Trolle und Flammen - Björn Pötters - E-Book

Trolle und Flammen E-Book

Björn Pötters

4,8

Beschreibung

Dass Kommunikation in Computerspielen immer eine wichtige Rolle gespielt hat, ist sicher auch den älteren Generationen, die oft keine Vermutung haben, was da überhaupt in diesen Games vor sich geht, bekannt. Schon seit längerem tummeln sich von schießwütigen Kids bis zu hochbegabten Akademikern virtuelle Charaktere aller Facetten und diverser Sprachbegabungen in Rollen-, Strategie- und Ballerspielen auf den Plattformen des Internets. Der Autor erzählt sieben Geschichten aus unterschiedlichen Online-Welten, von größenwahnsinnigen Herrschern ganzer Zivilisationen, die sich Woche für Woche über Jahre hinweg freitagabends zum gemeinsamen rundenbasierten Simultanziehen treffen, über fantasievolle Helden, die eine ganze Hochzeitsfeier im Netz der Nullen und Einsen organisieren, bis zu Ballerorgien, "noob bashing" und verbalen Attacken vermeintlicher Kleinkinder mit Maschinengewehren und Raketenwerfern.

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„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Novalis

Inhalt

Vorwort

Kultursieg durch Städtevernichtung

Mama, ich spiele lieber Krieg!

Angela Merkel spielt Golf, Pool,

GTA Online

und fährt Omnibus

Heiße Stühle im Studentenwohnheim

Ich heirate meinen Computer

Das Leben ist sinnlos, schnall das endlich!

DayZ

– Anekdote zur ewigen Wiedergeburt in einer offenen Welt oder: Überleben ist alles

Abschluss- und Randbemerkung des Autors

Vorwort

Herzlich willkommen bei dieser Versammlung skurriler Erzählungen rund um kreative und vor allem romantische Welten der Computerspiele. Mir persönlich ist schon aufgefallen, dass es zumindest einige Studien zu diesem Thema gibt. Modewellen medienwissenschaftlicher, soziologischer und psychologischer Analysen in dem Bereich haben damals auch mein Interesse geweckt, doch sind leider jene zumeist trockenen Ansätze einer Theorie vollkommen durch den akademischen Anspruch verdorben, ja oft von Menschen recherchiert und ausgearbeitet, die selbst keinen authentischen Zugang zu dem Medium haben, das sie da so allumfassend beschreiben und wissenschaftlich verorten wollen. Deshalb möchte ich als passionierter Gamer1 einen literarischen Beitrag leisten, der einerseits für kleine und große Anwender von Online-Spielen2 zur Selbstreflexion und Unterhaltung beitragen soll, sowie andererseits auch computerspielfremden Menschen einen Zugang offerieren kann, den es in dieser Form bisher im belletristischen Sektor nicht gibt. Oft genug stelle ich schockiert fest, wie wenig Verständnis Eltern im Umgang mit dieser virtuellen Matrix aus Programmcodes, an deren Schnittstelle sich ihre Kinder anschließen, vorweisen: „Ach, die machen nur ihre Spielchen oder liegen auf dem Bett und chatten am Notebook.“ Natürlich gibt es auch Familien, in denen Computergames im gemeinsamen Netzwerk zelebriert werden und Papa dem Sohnemann das neuste Battlefield3auf einem High-End-PC im Kinderzimmer installiert, um später gemeinsam mit seinem Nachwuchs Jagd auf internationale Fingerakrobaten machen zu können. Auch lassen einige veröffentlichte Beiträge im deutschen Civforum4darauf schließen, dass tatsächlich ganze Familien untereinander um virtuelle Weltherrschaft kämpfen oder, im Falle einer Ablehnung reaktionärer Frauen, die lieber mit einem echten Hund vor die Tür gehen, als bei den Sims5 fremdzugehen, immerhin der Herr des Hauses heimlich abends in seinem Arbeitszimmer Züge eines sogenannten PBEMs6 ausführt.

Wer richtig tief in dieses sich von der Vorstellungskraft speisende Universum eintaucht, wird mit Leichtigkeit feststellen, dass auch im digitalen Reich Individualität groß geschrieben wird. Verschiedenartigste Konzepte bedienen nahezu alle Vorlieben der Spieler, wie zum Beispiel das klassische Schachprinzip mit abwechselnden Zügen, allgemeine Ideale des Brettspiels, Wunschvorstellungen einer gottähnlichen Steuerung, Strategie in Echtzeit, Rollenspiele diverser Genese, sportlicher Wettkampf, Größenwahn oder Amoklauf. Letzteres wurde zum Beispiel eindrucksvoll mit GTA7 in Szene gesetzt, fand sich aber schon vor knapp zwanzig Jahren in dem Klassiker Syndicate8, wo man als Agent im Einkaufszentrum oder in der U-Bahn ohne ersichtlichen Grund um sich ballern konnte. Wer so etwas schon immer mal machen wollte, aber, entgegen aller wilder dilettantischen Vermutungen über Korrelationen zwischen Amok und Computerspiel, nicht dazu gekommen ist, erlebt nun faszinierende Möglichkeiten, völlig frei von Sinn, hemmungslos Handlungen durchzuführen, die in der Realität ganz schlicht nicht im Aktionsspektrum einer gewöhnlichen Person liegen. Sicher wird hier und da mit dem Scharfschützengewehr einem Terroristen die Kugel verpasst oder der hohe General veranlasst einen Raketenbeschuss. So etwas kann ich ja heutzutage mit jedem Computer zu Hause im Wohnzimmer haben. Wofür also noch in den Krieg ziehen?

