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Wessen Gebeine ruhen eigentlich unter dem Eiffelturm? Wo befinden sich die Überreste der ältesten Kathedrale von Paris? Und was hat diese Frage mit einem Parkhaus im fünften Arrondissement zu tun? Als passionierter Paris-Liebhaber unternimmt der bekannte französische Schauspieler Lorànt Deutsch eine atemberaubende Zeitreise, deren Fahrplan so einfach wie verblüffend ist: Im Takt der Métro, von ihrer ältesten bis zur jüngsten Station, taucht er ein in die bewegten Jahrhunderte der Stadt und entführt uns tief in die Geschichte Frankreichs. Wir werden Zeuge, wie im alten Gallien Invasoren abgewehrt werden, lernen rebellische Prinzen und mutige Bürger kennen, entdecken ägyptische Mumien, wo wir sie nicht vermutet hätten, und sehen Kunst und Wissenschaft erblühen. Ob die erste bürgerliche Revolte Frankreichs, die Anfänge der Universität an der Place Maubert oder der Sturm auf die Bastille – mit überraschenden Seitenblicken zeichnet Deutsch voller Charme und Leichtigkeit ein ungewöhnliches Porträt Frankreichs und seiner Hauptstadt. Ein Muss für alle Paris-Fans und jeden, der die Stadt besuchen will!
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Lorànt Deutsch
Métronom
Die Geschichte Frankreichs im Takt der Pariser Métro
Aus dem Französischen von
Lis Künzli
Propyläen
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Métronome. L’histoire de France au rythme du métro parisien bei Éditions Michel Lafon, Paris
ISBN 978-3-8437-0613-1
© Michel Lafon Publishing, 2009, Métronome
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Lektorat: Cornelia Kruse
Titelfotografien: © Greg Soussan
Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
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eBook: LVD GmbH, Berlin
Einleitung
Bevor es losgeht
Ein Dorf am Ufer der Sarthe, weitab von Paris: Hier verbrachte ich meine Kindheit. Hin und wieder ließen wir es hinter uns, solange die Ferien dauerten, und fuhren zu den Großeltern in die Hauptstadt. Sobald wir auf der Ringautobahn ankamen, hielt ich fasziniert nach den Lichtern der Stadt in der Ferne Ausschau. Lag die Grenze der Périphérique hinter uns, waren wir in Paris. Und wurden sogleich vom Strudel geschäftiger Menschenmengen, schillernder Farben, funkelnder Neonlichter erfasst. Ich erinnere mich an die grünen Kreuze der Apotheken und die roten Rauten der Zigarettenkioske, ich erinnere mich an das Glitzern, das mich bezauberte. Es war Weihnachten mitten im Sommer! Und ich stürzte mich genussvoll in diesen Dschungel, der mich ebenso faszinierte, wie er mich erschreckte. Mit fünfzehn zog ich nach Paris, mit meiner Passion für Geschichte im Gepäck. Und das so anonyme, so unpersönliche, so unermesslich große Paris lag vor mir wie ein offenes Buch.
Meine ersten Gefährten in dieser Stadt, in der ich ein Fremder war, in der ich fast niemanden kannte, waren die Namen der Straßen. Und diese Straßen entdeckte ich mit der Métro. Die Métro lieferte dem kleinen Provinzler, der ich war, die Gebrauchsanleitung, um mich in diesem immensen wuselnden Ameisenhaufen zurechtzufinden. Begierig tauchte ich in die mir unbekannte Welt ein. Ich fuhr kreuz und quer durch Paris, stieg an jeder Station aus, stellte mir Fragen. Warum Les Invalides? Châtelet, was ist das? Was für eine Republik? Étienne Marcel, wer war das? Maubert, was heißt das? Die Métrostationen führen mitten in die Geschichte hinein.
Der Métroplan bildet die Wirbelsäule von Paris, und man kann mit ihm zurückverfolgen, wie die Stadt, ausgehend von einer kleinen Insel in der Seine, entstanden ist. Jede Haltestelle ruft durch ihren Standort oder ihren Namen einen Zipfel der Vergangenheit und der Entwicklung nicht nur von Paris, sondern von ganz Frankreich in Erinnerung. Die Métro, von der Cité bis zur Défense, ist eine Maschine, um in der Zeit zurückzugehen; von einer Station zur nächsten findet man die vergangenen Jahrhunderte wieder. Einundzwanzig Jahrhunderte, die die Stadt geformt, gebaut und geprägt haben. Während all dieser Zeit hat Paris die Entstehung und die Veränderungen Frankreichs begleitet, hin und wieder vorweggenommen, um zu der Hauptstadt zu werden, die wir heute kennen.
So begriff ich, dass die Geschichte von Frankreich die Geschichte von Paris ist. Parallel dazu fing ich mit dem Theaterspielen an, später kam das Kino hinzu. Und ich stellte fest, dass ich auch hier wieder über eine Zeitmaschine verfügte … Nacheinander schlüpfte ich in die Haut von La Fontaine, Fouquet, Mozart, Sartre, und in gewisser Weise ist die Geschichte zu meinem Beruf geworden, oder mit anderen Worten, ich kann mit meinem Beruf Geschichte betreiben.
Als Kind schöpfte ich meine Inspiration in der Geschichte Frankreichs, um meinen Bleisoldaten zu phantastischen Abenteuern zu verhelfen. Bis heute hat sich nichts daran geändert, die Geschichte bleibt der Motor meines Lebens und meiner Vorlieben, sie ist für mich zu einer Fundstätte geworden, ein stets von neuem bearbeitetes Feld, eine Quelle von Rätseln, Widersprüchen, Fragen …
Und warum Métronom?
Mein Buch will in gewisser Weise ein Instrument sein, das den Takt schlägt und die Zeit rhythmisiert. Ich lade Sie also ein, anhand der Métrostationen Jahrhundert um Jahrhundert vorwärtszugehen: Eine Métrostation für jedes Jahrhundert, um die Geschichte besser fassen und einordnen zu können. Ich möchte gemeinsam mit Ihnen, einem Ariadnefaden gleich, den Métrolinien folgen. Da und dort einen Halt einlegen, um die Hoffnungen, Erschütterungen und Aufstände der Hauptstadt wachzurufen. Nehmen Sie Platz, Vorsicht beim Schließen der Türen, auf geht’s nach Lutetia.
1. Jahrhundert
Lutetia, der erste »Stadtplan« von Paris, Jean Baptiste Bourguignon d’Anville, 1705
Cité
Die Wiege des Caesar
»Steigen Sie auch bei der Nächsten aus?« fragt mich eine kleine Frau mit schüchternem Stimmchen, während sie mich leicht vorwärtsschubst, um ja nicht ihre Haltestelle zu verpassen. Die Métro bremst mit metallischem Kreischen. Bei der nächsten? Warum nicht? Es wäre doch schön, meine Reise mit der Wiege von Paris, der Île de la Cité, zu beginnen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Insel tatsächlich die Form einer Wiege hat. Der Kern der Hauptstadt, hier ist er. »Der Kopf, das Herz und das Mark von Paris«, schrieb der geistliche Chronist Gui de Bazoches schon im 12. Jahrhundert.
Die Station bohrt sich wie ein Brunnenschacht in den Untergrund der Stadt: Wir befinden uns mehr als fünfundzwanzig Meter unter der Wasseroberfläche der Seine. Wie Jules Verne in seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde habe ich den Eindruck, in der Zeit zurückzugehen bis zu den Anfängen. Doch ich brauche keinen Vulkanschlot, um ins Innere einzudringen, keine Nautilus, um unter Wasser zu gelangen: Ich habe die Métro!
Die kleine Dame auf den Fersen, steige ich, immer vier Stufen auf einmal, die endlose Treppe hinauf, die ans Licht führt. Draußen pralle ich an eine kümmerliche Zypresse. Ich drehe mich um – und finde mich vor einem Olivenbaum ohne Oliven wieder … immerhin, ein Hauch von Süden, die diskrete Andeutung einer italienischen Landschaft; mein Ziel ist nicht mehr weit.
