Michel Houellebecqs Elementarteilchen - Text und Film - Björn Pötters - E-Book

Michel Houellebecqs Elementarteilchen - Text und Film E-Book

Björn Pötters

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft, Note: 2, Universität Paderborn (Kulturwissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Michel Houellebecqs Karriere als Schriftsteller fand 1998 (in Deutschland 1999) einen entscheidenden Höhepunkt mit "Elementarteilchen". Seine bis dato produzierten Gedichtbände und sein Erstlings-Roman "Ausweitung der Kampfzone" legten den Grundstein für eine wütende Abrechnung mit der individualistischen und modernen Welt. Literarisch anspruchsvoller und weitaus komplexer als in seinem ersten Roman erzählt Houellebecq die Geschichte zweier Halbbrüder, einer ein beziehungsunfähiger Molekularbiologe, der andere ein destruktiver Literat mit ausgeprägtem Streben nach unmittelbarer Lustbefriedigung. Beide Lebenswege enden in zwischenmenschlichen Katastrophen. Als posthumanistischer Lösungsvorschlag wird ein geklontes, geschlechtsloses und unsterbliches Wesen jenseits von Egoismus und sexuellem Elend erschaffen. Nach zahlreichen Theateradaptionen wurde der Roman zuletzt von Constantin im Jahre 2005 verfilmt. In meiner Arbeit möchte ich Roman und Film gleichermaßen behandeln und analysieren. Da die inhaltliche Komplexität der Textvorlage die Möglichkeiten des Films bei weitem übersteigt, wird der textanalytische Fokus auch auf die filmische Adaption ausgerichtet. Nach einer grundlegenden Analyse der wesentlichen Aspekte des Romans mit literatursoziologischem Schwerpunkt soll der Film rezeptionsästhetisch und im Kontext seiner Vorlage betrachtet werden. Inwieweit hat der Film den Roman umgestaltet und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Einerseits im formal adaptiven Sinne, andererseits gelingt dem Autor und Regisseur Roehler eine Neubesetzung von funktionalen Werten und die Umschreibung einiger Charakterzüge der Protagonisten. Es soll nach der Romananalyse geklärt werden, inwieweit diese Änderungen sich abgrenzen oder ergänzen, welche Auswirkungen das Filmmedium selbst auf die Essenz der Buchvorlage hat und ob die Transformierung mit grundlegend neuen oder modifizierten Wertvorstellungen spielt. Auszug aus dem Inhalt: 1. Einleitung 2. Michel Houellebecq – Leben und Werk 3. Textanalyse "Elementarteilchen" 3.1 Ausweitung der Kampfzone bis ins Elementare 3.2 Analytische Grundlagen 3.2.1 Figuren 3.2.2 Inhalt 3.2.3 Narrativik 3.3 Metaphysische Grundlagen 3.4 Interpretation 3.4.1 Literarische Raum- und Zeitmotive 3.4.2 Michels physikalistisches Weltbild 3.4.3 Brunos Obsessionen 3.4.4 Die posthumanistische Perspektive ...

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel
Kapitel
3.2.1 Figuren
3.2.2 Inhalt
3.2.3 Narrativik
3.4.1 Literarische Raum- und Zeitmotive
3.4.2 Michels physikalistisches Weltbild
3.4.3 Brunos Obsessionen
3.4.4 Die posthumanistische Perspektive
3.5.1 Kopenhagener Deutung
3.5.2 Quantenphysik und Molekularbiologie
3.5.3 Positivismus und Wiener Kreis
3.5.4 Huxley
4. Filmanalyse Elementarteilchen
4.2 Regisseur und Produktionsfirma
4.3 Inhalt und formaler Aufbau
4.4 Interpretation und Vergleiche
4.4.20 Ausflug zum See und Ende
4.5 Intertextualität und Intermedialität im Film
4.6 Die Rezeption des Films
6. Schluss
7. Literaturverzeichnis

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Michel Houellebecqs Elementarteilchen

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Einleitung

1. Einleitung

Michel Houellebecqs Karriere als Schriftsteller fand 1998 (in Deutschland 1999) einen entscheidenden Höhepunkt mitElementarteilchen.Seine bis dato produzierten Gedichtbände und sein Erstlings-RomanAusweitung der Kampfzonelegten den Grundstein für eine wütende Abrechnung mit der individualistischen und modernen Welt. Literarisch anspruchsvoller und weitaus komplexer als in seinem ersten Roman erzählt Houellebecq die Geschichte zweier Halbbrüder, einer ein beziehungsunfähiger Molekularbiologe, der andere ein destruktiver Literat mit ausgeprägtem Streben nach unmittelbarer Lustbefriedigung. Beide Lebenswege enden in zwischen-menschlichen Katastrophen. Als posthumanistischer Lösungsvorschlag wird ein geklontes, geschlechtsloses und unsterbliches Wesen jenseits von Egoismus und sexuellem Elend erschaffen.