Wollte man als Schriftsteller Joseph Conrads Herz der Finsternis mit Erzählkunst und Erfahrungsrepertoire übertreffen, oder dessen Adaption Apocalypse now! von F. F. Coppola filmisch so aufpeppen, dass ein wertvolleres Bild offenbart wird, so glaube ich, würde man höchstens im ersten Fall scheitern und im zweiten Fall lediglich ein Kunstwerk seiner Zeit zerstören. Bei Computerspielen, den digitalen Kunstwerken einer begriffsfreudigen interaktionsgierigen Gesellschaft der Postmoderne, verhält es sich ganz anders. Sie sind flexibel, einfach reproduzierbar und, je nach dem, modulierbar. Rezipienten werden Anwender und mutieren zu Soldaten, Elfen, Zauberern, Herrschern, Zombies und Göttern. Meine kleinen Erzählungen handeln von diesen „Digital-Art-Usern“, von den Interaktionen zwischen Mensch und Maschine, sowie denen zwischen Mensch und Mensch durch die Maschine hindurch. Es sind Geschichten von vollwertigen Individuen und mystischen virtuellen Erscheinungen, hinter denen sich solche verbergen. Dabei soll der Titel des Buches nicht in die Irre führen oder auf Zynismus schließen lassen: „Trolle“ sind liebevolle naive Wesen mit dem Hang zum „Flaming“. Zwei junge Wortschöpfungen aus dem Cyberspace, die jemanden skizieren, der trotz Inkompetenz und Unwissenheit seine Kommunikationsfähigkeit unter Beweis stellen muss. Da ich selbst weitgehend leidenschaftlicher Anwender bin und eher wenig von technischen Basen digitaler Kunst verstehe, bereichert sich dieser Buchtitel im kreativen Sinne des Sprachgebrauchs mit solchen konnotativ weitreichenden Begriffen. Lodernde Flammen assoziieren sicher auch heiße Passionen in der Gutenberg-Galaxis, und Trolle, ja, die tauchen seit der nordischen Mythologie immer wieder auf und irgendwie steckt sicher in jedem von uns ein kleiner lieber Troll, der sich einfach nur mitteilen möchte.

Die sechs Erzählungen handeln, wie jener Untertitel meines Buches vielleicht vermuten lassen könnte, nicht ausschließlich von Schlachtfeldern und Virtualität. Neben dem hoch honorierten Online-Shooter Battlefield Heroes™, von dem es wirklich erstaunliche Geschichten zu erzählen gibt (der Chat und das Forum gehören selbstverständlich mit zur Schlachtplatte), thematisiere ich im vorliegenden literarischen Experiment auch Sid Meiers Civilization™, Heroes of Might and Magic™, Shot Online™, GTA Five™, Neverwinter™, Unreal Tournament™ und DayZ™. Ältere Zeiten, in denen noch mit „Splitscreen“9 oder „Hot Seat“10 Multiplayer-Gaming realisiert wurde und Internet sowie heimische Netzwerke wenig verbreitet waren, lasse ich noch einmal aufleben und beschwöre gerne Vorzüge einer lebhaften Realität jenseits hübsch animierter Spielewelten.

1 Gamer=Spieler, insbesondere von Computerspielen.

2 Spiele, die entweder vorwiegend via Internet gegen/mit menschlichen Spielern ausgetragen werden, oder sogar ausschließlich im Internet abrufbar sind (z.B. sog. Browser-Games).

3 Bekannter Shooter (Ballerspiel) von Electronic Arts.

4 Traditionelles Forum im Internet zu der rundenbasierten Strategiespieleserie Civilization™ von Sid Meier.

5The Sims™: Ein Spiel, in dem das Leben (Arbeit, Freizeit, Haushalt, Beziehungen, etc.) einer Familie simuliert wird.

6 Play By E-Mail (Ein Modus rundenbasierter Spiele, bei denen der jeweils aktuelle Spielstand per E-Mail weitergeschickt wird und so eine flexible Spielzeit zulässt; Nachteil: langwierig)

7Grand Theft Auto™ von Rockstar North; ein Actionspiel, wo dem Protagonisten prinzipiell ständig die Möglichkeit eines Amoklaufes offeriert wird.

8Syndicate™ von Electronic Arts. Klassiker und Urheber des Genres, dessen sich das moderne GTA bedient.