Der Blumenmarkt schwappt auf den Métroausgang über, als ob Natur und Vergangenheit verzweifelt versuchten, sich gegenseitig ihre Rechte streitig zu machen. Aber die Mühe ist vergeblich: Zu meiner Linken brummen die Autos in einem unendlichen Strom den Boulevard Saint-Michel hinunter; rechts derselbe kontinuierliche Sog, nur in die andere Richtung, die Rue Saint-Jacques hinauf. Ich habe das Gefühl, mitten auf einer Kreuzung zu stehen. Zwischen den beiden Pulsadern eingeklemmt, von Baron Haussmanns strengen Fassaden der Verwaltungsgebäude aus dem 19. Jahrhundert gesäumt, scheint die Rue de Lutèce um ihr Überleben zu ringen. Ich verlasse diese künstlich anmutende Straße so schnell wie möglich, um an die Seine zu gelangen, die träge ihr bräunliches Wasser vorüberschleppt.
Mit wenigen Schritten bin ich auf den Quais. Ein Stück weiter reihen sich die grünen Boxen der Bouquinisten aneinander. Ich fange genüsslich an zu stöbern, um ein paar alte Bände über die Geschichte meiner geliebten Stadt zu erbeuten. Paris, das ist ein wenig meine Frau; auf jeden Fall ist es eine Frau! André Breton sagt es in Nadja: Die Place Dauphine bildet das Schamdreieck, den Urgrund, an dem alles angefangen hat … Ich würde diese Geburt gerne noch einmal aufleben lassen.
Und wenn das Brummen der Autos für einen Augenblick verstummen würde, die Gebäude mit den grauen Fassaden sich in Luft auflösten? Wenn die Ufer der Seine noch einmal ganz unberührt wären, nur grüne Hänge, schlammiges Moor und Sträucher das Inselchen bedeckten?
*
Im Jahr 701 nach der Gründung Roms, wir schreiben das Jahr 52 vor Christus, gibt es noch nichts auf der Île de la Cité. Keine Spur von diesem Lutetia, das Iulius Caesar in seiner Schrift Der gallische Krieg erwähnt. »Lutetia, Oppidum der Parisii, auf einer Insel der Seine gelegen«, heißt es dort. Das allerdings ist ein kleines bisschen vage. Der Prokonsul hatte ja auch nur einen Tag hier verbracht und war außerdem so sehr damit beschäftigt, mit den gallischen Führern zu verhandeln, dass ihm wenig Zeit für eine Besichtigung blieb. Und als er später die Muße zum Schreiben fand, konnte er von der Stadt der Parisii nur vom Hörensagen erzählen, indem er sich auf Gerüchte und eilig zusammengeschusterte Militärberichte stützte. Er wiederholte, was seine Legionäre zum Besten gaben, die in ihren Beschreibungen ebenfalls recht ungenau blieben.
Da, wo man die große Stadt der Parisii erwartet, war tatsächlich nichts. Die zukünftige Île de la Cité bestand damals noch aus sechs oder sieben Inselchen, auf denen bestenfalls ein kleiner Tempel auszumachen war, ein paar runde Hütten mit Schilfdach und eine Handvoll Fischer, die ungerührt ihre Netze ins Wasser warfen. Jenseits des Flusses, am rechten Ufer, nichts als Sumpflandschaften, im Westen ein dichter Wald. Am linken Ufer noch mehr Sumpf und dahinter eine Anhöhe. Sie sollte später Montagne Sainte-Geneviève genannt werden, Berg der heiligen Genoveva. Um die große gallische Ansiedlung zu finden, müssen wir dem Fluss folgen. Zu jener Zeit war er die Straße, erst unter römischer Herrschaft würden ordentliche Landwege entstehen. Besteigen wir also einstweilen eines dieser Schiffe, mit denen die Gallier sich fortbewegten: Das längliche, zerbrechliche Bötchen aus geflochtenen Zweigen schießt blitzschnell über das Wasser.
Die Barke war für die Stämme, die sich hier niedergelassen hatten, das althergebrachte Transportmittel. Es erstaunt also nicht, dass die ältesten Spuren der Sesshaftigkeit aus der Neusteinzeit (5000 vor Christus) Einbäume sind. Sie wurden erst unlängst auf dem Baugelände für die Einkaufsstraße Bercy Village im 12. Arrondissement entdeckt. Diese Pirogen können im Musée Carnavalet besichtigt werden, das heute das Pariser Gedächtnis beherbergt.
Das wahre gallische Lutetia befand sich fünf, sechs Meilen flussabwärts. Dort beschreibt das Flussbett einen fast geschlossenen Bogen, der für einen zerstreuten Römer durchaus eine Insel andeuten konnte. Und in diesem weiten Mäander tummelte sich eine ganze Stadt, mit Straßen, Handwerkervierteln, Wohnbezirken und einem Hafen. Willkommen in Lutetia, oder genauer, auf Gallisch, in Lucotecia, ein Name, der genauso vage und unsicher ist wie der Standort der Siedlung selbst. Erst Caesar würde für Klarheit sorgen und den Ort Lutetia nennen, womit er das lateinische lutum, Schlamm, dem gallischen luto annäherte, Sumpf. Die aus dem Sumpf Hervorgegangene – gut beobachtet, der Ausdruck trifft den Nagel auf den Kopf.
Von Norden kommend, hatte sich der Stamm am Ufer des Flusses niedergelassen, dem er seinen Wohlstand verdankte. Für ihn war der Fluss eine Göttin, Sequana, die alles Übel heilen konnte, und sie gab dem Wasser, das ganz Lutetia durchfließt, ihren Namen. Der Reichtum, den der Fluss den Menschen bot, war sehr real. Er versorgte sie nicht nur mit dem nährenden Fisch, mit dem Wasser, das den Weizen wachsen, Menschen und Vieh trinken lässt, sondern diente auch als Verkehrsweg. Ihre Goldmünzen, mit dem Gesicht Apollons auf der Kopf- und einem galoppierenden Pferd auf der Zahlseite, zählten denn auch zu den schönsten von ganz Gallien. Außerhalb der Stadt garantierte die fruchtbare Erde den Überfluss der Parisii, die sich als Landwirte, Tierzüchter, Schmiede oder Holzfäller betätigten.
Jahrhundertelang haben die Historiker beteuert, Lutetia habe sich auf der Île le la Cité befunden. Eine winzige Kleinigkeit störte die Gelehrten allerdings: Man konnte graben, wie man wollte, es kam nicht die geringste Spur dieser berühmten gallischen Siedlung zum Vorschein. Pah, sprachen die schlohweißen Häupter, die Gallier haben eben nur Strohhütten gebaut, und das alles ist bei dem großen Drunter und Drüber von militärischen Invasionen und Völkerwanderungen abhandengekommen.
Und richtig, die Insel ist so oft zerstört, wiederaufgebaut und umgestaltet worden, dass sämtliche ursprünglichen Spuren dabei verlorengegangen sind. Und wenn man die Umwälzungen durch Baron Haussmann im 19. Jahrhundert bedenkt, der fast die ganze Cité dem Erdboden gleichgemacht oder umgewandelt hat, kann man sich schlecht vorstellen, hier noch auf ein Relikt der Vergangenheit zu stoßen. Einzige Gewissheit: Wenn man bei der kleinen Grünanlage an der westlichen Spitze der Insel, dem Square du Vert-Galant, sieben Meter hinabsteigt, befindet man sich auf dem Niveau der Zeit der Parisii. Sieben Meter Erhöhung in zweitausend Jahren!
Hat man denn gar nichts gefunden? Das wäre vorschnell geurteilt. Zur Entlastung des Stadtverkehrs wurde die A86 gebaut, die super-périphérique, die Paris in einem großen Kreis umfährt. Die Ausgrabungen, die im Jahr 2003 bei diesen Bauarbeiten vorgenommen wurden, brachten die Reste einer großen, florierenden gallischen Siedlung zum Vorschein, und zwar unter dem Gebiet des heutigen Nanterre westlich von Paris. Alles ist da: Häuser, Straßen, Brunnen, der Hafen und sogar Grabstätten.
