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Die angewandte Verhaltensanalyse verfügt über eigene Forschungs- und Evaluationsmethoden, die in besonderer Weise dem Einzelfall gerecht werden und deshalb eine unverzichtbare Ergänzung zu den Methoden der Sozialwissenschaften darstellen. Das Lehrbuch arbeitet diese Methoden grundlegend auf, von der Definition über die Beobachtung bis hin zur Dokumentation und der Überprüfung von Verhalten und Verhaltensänderungen. Zudem werden die unterschiedlichen Single-Case-Untersuchungsdesigns vorgestellt und in ihrer Anwendung so erklärt, dass die Leserinnen und Leser dieses Buch zur Prüfungsvorbereitung und als Leitfaden für die eigene Forschung nutzen können. Praktikerinnen und Praktiker leitet das Buch zum evidenzbasierten Arbeiten mit den Klientinnen und Klienten an.
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Seitenzahl: 349
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Der Autor
Dr. Christoph Bördlein ist Professor für Psychologie und verhaltensorientierte Handlungslehre an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS). Sein Interessensschwerpunkt ist die angewandte Verhaltensanalyse, insbesondere die verhaltensorientierte Arbeitssicherheit (Behavior Based Safety, BBS). Er ist Autor des Standardwerks zum Thema BBS, einer Einführung in die Verhaltensanalyse sowie der populärwissenschaftlichen/kurzweiligen Einführung ins skeptisch-wissenschaftliche Denken »Das sockenfressende Monster in der Waschmaschine«, in der der Autor erklärt, wie man außergewöhnliche Behauptungen unvoreingenommen auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041282-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041283-5
epub: ISBN 978-3-17-041284-2
Dieses Buch behandelt die Forschungsmethoden der angewandten Verhaltensanalyse. Im ersten Teil des Buches geht es vor allem um die Beobachtung und Messung des Verhaltens, im zweiten Teil vor allem um die verschiedenen Single-Case-Designs. Das Buch schließt eine Lücke. Es gibt gute deutschsprachige Einführungen in die Forschungsmethoden der Sozialwissenschaften im Allgemeinen (z. B. Döring & Bortz, 2016). Doch behandeln diese die Forschungsmethoden der Verhaltensanalyse nur am Rande, als exotischen Sonderfall. Eine Einführung in das Single-Case-Design legten Julius, Schlosser und Goetze (2000) vor. Das Buch wird nicht mehr gedruckt (und behandelt nicht alle Inhalte, die auch in diesem Buch behandelt werden). Ein aktuelles und umfassendes Lehrbuch der Forschungsmethoden der angewandten Verhaltensanalyse ist daher überfällig.
Dieses Buch ist explizit als Methodenlehre gedacht: Es soll die Leserin und der Leser mit den Methoden einer Wissenschaft vertraut machen und sie befähigen (ggf. zunächst unter fachkundiger Anleitung), selbst Forschungen in diesem Bereich zu betreiben. Voraussetzung für dieses Buch ist, dass man mit den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens vertraut ist, insbesondere den Grundlagen empirisch-wissenschaftlichen Arbeitens in den Sozialwissenschaften. Grundlegende Kenntnisse der Verhaltensanalyse werden ebenfalls vorausgesetzt (Bördlein, 2016).
Besonderer Dank geht an Tanja Schneider für die Erstellung, Vereinheitlichung und Verbesserung der in diesem Buch enthaltenen Abbildungen, insbesondere der zahlreichen Liniengrafiken der Ergebnisse der vorgestellten Single-Case-Studien.
Christoph Bördlein
Vorwort
Einleitung: Was ist angewandte Verhaltensanalyse?
Verhaltensanalyse: Die Wissenschaft vom Verhalten
Das Forschungsprogramm der angewandten Verhaltensanalyse
Messen
1 Verhalten als Gegenstand der Wissenschaft
1.1 Was ist Verhalten?
1.2 Topographisch-qualitativer und funktionaler Aspekt
1.3 Quantitativer Aspekt
1.4 Verhalten definieren
2 Verhalten beobachten
2.1 Direkte Beobachtung und Einschätzung
2.2 Fremd- und Selbstbeobachtung
2.3 Reaktivität
2.4 Beobachtungsmethoden
2.5 Beobachterübereinstimmung und Treatmentintegrität
3 Verhalten dokumentieren
3.1 Beobachtungsbogen
3.2 Liniengrafik
Überprüfen: Das Einzelfallexperiment
4 Arten von Studien
4.1 Wie kann man die Ursache des Verhaltens herausfinden?
4.2 Fallstudien
4.3 Nicht-experimentelle Studien
4.4 Quasi-experimentelle Studien
4.5 Experimentelle Studien
5 Die Validität und ihre Bedrohungen
5.1 Interne Validität
5.2 Externe Validität
6 Gruppenstatistisches Vorgehen und Einzelfallexperiment im Vergleich
6.1 Umgang mit Variabilität
6.2 Generalisierbarkeit der Ergebnisse
7 Allgemeine Eigenschaften von Einzelfallexperimenten
8 Methoden der visuellen Analyse
8.1 Anforderungen an die Basisrate (Länge, Trendfreiheit, Variabilität)
8.2 Vergleich von Basisrate und Intervention
8.3 Zusammengefasst: Kriterien für die visuelle Analyse von Liniengraphiken
9 Schwache Designs
9.1 Fallstudien und Nur-B-Designs
9.2 A-B-Designs
9.3 A-B-C-Designs
9.4 B-A-B-Designs
10 Withdrawal-Designs und ihre Varianten
10.1 A-B-A-Design
10.2 A-B-A-B-Design
10.3 A-B-A-B-A-B-Design & A-B*N-Design
10.4 A-B-C-B-Design
10.5 Vergleich verschiedener Interventionsvariablen oder -komponenten
10.6 Parametrische Variationen der gleichen Interventionsvariable oder -komponente
10.7 Strategien zur Untersuchung von Interaktionseffekten
11 Multiple-Baseline-Designs
11.1 Das Multiple-Baseline-Design über Versuchspersonen hinweg
11.2 Das Multiple-Baseline-Design über Verhalten hinweg
11.3 Das Multiple-Baseline-Design über Situationen hinweg
11.4 Das nicht-gleichzeitige Multiple-Baseline-Design und die Multiple-Probe-Technique
12 Changing-Criterion-Design
13 Alternating-Treatment-Design
13.1 Beispiele für Studien
13.2 Das Alternating-Treatment-Design in der funktionalen Analyse
14 Soziale Validität
14.1 Kriterien für die soziale Validität
14.2 Soziale Validierung
14.3 Erfassung der sozialen Validität
Literatur
Die Verhaltensanalyse ist die Wissenschaft vom Verhalten von Menschen und Tieren. Sie untersucht die Frage, warum sich Lebewesen so verhalten, wie sie es tun. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, wie Umwelteinflüsse während der Lebensspanne des Lebewesens Einfluss auf das Verhalten nehmen.