9 Monitor wird in zwei Hälften geteilt, um ein Spiel zu zweit an einem Computer zu ermöglichen.

10 Es wird abwechselnd an einem Computer gespielt. (funktioniert nur rundenbasiert)

Kultursieg durch Städtevernichtung

„Connected.“ Die freundliche Frauenstimme verrät ihm jeden Abend ein unheimliches Geheimnis. Sein Computer wurde erfolgreich mit dem Server verbunden und er ist nun in der Lage, sämtliches Gedankengut in ein Mikrophon zu artikulieren: Pop11, Rush12, Nahrung, Produktion, Forschung, Siedeln, Krieger, Erkunder, Ressourcen, Barbaren, Gold, Kultur und die blöde Tatsache, all jene mentalen Bits rund ums individuelle Spielkonzept nicht verraten zu dürfen, da seine Mitspieler im Teamspeak13 nicht nur mit, sondern auch gegen ihn spielen. Deshalb wird gerne mal Klatsch und Tratsch in Manier einer alten Damengeselligkeit beim Kaffeekränzchen praktiziert und einige Stimmen erzählen gar authentisch wirkende Dinge aus Beruf und Freizeit. Heute findet eine ganz besondere Runde statt. Geplant wird ein Fortsetzungsspiel mit der langsamsten Geschwindigkeit, die es ermöglicht, in nahezu jeder Epoche ebenso viele Züge14 zu bewältigen, wie in einem ganzen Standardspiel von der Antike bis in die Zukunft. Sechs willige „Civ-Fanatiker“15 sind mit von der epischen Partie und es wird wild über die vorzunehmenden Einstellungen diskutiert: Pangäa16, Archipel oder Kontinente stehen zur Debatte über die Generierung einer hübschen Landmasse, wobei weiterhin noch geklärt werden muss, ob das Klima feucht, normal oder trocken sein soll. Jedes Mal, wenn Stimmen aus dem schallenden Dolby-System im kleinen Zimmer ertönen, erleuchten grüne Lämpchen auf dem Bildschirm und zeigen an, welche Pseudonyme sich hinter den klingenden Sprechorganen verbergen. Morla, dessen Name vielleicht aufgrund alter Kindheitsträume rund um Die unendliche Geschichte auserkoren wurde, begutachtet das Flackern, während er selbst, eher introvertiert und genügsam, lediglich aufmerksam der lebendigen Gesprächsrunde folgt. Die Einstellungen für das künftige, regelmäßig Freitagabend stattfindende Event sollen wohldurchdacht ausgewählt und demokratisch entschieden werden. Wer so viel Zeit, Motivation und Enthusiasmus aufbringt, möchte natürlich seine liebsten Präferenzen erfüllt bekommen, auch wenn Kompromissbereitschaft zum guten Ton einer jeden E-Sports-Community17 dazugehört. Natürlich hat die wöchentliche Herrenversammlung in Sid Meiers18 virtueller Welt nicht sonderlich viel mit dem Begriff des Sports zu tun, aber dennoch passt mindestens ein, wenn auch gerne verheimlichter, außerordentlicher Wettkampfgedanke in den nach Macht und Ruhm strebenden Gehirnen zur sportiven Ertüchtigung. Innerhalb von einer knappen Stunde wird so ziemlich alles besprochen, was dem Ereignis zukünftig zugegen sein wird: kleine Landmasse, mittlerer Meeresspiegel, Kontinente, legendärer Start an Ressourcen und wütende Horden.19 Nun spricht auch Morla leise mit Bedacht und bestätigt seine positive Gesinnung zu den vorgeschlagenen Einstellungen. Voller Freude über den erreichten Konsens brabbeln alle Stimmen durcheinander: „Das wird ein schönes Spiel, Leute!“; „Kann dann bitte jemand einen Raum20 aufmachen? Morla, hostest21 Du?“ Seine 16.000er22 Leitung in Kombination mit einem recht guten Gaming-PC prädestiniert ihn für einen wohlwollenden Gott der Organisation: den Host. Er startet hastig seine Civilization5™ Exe23 über Steam™24 und wählt im Hauptmenü den Multiplayer-Bereich aus, wo es die ersehnte Option „Spiel erstellen“ gibt. Ein paar Sekunden später verkündet Morla frohe Kunde: „Das Spiel ist offen, der Host steht, bitte alle joinen25!“ Nun hat sich zu den Stimmen aus fernen Orten der Soundtrack des Computerspiels gesellt. Klangvolle klassische Instrumente mischen sich mit verzerrten telefonartigen Gesprächen. Jemand tönt: „Ach, wie sehr vermisse ich doch Baba Yetu26…“ Die grafische Oberfläche des Teamspeak-Tasks27 ist längst verschwunden und der fünfte Teil von Sid Meiers Civilization™ bevölkert im Vollbildmodus den Monitor. „Kurz afk28!“

Ein großer schlaksiger Mann um die vierzig steht in einer kleinen gemütlichen Küche, kocht Wasser in einem silberfarbenen Kocher und wartet ungeduldig auf das Piepen seiner Mikrowelle. Er ist afk. Im Hintergrund des sich langsam steigernden Brodelns und dem sanften Brummen einer Elektronik nuanciert leise der vielversprechende epochale Klang des Computerspiels, das in Morlas realem Hirn eine wahre Flut von Botenstoffen auslöst. Oberflächlich mit Tee und Lasagne beschäftigt, spielen sich in seinem Innersten komplexe Denkprozesse ab, die allesamt, fern von Wirklichkeit, nur eines im Sinn haben: Zivilisationen aufbauen. Auch wenn er Tastatur und Monitor verlassen hat, so bleibt kontinuierlich jene virtuelle Rolle eines zukünftigen Herrschers erhalten. Über sein spielerisches Alter Ego29 muss sich Morla allerdings noch Gedanken machen, denn jedes Staatsoberhaupt hat eine bestimmte Fähigkeit und jede Zivilisation verfügt über spezielle Gebäude oder Einheiten. Per DLC30 gibt es seit gestern Babylon, eine defensive und forschende Nation, die in der Civ-Gemeinde schon vom Urbeginn der Reihe an Kultstatus besitzt. Nebukadnezar II., Chef des prestigeträchtigen Volkes der Babylonier, verfügt über eine überaus starke Spezialfähigkeit: die Genialität. Diese beinhaltet einen freien Großen Wissenschaftler bei Erforschung der Schrift und eine generelle Erhöhung der Geburtenrate großer Wissenschaftler um hundert Prozent. Darüber hinaus gibt es Kampfbogenschützen als Spezialeinheit und Babylonische Mauern, die die Verteidigung von Städten enorm erhöhen. Sollte sich niemand für diese wunderbare Zivilisation entscheiden, wird er sie wohl wählen, da geniale Forschung sowie eine gute Defensive schwerpunktmäßig ganz genau im Aktionsradius seines Denkapparates liegen. Seit geraumer Zeit genießt dieser Spitzname Morla in den Weiten des Internets einen Ruf als „Tech-Hure“, was salopp bedeutet, dass jemand alles tut, um ein paar Technologien voraus zu sein. Prinzipiell eine ziemlich ehrenwerte Angelegenheit, zumal er auch im militärischen Sektor immer gut ausgestattet ist und trotz hoher Unterhaltszahlungen sehr gut forschen kann. Ein kleines Genie eben, dieser große schlaksige Mann in der Küche. Schmunzelnd wird der Deckel einer Feinkost-Lasagne abgezogen und kurz darauf heißes Wasser in eine Tasse mit Teebeutel gegossen. Küchengeräusche verstummen, ein Räuspern ist zu hören, schlappende warme Pantoffeln auf kalten Kacheln bewegen sich langsam zum Rechenzentrum der Wohnung zurück, zum externen Gehirn und Herz der Aufmerksamkeiten. „Re31!“