Innerhalb der Häuserreihen haben die Archäologen eine freie Stelle entdeckt, umgeben von Gräben und Palisaden: Der Fund eines Bratspießes und einer Kochgabel lässt vermuten, dass es sich um einen Platz handelt, an dem gemeinsame Festmahle abgehalten wurden. Der Standort Lutetias in Nanterre, in der Flussschleife von Gennevilliers – die damals noch viel ausgeprägter war als heute –, wurde gleich einem doppelten Anspruch gerecht: Zum einen bot er geographisch Sicherheit durch den Mont Valérien und den Fluss, zum andern, was noch wichtiger war, einen zweifachen Zugang zum Wasser, Verkehrsachse und Quelle des Reichtums zugleich. Mag den heutigen Parisern das Herz auch noch so sehr bluten: Das erste Lutetia liegt unter der Erde von Nanterre begraben.
Die Kwarisii, das keltische Volk der Steinbrüche, sind hier um das 3. Jahrhundert vor Christus, als sich das keltische K zum gallischen P wandelte, zu den gallischen Parisii geworden. Bevor sie sich an diesem Ort niederließen, waren sie mit ihren Booten so weit herumgekommen, dass sich in der Folgezeit ihre Herkunft und die Legenden, die sich um sie rankten, mit denen anderer Völker vermischten. Um ihren Ahnen etwas mehr Attraktivität zu verleihen, haben die Nachkommen dieser Steinhauer und bescheidenen Fischer ihren Stammbaum ein wenig geschönt. So wurden die Parisii zu Abkömmlingen der ägyptischen Göttin Isis. Oder zu Kindern des Paris, des Prinzen von Troja und ältesten Sohnes des Königs Priam. Dieser Prinz aus der Mythologie hatte Helena, die Frau des Menelaos, entführt und damit einen schrecklichen Krieg zwischen Griechen und Trojanern angezettelt. Paris entkam der Verfolgung des eifersüchtigen Ehemannes dank der Göttin Aphrodite, die ihren Schützling in eine dichte Nebelwolke hüllte. Troja aber wurde in Schutt und Asche gelegt. Helena kehrte zu Menelaos zurück, und Paris flüchtete an die Gestade der Seine, wo er ein neues Volk hervorbrachte. Eine hübsche Fabel, die weder Hand noch Fuß hat, es aber den Nachfolgern der Parisii erlaubte, ihre glanzvolle und göttliche Herkunft zu legitimieren. Im 13. Jahrhundert sorgte Ludwig der Heilige für die Verbreitung des Mythos, der während der ganzen Herrschaftszeit des Kapetingerkönigs weiterlebte. »Unsere Zivilisation ist doch nicht aus einer Bande keltischer Vagabundierer hervorgegangen, wir haben eine genauso edle Abstammung wie die Römer vorzuweisen«, wollten die Frankenkönige uns damit wohl sagen.
Im Augenblick aber – wir befinden uns im 1. Jahrhundert vor Christus – sind genau diese Römer am Zug, ihre Kultur und Sprache durchzusetzen, sich Mythen und Legenden anzueignen, um ihren Anspruch auf die Weltherrschaft zu rechtfertigen. Nein, die Römer sind nicht die Überreste irgendeines indoeuropäischen Stammes, der sich im 8. Jahrhundert vor Christus im späteren Italien niedergelassen hat. »Wir entstammen«, versichern sie, »der Rasse der Götter und Helden!«
Genauso argumentierte einst in Ilias und Odyssee auch Homer, der damit die Vorherrschaft der Griechen über die Völker des Mittelmeerraums legitimierte. Und Vergil tat es ihm nun mit der Aeneis gleich. Seine Erzählung ist nichts anderes als eine Nachahmung des Werkes seines illustren Vorgängers, mit dem Unterschied, dass die Helden diesmal keine Griechen, sondern Trojaner sind, ein Trojaner vor allem: Aeneas, Sohn der Göttin Aphrodite. Nach dem Fall von Troja flieht er an den Tiber und gründet die Stadt Rom. Begleitet wird er hierbei von seinem Sohn Iulius. Dessen Nachkomme Caesar, der Götterspross (dessen Familienname Iulius ist), wird später also guten Gewissens Anspruch auf die Weltherrschaft erheben können.
In diesem Jahr 52 unserer Zeitrechnung sind die Römer auf dem besten Wege, ins Territorium der Parisii an den Ufern der Seine einzufallen – und der gallische Stamm begeht den Fehler, unter den ersten zu sein, die sich einem gewissen Vercingetorix anschließen, jenem Arvernerfürsten, der fest entschlossen ist, die Völker Galliens untereinander zu verbünden, um den Eindringling zurückzuschlagen. Iulius Caesar, der die Grenzgebiete des Reichs gefügig machen will, schickt seinen besten General an die Seine, Titus Labienus.
Der römische Offizier nähert sich. In seinem Gefolge sind vier Legionen und eine Kavallerietruppe. Auf Seiten der Lutetier bricht Panik aus: Wie soll man sich gegen die der Wölfin entsprungene Macht verteidigen? Eilends lässt man aus Mediolanum Aulercorum – dem heutigen Évreux in der Haute-Normandie – einen alten Anführer kommen, den alle ehrfürchtig Camulogenus nennen, »Sohn des Camulus«, des gallischen Kriegsgottes also. Mit solch einem Namen müsste man es eigentlich schaffen, erhobenen Hauptes die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten. Auf jeden Fall legen die Bewohner ihr Schicksal einmütig in seine Hände: Er wird den Gegenschlag organisieren, den Feind zurückwerfen.
Aber was kann Camulogenus ausrichten? Er steht an der Spitze eines kleinen, schlecht ausgebildeten Heeres, dessen Soldaten bereit sind, sich beinahe ungeschützt in den Kampf zu stürzen, einzig mit ein paar Äxten und schweren, aus schlechtem Metall gegossenen Schwertern bewaffnet. Labienus und seine Legionäre rücken unaufhaltsam vor. Camulogenus aber glaubt an seinen guten Stern und macht sich zur Verteidigung bereit. Er erwartet die Römer nicht in der Stadt, sondern außerhalb, in einem Biwak mitten im Sumpf. Schon bald wird Labienus vor dem improvisierten Lager der Gallier stehen; die Konfrontation ist unabwendbar. Die römischen Legionäre, diszipliniert, mit Bronzehelmen und Stahlrüstungen bestens gewappnet, nähern sich in engen Reihen. Doch die Unwegsamkeit des Geländes bringt die auf festem Boden erprobten Kämpfer rasch aus dem Gleichgewicht. Die Boote stecken im Schlamm fest, die Männer ertrinken, und die Kavallerie kommt gar nicht erst zum Einsatz: Die Hufe der Pferde versinken im Morast. Die Gallier hingegen fühlen sich auf der wackligen Scholle zu Hause. Sie stürzen sich auf die feindlichen Truppen, und die stolzen römischen Soldaten haben gegen diesen ungeordneten Haufen schlechte Chancen. Bis zum Einbruch der Nacht, als das stehende Wasser im Sumpf rot gefärbt ist von Blut, schlachten die Kämpfer einander ab. Labienus weiß, dass er den Durchbruch nicht erzwingen kann. Schließlich ertönt die lange Klage des Horns, das zum Rückzug bläst.
In Lutetia ist die Freude groß. Die Stadt ist gerettet, glaubt man. Der Eindringling zurückgeworfen, hofft man. Labienus aber ist wütend, will sich an den unbezähmbaren Galliern rächen. Mit seinen Truppen folgt er dem Flusslauf und fällt über Metlosedum her – das heutige Melun –, eine weitere, in einem Mäander gelegene Siedlung. Metlosedum aber steht ohne Verteidigung da: Die meisten kriegstauglichen Männer haben sich Camulogenus in Lutetia angeschlossen. Ein erbärmlicher Sieg der Legionäre: Sie haben ein kleines Häufchen von Frauen und Greisen vor sich, die sich mit bloßen Händen gegen die durchtrainierten Krieger verteidigen müssen. Es findet nicht einmal eine Schlacht statt, kein hitziges Gefecht, kein kühner Reiterangriff, nur eine Orgie von Blut, durchschnittene Kehlen, durchbohrte Leiber. Die Römer marschieren auf, stechen jeden ab, der Miene macht, sich der neuen Ordnung zu widersetzen, plündern die Weizenvorräte, stürzen die Altäre der Götter, verwüsten ein paar reiche Wohnhäuser. Und ziehen wieder ab, eine zerstörte Stadt hinter sich lassend.