Im deutschen Sprachraum herrscht gelegentlich Verwirrung, wenn die Verhaltensanalyse als eine Wissenschaft bezeichnet wird. Hier kennt man diesen Begriff nur als Bezeichnung einer diagnostischen Strategie im Rahmen der Verhaltenstherapie. Im Englischen gibt es zumindest sprachliche Unterscheidungsmöglichkeiten. So ist die Wissenschaft der Verhaltensanalyse die behavior analysis (experimental analysis of behavior und applied behavior analysis). Die diagnostische Strategie in der Verhaltenstherapie wird dagegen als behavioralanalysis bezeichnet. Den ganzen Vorgang der Verhaltensdiagnostik bezeichnet man als behavioral assessment.
Die Verhaltensanalyse geht davon aus, dass Verhalten eine Anpassungsleistung des Lebewesens an seine Umwelt ist. Die Verhaltensanalyse versteht sich dabei als Teilgebiet der Biologie. So wie die Form von Lebewesen (der Aufbau ihres Körpers) ein Resultat der Umweltbedingungen ist, denen die Vorfahren dieses Lebewesens ausgesetzt waren und denen das Lebewesen während seiner Lebensspanne ausgesetzt war, ist auch sein Verhalten das Resultat von vergangenen und gegenwärtigen Umweltbedingungen.
Das aktuelle Verhalten eines Lebewesens wird immer von drei Faktoren bestimmt, nämlich von
• seiner genetischen Ausstattung, die ihm bestimmte Verhaltensmöglichkeiten gibt. Ganz banal bedeutet dies, dass nur ein Lebewesen fliegen kann, das über Flügel verfügt. Ebenso kann nur ein Tier, das über ein entsprechendes Nervensystem verfügt, Nahrung, die es im Herbst versteckt hat, im Winter wiederfinden.
• seiner Lerngeschichte. Alles, was einem Lebewesen während seines Lebens widerfährt, verändert dieses Individuum. Insbesondere verändert sich das übliche Verhalten dieses Lebewesens.
• der unmittelbaren Umwelt, in der sich das Lebewesen befindet.
Die experimentelle Verhaltensanalyse beschäftigt sich mit der Frage, wie die Lerngeschichte und die unmittelbare Umwelt das Verhalten von Lebewesen bestimmen. Sie untersucht die Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens.
Die angewandte Verhaltensanalyse beschäftigt sich mit der Frage, wie geplante Veränderungen von Umweltbedingungen das Verhalten verändern. Vorwiegend geht es darum, wie man durch bestimmte Interventionen das Verhalten von Menschen (und Tieren) verändern kann. Die Forschungsmethoden der angewandten Verhaltensanalyse sind der Gegenstand dieses Buches.
Die Grundlagen der experimentellen Verhaltensanalyse (experimental analysis of behavior) gehen zurück auf die Arbeiten von B. F. Skinner in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts (Skinner, 1938). Skinner bezog sich zwar auf die Vorarbeiten von Pawlow (Pavlov, 1927) und Thorndike (Thorndike, 1931, 1932), ging aber weit darüber hinaus. Insbesondere unterschied Skinner zwischen dem respondenten Verhalten (unkonditionierten und konditionierten Reflexen) und dem operanten Verhalten. Respondentes Verhalten wird von vorausgehenden Ereignissen ausgelöst. Operantes Verhalten wird dagegen durch vorausgehende Ereignisse lediglich ermöglicht. Es kann, im Gegensatz zum respondenten Verhalten, durch dem Verhalten nachfolgende Ereignisse (Konsequenzen) gestärkt oder geschwächt werden. Tritt das Verhalten infolge der Konsequenzen künftig häufiger auf, spricht man von Verstärkung, tritt es seltener auf, nennt man diesen Vorgang Bestrafung (mehr zu den Grundlagen der Verhaltensanalyse bei Bördlein, 2016).
Zudem entwickelte Skinner, u. a. aufbauend auf den Vorarbeiten von John B. Watson (1913), eine eigenständige Wissenschaftstheorie der Verhaltensanalyse, den sogenannten radikalen Behaviorismus (Skinner, 1974). Diesen unterscheidet mehr vom klassischen Behaviorismus nach Watson (1925) und vor allem vom mediationalen (methodologischen) Neobehaviorismus im Gefolge von Hull (1943), als dass er mit diesen anderen »Behaviorismen« gemeinsam hätte. Der Neobehaviorismus bestimmt nach wie vor die Forschungsmethodik der (insbesondere kognitiven) Psychologie (Moore, 2008). Das äußerlich sichtbare Verhalten wird hier lediglich als ein Indikator für die eigentlich interessanten inneren, psychischen oder kognitiven (hypothetischen) Vorgänge betrachtet. Methodisch ist diese Form der Psychologie jedoch auf die Untersuchung des äußerlich sichtbaren Verhaltens anderer Personen eingeengt. Auch das Antwortverhalten der Probanden und Probandinnen in den in der Psychologie so beliebten Fragebogenuntersuchungen ist ein offenes Verhalten, das Rückschlüsse auf »innere Vorgänge« erlauben soll. Skinner sah dagegen sowohl das von außen (durch andere Personen) gut sichtbare offene Verhalten als auch das, was andere Menschen nicht oder nur eingeschränkt beobachten können (das sogenannte verdeckte Verhalten) nur als verschiedene Varianten der Aktivität eines Lebewesens, die sich nur durch den Grad ihrer Beobachtbarkeit durch Außenstehende unterscheiden (Palmer, 2009). Gedanken und Gefühle sind auch Verhalten. Das ›Radikale‹ am radikalen Behaviorismus ist sein Verhaltensbegriff.
Die experimentelle Verhaltensanalyse untersuchte zunächst das Verhalten einfacherer Organismen. Skinner selbst arbeitete erst mit Ratten, später vor allem mit Tauben. Die Wahl dieser Untersuchungsobjekte hat forschungspraktische und wissenschaftstheoretische Gründe. Die Umwelt und Lebensgeschichte der Versuchstiere lassen sich leichter kontrollieren als dies beim Menschen der Fall wäre, was die interne Validität1 (Gültigkeit) der Untersuchungen erhöht. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist zum einen die Kontinuitätsannahme der Evolutionstheorie bedeutsam. Alle Lebewesen auf diesem Planeten sind miteinander verwandt, sie teilen die gleiche Biologie. Der Mensch unterscheidet sich nicht prinzipiell vom Tier. Gesetzmäßigkeiten, die bei Tieren gelten, lassen sich – mit Einschränkungen – auch auf den Menschen übertragen. Bezüglich der Physiologie und Anatomie wird die Kontinuitätsannahme allgemein akzeptiert (das Herz eines Schweines ist ähnlich aufgebaut und funktioniert ähnlich wie das eines Menschen). Aus diesem Grunde akzeptiert man nicht nur die Ergebnisse von Tierversuchen im Bereich der Medizin, man fordert sogar die Erprobung von für den Menschen bestimmten Behandlungsmethoden und Medikamenten an Tieren. Die Kontinuitätsannahme gilt auch für den Bereich des Verhaltens. Grundgesetze des Verhaltens, die bei Tieren entdeckt wurden, sollten auch beim Menschen gelten (auch wenn beim Menschen noch andere Gesetzmäßigkeiten hinzukommen mögen).