Nach zahlreichen Theateradaptionen wurde der Roman zuletzt vonConstantinim Jahre 2005 verfilmt. In meiner Arbeit möchte ich Roman und Film gleichermaßen behandeln und analysieren. Da die inhaltliche Komplexität der Textvorlage die Möglichkeiten des Films bei weitem übersteigt, wird der textanalytische Fokus auch auf die filmische Adaption ausgerichtet. Nach einer grundlegenden Analyse der wesentlichen Aspekte des Romans mit literatursoziologischem Schwerpunkt soll der Film rezeptionsästhetisch und im Kontext seiner Vorlage betrachtet werden. Inwieweit hat der Film den Roman umgestaltet und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Einerseits im formal adaptiven Sinne, andererseits gelingt dem Autor und Regisseur Roehler eine Neubesetzung von funktionalen Werten und die Umschreibung einiger Charakterzüge der Protagonisten. Es soll nach der Romananalyse geklärt werden, inwieweit diese Änderungen sich abgrenzen oder ergänzen, welche Auswirkungen das Filmmedium selbst auf die Essenz der Buchvorlage hat und ob die Transformierung mit grundlegend neuen oder modifizierten Wertvorstellungen spielt.

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M.H. - Leben und Werk

2. Michel Houellebecq - Leben und Werk2

Es ist nicht leicht, verlässliche biographische Informationen über den Autor Houellebecq zu sammeln. Die einzige Biographie wurde von Denis Demonpion verfasst und ist nicht autorisiert. Sie beinhaltet weitgehend Gespräche mit Houellebecqs Freunden, die er alle in Hinblick auf die Interviews als „Verräter“ bezeichnet. Demonpion selbst stellt zwei wichtige Aspekte zum Leben von Houellebecq fest: „Beim Spurenverwischen ist Houellebecq durchaus professionell vorgegangen“ und „er will Herr über sein Bild sein, das nach außen dringt.“3Es ist also anzunehmen, dass seine mediale Präsenz von inszenatorischen Motiven geleitet wird. Im Folgenden nun einige ge-sicherte Fakten zum Leben und Werk, die ohne Bezug auf die vielfältigen mythischen Darstellungen im Internet auskommen sollen.

Houellebecq wurde 1958 auf La Reunion als erstes Kind eines Bergführers und einer Ärztin geboren. Mit sechs wird er zu seiner kommunistischen Großmutter väterlicherseits nach Frankreich abgeschoben. Die Eltern folgen den Selbstverwirklichungsidealen der Hippiebewegung, dessen Thematik er auch in denElementarteilchennachgeht. Nachdem er in Frankreich erfolgreich das Gymnasium als Internatschüler beendet hat, studiert er Agrarwirtschaft und macht 1980 sein Diplom als staatlich geprüfter Agronom. Innerhalb kurzer Zeit heiratet er, zeugt einen Sohn, wird geschieden und ist bald arbeitslos. Während dieser Zeit begibt er sich in psychiatrische Behandlung. Später arbeitet er als Agraringenieur und Informatiker für die Nationalversammlung, dessen Reflexion besonders in seinem ersten RomanAusweitung der KampfzoneAusdruck fand.

Nach der Veröffentlichung von Essays über H.P. Lovekraft (1991), den GedichtbändenLes sens du combat, Rester vivantundLa poursuite du bonheurerschienen die RomaneExtension du domaine de la lutte(Ausweitung der Kampfzone, 1998) undLes Particules élémentaires(Elementarteilchen, 1999) sowie der EssaybandInterventions(Die Welt als Supermarkt, 1999).Elementarteilchengilt als sein

Hauptwerk und machte ihn weltberühmt. Im Erscheinungsjahr 1998 ließ er sich auf unbefristete Zeit beurlauben, heira-tete erneut und lebt nun als freier Schriftsteller

2Informationen aus: Schober, Auf dem Prüfstand und Hegemann, Glück ohne Ende.

