Micha - Burkard M. Zapff - E-Book

Micha E-Book

Burkard M. Zapff

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Beschreibung

Significant parts of the text of Micah were probably written as part of a book of several prophets & or twelve prophets & and can therefore only be adequately understood and interpreted in that context. A piece of Old Testament theological history thus becomes visible here that was not primarily concerned with the message of a single, individual prophetic figure, but above all with general testimony to YHWH=s speech and action in the history of his people. Zapff demonstrates this by reflecting diachronically on the results of a synchronic interpretation in order to trace the process of the creation of the text of Micah and its theological message.

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Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament (IEKAT)

Herausgegeben von:

Walter Dietrich, David M. Carr, Adele Berlin, Erhard Blum, ­Irmtraud Fischer, Shimon Gesundheit, Walter Groß, Gary Knoppers (†), Bernard M. Levinson, Ed Noort, Helmut Utzschneider und Beate Ego (apokryphe/deuterokanonische Schriften)

Umschlagabbildungen:

Oben: Teil einer viergliedrigen Bildleiste auf dem Schwarzen Obelisken Salmanassars III. (859–824 v. u. Z.), welche die Huldigung des israelitischen Königs Jehu (845–817 v. u. Z.; 2 Kön 9f.) vor dem assyrischen Großkönig darstellt. Der Vasall hat sich vor dem Oberherrn zu Boden geworfen. Hinter diesem stehen königliche Bedienstete, hinter Jehu assyrische Offiziere sowie, auf den weiteren Teilbildern, dreizehn israelitische Lastträger, die schweren und kostbaren Tribut darbringen.© Z. Radovan/BibleLandPictures.comUnten links: Eines von zehn Reliefbildern an den Bronzetüren, die das Ostportal (die sog. Paradiespforte) des Baptisteriums San Giovanni in Florenz bilden, geschaffen 1424–1452 von Lorenzo Ghiberti (um 1378–1455): Ausschnitt aus der Darstellung ‚Adam und Eva‘; im Mittelpunkt steht die Erschaffung Evas: „Und Gott der HERR baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und brachte sie zu ihm.“ (Gen 2,22) Fotografiert von George Reader.Unten rechts: Detail der von Benno Elkan (1877–1960) geschaffenen Menora vor der Knesset in Jerusalem: Esra liest dem versammelten Volk das Gesetz Moses vor (Neh 8). Die Menora aus Bronze entstand 1956 in London und wurde im selben Jahr von den Briten als Geschenk an den Staat Israel übergeben. Dargestellt sind in insgesamt 29 Reliefs Themen aus der Hebräischen Bibel und aus der Geschichte des jüdischen Volkes.

Burkard M. Zapff

Micha

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025438-1

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-025439-8

epub: ISBN 978-3-17-025440-4

mobi: ISBN 978-3-17-025441-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Wesentliche Teile der Michaschrift sind wahrscheinlich im Kontext eines Mehr- oder Zwölfprophetenbuches entstanden und können deshalb nur in diesem Zusammenhang angemessen verstanden und interpretiert werden. So wird hier ein Stück alttestamentlicher Theologiegeschichte sichtbar, der es nicht in erster Linie um die Aussage der einzelnen, individuellen Prophetengestalt ging, sondern vor allem um das allgemeine Zeugnis vom Sprechen und Handeln JHWHs in der Geschichte seines Volkes. Dies zeigt Zapff, indem er die Ergebnisse seiner synchronen Auslegung diachron reflektiert, um den Entstehungsprozess der Michaschrift und ihrer theologischen Aussage nachzuzeichnen.

Prof. Dr. Burkard M. Zapff lehrt Alttestamentliche Wissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Inhalt

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

Vorwort des Autors

Einleitung in den Kommentar

Hermeneutische Vorüberlegungen

Synchrone Analyse

Textgrundlage

Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch

Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus

Diachrone Analyse

Zur Entstehung der Michaschrift

Stufe 1: Ausgangspunkt der Michaschrift: Das Städtegedicht

Stufe 2: Die Entstehung der Michaschrift im Kontext eines Mehrprophetenbuches

Stufe 3: Die Michaschrift zwischen der Jona- und Nahumschrift

Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift

Synthese

Theologische Schwerpunkte

Rezeptionen der Michaschrift im Neuen Testament

Mi 1,1–7: Das Kommen s zum Gericht

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 1,8f.: Die Trauer des Propheten

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 1,10–16: Unheil über die Städte des Hügellandes und Aufruf zur Klage

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 1

Mi 2,1–5: Die Machenschaften der Oberschicht und die Folgen

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 2,6–11: Prophetischer Widerstand gegen Micha

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 2,12f.: Künftiges Heil

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 2

Mi 3,1–4: Wie Kannibalen – die Machenschaften der Oberschicht

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 3,5–8: Die falschen Propheten und der wahre Prophet s

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 3,9–12: Korruption in Zion und ihre Folgen

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 3

Mi 4,1–5: Zions endgültige Bestimmung

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 4,6–8: Die Sammlung der Zerstreuten und das Königtum s und Zions

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 4,9–14: Die Not der Jetztzeit und die Zukunft

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 4

Mi 5,1–5: Ein künftiger Herrscher in Israel

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 5,6–8: Der Rest Jakobs inmitten der Völker und die Vernichtung der Gegner Israels

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 5,9–13: Die Reinigung Israels von allem -Feindlichen

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 5,14: Das Gericht s über die ungehorsamen Nationen

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 5

Mi 6,1–8: Die Erwartungen s an sein Volk

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 6,9–16: Das tatsächliche Handeln Jerusalems und seiner Bewohnerschaft

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 6

Mi 7,1–7: Klage und Vertrauen des Propheten

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Mi 7,8–20: Die Zuversicht Zions und seine Erneuerung

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Textinterne Aussagegestalt

Einzelauslegung

Diachrone Analyse

Synthese zu Mi 7

Verzeichnisse

Abkürzungen

Literatur

Textausgaben

Hilfsmittel

Neuere Kommentare zu Micha

Monographien

Aufsätze

Register

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl)

Genesis

Exodus

Levitikus

Numeri

Deuteronomium

Josua

Richter

Rut

1 Samuel

2 Samuel

1 Könige

2 Könige

1 Chronik

2 Chronik

Esra

Nehemia

1 Makkabäer

Hiob

Psalmen

Sprichwörter

Hoheslied

Sirach

Jesaja

Jeremia

Klagelieder

Ezechiel

Daniel

Hosea

Joël

Amos

Obadja

Jona

Micha

Nahum

Habakuk

Zefanja

Haggai

Sacharja

Maleachi

Matthäus

Lukas

Johannes

Sonstige Quellen (in Auswahl)

Verzeichnis hebräischer Wörter

Schlagwortverzeichnis

Editionsplan

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

Der Internationale Exegetische Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) möchte einem breiten internationalen Publikum – Fachleuten, Theologen und interessierten Laien – eine multiperspektivische Interpretation der Bücher des Alten Testaments bieten. Damit will IEKAT einer Tendenz in der gegenwärtigen exegetischen Forschung entgegenwirken: dass verschiedene Diskursgemeinschaften ihre je eigenen Zugänge zur Bibel pflegen, sich aber gegenseitig nur noch partiell wahrnehmen.

IEKAT möchte eine Kommentarreihe von internationalem Rang, in ökumenischer Weite und auf der Höhe der Zeit sein.

Der internationale Charakter kommt schon darin zum Ausdruck, dass alle Kommentarbände kurz nacheinander in englischer und deutscher Sprache erscheinen. Zudem wirken im Kreis der Herausgeber und Autorinnen Fachleute unterschiedlicher exegetischer Prägung aus Nordamerika, Europa und Israel zusammen. (Manche Bände werden übrigens nicht von einzelnen Autoren, sondern von Teams erarbeitet, die in sich bereits multiple methodische Zugänge zu dem betreffenden biblischen Buch verkörpern.)

Die ökumenische Dimension zeigt sich erstens darin, dass unter den Herausgeberinnen und Autoren Personen christlicher wie jüdischer Herkunft sind, und dies wiederum in vielfältiger religiöser und konfessioneller Ausrichtung. Zweitens werden bewusst nicht nur die Bücher der Hebräischen Bibel, sondern die des griechischen Kanons (also unter Einschluss der sog. „deuterokanonischen“ oder „apokryphen“ Schriften) ausgelegt.

Auf der Höhe der Zeit will die Reihe insbesondere darin sein, dass sie zwei große exegetische Strömungen zusammenführt, die oft als schwer oder gar nicht vereinbar gelten. Sie werden gern als „synchron“ und „diachron“ bezeichnet. Forschungsgeschichtlich waren diachrone Arbeitsweisen eher in Europa, synchrone eher in Nordamerika und Israel beheimatet. In neuerer Zeit trifft diese Einteilung immer weniger zu, weil intensive synchrone wie diachrone Forschungen hier wie dort und in verschiedensten Zusammenhängen und Kombinationen betrieben werden. Diese Entwicklung weiterführend werden in IEKAT beide Ansätze engstens miteinander verbunden und aufeinander bezogen.

Da die genannte Begrifflichkeit nicht überall gleich verwendet wird, scheint es angebracht, ihren Gebrauch in IEKAT zu klären. Wir verstehen als „synchron“ solche exegetischen Schritte, die sich mit dem Text auf einer bestimmten Stufe seiner Entstehung befassen, insbesondere auf seiner Endstufe. Dazu gehören nicht-historische, narratologische, leserorientierte oder andere literarische Zugänge ebenso wie die durchaus historisch interessierte Untersuchung bestimmter Textstufen. Im Unterschied dazu wird als „diachron“ die Bemühung um Einsicht in das Werden eines Textes über die Zeiten bezeichnet. Dazu gehört das Studium unterschiedlicher Textzeugen, sofern sie über Vorstufen des Textes Auskunft geben, vor allem aber das Achten auf Hinweise im Text auf seine schrittweise Ausformung wie auch die Frage, ob und wie er im Gespräch steht mit älteren biblischen wie außerbiblischen Texten, Motiven, Traditionen, Themen usw. Die diachrone Fragestellung gilt somit dem, was man die geschichtliche „Tiefendimension“ eines Textes nennen könnte: Wie war sein Weg durch die Zeiten bis hin zu seiner jetzigen Form, inwiefern ist er Teil einer breiteren Traditions-, Motiv- oder Kompositionsgeschichte? Synchrone Analyse konzentriert sich auf eine bestimmte Station (oder Stationen) dieses Weges, besonders auf die letzte(n), kanonisch gewordene(n) Textgestalt(en). Nach unserer Überzeugung sind beide Fragehinsichten unentbehrlich für eine Textinterpretation „auf der Höhe der Zeit“.