Der andere wissenschaftstheoretische Grund für die Nutzung von Tieren als Versuchsobjekte der experimentellen Verhaltensanalyse ist das Prinzip des Reduktionismus. Menschen sind in Bezug auf ihr Verhalten komplexer als Tiere. Unter anderem sind Menschen sprachbegabt und können ihr anderes Verhalten über dieses sprachliche Verhalten steuern (Skinner, 1957). Wenn man das Ziel verfolgt, allgemeingültige Grundprinzipien des Verhaltens zu entdecken und allein Menschen untersucht, wird man mit dem ganzen Ausmaß dieser Komplexität konfrontiert. Ein Vergleich illustriert die Vorzüge des Reduktionismus: Man hätte wohl kaum die Gravitationsgesetze formulieren können, wenn man lediglich das Fallen von Blättern beobachtet hätte. Deren Bewegungen werden zwar auch durch die Gravitation beeinflusst. In unterschiedlich großem Ausmaß (je nach Wetter) werden sie aber auch vom Medium, in dem sie fallen, der Luft, beeinflusst. Am Anfang des reduktionistischen Prozesses steht die gedankliche Abstraktion: Was ist das ›eigentlich‹ Interessante (die Anziehung eines Gegenstandes durch die Schwerkraft der Erde), was ist nur Beiwerk (der Einfluss der Luft auf den Vorgang des Fallens)? Der zweite Schritt ist die Untersuchung der vermuteten Gesetzmäßigkeiten unter vereinfachten und künstlichen Bedingungen im Labor (z. B. die Untersuchung von Bleigewichten im Vakuum). Diese Untersuchungen bestätigen die Gesetzmäßigkeiten (oder nicht) oder sie helfen dabei, diese Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst entdecken zu können, weil, bildlich gesprochen, das Gestrüpp der anderen Einflussvariablen die Sicht nicht behindert.
Aus diesem Grund untersuchten Skinner und andere frühe Verhaltensanalytiker möglichst einfaches Verhalten einfacher (aber dem Menschen noch vergleichbarer) Organismen im Labor. Während Thorndike (1898) im Labor Katzen (und andere Tiere) beobachtete und erfasste, wie lange diese benötigten, um sich aus komplizierten Käfigen (sogenannte puzzle boxes) zu befreien (eine Abfolge vieler verschiedener Verhaltensweisen), untersuchte Skinner das einfache Verhalten des Hebeldrückens bei Ratten. Das Versuchstier erhielt, wenn es einen Hebel herabdrückte, ein Futterpellet. Allein die Häufigkeit dieses einfachen Verhaltens unter verschiedenen Bedingungen (z. B. wenn das Futterpellet jedes Mal oder nicht jedes Mal auf das Hebeldrücken folgt) interessierte.
Nachdem Grundgesetzmäßigkeiten des Verhaltens aufgrund dieser Experimente formuliert werden konnten, wurde die Untersuchung auf andere Tierarten und auf den Menschen ausgedehnt. Seit 1958 erscheint das Journal of the Experimental Analysis of Behavior (JEAB), in dem über die grundlagenwissenschaftliche Erforschung des Verhaltens berichtet wird. In den 3084 Artikeln dieser Zeitschrift, die zwischen 1958 und 2013 veröffentlicht wurden, berichten übrigens 524 Artikel von Menschen als Versuchspersonen (Zimmermann, Watkins & Poling, 2015).
Die Übertragung der grundlagenwissenschaftlich gewonnen Erkenntnisse auf den Bereich der angewandten Forschung geschah schon relativ früh, genaugenommen bereits in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts (Bjork, 1993). Aber erst in den fünfziger und sechziger Jahren wurden auf Grundlage der experimentellen Verhaltensanalyse Interventionen für Menschen entwickelt (z. B. Ayllon & Michael, 1959; Lindsley & Skinner, 1954). Zunächst waren diese Übertragungen noch ›grob‹ und sehr am Modell der Grundlagenwissenschaft orientiert. Einen Schub erhielt die angewandte Verhaltensanalyse durch die Gründung der Zeitschrift Journal of Applied Behavior Analysis (JABA) im Jahr 1968. Die Methodik der angewandten Verhaltensanalyse wurde seitdem immer weiterentwickelt. Die funktionale Analyse nach Iwata, Dorsey, Slifer, Bauman und Richman (1982/1994) und das funktionale Kommunikationstraining nach Carr und Durand (1985) – Entwicklungen, die man übrigens in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen hat – sind hier als Beispiele zu nennen.
Zahlreiche Interventionen wurden auf Grundlage der angewandten Verhaltensanalyse entwickelt, darunter etliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität und Förderung der Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderung (z. B. Carr, 1994). Hervorzuheben sind die Förderprogramme für Menschen mit Autismus, die als die derzeit am besten untersuchten und wirksamsten Interventionen für die Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) gelten (Larson, 2012; Smith & Iadarola, 2015) und (als einzige Interventionen in diesem Bereich) zu den evidenzbasierten Verfahren nach den Kriterien von Chambless und Hollon (1998) zählen (Rogers & Vismara, 2008). Ein weiterer großer Bereich, in dem die angewandte Verhaltensanalyse erfolgreich ist, ist das schulische und universitäre Lernen. Die einzigen Lehrmethoden, die sich zuverlässig dem traditionellen Unterricht als überlegen erwiesen haben, sind verhaltensanalytisch fundiert (Binder & Watkins, 1990). Aber auch bei Verhaltensproblemen im pädagogischen Bereich sind verhaltensanalytisch fundierte Maßnahmen die Methode der Wahl (z. B. Lloyd, Weaver & Staubitz, 2016; Tingstrom, Sterling-Turner & Wilczynski, 2006). Im Bereich des Verhaltensmanagements in Organisationen (Organizational Behavior Management, OBM) ist besonders die Methode der verhaltensorientierten Arbeitssicherheit (Behavior Based Safety, BBS) zu nennen (Bördlein, 2015), die nach Zimbardo (2004) zu den wichtigsten Beiträgen der Psychologie zur Gesellschaft zählt. BBS ist die »mit Abstand erfolgreichste und am häufigsten untersuchte« (Zimolong, Elke & Trimpop, 2006, S. 654) Methode zur Veränderung des Verhaltens im Bereich der Arbeitssicherheit. BBS wird seit seiner Entwicklung in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in tausenden von Firmen erfolgreich angewendet und hat etliche Menschenleben gerettet. Auch zum humanen Umgang mit Tieren hat die angewandte Verhaltensanalyse wertvolle Beiträge geliefert. Zoo- und Nutztiere werden aufgrund verhaltensanalytisch fundierter Methoden artgerechter gehalten (Foster, Temple & Poling, 1997; Maple & Segura, 2015). Haustiere, die früher aufgrund ihrer »Verhaltensprobleme« eingeschläfert oder ein Leben lang im Zwinger gehalten werden mussten, können mit den gewaltfreien Methoden des sogenannten Clickertrainings umlernen und gerettet werden (Pryor, 2006). Afrikanische Riesenhamsterratten konnten mit verhaltensanalytischen Methoden dazu ausgebildet werden, Landminen zu entdecken (Edwards, Cox, Weetjens, Tewelde & Poling, 2015; Poling, Weetjens, Cox, Beyene & Sully, 2010), verschüttete Personen zu finden (La Londe, Mahoney, Edwards, Cox, Weetjens, Durgin & Poling, 2015) und Tuberkulose in Sputum zu identifizieren (Poling, Valverde, Beyene, Mulder, Cox, Mgode & Edwards, 2016; Poling, Weetjens, Cox, Beyene, Durgin & Mahoney, 2011). Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen.