Für Labienus aber ist dies nicht genug: Er will Rache an den Lutetiern. Er kann nicht mit dem Brandmal der Niederlage auf der Stirn vor Caesar treten. In tiefster Nacht versammelt er in seinem Zelt die Offiziere und hält ihnen die mannhafte Rede eines römischen Generals: »Wir können nicht auf Verstärkung hoffen. Es liegt einzig an uns und unseren vier Legionen, die Gallier zu vernichten und Lutetia einzunehmen. Ihr werdet zum Ruhme Roms über die Barbaren triumphieren, und Rom wird euch mit Lorbeeren krönen …«
Da hebt im römischen Lager ein geschäftiges Treiben an. Die Truppen marschieren das rechte Seineufer entlang, umgehen das Sumpfgebiet, ziehen nordwärts, an der Seineschleife, die Lutetia schützt, vorbei, stechen plötzlich nach Süden und stehen vor der Stadt. Zu Wasser nähert sich gleichzeitig eine kleine römische Flottille von etwa fünfzig Schiffen der Hauptstadt der Parisii. Noch bevor der Feind eintrifft, eilen einige Überlebende des Massakers von Metlosedum herbei, um, außer sich vor Entsetzen, Camulogenus zu warnen: »Die Römer haben kehrtgemacht, sie sind auf dem Weg nach Lutetia!« Camulogenus, der eine Umzingelung vermeiden will, beschließt, die Stadt und ihre Brücken niederzubrennen und dann am linken Ufer seineaufwärts zu ziehen. »Der Fluss der Göttin Sequana wird euch beschützen!«, gibt er den Parisii mit auf den Weg.
Am frühen Morgen ist von Lutetia nur noch ein Haufen Asche übrig. Von den schönen Häusern, die sich gestern noch über der Böschung erhoben, den gewundenen und von Häusern aus Strohlehm gesäumten Gassen, den Weizen- und Weinläden, die sich auf den Anhöhen aneinanderreihten – von alledem bleibt nichts als Ruinen.
Des ungeachtet beginnt noch vor Sonnenaufgang die entscheidende Schlacht. Der gallische Führer und seine Kohorten bewegen sich flussaufwärts und rufen Camulus an, den Gott mit Schild und Schwert, die gefürchtete Macht, den Herrn des Krieges und des gewaltsamen Todes. Für die Gallier ist das Sterben für die Heimat das Größte, was ihnen zustoßen kann, und so ziehen sie mit dem festen Entschluss in den Kampf, sich dem blutdürstigen Camulus als Opfer darzubieten. Anders die römischen Truppen. Auch sie bitten ihren Kriegsgott, Mars, um Beistand, aber sie haben nicht die Absicht, an diesem Tag zu sterben. Sie wollen bis ans Ende ihrer Kräfte kämpfen, den Sieg davontragen und ihren Sold in Empfang nehmen.
In der Ebene von Garanella am Ufer der Seine – Garanella, die kleine »Garenne«, das kleine »Gehege«, wo in glücklicheren Zeiten Hasen, Wildschweine und Rehe gejagt wurden – stoßen sie auf die Gallier, und jetzt werden wir Zeugen einer ganz anderen Jagd: In einem entsetzlichen Getümmel fallen Tausende von Männern übereinander her. Das Zischen der Pfeile und Speere scheint die Luft zu spalten. Reihenweise mähen die römischen Infanteristen mit ihren Lanzen die Gallier nieder. Keine Attacke scheint ihr Ziel zu verfehlen, manche Kämpfer werden von mehreren Pfeilen gleichzeitig getroffen, gehen tödlich verwundet zu Boden. Für einen Augenblick scheinen die Parisii durch diesen Ansturm aufgehalten, dann jedoch drängen sie todesmutig weiter nach vorn. Und wieder brechen Hunderte zusammen, der Tod ist überall. Der alte Camulogenus, den Säbel in der Hand, feuert seine Männer an, schreit ihnen zu, dass es für Camulus zu sterben gelte. Kurzzeitig gelingt es den Galliern, die römischen Reihen zu durchbrechen: Durch ihre großen Schilde geschützt, sprengen sie die feindlichen Karrees. Jetzt sind es die Römer, die wanken und zurückweichen.
Plötzlich aber setzt sich am Rande der Ebene, aus der entgegengesetzten Richtung kommend, mit fliegenden Standarten eine römische Legion in Bewegung. Viertausend Söldner, die sich im Rücken der Gallier in Bereitschaft gehalten hatten, fallen über sie her. Kein Rückzug ist mehr möglich. Der Zusammenprall ist schrecklich: Die schweren gallischen Säbel zerbrechen an den römischen Schwertern, die leichter sind und viel besser gehärtet. Blut tränkt die Erde, die Schreie der Verwundeten sind weithin zu hören. Auf beiden Seiten wird mit gleicher Verbissenheit gekämpft, für den Tod oder für den Sold. Denn die Parisii flüchten nicht, ein sinnloses Überleben ist ihnen kein Ausweg. Als die Sonne untergeht, liegt die Ebene unter Tausenden gallischen, ineinander verschlungenen Leichen begraben. Auch Camulogenus hat den Tod in dieser letzten Verteidigungsschlacht gefunden. Eine Schlacht um eine bereits zerstörte Stadt.
In der Ebene von Garanella befindet sich heute die Gemeinde Grenelle, die im Zweiten Kaiserreich an Paris angegliedert wurde. Die Stelle, an der sich die Schlacht zwischen Labienus’ Legionären und Camulogenus’ Soldaten abgespielt hat, wurde im 18. Jahrhundert unter dem Namen »Champ de Mars« zum Übungsplatz für die französische Militärschule. Champ de Mars – das Feld des Krieges.
Sehr viel später wird sich ebendort, wo die sterblichen Überreste des Gallierführers und seiner Männer ruhen, der Eiffelturm erheben, wie ein Tumulus zu Ehren seiner Krieger. Und sonntags vergnügen sich hier die Pariser, nicht ahnend, dass die Erde unter ihnen vor mehr als zwanzig Jahrhunderten die Gebeine jener Parisii aufgenommen hat, die ihrem Volk das höchste Opfer dargebracht haben.
Einige Monate nach dem Brand des ersten Lutetia kommt es zu einer Entscheidungsschlacht zwischen Iulius Caesar und Vercingetorix. Im Hochsommer zieht der Prokonsul mit seinen sechs Legionen gen Norden, um zum siegreichen Labienus zu stoßen. Der gallische Führer und seine Kavallerie greifen die Römer an, werden jedoch von den germanischen Söldnern, die den Truppen des Reiches zu Hilfe gekommen sind, zurückgedrängt.
Mit einer beeindruckenden Armee, der sich achttausend Parisii angeschlossen haben, zieht sich Vercingetorix daraufhin auf die Anhöhen von Alesia, vermutlich im heutigen Burgund, zurück. Rund zehn römische Legionen belagern die Stadt, doch die Belagerten sind zahlreicher als die Belagerer. Die Römer müssen einstweilen auf einen Angriff verzichten und versuchen stattdessen, die umzingelten Gallier auszuhungern, indem sie um das Oppidum von Alesia einen doppelten Befestigungsring errichten.
Als der Sommer seine letzte Glut verströmt, zieht ein gallisches Heer zur Verstärkung heran. In der Dunkelheit der Nacht geht das neue Kontingent zum Angriff über. Es kämpft bis in den frühen Morgen, vermag aber die feindlichen Linien nicht zu durchbrechen. Da greift ein anderes gallisches Heer das obere Lager der Römer an, während Vercingetorix mit seinen Männern die Stadt verlässt. Unter der Wucht des Angriffs beginnen die Römer zurückzuweichen. Caesar schickt weitere Truppen und schafft es schließlich, die Gallier zurückzudrängen. Das ist der Anfang vom Ende. Diejenigen Gallier, denen nicht das »Glück« beschieden war, auf dem Feld zu sterben, versuchen zu fliehen. Die römischen Reiter schneiden ihnen den Weg ab – der Auftakt zu einem weiteren entsetzlichen Massaker. Alles ist aus. Am nächsten Morgen verlässt Vercingetorix sein Lager zu Pferd und legt seine Waffen zu Caesars Füßen nieder. Drei Jahre später wird der Arvernerfürst in seinem römischen Gefängnis erdrosselt.