Natürlich verlangt jedes biblische Buch nach gesonderter Betrachtung und hat jede Autorin, jeder Autor und jedes Autorenteam eigene Vorstellungen davon, wie die beiden Herangehensweisen im konkreten Fall zu verbinden sind. Darüber wird in den Einführungen zu den einzelnen Bänden Auskunft gegeben. Überdies wird von Buch zu Buch, von Text zu Text zu entscheiden sein, wie weitere, im Konzept von IEKAT vorgesehene hermeneutische Perspektiven zur Anwendung kommen: namentlich die genderkritische, die sozialgeschichtliche, die befreiungstheologische und die wirkungsgeschichtliche.

Das Ergebnis, so hoffen und erwarten wir, wird eine Kommentarreihe sein, in der sich verschiedene exegetische Diskurse und Methoden zu einer innovativen und intensiven Interpretation der Schriften des Alten Testaments verbinden.

Die Herausgeberinnen und HerausgeberIm Herbst 2012

Vorwort des Autors

Es gehört wohl zu den anspruchsvollsten, aber zugleich auch schönsten Aufgaben eines Exegeten, einen Kommentar zu schreiben. Im Hinblick auf die Michaschrift kam für mich noch der Umstand hinzu, dass ich mich nach knapp 25 Jahren noch einmal mit diesem so wichtigen Teil des Zwölfprophetenbuches auseinandersetzen durfte, dem ich bereits meine Habilitationsschrift gewidmet hatte. Nachdem sich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine neue Sichtweise des Zwölfprophetenbuches und seiner Entstehung entwickelte hatte, bot sich dabei die Chance, diese Perspektive auch in die Kommentierung der Michaschrift einfließen zu lassen. So gebührt in erster Linie mein Dank Helmut Utzschneider, der – selbst als Autor eines wichtigen Michakommentars – die Aufnahme meiner Kommentierung in die Reihe IEKAT ermöglicht hat. Ihm verdanke ich darüber hinaus manche weiterführenden Hinweise. Ein Dank sei auch dem Lektoratsassistenten des Kohlhammer-Verlages, Herrn Florian Specker, für seine sehr angenehme und hilfreiche Begleitung bei der Erstellung des druckfertigen Manuskriptes ausgesprochen. Ein Dank geht auch an die Mitarbeiterinnen an meinem Lehrstuhl, an meine Assistentin Frau Christine Schütz und an die beiden wissenschaftlichen Hilfskräfte, Frau Angelika Nieslbeck und Frau Josephine Kain, für die mühsame Arbeit des Korrekturlesens.

Widmen möchte ich diese Arbeit in Dankbarkeit meiner Mutter und meinem verstorbenen Vater, die mir bereits von Kindesbeinen an die Freude an Gott und der Heiligen Schrift vermittelt haben.

Eichstätt, im Frühjahr 2020

Einleitung in den Kommentar

Hermeneutische Vorüberlegungen

Rolle der Überschrift„Das Wort Jhwhs, welches an Micha, den Moreschiter erging in den Tagen von Jotam, Achas und Hiskija, den Königen von Juda, das er schaute über Samaria und Jerusalem“ – unter dieser Überschrift findet sich die Michaschrift mit ihren sieben Kapiteln in ihrer hebräischen Version im heutigen Zwölfprophetenbuch. Damit scheint Name, Herkunft, Zeit des Auftretens und nicht zuletzt Bezugsobjekt der Prophetie des Micha klar zu sein. Die Überschrift leistet dabei das, was man wohl auch in modernen Sammelwerken – und das Zwölfprophetenbuch ist ein großes Sammelwerk unterschiedlicher prophetischer Schriften – von einer Überschrift erwartet: Sie grenzt das Folgende von den anderen Schriften ab und gibt Autor und Thema an.1 Tatsächlich hat man in weiten Teilen der Exegese die Angaben dieser Überschrift überwiegend biographisch verstanden, indem man in der Michaschrift – zumindest in weiten Teilen – Worte eben jenes Propheten Micha suchte, den man entsprechend der dort getätigten zeitlichen Angaben im 8. Jh. v. Chr. verortete. Da wir über das letzte Drittel dieses Jahrhunderts nicht nur aus innerbiblischen, sondern auch aus altorientalischen Quellen verhältnismäßig gut informiert sind, lag es nahe, Micha und seine Prophetie mit den Ereignissen dieser Zeit – zu nennen ist hier vor allem die Expansion des neuassyrischen Reiches in die Levante im Rahmen verschiedener Feldzüge (z. B. die Kampagne des assyrischen Großkönigs Sanheribs um 701 v. Chr.) – in Verbindung zu bringen. Tatsächlich scheinen sich verschiedene Aussagen Michas auf eine größere militärische Bedrohung zu beziehen (vor allem Mi 1,8–16*).2 Die zahlreichen sozialkritischen Äußerungen der Michaschrift, die z.T. auffällige Ähnlichkeiten mit denen der beiden Nordreichspropheten Hosea und Amos, aber auch mit denen des Südreichpropheten Jesaja haben – der noch dazu zeitlich beinahe deckungsgleich mit Micha verortet wird –, legen es überdies nahe, aus der Michaschrift Rückschlüsse auf die sozialen Verhältnisse im Südreich im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. zu ziehen3 und Micha als eine Art jüngeren Kollegen oder gar Schüler Jesajas zu betrachten. Seine Herkunft vom Lande – Morescha Gat liegt im südwestlichen Hügelland Judas – gaben zu umfangreicheren biographischen Spekulationen Anlass, wonach sich Micha etwa als eine Art Dorfältester4 für die Anliegen der durch eine raffgierige Oberschicht ausgebeuteten, vormals freien Bauernschaft einsetzte. Der Micha des 8. Jh. wurde so, durchaus analog zu seinen Nordreichskollegen Amos und Hosea, zusammen mit dem Südreichspropheten Jesaja zu dem sozialkritischen Propheten des Südreiches im 8. Jh. v. Chr. und damit zu einer Stimme Jhwhs, die sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzte. Was man nun dem historischen Micha tatsächlich an Worten in der Michaschrift zuweisen kann, wurde in der Forschung jedoch zu einer mehr und mehr umstrittenen Frage, wie übrigens in ähnlicher Weise in den anderen prophetischen Büchern und Schriften, die mit Prophetengestalten des 8. Jh. v. Chr. in Zusammenhang gebracht wurden. Starken Einfluss, zumindest in der deutschsprachigen Forschung, bekam die Position Bernhard Stades, der den zweiten Teil der Michaschrift (Mi 4–7) gänzlich dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. absprach,5 im Unterschied zu weiten Teilen der angelsächsischen Exegese, die auch diesen Teil für den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zu retten suchte und sucht.6 Eine Zwischenposition nehmen jene Exegeten ein, die zumindest Mi 6–7 einer anonymen Prophetengestalt, einem „Deuteromicha“ zuschreiben wollen, der ursprünglich im Nordreich beheimatet war und dessen Prophetie später mit der des Südreichpropheten Micha aus dem 8. Jh. v. Chr. verbunden wurde.

Das grundsätzliche Problem einer solchen Interpretation der Michaschrift besteht in der Wertung der Überschrift, die fast selbstverständlich als eine verlässliche historische Information betrachtet wurde und wird. Dabei fällt nun auf, dass die Überschrift nicht nur die Michaschrift als eigene Größe im Zwölfprophetenbuch abgrenzt, insofern sie das Folgende eben einem Propheten namens Micha aus Moreschet zuschreibt, sondern zugleich diese Worte in einen Bezugszusammenhang mit anderen Schriften des Zwölfprophetenbuches, insbesondere Hosea und Amos, setzt7 und auch in dieser Hinsicht die Rolle erfüllt, die einer Überschrift in einem Sammelwerk zukommt. Demnach ist Micha sowohl ein jüngerer Zeitgenosse des Nordreichpropheten Hosea wie auch, zumindest chronologisch betrachtet, Nachfolger des Amos. Gleichzeitig stimmt die Zeit seines Auftretens fast gänzlich mit der Jesajas in Jes 1,1 überein, sodass Micha zudem ein direkter, wenn auch etwas jüngerer, Zeitgenosse des Jesaja ist. Die Königsreihe weist zudem dtr. Kolorit auf und scheint sich an der Königsreihe des Deuteronomistischen Geschichtswerks zu orientieren. Da außerdem die Verkündigung des Micha – wie die des Hosea und Zephanja – als „Wort Jhwhs“ charakterisiert wird, ergibt sich noch eine weitere Gemeinsamkeit. D. h. die Überschrift der Michaschrift grenzt nicht nur ab, sondern verbindet zugleich, sodass ein Verständnis der Überschrift als rein biographische Information zu eng ist, zumal es sich allem Anschein nach um eine, zumindest in der heutigen Form, recht späte Überschrift handelt. Daraus ergibt sich die Frage, ob sich diese hier implizierte zeitliche Entsprechung zwischen Micha, Amos und Hosea möglicherweise auch in inhaltlicher Hinsicht in der Botschaft der Michaschrift niederschlägt; was wiederum die Frage aufwirft, ob nicht Teile der Michaschrift ein Echo auf die Verkündigung des Hosea und Amos sind, sodass man sie mit Recht als Ausdruck des einen Wortes Jhwhs hinein in eine bestimmte Zeit und Situation bezeichnen kann.