In einem klassischen Artikel legten Baer, Wolf und Risley (1968) fest, welchen sieben Kriterien angewandte Forschung in der Verhaltensanalyse genügen muss.
Der Forschungsgegenstand wird nicht aufgrund theoretischer Erwägungen gewählt, sondern aufgrund seiner Bedeutung für die Menschen und die Gesellschaft. Die wichtigste Frage, die die angewandte Forschung daher beantworten muss, lautet: Wie bedeutsam ist dieses Ergebnis für den einzelnen Menschen oder für die Gesellschaft?
Das Ziel der angewandten Forschung ist die Veränderung der Beziehung zwischen Verhalten und Umwelt. Das Verhalten muss wiederum bedeutsam sein: Einem impotenten Mann ist nicht geholfen, wenn man ihn dazu bringt, nicht mehr zu sagen, er sei impotent. Dies wäre gleichbedeutend damit, dass der Forscher oder Therapeut dem Patienten nur beibringt, sich nicht mehr zu beklagen (statt die Ursache für seine Klagen zu beseitigen).
Im Bereich der angewandten Forschung kann man das Verhalten nicht immer im selben Ausmaß wie in der Grundlagenforschung automatisch aufzeichnen. Das Verhalten muss oft von Menschen beobachtet werden und Menschen sind fehlbar. Daher muss jede Messung mit einer Prüfung der Reliabilität (z. B. durch zwei unabhängige Beobachterinnen), also der Zuverlässigkeit der Messung, einhergehen.
Die Forscherin kann ein Verhalten dann analysieren, wenn sie es kontrollieren kann. In der Grundlagenforschung kann ein Wissenschaftler das Verhalten meist nach Belieben hervorrufen oder unterdrücken. Im angewandten Bereich ist dieses Ausmaß an Kontrolle kaum zu erreichen. Doch kann die Forscherin auch hier eine Form von Kontrolle demonstrieren. Das A-B-A- (»withdrawal«) Design ist eine der Techniken, der Ansatz der multiplen Basisraten (»multiple baseline«) ein anderer, durch den man die ursächliche Wirkung bestimmter Variablen auf eine andere Variable (das Verhalten) demonstrieren kann.
Untersuchungen müssen so berichtet werden, dass ein typischer Leser (eine Fachkollegin) prinzipiell in der Lage wäre, das Experiment zu wiederholen. Daher sind Beschreibungen wie »es wurde eine Spiel-Therapie durchgeführt« nicht ausreichend. Die einzelnen Bestandteile einer »Spieltherapie« müssen als eine Sammlung von kontingenten Beziehungen zwischen dem Verhalten des Kindes, dem der Therapeutin und dem verwendeten Spielmaterial beschrieben werden. Das beinhaltet nicht nur, dass beschrieben wird, was geschehen ist, sondern dass erklärt wird, was getan werden sollte, wenn nicht das erwünschte, sondern ein anderes Verhalten auftritt. Es genügt bspw. nicht zu beschreiben, dass die Wutausbrüche eines Kindes dadurch aufhören, dass man es für die Dauer des Wutausbruchs und weitere zehn Minuten vom Rest der Gruppe isolierte. Der Forscher muss auch angeben, was getan werden soll, wenn das Kind nicht aufhört zu schreien oder wenn es die Einrichtung im Raum kaputt schlägt usw.
Die Beschreibung von Forschungen soll nicht nur rein technologisch sein, sie muss auf grundlagenwissenschaftliche Konzepte Bezug nehmen. Andernfalls wäre sie mehr oder weniger eine Sammlung von Tricks. Eine Leserin muss in die Lage versetzt werden, dasselbe Prinzip in einem anderen Zusammenhang anzuwenden.
Es genügt nicht, dass sich durch eine Maßnahme eine Änderung einstellt, diese Änderung (im Verhalten) muss praktisch bedeutsam sein. Für die Pfleger eines ehedem stummen schizophrenen Menschen ist es z. B. nicht sehr bedeutsam, wenn dieser nach der Intervention zehn Verben verwenden kann. Wohl aber würden 50 Wörter, die dem Patienten helfen, seine Wünsche auf angemessene Art und Weise auszurücken, einen großen Unterschied bedeuten – gleichgültig, was Psycholinguistinnen davon halten würden. Auch das Kriterium der statistischen Signifikanz ist nicht allein entscheidend: Ein signifikanter, aber absolut sehr kleiner Unterschied ist praktisch meist nicht bedeutsam.
Ein Ergebnis, dass sich nur in einem sehr speziellen Segment bemerkbar macht, ist meist nicht von Dauer. Die angewandte Forscherin sollte Angaben darüber machen, wie der überdauernde Erfolg einer Maßnahme sichergestellt werden kann: Generalisation sollte programmiert und nicht nur erwartet oder eingefordert werden.
In dieser Methodenlehre der angewandten Verhaltensanalyse wird es zunächst darum gehen, wie man den Gegenstand dieser Wissenschaft, das Verhalten, misst. Im zweiten Teil geht es darum, wie man Wirkzusammenhänge feststellen kann – also die Frage, ob eine Veränderung in der Umwelt (z. B. eine Intervention) ursächlich für eine Veränderung im Verhalten ist.
1 Unter der internen Validität einer Aussage versteht man die Gültigkeit von kausalen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen einer Studie. Nimmt man bspw. ein Homöopathikum und es geht einem danach besser, so ist die daraus abgeleitete Aussage »Homöopathika sind wirksam« nicht intern valide (denn es gibt viele andere Erklärungen für den Umstand, dass es einem besser geht). Intern valide sind aus Studien abgeleitete Aussagen dann, wenn in den Studien Vorsichtsmaßnahmen gegen die vielen Bedrohungen der internen Validität ergriffen wurden (Kap. 5).
Die Definition des doch sehr grundlegenden Begriffs »Verhalten« ist weder unter Psychologen noch unter Biologinnen eindeutig geklärt. Levitis, Lidicker und Freund (2009) verschickten einen Fragebogen an 174 Biologinnen und Biologen mit der Aufforderung anzugeben, was unter »Verhalten« zu verstehen sei. Es gab kaum Übereinstimmungen. Den größten Konsens hatten diese Aspekte:
• Entwicklungsbedingte Veränderungen sind kein Verhalten.
• Verhalten wird immer von internen Prozessen im Individuum beeinflusst.