*
Die Römer wollten Lutetia im inzwischen gallorömischen Gallien rasch wieder aufbauen. Aber warum nicht eine andere Stelle wählen als diese Schleife der Seine? Einen Ort, der weniger eingeschlossen ist, verkehrsgünstiger liegt? Eine richtige Insel auf dem Fluss zum Beispiel. Einen Steinwurf vom Champ de Mars entfernt, wo Labienus seinen Sieg errungen hatte, befanden sich doch ein paar kleine Inselchen. Auf der größten von ihnen stand ein bescheidener Tempel der gallischen Götter: Cernunnos, Herr der Fruchtbarkeit; Smertios, Beschützer der Herden; Esus, Schöpfer der Wälder … Über dem einfachen Bau zogen die Möwen ihre Kreise, fielen hin und wieder in weißen, schreienden Schwärmen herab, um ein paar Krümel von den Opfergaben zu erhaschen, die die Gläubigen niedergelegt hatten.
Die Gallier von Lutetia sammelten sich nach dem Beispiel der siegreichen Römer vor diesem Tempel, Stätte des Glaubens und der Frömmigkeit. Die Inselchen, bald durch Brücken miteinander verbunden, deuteten bereits den Anfang einer neuen Stadt an. Und so entstand auf dieser im Wasser verlorenen Landzunge ein neues Lutetia, die gallorömische Siedlung und spätere Île de la Cité. Wie in der Vergangenheit lebten die Parisii vom und durch den Fluss, der ihnen auch weiterhin Wohlstand gewährte. Und Lutetia wurde zur Zollstadt: Man erhob Steuern von den Reisenden, die die Brücken überschreiten oder mit dem Boot passieren wollten.
Steigt man heute zur Krypta der Kathedrale Notre-Dame auf der Île de la Cité hinab, so kann man unter dem Vorplatz die Reste des ersten gallorömischen Quais aus dem 1. Jahrhundert sehen. Die spätere Devise von Paris »Fluctuat nec mergitur« – sie schwankt, aber geht nicht unter – versteht sich als ein Erbe dieser ursprünglichen, lebensnotwendigen Verbindung mit dem Fluss.
Bereits im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verband die kleine Insel Symbole der irdischen Herrschaft und der himmlischen Macht: im Westen ein befestigtes Palais, Sitz der römischen Herrschaft; im Osten der Kultort der Parisii. Doch der Tempel von Lutetia wurde größer, schöner, er bot auch den Göttern des römischen Pantheons Platz, und die beiden Kulturen begannen sich zu vermischen. An der Seine wurde auch das erste wichtige Monument der Stadt errichtet: Die Nautes, wie sich die Gilde der Seine-Schiffer nannte, brachten ihre Dankbarkeit mit einer Säule von beinahe fünf Metern Höhe zum Ausdruck, dem sogenannten Nautenpfeiler, bestehend aus vier Quadern, auf denen die gallischen Gottheiten Cernunnos, Smertios, Esus, aber auch die römischen Götter Vulcanus und Jupiter abgebildet sind. Geweiht ist die Stele dem römischen Gott der Götter sowie dem Kaiser Tiberius, der in den Jahren 14 bis 37 herrschte: »Dem Tiberius Caesar Augustes und dem besten, größten Jupiter haben die parisischen Schiffsleute aus der gemeinsamen Kasse dieses Monument errichtet.« Die gallorömische Zivilisation brachte sich von nun an in Stein gemeißelt zum Ausdruck. Als im Jahr 1711 unter dem Chor der Kathedrale Notre-Dame eine Gruft zur Bestattung der Pariser Erzbischöfe angelegt wurde, kam der Nautenpfeiler, der in mehrere Teile zerlegt und in eine Mauer integriert worden war, wieder zum Vorschein. Er wurde von 1999 bis 2003 restauriert und ist heute im Musée de Cluny im 5. Arrondissement ausgestellt.
Die heiligen Orte bleiben heilig über die Glaubensrichtungen hinaus, und so ist es denn auch kein Zufall, dass dieses Werk im Unterbau der Notre-Dame gefunden wurde, und ebenso wenig, dass die Kathedrale für die Pariser noch immer der wichtigste – nun katholische – Kultort ist: An dieser Stelle der Île de la Cité haben einst die ersten Votivtempel der Gallier gestanden, jenes Volkes, das später zu Gallorömern und schließlich zu Christen wurde.
Lutetias Standort war nun ein für alle Mal bestimmt. Unsere Geschichte von Paris kann beginnen, alles kann beginnen, denn ein Mann namens Jesus Christus machte sich gerade daran, die Uhren neu zu stellen.
2. Jahrhundert
Rekonstruktion der Arena von Lutetia, Zeichnung von Jean Formigé
Place d’Italie
Alle Wege führen nach Rom
Die Place d’Italie im 13. Arrondissement kam mir immer etwas sonderbar vor, um nicht zu sagen völlig missglückt. Man verlässt die Métro und hat nichts Ausgewogenes oder Harmonisches vor sich. Das Rathaus aus dem 19. Jahrhundert wirkt so, als wollte es sich aus allem heraushalten, als sei es eingeschüchtert durch den unablässigen Strom der Automobile, die um den Kreisel herum ihr absurdes, chaotisches Ballett aufführen. Die futuristische Konstruktion auf dem Dach des angestrengt hypermodernen Einkaufszentrums gegenüber mimt unfreiwillig Kräne eines verlassenen Baugeländes. Auf der anderen Seite der Allee strömen Fast-Food-Läden ihren Gestank nach ranzigem Fett aus. Dahinter recken seelenlose Türme ihre tristen Formen empor.
Das Einzige, was überzeugt, ist das grünumrahmte blaue Emailschild, das verkündet: »Place d’Italie«. Also auf nach Italien, hier geht’s lang! Im 2. Jahrhundert, zu Zeiten der Pax Romana, als Lutetia nach dem Willen der römischen Besetzer auf der Île de la Cité entstand, führte hier eine Straße nach Rom vorbei. Die neue Stadt der Parisii entwickelte sich südlich der Seine. In Richtung Rom entstanden ausgedehnte Kommunikationswege, um die entlegensten Teile des größten aller Reiche miteinander zu verbinden. Die Place d’Italie befand sich selbstverständlich auf dieser via romana, auf der man über Lyon nach Rom gelangte. Vielleicht sollte man den Platz zu »Place de Rome« umtaufen und damit an die Schuld erinnern, in der das Paris, das wir kennen und lieben, bei denen steht, die vor zwei Jahrtausenden zur Eroberung Galliens aufgebrochen sind.
Natürlich haben die Römer viel von der ursprünglichen parisischen Siedlung zerstört. Die Katastrophe, die der Brand Lutetias und die Niederlage bei Alesia ausgelöst haben, ist unermesslich. Sie bedeutete nichts weniger als das Verschwinden einer Sprache und den Tod einer Kultur: Eine ganze Lebensform versinkt im Vergessen. Und doch ist uns das wenige, das wir heute über die Gallier wissen, von den Römern überliefert worden, derjenigen Macht also, die die gallische Identität so gründlich zerstörte, dass die Historiker dieser untergegangenen Volksgruppe lange mit einer gewissen Verachtung oder zumindest Herablassung begegneten. Was sahen wir denn in den Geschichtsbüchern? Barbaren, ungesittete Völkerstämme mit langen Schnurrbärten, die Bracaehosen, die antiken Wollhosen, trugen und Wildschwein vertilgten. Ein Glück, dass Iulius Caesar diesen rohen Gesellen die Zivilisation gebracht hat, dachte man. Doch in der Zwischenzeit hat die Geschichtsschreibung ihr Urteil ein wenig revidiert. Zwar haben uns die Gallier keine literarischen Meisterwerke hinterlassen, sie haben auch keine großen Monumente erbaut, die noch im dritten Jahrtausend die Touristen beglücken, aber dennoch gehörten sie einer entwickelten Zivilisation an, die ihre eigenen Riten und Gottheiten, Legenden und Helden besaß.