Entsprechungen zu Hosea, Amos und JesajaDieser Linie sucht der vorliegende Kommentar zu folgen, insofern er auf Entsprechungen und Parallelen achtet, welche die Michaschrift mit der vorausgehenden Hosea- und Amosschrift verbinden. Dabei fußt diese Interpretation zum erheblichen Teil auf Beobachtungen neuerer Studien zur Entstehung des Zwölfprophetenbuches, die hier in neuer Weise fruchtbar gemacht werden.8 Wiederum ausgehend von der Überschrift werden dabei auch Entsprechungen zu Jesaja in den Blick genommen. Grundsätzlich ist es natürlich denkbar, dass die Ähnlichkeit und Verwandtschaft michanischer Verkündigung in der biographischen Nähe des Propheten Micha zu Jesaja ihre Gründe hat, sollten sich jedoch Entsprechungen ergeben, die gleichzeitig Beziehungen zu jesajanischer, hoseanischer und amosischer Verkündigung zeigen, ist die Frage zu stellen, ob hier nicht eine bewusste Aufnahme in Form von Schriftgelehrsamkeit vorliegt, um Micha in die beschriebene Entsprechung zu den drei Propheten zu setzen. Hinzu kommt, dass es in der michanischen Verkündigung Texte gibt, die nur dem verständlich sind, der zuvor Hosea und Amos gelesen hat. In diesen Fällen stellt sich sowieso die Frage, ob die einschlägigen Texte jemals in einer von einem Mehrprophetenbuch unabhängigen Michaschrift existierten. Ausgehend von diesem Ansatz stellt sich umgekehrt die Frage, welche Texte innerhalb der Michaschrift ohne den genannten Bezugszusammenhang existieren und damit möglicherweise tatsächlich einem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zugewiesen werden können. Gegenüber einem primär biographisch vorgehenden Ansatz, der bemüht ist, jeden Text in der Michaschrift nach Möglichkeit für den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zu „retten“ (warum eigentlich?), um daraus wiederum die damalige politische und soziale Situation abzuleiten, verfährt dieser Kommentar umgekehrt. Nur für die Texte, die nicht in einer Beziehung zu Hosea, Amos und Jesaja stehen und überdies kein exilisches oder nachexilisches Kolorit zeigen, wird erwogen, inwieweit sie möglicherweise dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können. Viele mögen dieses Vorgehen für hyperkritisch halten, es kommt hier jedoch nur ein Prinzip zur Anwendung, welches sich bereits im Hinblick auf andere prophetische Bücher, wie Jesaja oder Amos, bewährt hat.9 Wie sich zeigen wird, bedeutet dies in keiner Weise eine Nivellierung des Anspruches der Botschaft der Michaschrift. Im Gegenteil, es entspricht eher der bereits im Alten Testament zu beobachtenden Tendenz, die prophetische Botschaft nicht so sehr zu individualisieren, sondern vielmehr als eine Größe zu betrachten, die dann ihre Krönung in der neutestamentlichen Rede von der (einen) Botschaft aller Propheten findet (vgl. Lk 24,25).10

Synchrone Analyse

Textgrundlage

Die Grundlage der in diesem Kommentar vorgelegten Interpretation der Michaschrift ist der masoretische Text des Codex Leningradensis. Dieser liegt in kritisch aufbereiteter Form in der Ausgabe der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) vor und neuerdings mit einem erweiterten kritischen Apparat in dem zum Zwölfprophetenbuch erschienenen Faszikel der Biblia Hebraica Quinta (BHQ). Dieser Text wurde lediglich dann „verbessert“, wenn dies aufgrund einer offensichtlichen Textverderbnis oder einer im Gesamtzusammenhang eher unwahrscheinlichen masoretischen Vokalisation notwendig erschien.

Berücksichtigung der SeptuagintaNeben dem von den Masoreten überlieferten und interpretierten hebräischen Text wurde als weitere Textgrundlage die griechische Übersetzung der Michaschrift in Gestalt der Septuaginta (G) herangezogen. Dabei bezieht sich die Kommentierung gewöhnlich auf die von Rahlfs mit einem kritischen Apparat versehene Textausgabe. Der griechische Text wird hierbei nicht dazu herangezogen, um eine mögliche Textverderbnis des hebräischen Textes zu „verbessern“, sondern als eigenständige Größe, die in ihrer Übersetzung zugleich eine Interpretation mit der Setzung eigener Akzente und Schwerpunkte bietet. Zugleich wurde neben eigenen Interpretationen vor allem auf den von Utzschneider verfassten Kommentar zur deutschen Übersetzung von G in Septuaginta Deutsch zurückgegriffen.11 Die Berücksichtigung und Wertschätzung von G als eigenständiger Überlieferung und Interpretation des Alten Testaments entspricht nicht nur der neueren Forschung, sondern ist zugleich ein ökumenisches Desiderat, wird doch in verschiedenen Kirchen (auch) G ein kanonischer Rang zugewiesen.12 Ähnliches gilt grundsätzlich auch für die syrische Bibel, die Peshitta (S). Hier wurde der vom Codex Ambrosianus bezeugte Text herangezogen, der für das Zwölfprophetenbuch in einem kritischen, vom Peshitta-Institut Leiden herausgegebenen Faszikel vorliegt. Angesichts der räumlichen Begrenzung dieses Kommentars wurden jedoch nur besonders erwähnenswerte Abweichungen vom hebräischen bzw. griechischen Text berücksichtigt.

Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch

Die Tatsache, dass bereits in der ersten innerbiblischen Bezeugung (Sir 49,10) die Zwölf Propheten als eine geschlossene Größe mit einer gemeinsamen Botschaft betrachtet werden13 und sich diese Überzeugung auch in den antiken Textfragmenten niederschlägt, die die Zwölf auf einer Rolle und nicht als voneinander getrennte Bücher überliefern, spricht dafür, dass auch die Michaschrift nicht lediglich als singuläre Größe, sondern im Kontext mit den anderen Schriften des Dodekapropheton verstanden werden wollte und sollte. Allerdings ergibt sich hier die Problematik, dass sich die Anordnung der Schriften in der hebräischen Bibel von der durch G bezeugten deutlich unterscheidet.

Stellung der Michaschrift im ZwölfprophetenbuchFolgt die Michaschrift in der masoretischen Tradition auf die Jonaschrift, so findet sie sich in G direkt nach der Hosea- und der Amosschrift. Die masoretische Anordnung, die die Michaschrift nach der Jonaschrift einordnet, dürfte dabei mindestens zwei Gründe haben: So erwähnt 2 Kön 14,25 einen Jona, Sohn des Amittai, mit dem jener Prophet in der Jonaschrift, entsprechend Jona 1,1, identifiziert wird. Dieser Jona wiederum trat nach Auskunft des Zweiten Königsbuches zur Zeit Amazjas, des Königs von Juda auf, also während des ersten Drittels des 8. Jh. v. Chr., wohingegen Micha aus Moreschet entsprechend der Chronologie in Mi 1,1 erheblich später, nämlich nach 756 v. Chr. seine Prophetie verkündigte. Außerdem scheint die Michaschrift in der heutigen Anordnung eine Art Vermittlungsrolle zwischen der Jonaschrift mit ihrer völkerfreundlichen Tendenz – Umkehr und Verschonung Ninives – und der Nahumschrift mit ihren harschen Gerichtsworten gegen Ninive zu spielen. Offenbar dient Ninive hier als eine Art Paradigma für die grundsätzliche Alternative, vor der die Völker stehen. Tatsächlich unterscheidet die Michaschrift zwischen Völkern, die hören (Mi 1,2), und Völkern, die nicht hören und deshalb dem Gericht verfallen sind (Mi 5,14). Dabei hat die Einordnung der Michaschrift zwischen diesen beiden Schriften auch ihre redaktionsgeschichtlich nachweisbaren Spuren in Mi 1,2 und Mi 7,8–20 hinterlassen (s. u.). Die davon abweichende Anordnung der Michaschrift im Dodekapropheton von G, nämlich an dritter Stelle nach Hosea und Amos, scheint ebenfalls mehrere Gründe zu haben. Zum einen legt sich die Positionierung aufgrund des Umfangs der Michaschrift nahe, welche nach Hosea und Amos (abgesehen von der Sacharajaschrift) die umfangreichste prophetische Schrift im Zwölfprophetenbuch darstellt. Zum anderen weist die mit einer Chronologie versehene Überschrift der Michaschrift Micha als direkten Nachfolger des Amos aus, was nicht zuletzt, wie zu zeigen sein wird, sein Echo auch in weiten Teilen der Botschaft des Micha findet, die eigentlich nur dem verständlich ist, der zuvor Hosea und Amos gelesen hat. Möglicherweise spiegelt sich hier überhaupt eine ursprüngliche Anordnung der Schriftenfolge im entstehenden Zwölfprophetenbuch wider. Dass die Jonaschrift in der Anordnung von G erst nach Micha (und Joël) folgt, mag wiederum der Chronologie der Königsbücher geschuldet sein. So erwähnt 1 Kön 22,8 einen Micha ben Jimla, der zur Zeit des israelitischen Königs Ahab und des judäischen Königs Joschafat auftrat. Diesen aber scheint die griechische Fassung der Michaschrift mit jenem Propheten Micha aus Moreschet des 8. Jh. v. Chr. in Zusammenhang zu bringen, der folglich vor Jona ben Amittai wirkte. Dass es diese Verwechslung gab, darauf weist 1 Kön 22,28 selbst hin, wo sich der Höraufruf an die Völker aus Mi 1,2 im Mund des Micha ben Jimla findet. Außerdem scheint Mi 2,11G durch die Erwähnung eines Geistes, der Lüge erstehen lässt, auf 1 Kön 22,22 anzuspielen (s. u.). Schließlich und endlich steht die Jonaschrift auch der in G folgenden Nahumschrift aufgrund des Themas „Ninive“ nahe, sodass sich eine Parallelisierung beider Schriften nahelegte, vielleicht mit dem Ziel, jene sehr völkerfreundliche Sicht der Jonaschrift, veranschaulicht anhand der Verschonung Ninives, durch das dann doch erfolgte Gericht Jhwhs über Ninive zu relativieren.