• Verhalten ist etwas, was das ganze Individuum tut, nicht nur ein Teil.
• Verhalten ist immer die Reaktion auf interne oder externe Reize.
Auch unter Verhaltensanalytikern ist nicht gänzlich geklärt, was »Verhalten« eigentlich ist (Baum, 2013; Lazzeri, 2014), doch ist die Streubreite der angegebenen Definitionen bei weitem nicht so hoch wie in der Psychologie oder unter den befragten Biologinnen und Biologen.
Der Verhaltensbegriff der Verhaltensanalyse ist sehr breit. Doch zunächst ist zwischen Verhalten und Umweltereignissen zu unterscheiden.
• Verhalten ist, vorläufig definiert, alles, was ein Organismus tut
• Ein Umweltereignis (Stimulus oder Reiz) ist ein Ereignis in der Umwelt eines Organismus, das von diesem Organismus wahrgenommen werden kann.
Die Definition von Verhalten ist hier noch sehr grob, die Definition des Umweltereignisses ist auffallend tautologisch. Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass beide Definitionen einer Präzisierung bedürfen.
Dieser erste Versuch einer Definition soll zunächst deutlich machen, dass es sich beim Verhalten um eine Aktivität des Organismus handelt. Etwas, das keine Aktivität ist (z. B. die Eigenschaften eines Organismus), kann kein Verhalten sein. Intelligent sein ist z. B. kein Verhalten. Es ist eine Eigenschaft, die wir aufgrund von Verhalten erschließen.
Die Bedeutung von »Verhalten« wird oft auf äußerlich sichtbare Bewegungen eingeschränkt und von Aktivitäten, die dann nicht als Verhalten gelten (sondern z. B. als Erleben, kognitive Prozesse), abgegrenzt. Dorsch, Häcker und Stapf (1987) etwa definieren Verhalten als »jede physische Aktivität eines lebenden Organismus, die (…) grundsätzlich von anderen Beobachtern (…) feststellbar ist« (S. 727).
Es ist jedoch unlogisch, Aktivitäten eines Organismus, die von außen leicht beobachtet werden können, als etwas prinzipiell Anderes zu betrachten als Aktivitäten, die von außen nicht, noch nicht oder nur schwer beobachtet werden können.
Kinder erlernen das Lesen, indem sie laut lesen. Sie lernen, auf visuell wahrgenommene Zeichen (die Buchstaben) mit vokalem Verhalten zu reagieren (indem sie diese Buchstaben laut aussprechen). Die Lehrkraft kann darauf z. B. mit Lob oder mit korrektivem Feedback reagieren. Nach und nach lernen die Kinder, ganze Wörter und Sätze laut vorzulesen. Das Kind liest nun auch zuhause laut vor, was von den Eltern zunächst oft gelobt wird. Nach und nach trifft lautes Vorlesen jedoch auch auf Konsequenzen in der Umwelt des Kindes, die dazu führen, dass das Kind leiser liest (z. B. flüsternd). Das Lesen des Kindes ist jetzt noch immer zu beobachten (zu hören und anhand der Lippenbewegungen zu sehen), jedoch hat sich die Intensität dieses Verhaltens verringert (wobei man hier Intensität über den Grad der Beobachtbarkeit durch Außenstehende definiert). Verfolgt man die weitere Entwicklung des Lesenlernens bei Kindern, stellt man fest, dass sich in der Regel die Intensität weiter verringert. Im Lauf der Grundschule sieht man die Kinder wohl oft noch die Lippen bewegen, ehe man später von außen nur noch an den Augenbewegungen erkennen kann, dass die Person liest. Auch Erwachsene, die sich mit dem Lesen schwertun, bewegen beim Lesen oft die Lippen. – Fast alle Leserinnen bewegen öfter die Lippen (oder lesen gar leise für sich), wenn sie es mit einer schwierigen Textpassage zu tun haben. Jederzeit können situative Bedingungen dazu führen, dass man zunächst leise und dann laut liest (z. B., wenn man bei der morgendlichen Zeitungslektüre auf eine interessante oder witzige Passage stößt, die man seinem Partner vorlesen möchte – weil dieser auf solche Mitteilungen in der Vergangenheit oft positiv reagierte).
Obschon der Übergang von lautem zu stillem Lesen ein fließender ist, wird gemeinhin das laute Lesen als ein »typisches« Verhalten (in der Verhaltensanalyse spricht man vom »offenen« Verhalten) betrachtet und in Gegensatz gestellt zum stillen Lesen, das, ähnlich wie das Denken, eine Art kognitiver Vorgang (was auch immer das genau ist) sein soll.
Man könnte hier einwenden, dass auch beim lauten Lesen parallel dazu ein stilles Lesen stattfände, dass also das laute Lesen nur der äußerlich sichtbare Ausdruck des stillen Lesens ist (ein typisch mentalistischer Einwand). Doch erscheint das beim Beispiel der Kinder, die erst das Lesen lernen, weit hergeholt.
Gegen die strikte Trennung von äußerlich sichtbaren Bewegungen einerseits und inneren Vorgängen andererseits sprechen mehrere Gründe. Neben dem Einwand, dass es zahlreiche fließende Übergänge zwischen äußerlich sichtbarem, typischem, offenem Verhalten und äußerlich nicht sichtbaren, verdeckten Vorgängen gibt, ist noch das Kriterium des Von-Außen-Sichtbarseins zu hinterfragen. Was von außen sichtbar ist, hängt von den Umständen ab. Selbst die kognitive Psychologie geht davon aus, dass sich Denkprozesse äußerlich beobachtbar machen lassen, wenn man die Probandin zur Methode des lauten Denkens auffordert. Zudem können Beobachtungsmethoden und technische Hilfsmittel die Grenze verschieben. Auf ein lautes Geräusch hin zucke ich zusammen. Dass sich auch mein Herzschlag beschleunigt, kann ein Außenstehender nicht sehen, es sei denn, ich bin z. B. an ein EKG angeschlossen. Die Neurowissenschaft benutzt bildgebende Verfahren, die die Vorgänge im Gehirn sichtbar machen sollen. Zwar muss die Annahme, man könne hier dem »Gehirn beim Denken zusehen« hinterfragt werden (Faux, 2002), doch kann man mittels solcher Verfahren entscheiden, ob eine Person sich gerade eine Landschaft vorstellt oder, wie sie gerade einen Berg besteigt (weil andere Areale im Gehirn aktiviert sind). Ein Teil des »kognitiven Prozesses« des Sich-Etwas-Vorstellens ist zum Verhalten geworden, das »grundsätzlich von anderen Beobachtern (…) feststellbar ist« (Dorsch et al., 1987, S. 727). Gehirnprozesse sollten nicht als die Ursache des Verhaltens, sondern als Verhalten interpretiert werden (Hantula, 2017, S. 4). Schon immer konnte man entscheiden, ob der Besucher eines Vortrages der Vortragenden aufmerksam lauscht oder in Gedanken nicht bei der Sache ist, z. B., indem man prüft, ob die Reaktionen des Besuchers (Schmunzeln, Stirnrunzeln usw.) mit dem Inhalt des Vortrags korrelieren.