Inzwischen hat sich der virtuelle Raum gefüllt. Sechs Slots32 sind besetzt und vier Gamer haben bereits ihre Zivilisation gewählt. Arabien, Persien, Deutschland und Frankreich erscheinen auf einer kleinen Konfigurationsplattform des jeweiligen Steckplatzes, wobei daneben gleich des Spielers Pseudonym vermerkt ist. Für Harun al-Rashid aus Arabien geht Sulla ins Rennen, das reale Abbild von Persiens Dareios heißt Lahero79, Otto von Bismarcks Wenigkeit wird vom großen Chillo gespielt und Napoléon Bonapartes wirklicher Mensch hört im Netz auf den Namen Luxi68. Morlas Slot sowie ein weiterer mit dem Nickname33 [Omega]tab3(hoch 3) sind noch mit der Option „random“34 belegt. Im Teamspeak wird soeben über die Möglichkeit debattiert, alle Spieler mit einer zufälligen Zivilisation starten zu lassen. „Dieser Modus eignet sich doch wohl kaum für ein so langes Fortsetzungsspielchen. Ich möchte schon gerne jemanden auswählen dürfen, dessen Eigenheiten mir auch liegen.“ Die relativ jung klingende Stimme erhält breite Zustimmung und man einigt sich schnell darauf, dass ein jeder frei wählen darf, wobei von Doppelungen abgesehen werden soll. Morla wundert sich über das mangelnde Interesse an den Babyloniern und stellt diese bei ganz gemächlicher Führung seiner Hand mit der Maus und zwei kleinen Klicks35 ein. „Omega, komm schon, entscheide Dich!“ Es erscheint im Chatfenster des Konfigurationsmenüs drei Mal „afk“. Der verbale Diskurs verstummt, die Musik bleibt und der zukünftige babylonische König widmet sich seiner warmen Lasagne und seinem heißen Tee. Langsam mit Genuss schlürft er aus der Tasse, führt einen großen Happen Nudel-Käse-Substanz per Gabel zum Mund, während seine Augen stetig auf den Monitor gerichtet sind, um noch einmal alle Einstellungen zu begutachten. Im Teamspeak sind kurz einige schwer zu definierende Haushaltsgeräusche zu hören, dann wird es still. In ruhiger Atmosphäre beendet Morla seine Mahlzeit. Es ist Ruhe vor einer Flut von multimedialen Eindrücken und die letzte gänzliche Entspannung vor dem unglaublich nervenzerreißenden ersten Moment, in dem jedem Spieler seine Startposition offenbart wird. Nach und nach bestätigen alle Teilnehmer den Status, bereit zu sein. Nur fünf Minuten später beginnt die virtuelle Reise von sechs Oberhäuptern und ihren Maschinen im Jahre 4000 vor Christus: Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.36

Nachdem der Host das Spiel gestartet hat, erscheint ein bunt animiertes hübsches Bild des gewählten Herrschers inklusive einer auditiven Erklärung historischer Hintergründe sowie eine schriftliche Auflistung aller Eigenarten und Vorzüge dieser Zivilisation. Nervosität zeigt sich in Morlas Ausstrahlungskraft. Seine Finger spielen auf der Glasplatte des Computertisches Klavier und während die Musik wechselt, der Bildschirm sich kurz verdunkelt und der Ladebalken37 komplett gefüllt wird, durchströmen heftige Glücksgefühle seinen dürren Körper. Gleich einer religiösen Offenbarung zeigt sich die freudig erwartete Position des ersten Siedlers. Sechs verschiedene Stimmungen werden schnell über den TS-Server38 kommuniziert, wobei alle eine gewisse Anspannung und Unsicherheit spüren lassen. Ertragreiches Land in unmittelbarer Umgebung der ersten Stadt zu haben bewirkt einen enormen Startvorteil, den Mitspieler mit weniger guter Ausgangslage durch besseres Umland im späteren Verlauf ausgleichen können oder aber sie wandern mit dem Siedler einige Runden, um bessere Bedingungen zu suchen. Morlas Volk gehört allerdings zu den Glückseligen, die vor Ort in der ersten Runde sesshaft werden, da ein langer Fluss, umgeben von Grasland, zwei Kühen, Baumwolle und Zucker grandiose Konditionen bieten. Im direkten Einzugsgebiet befindet sich außerdem noch ein Berg mit Gold, und an den Grenzen des Nebels39 sind einige Hügelketten zu erkennen. Drei Hexfelder40 weit in alle sechs Richtungen kann die Stadt Gelände bewirtschaften und dieses für Produktion, Nahrung, Gold, Kultur und Wissenschaft fruchtbar machen. Nun sind zunächst einige Entscheidungen des Herrschers zu treffen, wie zum Beispiel der erste Produktionsauftrag, dessen Möglichkeiten sich momentan noch sehr übersichtlich gestalten, obwohl es schon von enormer Wichtigkeit sein kann, statt eines Arbeiters zunächst einen Krieger oder Erkunder zu bauen. Doch die Babylonier sind risikofreudig und möchten möglichst unmittelbar einen Vorteil gegenüber den anderen Völkern erhaschen, der sich durch einen frühen Bautrupp41 vornehmlich im Bereich der Infrastruktur zeigen wird und somit für höhere Erträge auf den ersten genutzten Geländefeldern sorgt. Es ist durchaus bekannt, dass besonders im Multiplayer zwei oder gar drei Kampfeinheiten zu Beginn produziert werden sollten, da die Vorteile von Erkundung und militärischer Stärke bei unberechenbaren menschlichen Nachbarn alles andere überwiegen. Strategische Herangehensweisen im Umfeld von Homo sapiens unterscheiden sich deutlich gegenüber dem Spiel mit Künstlicher Intelligenz.