3Amazon,http://www.amazon.de/Michel-Houellebecq,(26.1.08).

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M.H. - Leben und Werk

überwiegend in Irland. Im Jahre 2000 veröffentlichte er eine Kurzgeschichte und einen Bildband überLanzarote,wo er auch einen Wohnsitz hat. 2001 erschien sein RomanPlateforme(Plattform) und 2004La Possibilité d'une île(Die Möglichkeit einer Insel).Elementarteilchenwurde an zahlreichen Bühnen als Theaterstück adaptiert und zuletzt von Constantin im Jahre 2005 verfilmt. Die Verfilmung vonDie Möglichkeit einer Inselist in Frankreich in Planung.

Houellebecq ist mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden: Für den ersten Lyrikband mit dem „Tristan-Tzara-Preis“ und für den zweiten Band mit dem „Prix de Flore“. 1998 erhielt er den „Grand Prix National des Lettres Jeunes Talents“ für sein Gesamtwerk und im gleichen Jahr für dieElementarteilchenden angesehenen „Prix Novembre“.

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Textanalyse

3. TextanalyseElementarteilchen

Der Roman löste nach seinem Erscheinen im Jahre 1999 einen Skandal aus. Houellebecq war von da an als Bestsellerautor ein gefragter Mann und reihte sich neben Philosophen, Soziologen, Medientheoretikern und anderen Wissenschaftlern in Diskurse ein, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Pro-blemen auseinandersetzten. Eine Podiumsdiskussion, die als Buch unter dem TitelGlück ohne Ende - Kapitalismus und Depressionerschien, wurde zum Beispiel auf der Grundlage einer Theaterinszenierung vonElementarteilchengeführt. Houellebecq hatte nicht nur für Adaptionsstoff gesorgt, sondern eine ganze Welle an Diskussionen ausgelöst, die bis in die Metaphysik hineinreichten und Philosophen wie Peter Sloterdijk auf den Plan riefen. Aus diesem Grund möchte ich neben der eigentlichen Textanalyse das Phänomen Houellebecq genauer beleuchten, seinen Erstlingsroman miteinbeziehen und die metaphysischen Grundlagen vonElementarteilchenherausarbeiten, um so den Ursachen der Wirkungsweise des Romans nachzuspüren.

Die Interpretation soll weitgehend Inhalte, die auch der Film aufgreift, berücksichtigen. Dennoch wird nicht nur in Hinblick auf den Film gearbeitet. Der Roman steht zunächst in seiner isolierten Dimension als Schriftmedium im Vordergrund und soll schlüssig analysiert werden. Es werden lediglich Passagen, die weder für die Basis-handlung noch für die Charaktere und deren Entwicklung von Bedeutung sind, weniger beachtet; zum Beispiel die Thematik rund um die exzessive Gewalt (SnuffMovies,Satanismus) und die frühe Familiengeschichte. Der posthumanistische Ausblick hingegen wird aufgrund seiner Brisanz erläutert, spielt aber in Hinblick auf die filmische Adaption eine marginale Rolle. Angesichts der geringen Anzahl vorhandener Sekundärliteratur stehen eigene Aspekte, die freilich am Text belegt werden, im Vordergrund. Kurze Handlungsabschnitte des Romans, die der Film explizit adaptiert, werden in der Filmanalyse literaturwissenschaftlich betrachtet, um den Ansprüchen eines Vergleichs gerecht zu werden.

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Ausweitung der Kampfzone bis ins Elementare

3.1 Ausweitung der Kampfzonebis ins Elementare

In Michel Houellebecqs erstem RomanAusweitung der Kampfzoneseziert der Held der Geschichte eine gefühlsfreie Welt, in der es nur um Karriere, Kapital und erotische Bedürfnisse geht: „Die Kampfzone im Titel des Romans ist eine um die Sexualität erweiterte Arena.“4Das ganze Buch verfügt über eine depressive Stimmung und klagt den Werteverlust unserer westlichen Gesellschaft an, die sich eine Fassade der Körperlichkeit und des Konsums aufgebaut hat. Für echte Gefühle ist es zu spät; der Hauptcharakter beschreibt seine Umwelt mit einer erschütternden Nüchternheit.