Sei es nun in der Anordnung der hebräischen oder der griechischen Bibel, in jedem Fall führt die Michaschrift jenes in Hosea und Amos hereingebrochene Gericht über das Nordreich weiter, welches nun auch das Südreich erreicht und nach der Zerstörung der Nordreichsheiligtümer mit der Verwüstung des Zions endet (Mi 3,12). Dieser steht jedoch mit Mi 4,1–3 eine Erneuerung des Zions gegenüber, der nicht nur das wichtige einstige Nordreichsheiligtum Bet-El ersetzt, sondern auch zum neuen Sinai wird, von dem Weisung auch für die Völkerwelt ausgeht (s. u.). Die Michaschrift bildet so im Zwölfprophetenbuch sowohl einen vorläufigen Endpunkt des Gerichtsdramas Jhwhs mit seinem Volk, als auch einen Wendepunkt und Neubeginn des Heilshandelns Jhwhs, das gleichzeitig der Völkerwelt offensteht. Die folgenden Schriften sind denn auch unter dieser theologischen Prämisse zu lesen und zu verstehen, wenn sie sich entweder mit dem finalen Völkergericht (Nahum, Habakuk, Zefanja) oder der Erneuerung der Jhwh-Gemeinde in Jerusalem (Haggai, Sacharja, Maleachi) sowie dem von dort ausgehenden Heil beschäftigen. Insofern bildet die Michaschrift eine Art Mitte und Knotenpunkt im Dodekapropheton.

Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus

Gliederung der Michaschrift nach formalen KriterienEin Überblick zur Michaschrift lässt verschiedene Marker erkennen, die als Anhaltspunkte einer Gliederung dienen können.14 Dazu zählt der Höraufruf an die Völker in Mi 1,2, der ein Pendant in Mi 5,14 in der Erwähnung der Völker findet, die nicht gehorchen. Nachdem in Mi 6,1 ein weiterer Höraufruf, diesmal jedoch ohne konkreten Adressaten erfolgt, könnte man dementsprechend die Michaschrift in zwei Abschnitte einteilen: 1. Mi 1,2–5,14 und 2. Mi 6,1–7,20. Inhaltlich geht es in beiden Teilen um Verfehlungen, Gericht und Erneuerung Zions, die sich mit einem unterschiedlichen Geschick der Völker – Gericht durch oder Umkehr zu Jhwh – verbinden.

Eine weitere Gliederung ergibt sich, wenn man die Höraufrufe in Mi 3,1 (und 3,9) miteinbezieht. Dann lässt sich die Michaschrift in drei Teile untergliedern: 1. Mi 1,2–2,13; 2. Mi 3,1-5,14 und 3. Mi 6,1–7,20.

Gliederung der Michaschrift nach inhaltlichen KriterienBerücksichtigt man vor allem die inhaltliche Ebene, so ergeben sich weitere Möglichkeiten die Michaschrift zu gliedern. So fällt auf, dass sich jeweils an Gerichtsworte Heilsworte anschließen. Somit ergibt sich eine Dreiteilung der Michaschrift: 1. Mi 1,2 – 2,11 Unheil / Mi 2,12f. Heil; 2. Mi 3,1–12 Unheil / Mi 4,1 – 5,14 Heil und Mi 6,1–16; 7,1-7 Unheil / Mi 7,8-20 Heil. Auch die mehrfach (3x) anklingende Restvorstellung könnte ein Gliederungsmerkmal sein. So ist in Mi 2,12; Mi 4,6 und Mi 7,18 vom „Rest“ die Rede, der sich als Keimzelle künftigen Heils erweist.

Schließlich könnte man auch den auffälligen Wechsel in Mi 3,12 zu Mi 4,1 von der Verwüstung des Zion zu seiner Erhebung als Mittelpunkt der Welt als zentrale Scheidelinie in der Michaschrift (wie überhaupt im Zwölfprophetenbuch, vgl. die Notierung der Masoreten am Ende von Mi 3,12) verstehen, und zwar im Sinne eines Übergangs vom Unheil zu endgültigem Heil.

Diese unterschiedlichen Möglichkeiten, die Michaschrift zu gliedern, weisen darauf hin, dass sie wohl nicht in einem Guss entstanden ist, sondern an ihrer Formung verschiedene Hände beteiligt waren. Dabei müssen sich bestimmte Gliederungen, wie z. B. die Abfolge von Unheil und Heil und jene Rahmung, durch den Aufruf der Völker nicht notwendiger Weise ausschließen, sondern können verschiedene Aspekte, z. B. die Heilsperspektive Zion/Israels und das damit verbundene, jedoch differenzierte Schicksal der Völker zum Ausdruck bringen.

Inhaltlicher DuktusVom inhaltlichen Duktus her ergibt sich etwa folgende Linie.

Mi 1,2-16 schildern eine Theophanie Jhwhs, die entsprechend der Überschrift in Mi 1,1 Samaria betrifft, dabei jedoch auch auf Juda und Jerusalem überzugreifen droht (vgl. Mi 1,9.12).

Mi 2,1–11 benennt in einem ersten Durchgang das dafür verantwortliche sündhafte Treiben der Oberschicht, die sich nicht nur am Besitz der ihnen ausgelieferten Landbevölkerung vergreift, sondern sich jegliche prophetische Kritik an ihrem Treiben verbietet und auf die scheinbar bedingungslose Heilszusage Jhwhs vertraut. Solche Heilspropheten jedoch werden von Micha als Verführer des Volkes bezeichnet, welches sich obendrein offensichtlich gerne verführen lässt.

Die erste Heilsverheißung in Mi 2,12f. knüpft an das als Ankündigung der Exilierung verstandene Drohwort in Mi 2,10 an und verheißt einem Rest die Heimkehr unter Rückgriff auf das einstige Heilshandeln Jhwhs im Kontext des Exodus.

Mi 3,1–12 verschärft die Anklagen des Propheten und das daraus resultierende Gericht Jhwhs. Die Übeltäter aus Mi 2 nehmen nun den von ihnen Ausgebeuteten nicht nur ihr Eigentum, sondern auch die Existenz. Propheten reden dem Volk nicht nur nach dem Mund, sondern nutzen ihr Prophetenamt zur Selbstbereicherung bzw. zum Schaden derer, die ihnen nicht zu Willen sind. Das Gerichtshandeln Jhwhs setzt zunächst bei diesen Falschpropheten an, von denen sich Micha dezidiert als wahrer Jhwh-Prophet absetzt. Das völlig korrupte Handeln der Oberschicht Judas, das Zion entweiht, führt zur Verwüstung des Zionberges.

Stellt Mi 2,12f. dem als Androhung des Exils verstandenen Drohwort in Mi 2,10 eine Heilsweissagung gegenüber, so Mi 4,1–4 der Verwüstung des Zions in Mi 3,12 die Erhebung des Zions als Zentrum der Völkerwelt. An sie schließt sich in Mi 4,6–8 ebenfalls eine Heilsverheißung hinsichtlich einer Sammlung und Restituierung des Restes Jakobs sowie des dauerhaften Königtums Jhwhs an.

Dieser steht in Mi 4,9–14 zunächst die notvolle Gegenwart Zions gegenüber, welches vor allem unter der Abwesenheit eines Königs bzw. der Königsherrschaft und der Bedrängnis durch die Völker leidet.

Mi 5 verbindet die Rückkehr der Königsherrschaft in verschiedenen Formen (Erneuerung des individuellen Königtums in Mi 5,1–3, Königtum des Restes Jakobs inmitten der Völker in Mi 5,6f.) mit einem finalen Reinigungsgericht Zions in Mi 5,9-13 und dem Gericht über die nicht hörbereiten Völker in Mi 5,14.

Mi 6 konfrontiert Jhwhs Heilstaten in der Vergangenheit (Mi 6,1–5) mit Israels Fehlverhalten (Mi 6,9–16) und formuliert Jhwhs Erwartungen an jeden einzelnen, in Israel und den Völkern (Mi 6,6–8).

In Mi 7,1–17 schließlich bildet das vom Propheten angesichts des allgemeinen gesellschaftlichen Chaos beispielhaft zum Ausdruck gebrachte Vertrauen auf Jhwh den Ausgangspunkt. Dessen Übernahme durch Zion, welches zugleich seine Schuld eingesteht, führt zum Untergang seiner Feindin bzw. die Bekehrung der Völker zu Jhwh.

Die Michaschrift endet in Mi 7,18–20 in einem hymnischen Abschluss, der die Treue und die Vergebungsbereitschaft Jhwhs betont und somit das Drama der Michaschrift zu einem guten Ende führt.