Erste Runden ziehen ins Land; es herrscht inzwischen eine aufgelockerte Stimmung im Sprachchat und alle beteiligten Zivilisationen scheinen zumindest einigermaßen zufrieden mit ihrer anfänglichen Situation zu sein. Alle sechs Zocker42 sind erfahrene Veteranen der Civilization-Reihe, doch dieser recht aktuelle fünfte Teil ist noch relativ jung, so dass kleine Diskussionen über die eine oder andere Spielmechanik entstehen sowie über Vor- und Nachteile des neuen Gameplays und der scheinbar verbesserten aber oft als unübersichtlich deklarierten Grafik gesprochen wird. „Eine Einheit pro Feld43 wirkt wohltuend, jedoch stellt dies leider die einzig wahre Innovation dar.“ plaudert ein jung anmutendes Sprechorgan. Morlas Kopf qualmt metaphorisch gesprochen äußerst heftig, während er den ersten Forschungsweg prüfend erstellt, aber dennoch findet sich Energie in seinen grauen Zellen, um Multitasking zu betreiben und so des Jünglings Lob und Kritik beizupflichten: „Ja, Du hast Recht, viele Neuerungen sind einfach im Vergleich zum vierten Civ nicht gelungen, bzw. eine Milderung der Komplexität sollte das Konzept innovieren, was leider immer noch nicht mit Erfolg gekrönt wird. Vielleicht wendet sich beim ersten Add-On44 alles zum Guten.“ Sein linker kleiner Finger liegt sanft auf der linken Shift-Taste seiner Tastatur. Konzentriert blickt er auf den Bildschirm, wo der „Tech-Tree“45 babylonischer Forschung prangt und darauf wartet, einer bestimmten Reihenfolge zu gehorchen. Manche Spieler entscheiden sich immer nur nach und nach mit jeder neu erforschten Technologie für die jeweils nächste, doch Morla entwickelt Maßnahmen über mehrere Zeitalter hinaus, wobei recht extreme Zweige entstehen, von denen nur dann spontan abgewichen wird, wenn imaginäre Militärberater aufgrund von kriegerischen Aktivitäten modernere Kampfeinheiten anfordern. Mit bedächtiger Mine scrollt er durch den Baum und wählt zögerlich per Mausklick zukünftige Forschungsvorhaben aus. Bei aktivierter Shift-Taste funktioniert eine Mehrfachauswahl, während erkorene Technologien farblich hervorgehoben und mit einer Nummer ausgestattet werden. „Warum dauert das denn so lange. Hätten wir doch besser den Timer46 einstellen sollen?“ ruft eine vermeintlich ältere und rauchige Stimme über den TS-Server. „Keine Panik, ich muss nur eben ein paar Dinge vorausplanen. Etwas Zeit zum Überlegen darf man doch wohl noch in Anspruch nehmen…!“ entgegnet Morla mit einem zarten Hauch kritischer Tonlage. Hecktisches, lautes, leicht gekünsteltes Lachen folgt kurz darauf von einem anderen Mitspieler, der sogleich dafür sorgt, dass sich die Lage beruhigt und über spielmechanische Aspekte debattiert wird: „Ich kann meine Fische nicht bewirtschaften, was soll das? Es befindet sich keine Barbareneinheit auf dem Feld und doch erscheint im Stadtmenü47 dieses rote Besatzungssymbol, was mich daran hindert, den ertragreichen Fisch zu nutzen.“ Engagiert entfachen drei weitere Mitstreiter ein leidenschaftliches Feuer voller Erörterung der Problematik und wenig später herrscht wieder eine angenehme Stimmung an allen sechs Orten, die dank technischer Vernetzung zueinander gefunden haben, obwohl niemand weiß, wo sich die anderen wirklich aufhalten, wie sie existieren, aussehen oder welche Aura sie umgibt. Das Spiel verschafft ihnen eine neue Identität und bietet Zündstoff für allerlei soziales Miteinander wie auch konkurrierendes Gegeneinander. König Morla beendet seine langwierige Tätigkeit als Wissenschaftler und klickt sich noch schnell durch die Demographie, um erste Eindrücke eines Vergleichs zu bekommen. Drei Kategorien verheißen den ersten Rang für Babylon in dieser Welt: Bruttosozialprodukt, Bevölkerung und Getreideertrag. Zufrieden schmunzelt er vor sich hin, schließt die Statistik und visiert den virtuellen Knopf an, der die Runde endlich beendet. „Soooooo…“