Die Thematik rund um die individualisierte Gesellschaft und deren präzise Obduktion erinnert stark an das Sujet vonElementarteilchen.Die Hauptcharaktere, ein namenloser Ich-Erzähler und Tisserand, sind vereinsamte Subjekte auf der erfolglosen Jagd nach dem weiblichen Geschlecht, dessen Überreste nach dem Fall des Feminismus nur noch „bestürzend“5sind. Das zentrale Gefühl der Einsamkeit resultiert wie beiElementarteilchenaus der modernen Individualgesellschaft, die ihr Glück in einem gesteigerten Subjektivismus sucht, aber auch schnell an den Grenzen der eigenen Haut scheitern kann. So ergeht es dem Protagonisten, der die äußere Obduktion der „Kampfzone“ immer mehr in seinen inneren Zustand vordringen lässt und sich so seinem einsamen und gescheiterten Leben bewusst wird. Obwohl er im kapitalistischen Sinne gut versorgt ist und die Struktur seines Lebens gefestigt erscheint, plagen ihn Gedanken an den Tod und die zwischen-menschliche Vereinsamung. Aspekte, die Houellebecq auch beiElementarteilchenals zentralen Gegens-tand manifestiert und durch den fiktionalen Posthumanismus aufhebt. In der „Kampfzone“ befinden sich diese menschlichen Abgründe jedoch recht plakativ an der Oberfläche; erst die Charakterstudien derElementarteilchenzeigen detaillierte Züge der individuellen Verzweiflung mit all ihren philosophischen und naturwissenschaftlichen Basen.

Ausweitung der Kampfzonebeschreibt die Basis des Unglücks in dem „Widerspruch zwischen beruflichem Erfolg und privatem Misserfolg.“6Die Charaktere rund um den Protagonisten inklusive ihm selbst stehen in einem soliden Arbeitsverhältnis

4Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, S. 3.

5Ebd., S. 8.

6Kittlaus,http://www.single-generation.de/kritik/rez_kampfzone.htm,(10.11.07).

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Ausweitung der Kampfzone bis ins Elementare

und sind gut situiert. Doch niemand hat Familie und alle scheinen in sexueller Hinsicht Verlierer zu sein. Die zwei Kampfzonen, das kapitalistische sowie das Sexualsystem, sind somit unabhängige Bereiche, in denen es auf beiden Seiten Verlierer und Gewinner gibt. Bruno und Michel, die beiden Hauptprotagonisten in denElementarteilchen,befinden sich in einer ähnlichen Situation. Es differenziert sich jedoch durch ihre Individualität ein elementarer Unterschied zwischen beiden Lebenswegen heraus, der das Sujet der Geschichte maßgeblich prägt.

Der gesteigerte Individualismus der Subjekte in der „Kampfzone“ findet sein Pendant im „Elementaren“ durch den Charakter einer Erlebnis-Gesellschaft, in dieser die Protagonisten resignieren.7Diese Resignation begründet sich auch durch Rationalismus und Materialismus, die die moderne Wissenschaft mit sich gebracht haben. Die Sinnentleerung der Begriffe Familie, Partner und Gemeinschaft wirkt als Konsequenz einer radikalen Diesseitsorientierung, die durch ein physikalistisches Weltbild den ausufernden Individualismus erst ermöglicht.8Ein Niedergang der ethischen und moralischen Werte, die primär nur durch die Religion gestiftet werden können, mündet in einer metaphysischen Wandlung und dem Zerfall der menschlichen Zivilisation.

Elementarteilchen„setzte fort, was mit der ‚Ausweitung der Kampfzone‘ begonnen hatte.“9

7Vgl. Tabbert, Die Geburt des Posthumanismus…, S. 58ff.

8Vgl. Ebd., S. 59.

9Steinfeld, Das Phänomen Houellebecq, S. 11.

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Analytische Grundlagen

3.2 Analytische Grundlagen

Vorweg einige grundlegende Charakteristika des Romans, die mit dem analytischen Instrumentarium der Figuren- und Inhaltsanalyse sowie der Narrativik dargestellt werden sollen.10Diese dienen als Einführung in den komplexen Roman und als Basisübersicht der vielfältigen Strukturen im Sinne einer ersten Bestandsaufnahme.