Tatsächlich gibt es in der neueren Forschung Tendenzen, dramatische Elemente in der Michaschrift aufzuzeigen.15 Dabei sollte man nach dem bisher Gesagten die Michaschrift nicht als eine singuläre Größe betrachten, sondern sowohl als vorläufigen Abschluss und Höhepunkt der vorausgehenden Hosea- und Amosschrift verstehen, als auch als prägende Durchgangsstation zu den folgenden Schriften im Zwölfprophetenbuch. So handelt es sich insgesamt – buchübergreifend betrachtet – bei der Michaschrift um einen wichtigen Teil des großen Dramas um Zion, Israel und die Völker.16

Diachrone Analyse

Zur Entstehung der Michaschrift

Ein Durchgang durch die Michaschrift offenbart eine ganze Reihe von Brüchen und inhaltlichen Ungereimtheiten. Ein klassisches Beispiel dafür ist Mi 2,12f., das in der Forschungsgeschichte, aber auch in der Interpretation von G ganz unterschiedlich verstanden wurde und wird. So schwanken die Interpretationen zwischen einem Heilswort aus dem Mund Michas oder, in Absetzung zu seiner vorausgehenden Drohbotschaft in Mi 2,8–10, einem Heilswort aus dem Mund seiner Gegner, die dem Volk entsprechend Mi 3,11 nach dem Munde reden, oder aber, nun in Fortführung der Gerichtsverkündigung Michas, als Drohwort. Je nach Auffassung kann man deshalb in Mi 2,12f. entweder einen integralen Bestandteil der ursprünglichen Botschaft des Propheten sehen oder aber eine spätere Ergänzung. Auch die aufgewiesenen unterschiedlichen Möglichkeiten, die Michaschrift zu gliedern, weisen auf eine Literaturgeschichte des Buches hin, die wohl über mehrere Stationen verlief. Da in den einzelnen Abschnitten dieses Kommentars eine differenzierte Literar- und Redaktionskritik vorgenommen wird, genügt es hier, die Grundzüge der Entstehung der Michaschrift nachzuzeichnen. Eine wichtige Erkenntnis in der Forschungsgeschichte ist die Einsicht, dass die Michaschrift eine Reihe von Texten enthält, die aufgrund ihrer Motivik und Semantik Züge aufweisen, die sie mit exilischen und nachexilischen Texten verbindet. Aufgrund solcher Beobachtungen meinte Stade, dass authentische Texte, die dem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können, ausschließlich in Mi 1–3 anzutreffen sind (s. o.). Eine Begründung dieser Sicht scheint Mi 3,12 zu liefern, wo Micha fraglos als Gerichtsprophet charakterisiert wird und was durch Jeremia als vorgeblich authentisches Zitat in Jer 26,18 zitiert wird. Bei Mi 4 und 5 handelt es sich demgegenüber um exilisch-nachexilische Ergänzungen, die in Korrespondenz zu Texten des Jesajabuches stehen. Mi 6–7 schließlich wurden als eine eigenständige, möglicherweise ursprünglich von der Michaschrift unabhängige Größe betrachtet, die gelegentlich einem aus dem Nordreich stammenden „Deutero-Micha“ zugeschrieben wurde.

Bei genauer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass Mi 1–3 in großen Teilen bereits die Lektüre der Hosea- und der Amosschrift voraussetzen. Zudem ist die Trennung zwischen Mi 3,12 und Mi 4,1–3 nicht so radikal, wie man zunächst vielleicht meinen möchte. Rückgriffe auf Hosea und Amos finden sich auch in Mi 4/ 5 und in Mi 6/7. Umgekehrt findet sich jesajanische Theologie nicht nur in Mi 4 und 5, sondern auch in Mi 1–3 und Mi 7. In Mi 1–3 verbinden sie sich zudem unlöslich mit Rückgriffen auf Hosea und Amos. Schließlich weisen, wie bereits gesagt, Mi 1 und Mi 7 eine Reihe von Korrespondenzen mit der vorausgehenden Jonaschrift und der nachfolgenden Nahumschrift auf. Einzig Mi 1,8.10–16* bildet eine sehr eigenständige Größe in der Michaschrift und zeigt keinerlei Kontakte mit den oder Kenntnis der genannten Schriften. Nimmt man nun diese Kontakte als Grundlage eines redaktionsgeschichtlichen Modells, dann ergibt sich etwa folgende Linie.

Stufe 1: Ausgangspunkt der Michaschrift: Das Städtegedicht

Ausgangspunkt der Michaschrift scheinen einzelne Worte des Micha gewesen zu sein. Diese liegen vor allem in dem Städtegedicht Mi 1,8.10–16* vor, welches offenbar eine assyrische Attacke auf Städte des Hügellandes beschreibt und ihr Ziel in Jerusalem findet. Entfernte formale und inhaltliche Ähnlichkeit besteht dabei allenfalls mit Jes 10,28–34. Außerdem scheinen einige sozialkritische Worte, insbesondere in Mi 2 und 3, auf den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zurückzugehen, die aber in ihrer heutigen Form entweder völlig in ihren Kontext eingearbeitet und mit Bezügen zu Hosea und Amos ergänzt und/oder mit ähnlichen Worten des Jesaja verbunden wurden. Diese wenigen Fragmente geben zur Annahme Anlass, dass es eine Michaschrift im eigentlichen Sinn des Wortes aus der Zeit des 8. Jh. v. Chr. nicht gab, sondern neben dem Städtegedicht lediglich einige mehr oder weniger kurze Sentenzen des historischen Micha überliefert wurden.

Stufe 2: Die Entstehung der Michaschrift im Kontext eines Mehrprophetenbuches

Eine Michaschrift als Grundlage der heutigen Michaschrift entstand m. E. von vornherein im Kontext der Hosea- und Amosschrift mit dem Ziel, jene Gerichtsbotschaft auch auf das Südreich zu übertragen, es aber nicht dabei zu belassen, sondern zugleich eine Heilsperspektive für den Zion zu entfalten. Gleichzeitig wird Micha, ausgehend von seiner Datierung ins 8. Jh. v. Chr., als zeitgenössischer Kollege Jesajas wahrgenommen und stilisiert. Das wiederum bedeutet, dass niemals eine Michaschrift ohne Mi 4,1–3.4 und dem damit über Jes 2,2–5.6f. in Zusammenhang stehenden Text Mi 5,9–13 existierte. Da Mi 6,1–16 ebenfalls jenen Bezug zu Hosea und Amos und die Übernahme von Sünden des Nordreiches im Südreich entsprechend Mi 1,9 bezeugt, gehören wohl auch diese Kapitel zum ursprünglichen Bestand jener Michaschrift. Diese hatte ursprünglich wohl folgenden Umfang: Mi 1,1.3–16*; 2,1–11*; 3,1–12; 4–5*; 6,1–16.

Eine singuläre Bearbeitung in Mi 4,8; 5,1–3 widmet sich in Anknüpfung an Mi 4,4 dem Thema „Königtum“ und erwartet dabei eine menschliche Gestalt, die als Vikar der Königsherrschaft Jhwhs fungiert.

Stufe 3: Die Michaschrift zwischen der Jona- und Nahumschrift

Eine weitere umfassende Fortschreibung bezieht die Michaschrift auf die Jona- und Nahumschrift, spricht von der Rückkehr der Diaspora und beschreibt das künftige Verhältnis zu den Völkern in Königsterminologie, sodass nun der Rest Jakobs in kollektiver Form den Platz jenes Herrschers in Mi 5,1 einnimmt (vgl. Mi 5,6f.). Ein Gericht über die Völker, die nicht gehorchen in Mi 5,14 verbindet sich dabei mit einer Bekehrung der Völker und dem Untergang der Feindin Zions. Damit wiederum ist das Thema der folgenden Nahumschrift vorbereitet, während die Thematik der Jonaschrift nicht nur in der Bekehrung der Völker in Mi 7,17, sondern auch im Versenken der Sünden des Restes Jakobs in den Tiefen des Meeres anstelle des Propheten ihr Ziel findet. Zu dieser Fortschreibungsschicht zählen Mi 1,2; Mi 2,12f.; Mi 4,6f.; Mi 4,9–13*; Mi 5,6f.8.14 und Mi 7,1–20.

Die drei hier in aller Kürze skizzierten Stufen schließen selbstverständlich punktuelle Ergänzungen und Fortschreibungen der Michaschrift nicht aus.

Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift

Zunächst ist eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr., auf den entsprechend der Überschrift die Michaschrift zurückgeführt wird, und der Gestalt und Verkündigung des Propheten, wie sie sich aus den Texten der heutigen kanonischen Michaschrift ergibt, vorzunehmen. Diese ist, wie gezeigt, das Ergebnis eines längeren Fortschreibungs- und Interpretationsprozesses, der im Grunde sein Ende erst mit der Vollendung des Zwölfprophetenbuches und seiner Kanonisierung in der hebräischen Bibel gefunden, ja sogar noch eine Fortsetzung in den antiken Übersetzungen der Septuaginta und Peshitta erfahren hat. Beide kann man nicht einfach als Übersetzungen im modernen Sinn verstehen, sondern sie verbinden den Übersetzungsprozess mit ihrer je eigenen interpretatorischen Sichtweise. Insofern lassen die verschiedenen Gestalten der Michaschrift nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Verkündigung jenes Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zu.

Zeitraum der Verkündigung des MichaDer dort angegebene Zeitraum der Verkündigung des Micha umfasst ungefähr die Zeit zwischen 744 und 696 v. Chr., also beinahe fünfzig Jahre. Da überdies diese Angabe aus theologischen Gründen mit dem Verkündigungszeitraum des Amos korreliert und außerdem u. a. aufgrund ihrer Anlehnung an dtr. Chronologie und Formulierungen wohl eher spät entstanden ist, ist ihr nur wenig historische Tragfähigkeit zuzuschreiben. Sie lässt allenfalls die Aussage zu, dass ein Prophet Micha irgendwann im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. aufgetreten ist, und dass dieser Prophet aus dem südwestlichen, dem judäischen Gebirge vorgelagerten Hügelland stammt, welches durch die zweitgrößte judäische Festungsstadt Lachisch dominiert wurde. Die Nähe zur Küstenebene und der dort verlaufenden wichtigen Militär- und Handelsstraße zwischen Ägypten und dem Zweistromland brachten es mit sich, dass diese Gegend von der damaligen Expansion des assyrischen Reiches erheblich früher und umfangreicher tangiert wurde als Jerusalem, die in größerer Abgeschiedenheit gelegene Königshauptstadt des Südreiches Juda.