„Große Königin Morla, welch fruchtbares Land erblicken meine müden Augen dort drüben in eurem Reich.“ Die deutliche Stimme schlägt in seinem Gehörgang ein wie helle Blitze in die Nacht. Höchst konzentriert und schockiert lässt er das Bild seines Landes in alle Richtungen über den Monitor laufen und sucht die nähere Umgebung präzise ab. Innerhalb von Sekunden zeigt sich eine potentiell bedrohliche Einheit an den Kulturgrenzen seiner ersten Stadt: ein Späher aus Persien, rotfarben und unter Kontrolle des berüchtigten Lahero79. Einer der wenigen Mitspieler, welche Morla noch aus vergangenen Zeiten des dritten und vierten Teils von Civilization™ kennt. Die Sache mit dem gemeinsamen Quatschen dagegen ist recht neu. So etwas haben wir früher nicht praktiziert, sinniert er kurzerhand abseits der geistigen Schärfe, die nun für eine bevorstehende Diplomatie über den strategischen Bereich des Games hinausgeht. Außerdem kommen emotionale Komponenten ins Spiel: Vertrauen oder Verrat, Kabale und Liebe, um es übertrieben pathetisch zu formulieren. Doch angesichts der enormen Bedeutung, die dieses von Firaxis48 und 2K49 erschaffene Universum für jene sechs Herren hat, kann man schon von derart schweren Begriffen reden, wenn es um Beziehungen zwischen ganzen Zivilisationen geht. „Da haben sich zwei gefunden!“ krächzt die rauchige Stimme von Luxi68, dessen Tonlage in Morlas Kopf Assoziationen über weise Männer seines eigenen Alters auslöst. Dagegen wirkt Lahero79 wie ein überschätzter Jugendlicher, der sein Können allerdings schon früh in virtueller Gegenwart alter Menschen, die im realen Leben eher vor einer Midlife-Crisis stehen, unter Beweis gestellt hat. Mit ihm muss man immer rechnen, ob als Freund oder Feind: ein richtig guter Stratege, der nicht nur das Spiel in und auswendig kennt, sondern äußerst geschickt Verhandlungen führen kann und oft ein unterhaltsames, zwangloses RPG50 entwickelt. Ironische Untertöne erklingen: „Hat unsere Königin diesmal auf frühe militärische Präsenz verzichtet?“ Die feminine Anrede stellt eine verstaubte Verbindung zu längst vergangenen Demokratiespielen51 her, in dessen Foren sich Morla einst als Außenministerin präsentierte. „Welcher verlauste Spion hat Dir denn solch einen Bären aufgebunden? Apropos, schade, dass es keine Spione mehr gibt. Das war im Multiplayer eigentlich immer recht amüsant.“ Und wieder entsteht schnell eine flüchtige Debatte um Konzept und Mechanik des neuen Civilization™, während Lahero den Vorschlag unterbreitet, zwecks privater Diplomatie kurz in den eigens auf Teamspeak befindlichen Verhandlungsraum52 überzusiedeln. Morla willigt ein und wechselt schnell per Tastenkombination in den Fenstermodus, um den Teamspeak-Task aufzurufen, wo er mit zwei schnellen Klicks in den privaten Bereich gelangt. „Jetzt sind wir wohl unter uns, Kleiner. Dass es nur einen geben kann, gilt doch wohl kaum für unser aktuelles multiples Epos, oder wie siehst Du das?“ Kriegsfreudiges Verhalten hat Lahero79 den Ruf eines hinterhältigen Ganoven eingebracht, obgleich es immer fair nach spielimmanenten Regeln53 zuging. „Nun, momentan scheint genug Platz für uns beide vorhanden zu sein, aber Dein fruchtbares Land macht mir ein wenig Angst. Einer, zwei, drei…Du weiß doch, es gibt hier immer nur einen Gewinner.“ Wie eine kleine Drohgebärde wirkt dieser knabenhaft anmutende Ausspruch auf den mürben Nestor. „Du kennst mich doch, wäre ja nicht das erste Mal, dass ich Dich aus dem Spiel herausbefördere.“ Nach einigen kurzen Episoden des gegenseitigen Neckens beschließen die beiden scharfzüngigen Querulanten einen vierzig Runden andauernden Friedensvertrag. Voller Erleichterung und von der Gesprächsführung etwas erschöpft betreten Morla und Lahero wieder den Kanal54 öffentlicher Weltverständigung. „User entered Channel!“ folgt zweimal mit dem Ton einer erotischen Frauenstimme direkt hintereinander und löst spontan ein turbulentes Grölen aller Teilnehmer aus. Geheimnisse sind im Raum. Grundsteine einer möglichen Verschwörung oder Arglist wurden gelegt und die erste Saat einer diplomatischen Raffinesse gestreut. Weiter geht’s: Klick.