3.2.1 Figuren

In denElementarteilchengibt es zwei Hauptfiguren: Der asketische Wissenschaftler Michel Djerzinski und sein Halbbruder der sexsüchtige Lehrer Bruno Clement. Das Innere und Äußere dieser vollgültigen Individuen wird in aller nur denkbaren Komplexität und Ausführlichkeit beschrieben. Wichtige Nebenfiguren (in Klammern die wichtigste Eigenschaft) sind die beiden Frauen Annabelle (Schönheit) und Christiane (Sex), die Mutter Janine alias Jane (68er Ideale), die Großeltern (insbesondere die Rolle der Großmutter; konventionell, gütig), der Wissenschaftler Desplechin (Ratio), Brunos Frau Anne (gewöhnlich, langweilig), Brunos Vater, Brunos Sohn Victor und der posthumane Vollstrecker Frédéric Hubczejak („Übermensch“). Am Rande als eher unwichtige Nebenfiguren stehen Caroline Yessayan (Brunos erste Begierde), Annik (Brunos erste Beziehung und sterbende Geliebte) sowie die Figuren der aufgezeigten Genealogie der Hauptprotagonisten (und auch Annabelle), die allenfalls in ihrer Namensgebung in Bezug auf die Abstammung interessant sind und Houellebecqs aufgefasste Determination von biologischer und sozialer Vererbung verdeutlichen.11

3.2.1.1 Figurenkonstellation

Die beiden Halbbrüder treffen erstmalig in ihrer frühen Jugend aufeinander, in der sie von ihrer gemeinsamen Mutter zusammengebracht werden. Nach dem ersten Treffen sehen sie sich regelmäßig. Bruno wächst bei seinen Großeltern auf, wobei er

10Aus: Schneider, Einführung in die Roman-Analyse, S. 17ff.

11Vgl. Voswinkel. In: Steinfeld, Das Phänomen Houellebecq, S. 132ff.

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Analytische Grundlagen

mit dem Tod seines Großvaters und später mit dem Tod seiner Großmutter konfrontiert wird. Von da an schickt man ihn in ein Internat. Michel hingegen wächst alleine bei einer anderen Großmutter auf. Die schöne Annabelle geht mit Michel in eine Klasse und wohnt unweit seiner Großmutter. Annabelle ist offensichtlich in Michel verliebt, dieser ist jedoch nicht in der Lage, etwas mit ihr anzufangen. Sie verbringen gemeinsam (auch mit Bruno) ihre Jugend, verlieren sich im frühen Erwachsenenalter aus den Augen und begegnen sich erst nach knapp 25 Jahren wieder.

Michel verkehrt während dieser Zeit im Raum der Wissenschaft, entwickelt sich vom Physiker zum Gentechniker, hat einmal mit einer Forscherin Sex und unterhält sich ausschweifend mit Desplechin. Bruno nähert sich diversen hier nicht erwähnten Nebenfiguren an und heiratet später die gewöhnliche Anne (Lehrerin), bekommt einen Sohn (Victor), geht regelmäßig fremd und lässt sich dann scheiden. Sein Familienleben inklusive der Beziehung zu seinem Sohn scheitert auf ganzer Linie. Nachdem Bruno der sexbesessenen Christiane begegnet und mit ihr eine Beziehung beginnt, trifft Michel Annabelle wieder und fängt ebenfalls eine Beziehung an. Die beiden Beziehungskonstellationen zeichnen sich durch besondere Intimität auf sexueller und platonischer Ebene aus, jedoch ist bei Michel immer noch nicht von Liebe die Rede. Bruno hingegen erreicht mit Christiane einen Zustand völliger Glückseligkeit. Beide Konstellationen werden durch den Tod der Frauen zerstört. Da nicht nur die Liebe im Besonderen keine Chance hat, sondern die gesamte Menschheit im Allgemeinen zum Scheitern verurteilt ist, muss eine neue Spezies her, die mit Hilfe von dem genialen Hubczejak auf der Grundlage von Michels Forschungsergebnissen im Gen-Labor verwirklicht wird.

3.2.1.2 Figurensoziologie

Houellebecq selbst sagt, er beschäftige sich in seinen Romanen mit normalen Menschen in einem normalen sozialen Umfeld der Mittelschicht. Seine Charaktere sollen als exemplarische Teilchen der Gesellschaft fungieren, mit einem Stellvertreterwert für die Allgemeinheit. In einem Spiegel-Interview zusammen mit Bret Easton Ellis sagt er:

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Analytische Grundlagen

Auch die Diktatur der Jugend und die enorme Bedeutung von Reichtum sind amerikanische Themen. [im Kontext von EllisAmerican Psycho]Also beschäftigen sich amerikanische Autoren vor allem mit den schönen, jungen Reichen. Für Europäer ist es dagegen angebracht, über mittelschöne, mittelalte, mittelreiche Menschen zu schreiben.12

InAusweitung der Kampfzonesind das gut situierte Informatiker. Bei denElementarteilchenstechen aus der Mittelmäßigkeit besonders eine hohe Intelligenz und die akademische Stellung der Protagonisten hervor. Um die Position der Individuen im sozialen Raum zu bestimmen, analysiert der Kultursoziologe Pierre Bourdieu dieKapitalstruktur(Summe des materiellen, kulturellen, sozialen, symbolischen und körperlichen Kapitals des Einzelnen).