Man kann sich auch fragen, was aus den Parisii – und ihrer Stadt – geworden wäre, wenn die Römer sie nicht bekriegt hätten. Hätte das Volk an der Seine seine Unabhängigkeit und Originalität bewahrt? Wohl kaum. Denn im Norden hatte bereits ein anderer Eroberungszug eingesetzt. Germanien war auf dem Vormarsch, und die Parisii standen vor der Alternative, sich zu latinisieren oder zu germanisieren. Entschieden haben die Geschichte und Caesars militärische Stärke. Die Gallier wurden zu Gallorömern. Was hier entstand, war also keine rein parisische Siedlung mehr, sondern eine vom Genius der Römer geprägte Stadt. Bestimmt hat die Place d’Italie in meiner Phantasie deshalb eine Bedeutung angenommen, die ein rationaler Mensch für überzogen halten könnte. Zwar befinden wir uns weitab von den Ufern der Seine, an die sich die ersten lutetischen Siedler zurückgezogen hatten, doch hier bewege ich mich in den Fußstapfen der römischen Legionen, der römischen Händler, der römischen Bauherren. Hier hallte das ferne Echo der Stadt wider. Hier schwankten die Weizenkarren über die großen, holprigen Steinplatten. Hier dröhnten die Schritte der Soldaten. Hier kamen die Gallier auf dem Weg nach Rom vorbei, der Hauptstadt der damaligen Welt.
Statt nur der sicherlich furchtbaren Katastrophe zu gedenken, die der römische Sieg für das gallische Gedächtnis bedeutet hat, kann man mit ein wenig Überwindung in der Latinisierung der Gallier also auch eine Chance sehen. Aus der vollständigen Niederlage, der schmachvollen Erniedrigung sind eine neue Kultur und eine neue ethnische Identität hervorgegangen.
Die Gallier als die Urahnen der heutigen Franzosen also? Gerade in Frankreich sahen die Chronisten das nicht von jeher so: Unter dem Ancien Régime setzte man die Geschichte des Landes mit dem Jahr 481 und der Krönung Chlodwigs an, des ersten christlichen Frankenkönigs. Dieser in religiöser Hinsicht makellose und aus monarchischem Blickwinkel über jeden Zweifel erhabene Ursprung stellte die Herrscher von Gottes Gnaden voll und ganz zufrieden. Im 19. Jahrhundert wurde das anders. Napoleon III. versuchte sein Reich in einer weniger vom Siegel der Krone geprägten Chronik zu verankern. Eine Zäsur musste her. Die Gallier sollten sie liefern. Napoleon begeisterte sich so sehr für diese hypothetischen Ahnen, dass er eine mehrbändige Studie mit dem nüchternen Titel Histoire de Jules César, Die Geschichte des Iulius Caesar, über sie verfasste. Doch was der Kaiser der Franzosen hier beschreibt, geht weit über die Persönlichkeitsanalyse des römischen Diktators hinaus, denn Napoleon III. gab den Galliern im Grunde ihren gebührenden Platz in der Geschichte zurück. 1861 ordnete er auf der mutmaßlichen Stätte von Alesia im Burgund archäologische Grabungen an, und die Forscher, die in seinem Sold standen, gaben sich alle Mühe, ihn zufriedenzustellen. Dem Kaiser ging es darum herauszufinden, ob sich unter der Erde materielle Überreste jener berühmten Schlacht finden ließen, die mit einem Mal zu einem so wichtigen Ereignis der Geschichte Frankreichs geworden war. Und siehe da: Wer suchet, der findet. An die fünfhundert gallische Münzen, zwei Bronzemünzen mit der Prägung Vercingetorix, hundertvierundvierzig römische Geldstücke, Gräben, Palisaden, eine Stele, auf der man »ALISIIA« zu entziffern glaubte … Die Ausbeute war reich. Zu reich für manche. Einige Spielverderber munkelten, Napoleons Archäologen hätten ein paar geschickte Arrangements mit der Wirklichkeit vorgenommen, um dem Herrscher zu gefallen.
Fest steht auf jeden Fall, dass fortan er, der Kaiser der Franzosen, über Alesia herrschte. 1865 wurde auf dem zur Ausgrabungsstätte verwandelten Schlachtfeld eine riesige Statue des Arvernerfürsten Vercingetorix errichtet – dem der Bildhauer Aimé Millet die Züge Napoleons III. verlieh!
In Lutetia schreibt sich der Umbruch im wahrsten Sinne des Wortes in Stein. Das beginnende Jahrhundert läutete eine unerwartete Periode des Friedens, der Versöhnung und des Aufbaus ein. Damit sich Lutetia an den Seineufern verankern konnte, brauchte es Ruhe. Die Turbulenzen der vergangenen Zeit legten sich, genug jedenfalls, um eine neue Stadt entstehen zu lassen. Das Schicksal schien eifersüchtig über der Wiege des zukünftigen Paris zu wachen. Mit der Zerrissenheit unter den Menschen, dem Kräftemessen der Heere, den Kämpfen für einen ruhmreichen Tod war es erst einmal vorbei. Parisii und Römer machten sich an den Aufbau, und die Götter gaben ihren Segen dazu: Nie wieder würde die Stadt eine so lange Periode des Friedens erleben.
Wandeln wir also auf den Spuren eines römischen Bürgers, der aus Rom nach Lutetia kam. Er passierte die heutige Porte d’Italie, dann führte ihn die künftige Avenue d’Italie über die Place d’Italie, bevor er über die aktuelle Avenue des Gobelins die Place Saint-Médar erreichte, wo mit der Rue Mouffetard der Anstieg der Montagne Sainte-Geneviève beginnt.
Der römische Teil Lutetias war nicht den Launen des Flusses ausgesetzt; das schlammige, instabile Sumpfgebiet behagte den Römern nicht. Nach römischem Vorbild wurde vielmehr auf einem Felsvorsprung gebaut. Also geht es die Rue Mouffetard hinauf, deren Name entfernt an den römischen Namen der Montagne Sainte-Geneviève erinnert, Mons Cetarius, »zum Fisch gehörig« – der Einfluss des Flusses blieb trotz allem präsent. Die Pax Romana, der Römische Friede, der zu jener Zeit herrschte, machte Lutetia zu einer offenen Stadt ohne Befestigungen. War der Reisende auf dem Gipfel der heutigen »Mouff« angekommen, bot sich ihm eine überwältigende Aussicht.
Lutetia war in diesem 2. Jahrhundert ein Ort des Vergnügens. Man amüsierte sich, fand Zerstreuung. Im Übrigen wurde der Blick des Reisenden sogleich von einem gigantischen Bauwerk angezogen: dem Amphitheater. Etwas abseits der Stadt, auf der Ebene zwischen Hügel und Fluss errichtet, stiegen seine fünfzehntausend Plätze stufenweise über kreisförmige Sitzreihen an. Der Standort wurde aufgrund der besonderen Topographie des Terrains gewählt: Die Architekten machten sich für das Bauwerk das Licht der aufgehenden Sonne zunutze. Außerdem erfreuen sich die Zuschauer einer einzigartigen Sicht auf die Biegung der Bièvre, den Nebenfluss der Seine, und zwei bewaldete Hügel im Hintergrund, die späteren Stadtviertel Ménilmontant und Belleville.
Das Amphitheater, das schönste und reichste von ganz Gallien, wartete mit gemeißeltem Stein, ziegelbedeckten Säulen und Statuen zur Verehrung der Götter auf. Nicht zu vergessen die Technik: Die im Hintergrund der Bühne in die Mauer gegrabenen Nischen gewährleisteten eine vollkommene Akustik. Und auch für Annehmlichkeit war gesorgt: Über die Sitzreihen wurde ein Segeltuch, das sogenannte velum, gespannt, um die Zuschauer vor der Hitze der Sonne oder dem Regen zu schützen. Gallier und Römer strömten gemeinsam herbei; folgen wir ihnen, indem wir den Hügel über die Stufen der Rue Rollin wieder hinuntergehen. Nähert man sich dem Amphitheater, scheint aus der imposanten Fassade mit ihren eleganten Kolonnaden und Bogenreihen die ganze Macht Roms zu sprechen. Zu durchschreiten ist diese Mauer durch zwei breite Eingänge, an denen Karyatiden mit steinernem, aber nachsichtigem Blick das menschliche Treiben beobachten. Nach römischer Art verband sich hier bacchanalische Freude mit dem Vergnügen, das die Tragöden mit ihrem Schauspiel boten. Kolonisierte und Kolonisatoren teilten denselben Kult für die alten Dichter. Wollte man lachen, führte man sich ein Stück von Plautus zu Gemüte. Bei der Goldtopfkomödie war der Erfolg garantiert. Die Abenteuer des alten Geizkragens, der über den Fund eines Kochtopfs voller Gold aus dem Häuschen gerät, ließen niemanden kalt. Denn sein durch die Gnade des Zufalls erworbenes Gut wird bald zur Quelle von Plagen: Der Alte lebt in der ständigen Angst, ein Dieb könnte ihm seinen Schatz rauben. Bestimmt wurde in Lutetia auch Die Bakchen, eines der bekanntesten Stücke des griechischen Dichters Euripides, gegeben. Während die Zuschauer ihre Plätze einnahmen, stimmte der Chor im Hintergrund der Arena einen Gesang an, dessen klagende Töne bis in die höchsten Ränge zu hören waren.