[Omega]tab3, salopp gerne im Netz als Omega angesprochen, macht auf sich aufmerksam. Eine Stimme mittleren Alters, eher etwas jünger, so um die dreißig, leicht betäubt, scheinbar gleichgültig, spricht etwas aus, das übersehen wurde, nicht beachtet und ohne Interesse scheint: „Sagt mal, warum habe ich eigentlich die Osmanen? Mir fällt gerade auf, dass ich mir noch keine Gedanken um Eigenheiten meiner Zivilisation gemacht habe, aber Mr. Süleyman ist doch wohl eine denkbar schlechte Wahl, erzählt mir gerade die Zivilopädie55. Ach, Mist,…da hatte ich wohl den Hebel auf Zufall.“ Das Osmanenreich gut zu spielen erfordert kämpferische Aktivität, weil alle Boni des Herrschers im militärischen Bereich angesiedelt sind, doch Omega, so wie man ihn sich vorstellt, ist ein friedliebender Student, der ganze Wochen in einem dunklen Kellerzimmer verbringt, seine Sinne benebelt, Reggae lauscht und sich abends leidenschaftlich einem Computerspiel hingibt ohne groß darüber nachzudenken. „Und ich dachte, dass Du freiwillig mit zufälligem Staatsoberhaupt spielst, da so Deine Überlegenheit voll zur Geltung kommt – nach dem Motto – ich kann alle!“ Spöttisch äußert sich auch die wohl jüngste Stimme im Raum: „Hast Du gedacht, Random wäre ein weises Urvolk aus den Himalaya-Sümpfen?“ Leicht erzürnt entgegnet Omega: „Warte ab oder besser, bete, dass wir keine Nachbarn sind, du vorlauter Bengel. Denn als Osmane hätte ich schon ganz gerne eine einfache gemütliche Opfergabe, um mal meine Sipahi56 auszuprobieren.“ Von der Vorstellung eines pazifistischen Gemüts muss wohl doch eher Abstand genommen werden. Wir schreiben das Jahr 2350 vor Christus, noch sind alle weit vom Rittertum entfernt und verfügen lediglich über einfache Reiter und Schwertkämpfer. Beide Einheiten benötigen Ressourcen, Eisen und Pferde, wie auch später die osmanische Spezialeinheit. Beides sieht Süleyman weit und breit nicht in seiner näheren Umgebung. Mit Erfindung der Tierzucht und Eisenverarbeitung zeigen sich solche Vorkommen, die für eine Nutzung von bestimmten Einheiten im Radius der Kulturgrenzen liegen und von einem Arbeiter ausgebaut werden müssen. Nach ein paar weiteren Sticheleien und lockeren Gesprächen bricht eine nächste Runde an. Im Gegensatz zu Morlas riskanter Spielweise hat Omega, der so oft in den Tag hineinlebende Müßiggänger, eine recht gewöhnliche Strategie verfolgt: Zwei Späher zum Erkunden des Umlandes, dann zwei Krieger zur Sicherheit und aktuell befindet sich sein erster Bautrupp in Produktion. Am rechten Bildschirmrand seines alten riesigen Röhrenmonitors erscheint ein rotes Ausrufezeichen samt böser Nachricht: Ihre Einheit Späher wurde vernichtet. Dazu dröhnt Alpha Blondie mit gelassenem Reggaebeat aus zwei Kopfhörermuscheln im süßlich verrauchten abgedunkelten Kellerloch, wo solche Mitteilungen noch recht gleichmütig aufgenommen werden. Während der eine Späher erbarmungslos von früh aufkommenden Barbarenhorden heimgesucht wird, gelingt dem anderen eine überraschende Aufklärung potentiell feindlichen Gebietes: Deutsche Ländergrenzen sind zu sehen. Dieser kleine freche Chillo, dessen Pseudonym bei ihm zwar Sympathien weckt, hat nun einen unscheinbaren Feind in seiner Nähe. Im Schutze der Wolken57 würde er gerne einen Feldzug starten, zumal nicht nur das Land an Chillos Grenzen äußerst attraktiv ausschaut, sondern sogar Pferde für seine zukünftigen Sipahi vorhanden sind. Nur ohne Schwertkämpfer und Reiter gestaltet sich früher Krieg recht schwer, das weiß auch Omegas berauschter Kopf und so sucht er Rat beim Forschungsbaum, der verheißt, dass mit öffentlicher Verwaltung Pikeniere58 ohne jeglichen Rohstoff hergestellt werden können. Außerdem bringt diese Technologie den Vorteil mit sich, dass Bauernhöfe an Flüssen mehr Nahrung abwerfen. Wie gut: Ein Fluss fließt direkt durch Istanbul und ein Arbeiter für Ausbauten steht nächste Runde bereit. Alles geplant, alles durchdacht, denkt er sich, beendet als letzter den Zug, zündet sich eine Zigarette an und verkündet den Gang zur Toilette.

Langsam wankt Omega durch den schmalen dunklen Flur seiner Dreier-WG. Diesmal klickt ein Lichtschalter und keine Maus. Beim Öffnen der Tür zum hell erleuchteten Badezimmer fallen einige Bierflaschen um, während die Zigarette in seinem linken Mundwinkel liegt und ein lautes Räuspern ertönt. Dann folgen übliche Geräusche alltäglicher Verrichtungen, die mit einem heftigen Spülgang abschließen. Der Student bewegt sich rauchend in eine große Wohnküche, wo ein monströser antiker Kühlschrank steht, öffnet diesen gemächlich und nimmt zwei eiskalte, samt Wasserperlen versehene, dunkelbraune Kannen mit dem Schriftzug Unser Paderborner heraus. Das mächtige Tor des Eiskastens schließt sich ruppig, wieder klicken Schalter; Omega kehrt entschlossen, die zwei klirrenden Flaschen in einer Hand tragend, zum Ort des klassischen Zeitalters zurück. Besonnen nimmt er auf dem rückenschonenden Bürostuhl Platz, öffnet eines der beiden Biere mit einem Feuerzeug, drückt die qualmende Zigarette aus, setzt sich Kopfhörer auf und beginnt einen klitzekleinen Monolog: „Re.“ Alle Mitspieler haben die aktuelle Runde bereits beendet, wie unschwer eine tabellarische Darstellung an der rechten oberen Ecke des Bildschirms informiert. Sein gelassenes Gemüt wird für einen kurzen Augenblick von fleißiger Ruhelosigkeit heimgesucht und analysiert mit neuronalen Höchstleistungen die osmanische Situation. Keine fremden Einheiten sind auf der gesamten bisher aufgedeckten Karte zu erblicken. Entweder hat Chillo mit seinen Erkundern den Westen komplett ignoriert oder kaum welche produziert, aber dafür vielleicht schon Gebäude in Berlin gebaut. Eine eher schlechte Wahl der Taktik, zumal Omega nun plant, nach dem ersten unabdingbaren Arbeiter einige Speerkämpfer auszubilden, um mit seinen gesparten 300 Goldstücken, die vornehmlich aus vielen entdeckten Ruinen59 stammten, bei der nächsten Erfindung zu starken Pikenieren aufzurüsten und Chillo heimtückisch mit einer mittelalterlichen Armee zu überrennen. Ob noch nebenbei Zeit bleibt für eine neue Stadtgründung wird sich zeigen, aber es scheint sicherer zu sein, einen schnellen Rush vieler möglichst moderner Einheiten zu bewerkstelligen, damit die Eroberung von Berlin zügig und ohne große Verluste ablaufen kann. Aufgrund fehlender Pferde in der näheren Umgebung wird leider ein schneller Überraschungsangriff mit Reitern nicht möglich sein. Da Berlin gut zwölf Felder weit von Istanbul entfernt liegt, dauert es ebenso viele Runden, bis ein Pikenier vor den hoffentlich nicht vorhandenen Stadtmauern60 steht, denn im Gegensatz zu berittenen Einheiten können die Fußsoldaten lediglich ein Feld pro Runde zurücklegen. Doch Omegas militärischen Pläne erfüllen ihn mit Zuversicht: Siedeln ist für Weicheier, wahre Männer erobern sich die zweite Stadt, bewertet er stillschweigend ganz im Gegensatz zu seiner pazifistischen Haltung im realen Leben. Da gibt es mal ein Spiel, das friedliche Optionen anbietet, und doch wähle ich den Kampf, die Reibung und die Rolle des Aggressors, denkt er sich im nächsten Moment. Alle Einheiten befinden sich auf sicherer Distanz zu den deutschen Kulturlinien, um im weiteren Verlauf möglichst unentdeckt zu bleiben. Sollte Chillo Wind von der Existenz seines schmachvollen Nachbarn bekommen, so wird es zu spät sein. Die Weichen für einen erfolgreichen Feldzug sind längst gestellt, da bleibt kaum noch Zeit, ausreichende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Überzeugt beendet Omega die von Toilette und Bier gezeichnete langwierige Runde. „Endlich, es ist vollbracht…übrigens…ich müsste später noch kurz zur Tankstelle, etwas Nachschub besorgen, eine Pause um kurz vor elf wäre schön.“