Dasmaterielle Kapital(Besitztümer: Geld, Immobilien usw.) der Protagonisten ist durchaus der Mittelschicht zuzuordnen und spielt in Houellebecqs Beschreibungen eher eine marginale Rolle. Lediglich Brunos Finanzen werden öfter im Kontext seiner Familienprobleme mit der Versorgung seines Sohnes und der eher schlecht situierten Christiane erwähnt. Sein Lehrerberuf sichert ihm aber durchweg ein angemessenes Einkommen. Insgesamt betrachtet steht das materielle Kapital der Protagonisten als gegebener Faktor, der sich wie selbstverständlich durch den sozialen Status determiniert, im Hintergrund. Auch stellt das Streben nach mehr Reichtum als Motivation der Handlungen keine literarische Substanz dar.

Daskulturelle Kapital(In institutionalisierter Form besteht es aus staatlich anerkannten Bildungspatenten und -Zertifikaten. Die inkorporierte Form umfasst das, was man als die eigentliche Bildung bezeichnen könnte, also Einsichten und Erfahrungen, Kenntnisse und Kompetenzen, die man sich im Verlauf seines Lebens, sei es innerhalb oder außerhalb von Ausbildungseinrichtungen, angeeignet hat.) der Protagonisten hinsichtlich deren Entwicklung ist von äußerst hoher Bedeutung. So wird Michels wissenschaftlicher Werdegang und Brunos Ausbildung zum Lehrer explizit dargestellt und auch die Erfahrungen im Bereich der Sexualität werden ausgiebig von den Protagonisten reflektiert.

Dassoziale Kapital(sämtliche Beziehungen einer Person zu anderen Menschen) der beiden Hauptfiguren ist in besonderer Weise reduziert. Obwohl durchaus viele Ne-12Wellershoff/Traub,Überall Bilder von perfektem Sex. In: Steinfeld, Das Phänomen Houellebecq, S. 91ff.

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Analytische Grundlagen

benfiguren, mit denen verschiedene kleine biographische Exempel statuiert werden, in Beziehung zu ihnen stehen, ist ein qualitatives soziales Kapital nicht zu erkennen. Von großer Bedeutung ist lediglich die Beziehung der beiden Halbbrüder untereinander, zu ihren beiden Geliebten (Annabelle und Christiane) und in der Jugend die Bindung an die Großeltern. Es gibt keine guten Freunde, wie sie zum Beispiel der namenlose Erzähler inAusweitung der Kampfzonehat.

Dassymbolische Kapital(Ehre, Ansehen, Autorität, gesellschaftliche Geltung) von Michel und Bruno ist zunächst von ähnlicher Art, entwickelt sich jedoch später ganz differenziert. Michel entwickelt sich von einem neugierigen Kind über einen braven Studenten zu einem angesehenen Wissenschaftler. Ihm wird als „Biologe allerersten Ranges“13auch nach seinem Tod eine besondere Ehre entgegengebracht. Bruno genießt als Lehrer ebenfalls Ansehen und Autorität. Allerdings wird die Qualität seines symbolischen Kapitals immer wieder angegriffen. Im Gegensatz zu Michels extremer Stabilität wirkt Brunos gesellschaftlicher Status äußerst instabil. Schon in seiner Jugend wird er durch exhibitionistisches Verhalten auffällig und durch die sexuelle Belästigung einer seiner Schülerinnen während seines Lehrerdaseins steht sein Ansehen auf wackeligen Beinen. Zunächst mit einigen Ausflügen in eine Psychiatrie und einer psychiatrischen Behandlung beseelt, scheitert Bruno am Ende völlig und begibt sich für immer in eine Klinik. Prinzipiell steht das symbolische Kapital der beiden Hauptfiguren am Ende diametral zueinander.