Doch es floss auch Blut auf der Zirkusbühne von Lutetia. Die römischen Spiele waren nicht immer so friedlich und harmlos wie Plautus’ Komödien oder Euripides’ Tragödien. In den Käfigen warteten schon die Raubtiere, die die Gladiatoren des Abends abschlachten würden. Dann wurde der Sand der Arena von wütenden Tigern und Löwen aufgewirbelt. Manchmal aber konnte das Tier trotz der Helme, Säbel und Netze nicht überwältigt werden, und die Menge sah mit Schaudern, wie der Kämpfende von mächtigen Klauen zu Boden gerissen und von ungeheuren Fangzähnen zerfetzt wurde.
Besonders angeheizt aber war die Stimmung, wenn die Gladiatoren sich gegenseitig töteten. Man eilte herbei, um die Stars zu sehen, diese Männer, die männliche Kraft und Schönheit verkörperten. In einem fairen Kampf, eine Lektion in Mut für jedermann, boten die Gladiatoren dieses Schauspiel höchster Gewalt, das in Lutetia genauso wie im ganzen Reich beliebt war. Sie bekämpften sich bis ans Ende ihrer Kräfte, griffen immer wieder von neuem an, brachten einander schwerste Verletzungen bei, bis der Besiegte, den Körper von den Spitzen des gegnerischen Dreizacks durchbohrt, zusammenbrach. Die sterblichen Überreste des Kämpfers wurden durch das Tor der Libitina, der Göttin des Todes, fortgebracht, während die Menge tobte, sich von den Sitzen erhob. Am folgenden Tag würde an derselben Stelle wieder über den alten Geizkragen von Plautus gelacht werden. Das war die Arena von Lutetia!
Mit der Invasion der Barbaren im Jahr 280 wurde die Arena zerstört. Das Amphitheater verwandelte sich in einen Friedhof, der Anfang des 13. Jahrhunderts, als Philipp II. seine Ringmauer um das mittelalterliche Paris errichtete, abgetragen wurde – und geriet in Vergessenheit. Einmal mehr musste man auf das 19. Jahrhundert und seine Architekturbegeisterung warten. Beim Durchbruch der Rue Monge ab dem Jahr 1860 stießen die Arbeiter auf der Höhe der Nummer 49 auf eigenartige Überreste: Mauerwerk kam zum Vorschein. Die Grabungen wurden auf das Gebiet ausgeweitet, das die Compagnie générale des omnibus erworben hatte, um ein Straßenbahndepot zu bauen. Und genau da tauchte die Arena von Lutetia wieder auf. Doch die Stadtbehörde scherte sich wenig um diese außerordentliche Entdeckung. Was zählte, war der Bau einer breiten, geraden Straße; im Bau- und Neugestaltungswahn jener Zeit war für die Antike kein Platz. Ein großer Teil wurde den Pickeln der Abbrucharbeiter anheimgegeben. Fast die gesamte antike Anlage war von der Zerstörung bedroht.
Doch da trat Victor Hugo auf den Plan. 1883 schrieb der Autor des Romans Der Glöckner von Notre-Dame an den Stadtrat von Paris einen Brief: »Es kann nicht sein, dass Paris, die Stadt der Zukunft, auf den lebendigen Beweis verzichtet, dass es auch die Stadt der Vergangenheit ist. Die Vergangenheit birgt die Zukunft. Die Arena ist das antike Wahrzeichen der großen Stadt. Sie stellt ein einzigartiges Denkmal dar. Der Stadtrat, der sie zerstörte, würde sich damit selbst abschaffen. Bewahren Sie die Arena von Lutetia. Bewahren Sie sie um jeden Preis. Sie würden damit eine nützliche Tat vollbringen, und was noch wichtiger ist, ein gutes Beispiel geben.« Der Meister hatte gesprochen. Der Stadtrat genehmigte die nötigen Mittel zur Einrichtung eines Platzes in der Arena, der 1896 der Öffentlichkeit übergeben wurde – und auf dem seither bevorzugt Boule gespielt wird.
Ein derart großes, schönes Amphitheater sagt alles über die Bedeutung, die Lutetia innerhalb des römischen Galliens einnahm. In kaum einem Jahrhundert war die Stadt zu einem dichtbevölkerten und gutbesuchten Ort geworden. Während dieses goldenen Zeitalters hatten sich allein auf der heutigen Île de la Cité nahezu zehntausend Einwohner niedergelassen, und die Stadt erstreckte sich auch auf das linke Ufer. Am rechten Seineufer hingegen war nicht viel los. Auf einem Hügel ganz in der Ferne – dem zukünftigen Montmartre –, der dem Glauben gewidmet war, standen ein kleiner Tempel und ein paar bescheidene, dem Schutz der Götter unterstellte Wohnhäuser. Doch dieses Ufer war vor allem eine offene Baustelle und eine Vorratskammer. Aus den Steinbrüchen wurde der Lehm geholt, aus dem die Ziegel hergestellt wurden; auf den Feldern wurde Weizen gepflanzt und Vieh gezüchtet. Hier befinden wir uns hinter den Kulissen, dort, wo die Stadt organisiert wurde, in der Rumpelkammer, die das elegante, raffinierte Leben auf der anderen Seite des Flusses ermöglichte.
Dort, in der neuen Stadt, haben zahlreiche Gallier ihre zerbrechliche strohgedeckte Hütte, die sie im alten Lutetia geschützt hatte, verlassen und es den Römern gleichgetan. Nun wurde solide, manchmal großzügig gebaut. Die obere und die untere Stadt begannen einander zu ähneln. Denn es gab das höher gelegene Lutetia, auf der Böschung, wo sich hauptsächlich die Römer angesiedelt hatten, und das weiter unten, wo sich die Gallier zusammenscharten. Nach und nach würde der untere Teil Civitas Parisiorum genannt werden, die Stadt der Parisii. Bis »Paris« war es da nicht mehr weit.
Und was trieben sie, diese Lutetier der Unterstadt? Wie gesagt, sie lebten hauptsächlich vom Fluss. Die meisten der hier ausgeübten Berufe hatten mehr oder weniger direkt mit dem Gewässer zu tun. Da waren jene, die die Schiffe be- und entluden, jene, die über den Flussweg angekommene Ware weiterbeförderten, und natürlich waren da die unentbehrlichen Fischer, Fischverkäufer, Schmiede und Händler.
Auf der Insel war die Ausbreitung der Stadt zwangsläufig begrenzt. Aber am linken Ufer war Platz. Und genau hier errichteten die römischen Architekten eine Stadt. Der neue Teil von Lutetia – an dieser Stelle hatte es nie eine gallische Siedlung gegeben – wurde nach römischer Mode reichlich mit Wasser versorgt. Eine Neuheit: Das Wasser stammte aus einem rund zwanzig Kilometer südlich der Stadt erbauten Becken, das Lutetia dank der sanften Neigung eines Aquädukts erreichte. Vorbei die Zeiten, als die Gallier das Wasser direkt aus der Seine holten. (Einige wenige Teile des Aquädukts sind noch heute zu sehen, andächtig zwischengelagert im Bestand des Musée Carnavelet in der Rue François Truffaut Nummer 1 im 12. Arrondissement.) In der Stadt floss nun das Wasser durch ein Kanalisationsnetz aus Terrakotta und Blei, das die Brunnen und vor allem die Thermen belieferte. Besonders die Thermen waren für die Römer und damit für die Parisii der Inbegriff von Luxus und Komfort. Und Zentrum des geschäftlichen Lebens, denn nichts von Bedeutung wurde außerhalb der öffentlichen Bäder entschieden. In Lutetia gab es drei davon. Zwei relativ kleine: eines im Süden, ein weiteres im Osten, wo sich heute das Collège de France befindet, das sich unterhalb der Rue de Lanneau fortsetzt. Der Gewölbekeller des dort im Haus Nummer 11 befindlichen Restaurants Le Coupe-Chou, der älteste Keller von Paris, ist ein faszinierendes Überbleibsel dieser Thermen aus dem 2. Jahrhundert. Bei Bauarbeiten wurden weitere kostbare Zeugnisse entdeckt: insbesondere Warmwasserleitungen und ein gallorömisches Badebecken.