Politische SituationSo scheint die Städteliste in Mi 1,9–16* auf eine militärische Aktion Assurs hinzudeuten, die sich gegen den Südreichkönig Hiskija richtete, der nach Auskunft sowohl biblischer wie zeitgenössischer Quellen (vgl. Sanherib-Prisma) eine Lösung aus dem offenbar bereits von seinem Vorgänger Ahas eingegangenen Vasallenverhältnis des assyrischen Königs anstrebte (vgl. 2 Kön 16,7). In diesem Zusammenhang wurden offensichtlich eine Reihe südjudäischer Städte und Ortschaften, nicht zuletzt Lachisch, in erhebliche Mitleidenschaft gezogen. Dabei mündete dieser Feldzug in die Belagerung Jerusalems, dem aus historisch nicht mehr sicher zu rekonstruierenden Umständen eine Eroberung erspart blieb (vgl. 2 Kön 18,13 – 19,37). Wieweit bereits Micha selbst mit einer Bedrohung Jerusalems rechnete oder nur die aktuelle assyrische Aktion beschreibt und diese später unter dem Eindruck der Ereignisse bis in die babylonische Zeit hinein ergänzt wurde, bleibt offen.

SozialkritikDarüber hinaus scheint sich der Micha des 8. Jh. v. Chr. als sozialkritischer Prophet profiliert zu haben, indem er die soziale Schieflage im Südreich kritisierte, bei der offensichtlich die vormals freie Landbevölkerung durch die Machenschaften einer skrupellosen Oberschicht in Verelendung und Schuldsklaverei getrieben wurde. Auch hier scheinen die Texte Ergänzungen und Neuinterpretationen erfahren zu haben, die ihre Aktualität auch für spätere Zeiten und geänderte Situationen bis in die nachexilische Zeit hinein sicherte. Dies gilt nicht zuletzt hinsichtlich der theologischen Aufarbeitung der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Rahmen der babylonischen Expansion und der anschließenden Exilierung erheblicher Teile der Oberschicht Judas und Jerusalems 586 v. Chr. Hier werden nun die vorexilischen Propheten als Künder von Jhwhs Gericht verstanden, welches die ungerechten Verhältnisse im Nord- und Südreich provoziert habe. Die nur sehr fragmentarisch erhaltene Verkündigung des vorexilischen Micha wird dabei eingebunden in ein umfangreiches Gerichtsgeschehen, das den Untergang Samarias und die Verwüstung Zions reflektierte. Letztere jedoch wird zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Erneuerung, die ausgehend von der Heilsverkündigung Deuterojesajas in der persischen Zeit erwartet wurde. So dürften große Teile der heutigen Michaschrift in dieser Zeit komponiert worden sein. Den Abschluss bildete eine Ergänzung, die wohl bereits in die hellenistische Zeit hineinreicht und dabei insbesondere das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern reflektiert. Micha wird nun zum Künder einer Scheidung in der Völkerwelt, bei der den Völkern, die gehorchen, Heil, den ungehorsamen hingegen Untergang angedroht wird. Hier scheint die Prophetie des Micha an andere prophetische Schriften des entstehenden Zwölfprophetenbuches, insbesondere an Sacharja, angenähert worden zu sein. Dies könnte nicht zuletzt im Rahmen der Endredaktionen des Zwölfprophetenbuches geschehen sein, die dabei Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Prozessen im Jesajabuch aufweisen (vgl. Mi 7 und Jes 12,1–6). So spiegelt die Michaschrift eine theologiegeschichtliche Entwicklung wider, die ihren Ausgangspunkt in prophetischen Worten eines historisch nur schwer fassbaren Propheten des 8. Jh. v. Chr. hatte und sich im Rahmen der Entwicklung des Zwölfprophetenbuches bis in die hellenistische Zeit erstreckte. Dabei verliert die prophetische Einzelgestalt immer mehr an Eigenprofil und wird Künder des einen Wortes Jhwhs in eine bestimmte Zeit hinein. Tatsächlich tritt in dieser Weise die Michaschrift eine „Reise in die Zeit“ an, die sich wohl ziemlich von Anfang an als eine Art „Gesellschaftsreise“ eines Mehr- und später eines Zwölfprophetenbuches gestaltete.

Synthese

Theologische Schwerpunkte

Folgende theologische Themen spielen in der Michaschrift eine herausragende Rolle.

SozialkritikWie die Hosea- und Amosschrift weist auch die Michaschrift eine ganze Reihe sozialkritischer Texte auf. Im Fokus der Kritik stehen Angehörige der Oberschicht, die die vormals freie Landbevölkerung ausbeuten, sich deren Äcker und ihren Besitz aneignen und ihre Familien aus ihren Häusern vertreiben. Als Hintergrund lässt sich hier wohl das antike Schuldrecht erkennen, das im Falle einer Überschuldung einen Zugriff auf Besitz, Person und Angehörige des Schuldners gewährte. Die Michaschrift veranschaulicht auf diese Weise, dass die sozialen Vergehen der Oberschicht, die insbesondere die Amosschrift im Hinblick auf die Verhältnisse des Nordreiches kritisiert, nun auch das Südreich erreicht hat, wofür überdies Jesaja ein zweiter Zeuge ist.

Theologische Aufarbeitung der Zerstörung Jerusalems und des ExilsWie in der Amosschrift, so dienen auch hier die sozialen Vergehen als Begründung für den Verlust des Landes, der Exilierung und schließlich Zerstörung des Heiligtums, welches nicht mehr länger als Tempel Jhwhs dient. Jhwh erweist sich somit als ein Gott, der unbedingte Gerechtigkeit fordert und dessen Verehrung nicht von der Schaffung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse getrennt werden kann.

Zion als zentrales Heiligtum und neuer SinaiEin weiterer theologischer Schwerpunkt liegt in der in der Michaschrift entfalteten Zionstheologie. Sie zeigt, dass die hier tätigen Theologen in den Traditionen des Südreiches beheimatet sind. Gegenüber den Nordreichsheiligtümern, die offenbar als illegitim angesehen werden, erlebt der Zion durch das Gericht hindurch eine Reinigung, die ihn nicht nur das ehemalige Nordreichsheiligtum Bet-El ersetzen lässt und zum neuen Sinai macht, sondern gleichzeitig zum Mittelpunkt der Welt, zu dem die Völker wallfahrten. Ohne Zweifel wird dadurch Jhwh nicht nur zum einzigen Gott Israels, sondern auch der Völkerwelt, sodass sich hier – zumindest zwischen den Zeilen – monotheistisches Gedankengut niederschlägt. Sämtliche Feinde des Zions und damit des Gottes Israels müssen untergehen, wer sich hingegen am Zion orientiert, wird der Segnungen des Gottes Israels zuteil.

Heil und Unheil für die VölkerMit der Zionstheologie verbindet sich eine Völkertheologie, die nicht nur das Verhältnis der Völker zu Israel, sondern auch das künftige Geschick der Völker reflektiert. Dieses entscheidet sich an ihrer Haltung dem Zion gegenüber. Gleichzeitig wird der Rest Jakobs inmitten der Völker seine Königsherrschaft zum Heil- oder Unheil der Völker ausüben. Beide Aspekte stellen somit – im Zentrum des Zwölfprophetenbuches angesiedelt – eine zentrale Aussage dar. Tatsächlich spielen beide Themen, oft unlösbar miteinander verknüpft, eine wichtige Rolle in den folgenden Schriften des Zwölfprophetenbuches.

Ethische Individualisierung und UniversalisierungMit dem Völkerthema verbindet sich außerdem eine Art Universalisierung und Individualisierung ethischen Handelns, wenn sich viele Völker an der vom Zion ausgehenden Weisung Jhwhs orientieren bzw. in Mi 6,8 die seitens Gottes von allen und jedem erwartete Lebenshaltung formuliert wird.

Königtum in IsraelSchließlich spielt in der Michaschrift das Thema „Königtum“ eine wichtige Rolle. Dieses wird interessanterweise nicht in einer ganz bestimmten Weise definiert, sondern changiert zwischen dem Königtum Jhwhs, dem Königtum Zions, der Erweckung einer individuellen Königsgestalt in Anklang an die David- und Salomotradition und schließlich dem Rest Jakobs, der mit königlichen Attributen versehen wird. Im Unterschied zu älteren Traditionen scheint damit die Konzeption des Königtums nicht in Alternativen, sondern komplementär gedacht: Das Königtum Jhwhs – und daran anteilhabend das Zions – ist Ausdruck universaler Herrschaft, das Königtum des von Jhwh Erweckten dient der Befreiung und dem Schutz Israels, das Königtum Israels wiederum kann sich zum Wohl und Wehe der Völker auswirken.