Wir nutzen daher die weite Definition der Verhaltensanalyse, nach der Verhalten alles ist, was ein Organismus tut, unabhängig davon, ob dies von außen gut, schlecht oder gar nicht beobachtbar ist: Auch Gedanken und Gefühle sollen als Verhalten gelten.
Skinner (1938) definierte schon früh in seiner Karriere Verhalten als das, was ein Organismus tut, sofern es einen Bezug zu seiner Umwelt hat. »[B]ehavior is what an organism is doing (…) is that part of the functioning of an organism which is engaged in acting upon or having commerce with the outside world« (S. 6).
Die Begriffe »Verhalten« und »Umweltereignis« (»Reize«) sind relationale Begriffe, die nur sinnvoll verwendet werden können, wenn sie Bezug aufeinander nehmen. Ein anderes relationales Begriffspaar sind die Begriffe »Ehefrau« und »Ehemann«. Ein Ehemann ist jemand nur, wenn er in einer bestimmten, zu beschreibenden Beziehung zu einer anderen Person steht (die dann »Ehefrau« – oder, nach neuerer Gesetzeslage, ggf. auch nochmals »Ehemann« – genannt wird). Man sollte nicht versuchen, strukturelle Merkmale bestimmter Vorgänge (z. B. Bewegungen) zur Definition von »Verhalten« heranzuziehen. Dies ist generell bei relationalen Begriffen nicht der richtige Weg (Ehemänner kann man auch nur bedingt daran erkennen, dass sie einen Ehering tragen).
Manchmal ist die Grenze zwischen Verhalten und Umweltereignis schwer zu ziehen. Man denke an ein lautes Geräusch und an Zahnschmerzen. Beides sind reale Ereignisse doch das laute Geräusch ist eines, das auch von anderen beobachtet werden kann, die Zahnschmerzen passieren ›privat‹. Das wäre ein Problem, wenn man davon ausgeht, dass Reize immer außerhalb von Lebewesen stattfinden müssen. Wenn aber geeignete Rezeptoren (sensorische Nerven) existieren, um einen inneren Reiz wahrzunehmen, gibt es keinen Grund, diesen nicht als Reiz zu betrachten, der ein Verhalten veranlassen kann (z. B. zum Zahnarzt zu gehen).
Wenn wir Verhalten definieren, müssen wir unterscheiden zwischen Bewegungen, das sind Verhaltensweisen die durch ihre Form und die Muskulatur, die dabei benutzt wird, definiert werden und Handlungen, Verhaltensweisen, die durch ihre Relation zur Umwelt definiert werden. Generell sind Handlungen für unsere Zwecke wichtiger als Bewegungen. Nicht alle Bewegungen sind Beispiele für Verhalten und nicht alle Beispiele für Verhalten sind Bewegungen. Reize können nicht unabhängig vom Verhalten des Lebewesens beschrieben werden. Ebenso können wir Verhaltensweisen nicht unabhängig von der Umwelt dieses Lebewesens beschreiben.
Verhalten soll als eine Aktivität des Organismus definiert werden, die in Bezug zu Umweltereignissen stattfindet. Der Herzschlag eines Menschen ist für sich genommen kein Verhalten. Beschleunigt sich der Herzschlag jedes Mal, wenn ein lautes Geräusch ertönt, so ist aber die Beschleunigung des Herzschlags als ein Verhalten aufzufassen.
Weitere Bedingungen, die eine Definition von Verhalten erfüllen muss, nennt Baum (2013):
• Nur ganze, lebende Organismen verhalten sich. Nach Baum (2013) lautet die Antwort auf die Frage, warum wir einen Körper haben, dass wir uns verhalten (müssen). Organismen existieren vor allem deshalb, weil sie sich verhalten. Ohne Verhalten bestünde keine Notwendigkeit für einen komplexen Organismus; wir hätten auch Einzeller bleiben können, die in der Ursuppe treiben.
• Verhalten ist zielgerichtet. Verhalten wird von seinen Konsequenzen geformt. Diese Bedingung scheint Reflexe (das sogenannte respondente Verhalten) auszuschließen. Doch existieren auch Reflexe nur deshalb, weil sie bestimmte Konsequenzen haben: Tiere, die reflexartig blinzeln, wenn ein Luftstoß auf ihr Auge gerichtet wird, schützen ihre Augen und haben daher einen Überlebensvorteil. Es sind also auch hier die Konsequenzen des Verhaltens, die das Verhalten definieren.
• Verhalten benötigt Zeit. Ein Foto sagt uns wenig darüber, welches Verhalten gerade stattfindet. Je länger wir eine Person beobachten, desto sicherer können wir uns der Funktion des Verhaltens sein, desto schwieriger wird es jedoch auch, die Topographie (die Form) des Verhaltens zu beschreiben.
• Verhalten ist eine Entscheidung. Verhalten ist die Verteilung von Zeit: Wir haben nur begrenzte Zeit. Wenn wir ein Verhalten zeigen, zeigen wir zugleich kein zweites Verhalten. Baum (2013) meint, dass man nicht zwei Verhaltensweisen zugleich zeigen kann. Es gibt kein ›Multitasking‹. Wenn wir scheinbar zwei Dinge gleichzeitig tun, wechseln wir tatsächlich nur schnell zwischen diesen beiden Verhaltensweisen.
Eine Unterscheidung, die es in der englischsprachigen Terminologie, nicht aber in der deutschen gibt (vgl. aber Dounavi, 2013), sei noch angesprochen:
• Behavior ist das Verhalten an sich, wie oben definiert.
• Die Response ist das einzelne Verhalten (manchmal auch als Reaktion übersetzt). Dies ist besonders beachtenswert, wenn wir davon sprechen, dass ein Verhalten aufgrund seiner Konsequenzen verstärkt wird (was bedeutet, dass aufgrund dieser Konsequenzen die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten künftig häufiger auftritt, erhöht wird). Das einzelne Verhalten (im Sinne Response) wird nicht von seiner Konsequenz beeinflusst (dies wäre widersinnig; zukünftige Konsequenzen beeinflussen kein Verhalten in der Vergangenheit). Verändert wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verhalten (im Sinne Behavior) dieser Art wieder auftritt.