Doch die wichtigste Bädereinrichtung, ebenfalls gegen Ende des 2. Jahrhunderts erbaut, sind die Thermen von Cluny, die man noch heute kennt. Vielleicht sollte man besser ihren ursprünglichen Namen beibehalten: die Nordthermen. Für jedermann kostenlos zugänglich, stellten diese Bäder einen Raum der Entspannung und Muße, einen Treffpunkt und Ort der Hygiene dar. Alles war auf das Wohlbefinden des Bürgers ausgerichtet: Mosaike, Marmor und Fresken schmückten die Wände mit bunten Szenen, die ans Meer erinnern. Nach einigen Aufwärmübungen begab man sich von einem Raum mit mittlerer Temperatur, dem tepidarium, in den Warmbaderaum, das caldarium, darauf in den Kaltbaderaum, das frigidarium, und schließlich in den Ruheraum, wo man sich mit Freunden zum Plaudern traf.
Der römische Einfluss ist unübersehbar. Es wäre jedoch falsch, darin einen reinen Import der Besatzer zur Beglückung der Bevölkerung zu sehen. Die Parisii haben selbst zum Bau dieses Bauwerks beigetragen, das sich dem Zahn der Zeit erfolgreich widersetzt hat. Eine Dekoration an den Gewölbekonsolen des frigidarium zeigt mit Waffen und Waren beladene Schiffe – ein Hinweis darauf, dass die mächtige Schiffergilde, die spätere corporation des nautes, aus der im Mittelalter die Pariser Stadtverwaltung hervorgehen sollte, hier die Hände im Spiel hatte. Diese Männer, die den Flusshandel bestimmten und in gewisser Weise schon damals ein wenig als Stadträte fungierten, wollten das Verdienst an der Errichtung eines solch prestigeträchtigen Bauwerks nicht einzig den Römern überlassen. Die Parisii waren sich der Notwendigkeit bewusst, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und an Aufbau und Verwaltung der Stadt teilzuhaben. Auch dieser Vitalität ist es wohl zu verdanken, dass Lutetia zu Paris geworden ist.
Doch trotz der gallischen Beteiligung blieb die urbane Architektur typisch römisch. Schnurgerade Straßen kreuzten sich im rechten Winkel und bildeten Flächen, auf denen sich Patriziervillen und öffentliche Räume abwechselten. Die Hauptachse dieses römischen Lutetia war der cardo maximus. Er durchquerte die ganze obere Stadt und führte über eine kleine Brücke zur Unterstadt. (Die Holzfundamente dieser ersten römischen Brücke sind überraschenderweise im Bett der Seine wiedergefunden worden und heute im Musée Carnavalet zu sehen.) Der cardo war die Pulsader der Siedlung, die sie nährte und belebte. Alles, was in die Stadt hereinkam, kam über den cardo, alles, was aus ihr herausging, ging über den cardo. Diese Achse lehrte die Parisii, wie eine Stadt gebaut wird. Und als später eine erweiterte Stadt organisiert werden musste, zeigte sich, dass die Lektion auf fruchtbaren Boden gefallen war. Am cardo befanden sich auch die beiden Töpferwerkstätten, die Lutetia mit Geschirr versorgten. In guter Lage, an einer belebten Straße zwischen Stadt und Land, konnten die Handwerker die reichen Läden der Stadt, die Bauern des Umlands und vielleicht selbst die Reisenden beliefern, die sich hierhin verirren sollten.
Beschritt man den cardo maximus, ging es den Berg hinauf, der später Montagne Sainte-Geneviève heißen würde. Hier befand sich das Epizentrum der Stadt: das Forum, ein großer, von einem Säulenportikus umgebener Platz. Hier wurde gelebt, hier wurde diskutiert, hier lieferte man sich, immer wieder von neuem, Wortgefechte. Die Außenmauer entlang zog sich auf zwei Seiten eine überdachte Galerie, in der sich die Läden aneinanderreihten. Und die Lutetierinnen kamen zum Einkaufsbummel, um sich, nicht anders als heute, mit köstlichen Salben, Olivenöl oder Spangen einzudecken, die feiner und glänzender waren als die der Nachbarin.
Die Erbauer sind bei der Errichtung dieses Herzstücks von Lutetia nicht zimperlich vorgegangen: Um sanftere Neigungen und anmutigere Formen zu erhalten, ebneten sie den Hügel ein. Die Römer, große Bauherren, zögerten nie, die Natur zugunsten einer durchdachten Bauweise neu zu gestalten. Man kann sich die Verwunderung der Parisii angesichts dieser Arbeiten vorstellen, die ihnen gleichzeitig titanisch und geheimnisvoll vorkommen mussten. Sie, die so lange in Unterwerfung der Natur gelebt hatten, in ungesicherten, bescheidenen Dörfern und leicht zerstörbaren Städten, schauten nun mit staunenden Augen, wie die Römer für die kommenden Jahrhunderte bauten.
Der ehemalige cardo maximus ist heute übrigens die Rue Saint-Jacques und setzt sich am rechten Ufer der Seine durch die Rue Saint-Martin fort. Man sagt, die Straße sei auf dem Weg angelegt worden, den einst die Mammuts nahmen, wenn sie von den Hügeln an den Fluss herunterkamen, um zu trinken. Eine hübsche Legende wohl, doch fest steht, dass es an dieser Stelle bereits lange vor den Römern, lange vor Lutetia eine Straße gab, die von Spanien bis zur Nordsee führte. Die römischen Platten in der Rue Saint-Jacques sind bis auf eine alle verschwunden; nur vor der Kirche Saint-Julien-le-Pauvre, an der Kreuzung der alten Römerstraße nach Italien und dem cardo, ist hinter dem alten Ziehbrunnen vor dem Portal eine einzelne antike Platte niedergelegt worden. Übrigens ist gleich daneben, im Park René Viviani an der Seine, der älteste Baum der Hauptstadt zu sehen, eine aus Nordamerika stammende Robinie, die 1602 vom Botaniker Jean Robin gepflanzt wurde, der ihr auch den Namen gab. Der Baum scheint noch grün, aber das täuscht: Die erste Blätterschicht ist nur Efeu, der über die erstaunliche Betonstütze der Robinie klettert.
Ein Stück weiter auf dem ehemaligen cardo, in den Kellern der Nummer 254 der Rue Saint-Jacques, ist noch ein Töpferofen zu erkennen – der wunderbarerweise gerettete Überrest einer Werkstätte, angesiedelt an der antiken Version unserer Industriezonen. Ebenfalls in der Nachbarschaft, auf der Place de la Sorbonne nahe dem Boulevard Saint-Michel, wird die Symmetrie der dortigen modernen Brunnenanlage durch eine Rundnische gebrochen: Es ist der Rest eines Brunnens, der zu zwei insulae, den für römische Städte so typischen mehrgeschossigen Mietshäusern, gehörte.
Auch das Forum hat die Zeitläufte natürlich nicht unbeschadet überstanden. Was heute davon übrig ist, beschränkt sich auf die Einfahrt zum Parkhaus Vinci in der Nummer 61 des Boulevard Saint-Michel, wo ein Stück der Außenmauer erhalten geblieben ist. Dafür wartet nicht weit von hier, in der Nähe des Senats im 6. Arrondissement, der Hof der Rue de Vaugirard 36 mit einer angenehmen Überraschung auf: Dort kann man einen herrlichen römischen Ofen bewundern, der im Jardin du Luxembourg ausgegraben und hierhergebracht worden ist.