, er hat sich jedenfalls nie so benommen. Friedel war dein Vater in den letzten achtzehn Jahren.«

Und Friedel war ein Mann nach seinem Herzen gewesen, beruflich erfolgreich, sehr vermögend, mit dem entsprechenden Freundeskreis und geschäftlichen Kontakten, die das Herz eines Bankkaufmanns, der sein Glück als Investmentberater versuchte, zwangsläufig höherschlagen ließ. »Mein Schwiegervater«, hatte Gernot schon vor der Hochzeit voller Stolz gesagt.

Dass es noch einen Schwiegervater gab, einen armen Schlucker, einen nur auf dem Gnadenweg entlassenen Mörder, gefiel ihm gar nicht. Wer wusste denn, welche Beziehungen ihr Vater in den fünfzehn Jahren seiner Haft geknüpft hatte, welches Gesindel in seiner Gefolgschaft auftauchte? Wenn man sich auf ihn einließ, hatte man am Ende noch ein paar Psychopathen mehr am Hals und vielleicht eines Tages ein Messer an der Kehle.

»Du hast doch einen Knall«, protestierte sie. »Psychopathen! Du hast überhaupt keine Ahnung, wie er wirklich ist und warum er damals geschossen hat. Sprich mal mit Agnes darüber. Oder frag dich, warum Agnes und Kurt nicht zur Beerdigung gekommen sind.«

Kurt hatte dienstliche Gründe vorgeschoben und Agnes einen dringenden Zahnarztbesuch. »Eine Wurzelentzündung, Irene. Das hat heute Nacht angefangen, ich geh vor Schmerzen die Wände hoch und bin heilfroh, dass ich den Termin bekommen habe. Friedel wird mir verzeihen, wenn ich nicht komme. Blumen aufs Grab legen kann ich ihm ja auch später mal, wenn die großen Berge abgeräumt sind.«

Und dann bekäme Friedel vermutlich einen Strauß, der sich sehen lassen konnte. Und Agnes würde ihn so hinlegen, dass nur ja keine Blume das zweite Grab berührte. Agnes hätte keine Wurzelbehandlung erfinden müssen, sie hätte klipp und klar sagen können, dass sie nicht einer Frau die letzte Ehre erweisen wollte, die ihrer Ansicht nach ein paar Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Irene hätte das verstanden.

Gernot verstand sie allerdings nicht. »Ich behaupte nicht, dass deine Mutter ein Engel war«, sagte er. »Aber das gab ihm nicht das Recht, einen Mann zu erschießen. Wir leben doch nicht im Wilden Westen. Und wenn er nur einen Funken Gefühl im Leib gehabt hätte, hätte er sich anschließend ein paar Gedanken um dich gemacht. Er kennt nur sich selbst. Und du musst dich nicht von ihm verletzen lassen, Liebling.«

Seit Friedels Tod nannte er sie Liebling. Dass er sie damit nur über ihren Verlust hinwegtrösten wollte, glaubte sie nicht so recht. Sie war die Alleinerbin von Friedels Vermögen. Und Gernot hatte in den vergangenen Tagen schon ein paar Berechnungen angestellt, wie man den Segen am besten anlegen könnte.