Rezeptionen der Michaschrift im Neuen Testament

Im Neuen Testament liegen an 21 Textstellen Bezugnahmen auf die Michaschrift vor.17 In der Mehrzahl handelt es sich dabei um Anspielungen, bei denen ein Teil, wie im Fall von Joh 7,42, den michanischen Bezugstext Mi 5,1 weitgehend seinem ursprünglichen Sinn entsprechend aufgreift, zum Großteil jedoch dienen die michanischen Texte lediglich als sprachlicher Raum, in dem formuliert wird (so etwa im Magnifikat Lk 1,74 unter Bezug auf Mi 4,10). An drei bzw. vier neutestamentlichen Stellen finden sich allerdings direkte Zitate aus der Michaschrift: Mt 10,(21).35f.; Lk 12,53 (Mi 7,6) und Mt 2,6 (Mi 5,1). Dabei wird lediglich in dem zuletzt genannten Text das Zitat ausdrücklich „dem Propheten“ διὰ τοῦ προφήτου zugeschrieben, ohne diesen jedoch direkt beim Namen zu nennen. Auch hier zeigt sich wiederum jene bereits erwähnte Tendenz, alttestamentliche Prophetie ein Stück weit zu entindividualisieren und als eine Botschaft zu verstehen. Mit der Aufnahme dieses Zitates wird in der Geburt Christi die Erfüllung dieser prophetischen Verheißung gesehen, wenngleich sich im Munde der sie zitierenden Schriftgelehrten keine Erfüllungsformel findet. Dies deutet auf eine antijüdische Spitze hin: „Die jüdischen Schriftgelehrten erkennen, daß es um den erwarteten messianischen Hirten des Gottesvolkes Israel geht, ziehen aber daraus keine Konsequenzen,…“.18 Während in der jüdischen Rezeption die Spaltungen, von denen Mi 7,6 spricht auf die Zeit vor dem Kommen des Messias bezogen wurden, werden sie in Mt 10,35f. „mit dem Kommen Christi verbunden: Gerade die Sendung Christi wird die Schrecken der Endzeit bringen“.19 Im Unterschied zu Matthäus, der das Michazitat wörtlich übernimmt, lässt sich Lk 12,53 davon lediglich inspirieren, insofern sich hier die Alten und die Jungen wechselseitig gegeneinander erheben, und ordnet diese Auseinandersetzung den Plagen der letzten Zeit zu. Damit aber wird hier ein Topos aufgenommen, der sich auch in der jüdischen Apokalyptik findet. Die Aufnahme dieses Topos durch Jesus und die christlichen Gemeinden wiederum erklärt Bovon mit dem Bruch, den die durch seine Botschaft bewirkte Etablierung einer neuen Gemeinschaft hinsichtlich der persönlichen, kultischen und patriotischen Vergangenheit bewirkte.20 Er fand seine Fortsetzung in den ersten christlichen Textzeugnissen, die ein Echo auf die Entzweiung der Familien enthalten.

Auffällig ist in jedem Fall, dass die Sozialkritik Michas, die einen erheblichen Teil seiner Schrift durchzieht, keine neutestamentliche Rezeption gefunden hat. Gerade diese aber dürfte wohl für einen modernen Leser der Michaschrift deren entscheidende Botschaft bilden, welche angesichts der vielfältigen, zum Teil systemisch gewordenen ausbeuterischen Strukturen unserer Welt und die damit einhergehende Marginalisierung eines großen Teils der Weltbevölkerung nichts von ihrer Aktualität verloren hat. In Fortführung der neutestamentlichen Rezeption wird bei den Kirchenvätern die Michaschrift vor allem als eine christliche Schrift wahrgenommen und dementsprechend interpretiert.21

Mi 1,1–7: Das Kommen Jhwhs zum Gericht

1,1 Das Wort Jhwhs,

welches an Micha, den Moreschiten erginga,

in den Tagen von Jotam, Ahaz und Hiskija, den Königen von Juda,

dasb er schaute über Samaria und Jerusalem.

2 Hört ihr Völker, ihre Gesamtheita!

Höre aufmerksam zu, Erde, und was sie erfüllt!

Und es sei der Herr Jhwh gegen euchb Zeuge,

der Herr von seinem heiligen Tempelc her.

3 Denn siehe: Jhwh zieht aus von seinem Ort

und er steigt hinab und tritt auf die Höhen der Erde,

4 und es zerschmelzen die Bergea unter ihm,

und die Täler spalten sicha,

wie Wachs vor dem Feuer,

wie Wasser hingegossen am Abhang.

5 Wegen des Verbrechens Jakobs (geschieht) all dieses,

und wegen der Sünden des Hauses Israels.

Wera ist das Verbrechen Jakobs?

Ist es nicht Samaria?

Und wer sind die Höhen Judasb?

Ist es nicht Jerusalem?

6 Und ich werde Samaria

zu Trümmern des Feldes machen,

für Weinbergspflanzungena,

und ich werde seine Steine zu Tal stürzen,

und seine Fundamente entblößen.

7 Und alle seine Götzenbilder werden zerschlagena,

und alle seine Geschenke werden im Feuer verbrannta

und alle seine Götterbilder werde ich zur Öde machen,

denn mit Hurenlohn sammelteb sie (scil. Samaria),

und zu Hurenlohn werden sie zurückkehren.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

1a G nimmt Mi 1,1 den Überschriftscharakter, indem sie den Vers in einen narrativen Kontext einbindet: „Und es erging…“ καὶ ἐγένετο; vgl. Jona 1,1G.

1b Der Bezugszusammenhang der zweiten Relativpartikel אשׁר hängt vom Verständnis des folgenden „schauen“ ab. G versteht die Wurzel absolut und bezieht sie auf die vorher genannten Könige: „über die er schaute bezüglich Samaria und Jerusalem“. Die Vergleichsstelle Jes 2,1 legt jedoch ein Verständnis nahe, das sich auf ein vorausgehendes Objekt „Wort“ bezieht (vgl. V).

2a Die Anrede der Völker steht in Spannung zu „ihre Gesamtheit“ (S: „eure Gesamtheit“, vgl. dagegen 2 Chr 18,27). Möglicherweise liegt ein „stylistic device“1 vor, mit dem Ziel, einerseits die Völker anzusprechen, andererseits zugleich den Blick auf den eigentlichen Adressaten zu lenken. Mit diesen sind nämlich jene gemeint, die in der Jerusalemer Gemeinde das Wort hören, sodass dann über die Völker gesprochen wird.

2b Wenn G mit „bei euch“ ἐν ὑμῖν übersetzt, so gibt Jhwh seinem Zeugnis eine universale Hörerschaft. Num 5,13, Dtn 19,16 und Spr 24,28 zeigen hingegen, dass עד in einer Konstruktion mit ב im Sinne eines Zeugnisses „gegen“ jemanden zu verstehen ist.2

2c „Heiligen Tempel“ gibt G mit „heiligen Haus“ (ἐξ) οἴκου ἁγίου wieder und stellt damit einen Bezugszusammenhang zu Mi 4,2G her.3

4a G übersetzt in V. 4aα „(die Berge) werden erschüttert“ σαλευθήσεται und in V. 4aβ „(die Täler) schmelzen“ τακήσονται, sodass die beiden Bilder in V. 4b Explikationen von V. 4aβ sind.

5a Auffällig ist die Verwendung der Fragepartikel „Wer“, welche die beiden Städte als personale Größen erscheinen lässt (dagegen 1QpMi/S: „Was?“).

5b G übersetzt „Haus Judas“ οἴκου Ιουδα und stellt damit eine Entsprechung zu „Haus Israel“ in V. 5aβ her.

6a Die verbreitete Übersetzung „zur Pflanzung eines Weinbergs“ scheint nicht sinnvoll, da Weinberge im Alten Testament durchwegs positiv konnotiert sind. Besser ist es wohl, die Präposition ל als Angabe des Zweckes zu verstehen, i.S. von „für Weinbergspflanzungen“.4 G übersetzt mit „Lagerhaus für Früchte des Feldes“ εἰς ὀπωροφυλάκιον ἀγρου (vgl. S) und verwendet damit denselben Begriff, mit dem auch das geschundene Zion in Jes 1,8G und in Mi 3,12G bezeichnet wird.5

7a Die passivischen Formen in V. 7aα.β gibt G aktivisch wieder: „sie zerschlagen“ / „sie verbrennen sie“. Dabei ist als Subjekt wohl an die Samaritaner zu denken, die sich ihrer Götzenbilder entledigen. Vielleicht wird hier ein Bezug zu Mi 4,3 hergestellt6 („Umschmieden“ der Schwerter zu Pflugscharen).

7b T/S vermeiden den Subjektwechsel und setzen קֻבָּצוּ „wurden sie gesammelt“ voraus.

Synchrone Analyse

Kontextbezogenheit

Das Eröffnungskapitel der Michaschrift ist inhaltlich von der Ankündigung eines Jhwh-Gerichtes geprägt, das zunächst Samaria betrifft, dann aber auch Jerusalem bzw. Städte und Ortschaften des Hügellandes Judas erreicht. Zwar ist in den – entsprechend der masoretischen Anordnung im Zwölfprophetenbuch – der Michaschrift vorausgehenden Schriften des Zwölfprophetenbuches bereits da und dort neben der Ankündigung eines Jhwh-Gerichtes über das Nordreich und seine Metropole Samaria auch von einem Gericht über Juda die Rede (vgl. z. B. Am 2,4–5), doch findet sich einzig in der Michaschrift eine ausdrückliche Verbindung beider Thematiken, die schließlich in einen ausführlichen Schuldaufweis und ein Gericht über Zion und seine Bewohner einmündet (Mi 3,12).

Verbindung des Geschicks Samarias und JerusalemsMan könnte demnach vermuten, dass im heutigen Kontext des (hebräischen) Dodekapropheton die Michaschrift das bereits in Hosea und Amos behandelte Samaria-Thema aufnimmt und nun mit der Zions-Thematik verbindet, sodass das Gericht Jhwhs über das Nordreich seine Fortsetzung in einem Gerichtsgeschehen über das Südreich und seine Metropole Zion findet. Diese Verbindung der Samaria- mit der Zions-Thematik spiegelt auch die Überschrift der Michaschrift wider (vgl. Mi 1,1). Gerade diese Überschrift steht außerdem in enger formaler und inhaltlicher Korrespondenz zu den Überschriften der Hosea-, Amos- und Zefanjaschrift und knüpft an deren Chronologie an, insofern sie einen Zeitraum des Auftretens Michas im Anschluss an das Wirken des Amos und parallel zum Wirken Hoseas beschreibt, sodass sich auch von daher die Frage stellt, ob die Michaschrift in ihrer heutigen Form nicht im Kontext, genauer im Duktus, der drei genannten Schriften gelesen werden will und soll.

Entsprechungen zum JesajabuchWeiterhin steht die Michaschrift durch die Zionsthematik (vgl. vor allem Mi 4/ Jes 2) in enger Korrespondenz zum Jesajabuch, was wiederum durch formale und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Überschriften der Michaschrift und des Jesajabuches unterstrichen wird (vgl. Mi 1,1; Jes 1,1 / 2,1). So erscheint Micha entsprechend der Chronologien beider Bücher als jüngerer Zeitgenosse Jesajas. Außerdem fallen inhaltliche Verbindungslinien (z. B. die Prozess-, Sünden-, Gerichtsthematik) zwischen Mi 1 und Jes 1 auf, aber auch die prophetische Zeichenhandlung Michas in V. 8 sticht hervor, die er offenbar in Analogie zu Jesaja in Jes 20,2 vollzieht, sodass sich der Prophet nicht nur aufgrund einer ähnlichen Verkündigung, sondern auch einer analogen Zeichenhandlung als eine Art „zweiter Jesaja“ erweist.