• Gerade für diesen Fall kennt die Verhaltensanalyse den Begriff des Operanten. Ein Operant ist eine Klasse von Verhaltensweisen, die ein gemeinsames Merkmal aufweisen, nämlich das Merkmal, das mit der Verstärkung des Verhaltens korreliert. Genaugenommen ist das Merkmal das Operant. In Skinners klassischen Versuchen führt das Hebeldrücken einer Ratte dazu, dass ein Futterpellet in den Spender fällt. Das Operant war in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Hebel tief genug gedrückt wurde, sodass sich ein Stromkreis schloss, der den Futterspender aktivierte. Wie die Ratte den Hebel drückt (ob mit der linken oder rechten Pfote oder, indem sie sich auf den Hebel setzt), ist dabei eine Frage der Topographie des Verhaltens, die irrelevant ist, sofern sie nicht selbst zum Operanten wird (z. B. dann, wenn der Versuchsleiter nur dann ein Futterpellet in den Spender fallen lässt, wenn die Ratte den Hebel bspw. mit der linken Pfote drückt). Alle möglichen Merkmale können Operanten werden: Greenspoon (1955) verstärkte die Verwendung von Pluralformen bei seinen Versuchspersonen durch ein zustimmendes »Mhm«. Ähnlich verstärkte Verplanck (1955) das Äußern von Meinungen. Auch Verhaltensweisen, die topographisch völlig unterschiedlich sind, können dem gleichen Operanten zugehören. So kann die Eigenschaft eines Verhaltens, ›neu‹ zu sein (bislang nicht gezeigt worden zu sein), verstärkt werden; die Kreativität eines Verhaltens kann ein Operant sein (Polenick & Flora, 2012; Pryor, Haag & O’Reilly, 1969).
Die eben angesprochene Unterscheidung zwischen der Topographie des Verhaltens (wie sieht das Verhalten aus?) und seiner Funktion beschäftigt uns im nächsten Abschnitt.
Verhalten tritt von Fall zu Fall immer leicht unterschiedlich auf. Die Ratte drückt den Hebel nie auf exakt die gleiche Art und Weise. Die Raucherin hält ihre Zigarette jedes Mal leicht unterschiedlich, auch wenn sie 40 Zigaretten am Tag raucht. Die Unterschiede mögen kaum feststellbar sein, doch sie existieren.
Die Variabilität des Verhaltens ist kein Zufall, sondern gewissermaßen von der Natur gewollt. Würde unser Verhalten immer exakt gleich ablaufen, wären wir nicht anpassungsfähig. Der Vergleich zum Evolutionsprinzip drängt sich auf: Auch hier ist die Variabilität der Individuen einer Art eine Voraussetzung dafür, dass die Art anpassungsfähig bleibt. Arten, deren Mitglieder keinerlei Varianz aufwiesen, würden aussterben, sobald sich die Umweltbedingungen ändern.
Die Frage lautet nun, nach welchem Kriterium man einen Ausschnitt aus dem Verhaltensstrom eines Individuums als »ein Verhalten« bezeichnen kann. Wir betrachten hier das Verhalten von seiner Topographie her: Leicht unterschiedliche Arten und Weisen, einen Hebel herabzudrücken, werden dennoch als ›Hebeldrücken‹ zusammengefasst.
Leicht unterschiedliche Arten und Weisen, an eine Tür zu klopfen, werden als ›Anklopfen‹ zusammengefasst. Mal klopft jemand stärker, mal weniger stark, mal sind es die Fingerknöchel, die mit dem Holz der Türe in Kontakt kommen, mal die Seite der Faust. Wenn wir uns nur an der Topographie orientieren, gibt es letztlich keine naturgegebene Grenze, ab der ein Verhalten kein ›Anklopfen‹ mehr ist. Was als Anklopfen gilt und was nicht, wird zum einen über eine Art gesellschaftlichen Konsens geregelt. Wenn die Tür mit der Faust nur leicht berührt wird, gilt das zumeist nicht mehr als ›Anklopfen‹. Wenn jemand mit seiner Faust die Tür einschlägt, ist nach Meinung der meisten Menschen wohl auch der Rahmen des ›Anklopfens‹ verlassen worden. Doch diese Grenzziehung ist nur eine Konvention. Diese Grenze wird von Kultur zu Kultur und auch innerhalb einer Kultur ganz unterschiedlich gezogen. Man kann dies z. B. dann beobachten, wenn zwei Menschen sich darüber einig werden müssen, ob ein bestimmter Fall von Verhalten als ›Anklopfen‹ gelten kann.
Wir ziehen daher auch im Alltag oft ein weiteres Kriterium heran, um zu beurteilen, ob eine konkrete Verhaltensweise unter eine bestimmte Kategorie von Verhalten fällt: die Funktion des Verhaltens. Wenn mein Anklopfen bewirkt, dass die Person innerhalb des Zimmers hört, dass angeklopft wurde, dann war das Anklopfen erfolgreich, das Verhalten hat seine Funktion erfüllt. Dieser funktionale Aspekt führt zu einer deutlicheren Abgrenzung der Fälle, die als ›Anklopfen‹ oder ›Hebeldrücken‹ gelten, von den Fällen, die nicht zu dieser Kategorie gehören. Egal, wie die Ratte den Hebel drückt, sobald der Stromkreis geschlossen ist und der Futterspender ausgelöst wird, zählt der cumulative recorder (das Gerät zum Aufzeichnen des Verhaltens) eine Stelle höher. Im Falle des Anklopfens (und in allen Fällen außerhalb des Labors) wird es etwas komplizierter, aber letztlich bleibt die Zuordnung eindeutig: Wenn eine normalhörende Person im Zimmer das Klopfen hätte hören können, würde das als Anklopfen gelten. Die Abgrenzung des Verhaltens über die Funktion hat jedoch auch Nachteile: Topographisch höchst unterschiedliche Verhaltensweisen können nun der gleichen Art Verhalten zugeordnet werden. Auch eine Ratte, die sich auf den Hebel setzt, hat das Verhalten ›Hebeldrücken‹ gezeigt. Wenn ich vor der Tür eines Bekannten stehe und (etwa, weil ich die Hände mit Einkäufen voll habe) mit dem Kopf gegen die Tür schlage oder einen Vorübergehenden bitte, für mich anzuklopfen, erreiche ich auch, dass die Person im Zimmer hört, das angeklopft wurde. Auch diese Fälle müssten als ein Anklopfen (durch mich) gezählt werden.
In der verhaltensanalytischen Grundlagenforschung herrscht die funktionale Betrachtungsweise vor. Verschiedenste Formen von Verhaltensweisen werden als ein Verhalten (ein Operant) betrachtet und behandelt. In der angewandten Verhaltensanalyse spielen dagegen die topographischen Varianten des funktional gleichen Verhaltens eine größere Rolle. In Interventionen geht es oft darum, ein topographisch andersartiges Verhalten für die gleiche Funktion zu etablieren (z. B. nach Aufmerksamkeit zu fragen, anstatt sich auf den Boden zu werfen, um Aufmerksamkeit zu erhalten).
Wird die abhängige Variable »Verhalten« definiert, so werden zum einen die Topographie und die Funktion des Verhaltens herangezogen. Gemessen wird aber letztlich ein quantitativer Parameter des Verhaltens.
Diese Parameter sind die Häufigkeit des Verhaltens (wie oft tritt es auf?), die Dauer (wie lange dauert es an, von Beginn – onset – bis zum Ende – offset?), seine Latenzzeit (wie lange dauert es, bis es auftritt, von einem vorausgehenden Ereignis aus gemessen, z. B. einem Hinweisreiz?) und seine Intensität oder Stärke (vgl. Miltenberger, 2016, S. 2).