Anderthalb Stunden vergehen schnell. Inzwischen hat sich für alle die geopolitische Graphie der Karte offenbart. Es existieren zwei große Kontinente mit je drei Zivilisationen. Im Game selbst besteht lediglich auf den einzelnen Landmassen Kontakt zwischen den Spielern61, jedoch wurde kein Geheimnis gepflegt, das jemandem die grobe Struktur dieser Welt verheimlichen könnte: Omega, Chillo und Luxi68 teilen sich einen hübschen Kontinent, wobei der junge Chillo mittig zwischen zwei schwer durchschaubaren Staatsoberhäuptern sein überaus urbares Heimatland schnell um weitere Städte gen Osten vergrößert hat und so ein wenig Unmut des französischen Herrschers auf sich nehmen musste. Westlich lauert in großer Unbekanntheit Omegas Osmanisches Reich, dessen Existenz erst spät ergründet wurde und dessen Punktestand in Kombination mit der Demographie viel Erschreckendes zu Tage bringt. Punkte werden besonders durch Städteanzahl und Weltwunder forciert. Bisher existieren erst zwei dieser mit enormem Produktionsaufwand hergestellten Gebäude: Stonehenge und die Große Bibliothek. Beide befinden sich auf dem anderen, fernen, unerforschten Kontinent, bei Betrachtung der Punkteskala, genaugenommen in den Händen von Lahero79 und Sulla. Doch das interessiert hierzulande niemanden, da kein anderer je versucht hat, eines dieser einmaligen Weltwunder62 zu ergattern. Viel wichtiger scheint allerdings, dass Omega mit Abstand auf dem letzten Platz dieser Punktetabelle verweilt, was ganz sicher dem mit Abstand ersten Platz bei militärischer Stärke geschuldet ist. Panikartig studiert Chillo diese erschütternden Werte, während ein lockerer Gedankenaustausch im Kanal staatfindet. „Ich bin ja mal gespannt, wer als erstes die Renaissance erreicht.“ Morla und Lahero debattieren über ein paar Strategien aus Wissenschaft und Forschung. „Ich bin ja mal gespannt, wer als erstes vernichtet wird.“ Omega hingegen bekundet mit scharfen Untertönen seinen Willen zur Macht und dem zum Alkohol: „Jungs, es ist viertel vor elf, ich muss jetzt schnell zur Tankstelle, mein Bier ist alle.“ Die sechs Herren einigen sich auf eine ausgiebige dreißigminütige Pause und so wird allen eine Auszeit von virtuellen Herrschaftsgelüsten gegönnt. Einige deaktivieren ihr Mikrophon, um zu vermeiden, dass intime Geräusche oder peinliche Unterredungen versehentlich ins weite Web hinausgetragen werden. Chillo allerdings bleibt weiterhin lautlos vor seinem Monitor gefesselt, ohne den Drang zu verspüren, für einen kleinen Moment aus spielerischen Wirren auszubrechen. Zu sehr beschäftigt ihn diese militärische Übermacht mit dem dazugehörigen Trunkenbold, von dem er an sich ein friedvolles Image vor Augen hat. Noch nie ist etwas in einschlägigen Foren aufgetaucht, worüber man sich im Sinne eines Mehrspieler-Knigges Sorgen machen könnte. Da sind ganz andere mit von der Partie, wie zum Beispiel Lahero79, dessen Ruf als hochbegabter Kriegstreiber immer vorauseilt, obgleich er weder Regeln bricht noch unfreundlich in Erscheinung tritt. Wieder völlig andere genießen ein Ansehen als Hacker63, Quitter64 oder Flamer65. So etwas kann leicht verurteilt werden, aber ein Krieg nach allen Regeln der (Spiel-)Kunst hingegen stellt nichts Verwerfliches dar, ganz im Gegenteil, kompetente Erbarmungslosigkeit wird nicht selten honoriert, wie zum Beispiel in der neuen Civ5-Liga66, wo Spiele fast ausschließlich zu schnellen Metzeleien ausarten und nicht annährend dem Konzept eines tiefen und weiten Epos67 entsprechen. Die Welt, in der sich Chillos Bismarck momentan einrichtet, ist ein langwieriger Entwurf, der bis hin zu einer Siegoption68