Jhwh-TheophanieSchließlich ergeht das Jhwh-Gericht in Gestalt einer eindrücklich beschriebenen Jhwh-Theophanie, die durch ihre Auswirkungen auf die Natur quasi universale Züge annimmt. Insofern das Gericht über Samaria und Jerusalem somit auch die Völkerwelt betrifft, stellt sich die Frage, ob nicht die Michaschrift durch Mi 1 auch auf die – vor allem in der vorausgehenden Jonaschrift – anklingende Völkergerichtsthematik Bezug nimmt (vgl. Mi 1,2). Dafür spricht nicht zuletzt die Stichwortverbindung „zu deinem heiligen Tempel“ (Jona 2,5) bzw. „von seinem heiligen Tempel“ (Mi 1,2), sodass die in Mi 1 beschriebene Theophanie Jhwhs wie eine Antwort auf Jonas flehentliches Gebet erscheint. Zusammen mit der Rahmung Mi 1,2 und 5,14, welche eine alternative Verhaltensweise der Völker beschreibt, sucht die Michaschrift offensichtlich das in der Jonaschrift formulierte Problem, welches Verhalten der Völker angesichts des sie bedrohenden Gerichtes Jhwhs angemessen ist, zu beantworten.

In Mi 1 klingen eine Reihe von Stichworten und Motiven an, die im Verlauf der Michaschrift wieder aufgenommen werden. Dazu gehört z. B. „Höhen“ (Mi 1,3), die in Parallele zur „Sünde Jakobs“ offenbar als Ausweis der Sünde Judas verstanden werden (Mi 1,5), sodass schließlich in Mi 3,12 der Zionsberg selbst zur überwachsenen „Höhe“ wird. Ebenso werden die Stichworte „Trümmer“ und „Feld“, die die Zerstörung Samarias in Mi 1,6 kennzeichnen, in der Beschreibung der Verwüstung des Zions in Mi 3,12 wieder aufgegriffen. Auch darin spiegelt sich der oben beschriebene Übergang vom Gericht über Samaria zu dem über Jerusalem.

Setzt man die Berechtigung einer solchen synchronen Lesung der Michaschrift im heutigen Kontext des Zwölfprophetenbuches voraus, dann spiegelt sich in der Michaschrift die Fortsetzung des universalen Gerichtes Jhwhs wider, von dem nach Samaria und dem Nordreich Israel auch der Zion nicht verschont bleibt. Allerdings hat der Zion, wie vor allem der zweite Teil der Michaschrift (Mi 4–7) dokumentiert, im Unterschied zu Samaria noch eine große Zukunft vor sich, sodass das Gericht über den Zion letztendlich lediglich zu einem Reinigungsgericht wird. Dieses Gericht verbindet sich mit einer Völkerperspektive, die gleich am Beginn des Kapitels anklingt (Mi 1,2) und die Völker vor die Entscheidung stellt, zu hören und sich dieses Gericht zu Herzen zu nehmen, oder als Verstockte („die nicht hörten“) einem endgültigen Gerichtsschlag zum Opfer zu fallen (vgl. Mi 5,14). Dabei scheint dieses Verständnis der Michaschrift bereits von der Perspektive der Jona- und Nahumschrift geprägt zu sein, zu der, wie noch zu zeigen sein wird, verschiedene Stichwortbeziehungen am Beginn und am Ende der Michaschrift bestehen. Positioniert im heutigen Zentrum des Zwölfprophetenbuches bildet die Michaschrift eine Art „Wasserscheide“, wo sich der grundlegende Umschwung von Gericht zu Heil sowohl für den Zion wie für die Völkerwelt vollzieht.

Textinterne Aussagegestalt

Mi 1,1 gibt treffend das Thema von Mi 1 an, insofern in V. 1c die beiden Städte Samaria und Jerusalem genannt werden, die im Rahmen der Begründung der unheilvollen Theophanie Jhwhs in V. 5 ausdrücklich Erwähnung finden. V 2 eröffnet ein Gerichtsgeschehen und setzt dabei die Anwesenheit von Völkern voraus. Damit aber wird eine universale Perspektive eröffnet, die über den Horizont der Michaschrift hinausreicht (s. o.). AbwärtsbewegungDie Theophanie Jhwhs in Vv. 3f. beschreibt eine Abwärtsbewegung, die ihre Fortsetzung in der Zerstörung Samarias in V. 6 findet, dessen Steine ins Tal geworfen werden (vgl. V. 6b). Insofern rahmen beide Abschnitte Vv. 3f. und Vv. 6f. den Schuldaufweis Samarias und Jerusalems in V. 5. Die beschriebene Abwärtsbewegung findet ihre Fortsetzung in Mi 1,12, demzufolge „Böses zum Tor Jerusalem“ herabkam. V. 5b, in dem es um die Schuld Jerusalems geht, findet – analog dem Verhältnis von V. 5a zum Gericht über Samaria in Vv. 6f. – seine Entsprechung in V. 9, in dem es um die Bedrohung Jerusalems durch das Unheil geht, welches bereits über Samaria hereingebrochen ist.

Einzelauslegung

V. 1: Die ÜberschriftMi 1,1 besteht aus einer Genitivverbindung, die durch zwei Relativsätze expliziert wird. Der erste Relativsatz, der den Rezipienten des Wortes Jhwhs nennt, wird durch eine Zeitangabe „in den Tagen“ ergänzt, wohingegen der zweite Relativsatz das ergangene Wort als „Schauung“ des Propheten definiert und dessen Inhalt näher umschreibt. Dabei fällt im zweiten Relativsatz ein Subjektwechsel auf (von „Wort Jhwh“ zu „Micha“), sodass nun der Prophet vom passiven Empfänger zum aktiven „Seher“ des Wortes Jhwhs wird.

Eine Verbindung der Wortereignisformel (V. 1aα), die den Akzent auf den göttlichen Ursprung der prophetischen Botschaft legt,7 und der durch חזה „schauen“ betonten aktiven Beteiligung des Propheten am Offenbarungsempfang8 findet sich ansonsten in keiner anderen Überschrift prophetischer Bücher.9 Der Subjektwechsel innerhalb der Überschrift und die damit in Verbindung stehenden unterschiedlichen Konzeptionen von Prophetie legen für eine Reihe von Exegeten eine literarkritische Lösung nahe, wonach eine ursprüngliche Überschrift Erweiterungen erfahren habe.10 Unstrittig ist die inzwischen fast konsensuell vertretene Auffassung, dass die Wortereignisformel (Mi 1,1aα), verbunden mit einer Königschronologie (Mi 1,1bα), mit den vergleichbaren Überschriften in Hos 1,1, Am 1,1 und Zef 1,1 in Korrespondenz steht und dementsprechend die Michaschrift nach Auffassung der dafür verantwortlichen Autoren/Redaktoren offenbar in einem größeren Kontext gelesen werden soll (s. o.).11

Korrespondenzen zu Hosea, Amos und JesajaWeniger im Blick ist dabei, dass die Königschronologie in Mi 1,1 auch eine Parallele in Jes 1,1 hat. Dabei ist der einzige inhaltliche Unterschied, dass die Jesajaüberschrift vor dem judäischen König Jotam noch Usija erwähnt, sodass das prophetische Auftreten Jesajas folglich bereits etwas früher als das des Micha datiert wird, wiewohl ansonsten das Wirken beider Propheten zeitlich deckungsgleich ist. Auffällig ist dabei, dass sich in der Überschrift in Jes 1,1 auch jenes Konzept von Mi 1,1bβ wiederfindet, wonach der Prophet als „Schauender“ an der göttlichen Offenbarung aktiv beteiligt ist. Die Verbindung dieses „Schauens“ mit dem „Wort Jhwhs“ verweist außerdem auf Jes 2,1, jene Überschrift, die die Völkerwallfahrt einleitet, welche wiederum in Mi 4,1–3 eine Dublette hat. Außerdem steht in Mi 1,1 das Objekt der Schauung ähnlich wie in Jes 2,1 am Ende der Überschrift (vgl. Mi 1,1bβ/ Jes 2,1b). D. h. die Überschrift der Michaschrift weist sowohl Korrespondenzen zu einem Überschriftensystem im Zwölfprophetenbuch wie zu den die ersten beiden Kapitel des Jesajabuches einleitenden Überschriften (Jes 1,1; 2,1) auf, die sich im Fall der Königschronologie sogar auf beide Seiten – Jesaja und verschiedene Schriften im Zwölfprophetenbuch – beziehen. Im Fall der Wortereignisformel war dabei der Bezug zu Hosea, (Amos, dort sind es „Worte des Amos“) und Zefanja leitend und im Fall des Konzeptes der prophetischen Schau und der davon betroffenen Städte waren die beiden Jesajaüberschriften Orientierungsgrößen.

WortereignisformelDurch die singularische Verwendung von „Wort Jhwhs“ in der so genannten „Wortereignisformel“ wird die von Jhwh herkommende Botschaft als eine geschlossene Größe verstanden, wie wohl der Prophet in verschiedenen Situationen das Wort ergreift. Die verschiedenen einzelnen Wortereignisse werden somit als ein inhaltlicher, literarischer und theologischer Zusammenhang verstanden.12 Insofern auch in anderen prophetischen Überschriften des Zwölfprophetenbuches sowie in Jes 2,113 vom „Wort Jhwhs“ die Rede ist, handelt es sich um die eine, damit auch widerspruchsfreie Botschaft Jhwh