Zumeist wird erfasst, wie oft ein abgrenzbares Verhalten auftritt. Hierfür werden die Begriffe »Rate« und »Frequenz« verwendet, sowohl für die absolute Häufigkeit des Verhaltens als auch für die Häufigkeit des Verhaltens je Zeiteinheit. Jedoch erfolgt die Verwendung dieser Begriffe innerhalb der Verhaltensanalyse nicht einheitlich und zudem oft abweichend vom Sprachgebrauch anderer Wissenschaften.
So wird der Begriff »Rate« in der Verhaltensanalyse unterschiedlich verwendet. Einige Autoren verstehen unter einer »Rate« lediglich die absolute Anzahl von Verhaltensweisen und verwenden damit den Begriff in gleicher Weise wie er in der Statistik verwendet wird. Die meisten Autorinnen in der Verhaltensanalyse verwenden den Begriff »Rate« aber im Sinne von »Einheiten pro Zeit«, also z. B. Verhaltensweisen pro Minute, Stunde usw. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »Häufigkeit« (Frequenz, frequency). Merbitz, Merbitz und Pennypacker (2015) raten generell davon ab, lediglich die Anzahl von Ereignissen (z. B. Verhaltensweisen) ohne Bezug auf die zugrundeliegende Zeiteinheit zu nennen. Sowohl Rate als auch Häufigkeit sollten sich immer auf eine bestimmte, anzugebende Zeiteinheit beziehen. Um die Schwierigkeiten bei der Wahl der richtigen Bezugsgröße zu illustrieren, beschreiben sie dieselben Ereignisse (sechs Berichte über aggressives Verhalten in einer Woche) auf vier verschiedene Arten und Weisen:
1. Letzte Woche gab es sechs Berichte über aggressives Verhalten von Klientin A.
2. Letzten Dienstag gab es vier Fälle von aggressivem Verhalten, am Donnerstag gab es zwei Vorfälle, jedoch keine am Montag, Mittwoch oder Freitag.
3. Letzten Dienstag gab es vier Fälle von aggressivem Verhalten während eines zweistündigen Versuchs, Klientin A zu baden. Am Donnerstag gab es zwei weitere Vorfälle während eines halbstündigen Versuches, die Klientin zu baden. Am Montag, Mittwoch und Freitag dieser Woche wurden keine Vorfälle während des täglichen Badens berichtet.
4. Die Pflegehelferin Diana badete die Klientin A während aller sechs Vorfälle aggressiven Verhaltens, die in der letzten Woche berichtet wurden. Die Pflegehelferin Maria badete Klientin A am Montag, Mittwoch und Freitag und berichtete hier über keine Vorfälle von aggressivem Verhalten.
Alle vier Beschreibungen beziehen sich auf die gleichen Ereignisse. Die Aussage zwei legt nahe, dass die Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen rückläufig ist. Aussage drei legt nahe, dass die Häufigkeit eher ansteigend ist (zunächst in zwei Stunden vier Vorfälle, dann aber in nur 30 Minuten zwei Vorfälle). Die Aussage vier gibt nicht an, in welchem Zeitraum die Vorfälle vorkamen, legt aber nahe, dass die Vorfälle ausschließlich bei einer Pflegehelferin, nicht aber bei der anderen, auftraten.
Die Wahl der Bezugsgröße (also des Nenners in der Angabe »Verhaltensweisen/Zeiteinheit«) hat einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der Leserin. Es gibt keine Vorschrift, welche Zeiteinheit zugrundgelegt werden sollte: Dies hängt sowohl von der Natur des Verhaltens als auch dem Zweck der Untersuchung ab.
Nicht jedes Verhalten lässt sich leicht zählen. Verhalten benötigt Zeit. Wenn ein Verhalten nur kurze Zeit benötigt (z. B. die Person blinzelt) oder für den Zweck der Untersuchung nur relevant ist, dass das Verhalten überhaupt aufgetreten ist (z. B. der Klient spricht eine andere Person an), dann ist die Zählung der Häufigkeit des Verhaltens die beste Wahl. Manches Verhalten erstreckt sich aber über längere Zeiträume (z. B. die Person knabbert an den Fingernägeln) oder aber die Zeit, die das Verhalten dauert, ist das interessierende Merkmal (z. B. der Schüler benötigt sehr lange, um seine Hausaufgaben zu bearbeiten). In diesen Fällen wird die Zeit, die das Verhalten dauert, gemessen.
Auch hier gibt es keine allgemeine Vorschrift, welche Einheit zu wählen ist. Eine Studentin, die im Rahmen eines Selbstmodifikationsprojekts ihre Fitness steigern will, wählt z. B. die Minuten, die sie in der Woche beim Sport zugebracht hat, als Einheit. Will man das Daumenlutschen eines Kindes untersuchen, erfasst man bspw. die Dauer in Sekunden, die sich der Daumen innerhalb eines fünfminütigen Beobachtungszeitraums zwischen den Lippen des Kindes befindet.
Die Latenz ist auch eine Zeitspanne, doch wird hier nicht ein Merkmal des Verhaltens gemessen, sondern ein Umstand seines Auftretens. Ursprünglich bezeichnete die Latenzzeit die Zeitspanne zwischen dem auslösenden Reiz und dem Verhalten beim Reflex. Ganz allgemein ist die Latenzzeit die Zeit, die zwischen einem bestimmten vorausgehenden Ereignis und dem Beginn des Verhaltens verstreicht, z. B. wie lange es dauert, bis der Klient einer Aufforderung nachkommt. Die Latenzzeit wird in der angewandten Verhaltensanalyse eher selten erfasst (Ausnahmen z. B. bei Feuerbacher & Wynne, 2012; Glodowski & Thompson, 2016; Hayashi & Vaidya, 2012).
Die Intensität des Verhaltens ist eigentlich eher ein qualitatives Merkmal des Verhaltens (es geht um eine Eigenschaft des Verhaltens, darum, wie es auftritt), lässt sich aber gleichwohl – mit Einschränkungen – messen und findet sich daher gelegentlich als abhängige Variable in Studien der angewandten Verhaltensanalyse wieder. Prinzipiell objektiv messbar ist die physische Kraft, mit der ein Verhalten ausgeführt wird, z. B., wie viel Gewicht eine Person beim Krafttraining auflegt. Auch bestimmte physiologische Messwerte können als Intensitätsmessung aufgefasst werden (z. B. der Hautwiderstand). Das Einschätzen der Intensität verdeckten Verhaltens (z. B. das Rating der Angstintensität durch den Klienten, auf einer Skala von 0 bis 100) ist keine klassisch verhaltensanalytische Messmethode und wird wegen ihrer fraglichen Reliabilität in Studien auch eher selten und wenn, dann nur begleitend zu anderen Maßen erfasst. Dabei ist die Erfassung verdeckten Verhaltens explizit ein Gegenstand der Verhaltensanalyse im Sinne des radikalen Behaviorismus. Meist wird hier jedoch die Häufigkeit des verdeckten Verhaltens gemessen (die Klientin soll z. B. notieren, wie oft sie an Suizid denkt), da dieses Maß zuverlässiger ist.