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Fanni Rot kann tun, was sie will: Das nächste Verbrechen findet sie bestimmt.Eigentlich wollte sie endlich einmal ausspannen, doch dann entdeckt sie während des Urlaubs einen unbekannten Toten und kann das Schnüffeln wieder nicht lassen. Ihre Neugier zieht Fanni und Sprudel in einen gefährlichen Wettlauf gegen die Zeit – denn auch ihre Tochter Leni schwebt in Gefahr.
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Seitenzahl: 289
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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Florian Stern/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-981-3 Originalausgabe
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Wenn du schon kein Stern am Himmel sein kannst,
sei wenigstens eine Lampe im Haus.
Chinesisches Sprichwort
1
Fanni warf die Schranktür zu, drehte den Schlüssel im Schloss und presste die Hand gegen die Türfüllung, als könne sie damit verhindern, dass der Kasten je wieder aufgehen würde.
Der Lärm, den das Zuknallen verursacht hatte, ließ Sprudel von der Preistafel aufblicken, auf der er die Abmessungen des Flurschrankes studiert hatte. Als er Fannis Gesichtsausdruck wahrnahm, weiteten sich seine Augen.
»Fanni? Bitte, Fanni, nicht!«
Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, zu antworten. Sie starrte durch Sprudel hindurch nach irgendwo. Ihre Miene zeigte eine Mischung aus Entsetzen, Pein und– etwas wie Reue.
Reute sie es, die Tür geöffnet zu haben?
Sprudels Argwohn wuchs, schien sich zu Gewissheit zu verdichten, als er einen ungläubigen Blick auf den Schrank warf, gegen dessen Tür Fanni noch immer drückte.
Sie nickte müde.
Als sie Sprudel zurückschrecken sah, nickte sie noch einmal nachdrücklicher.
Er atmete durch, trat auf sie zu, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie von der Schranktür weg.
Fanni lehnte sich an eine Garderobenwand, die mit Kleiderbügeln aus Plexiglas dekoriert war, und nickte ein drittes Mal.
Sprudel drehte den Schlüssel im Schloss.
Da ist er wieder, dachte Fanni, als Sprudel die Schranktür zögernd ein Stück weit aufzog. Dieser Geruch nach Tod und Verwesung. Schwach zwar, bei geschlossener Tür so gut wie nicht wahrnehmbar, bei offener aber kaum zu verkennen.
Sprudel hatte die Schranktür wieder geschlossen. »Wir sollten gehen, Fanni. Zu helfen ist da nicht mehr.« Er sah sie flehentlich an.
Und der will mal Kriminalkommissar gewesen sein? Das Schlimmste ist, wenn man sich selbst vergisst!
Fanni gab ein leises Schnauben von sich. Wie konnte ihre Gedankenstimme nur so gehässig daherreden. Sprudel war früher Kriminalkommissar gewesen und bestimmt kein schlechter. Und nach seiner Pensionierung hatte er mit ihr zusammen mehr als ein halbes Dutzend Morde aufgeklärt. Auch wenn sie sich wegen ihrer partiellen Amnesie –die zwar im Laufe der Zeit ein paar Löcher bekommen, im Großen und Ganzen jedoch Bestand hatte– nur bruchstückhaft daran erinnern konnte, gab es keinen Zweifel daran. Ihre älteste Tochter Leni hatte Stunden damit verbracht, ihr die Erinnerung an die ausgelöschten sechs Jahre durch Erzählungen zu ersetzen. Daher und durch hin und wieder wie Blitzlichter aufflammende Gedächtnisfetzen wusste Fanni, wie gefährlich diese Mordermittlungen gewesen waren, wie knapp sie und Sprudel manchmal davongekommen waren, wie sehr sie der beinahe erfolgreiche Anschlag auf ihr Leben am Rande der marokkanischen Wüste aus der Bahn geworfen hatte.
Was Wunder also, dass Sprudel lieber so tun würde, als wären sie überhaupt nicht hier; als hätte Fanni den Flurschrank nie geöffnet; als wären sie vor dem Betreten des Einrichtungshauses übereingekommen, dass der alte Schrank noch gut genug war.
Die Realität sah allerdings anders aus.
Es ließ sich nicht mehr abstreiten, dass Fanni wieder einmal eine Leiche entdeckt hatte– dieses Mal in einem Schrank.
Die Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel!
Fanni machte ärgerlich, aber kaum vernehmlich »Grrr…«. Dann sagte sie leise: »Wir können uns nicht einfach davonmachen, Sprudel. Auf dem Schlüssel sind unsere Fingerabdrücke. Meine sind auch auf dem Holz. Und abgesehen davon…« Sie sprach nicht weiter.
War es strafbar, wenn man einen Leichenfund nicht meldete, oder bloß unmoralisch?
Sprudel seufzte tief. »Du hast ja recht. Fingerabdrücke hin oder her. Wir können das Risiko nicht eingehen, dass ein Kind an der Schranktür herumspielt und die Leiche entdeckt.«
Die ja wohl schon ein Weilchen unbemerkt in dem Dielenkasten steckt!
Fanni musste ihrer Gedankenstimme ausnahmsweise beipflichten.
Sprudel zog den Schrankschlüssel ab, dann sah er sich unschlüssig um.
»Infoschalter«, sagte Fanni.
Als sie eine knappe halbe Stunde zuvor die Treppe zur ersten Etage hinaufgestiegen waren, wo laut Übersichtsplan Wandgarderoben und Schuhschränke –Dielenmöbel eben– ausgestellt waren, hatte Fanni neben dem Durchgang zur Abteilung für Einzelteile einen ringförmigen Tresen gesehen, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Information« hing. Sie wies in die Richtung, in die sie gehen mussten, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
Auch als Sprudel sich in Bewegung setzte, blieb Fanni stehen wie einzementiert. Sie wartete darauf, aus diesem Alptraum zu erwachen. Konnte das denn Wirklichkeit sein?
Im größten Einrichtungshaus von Bad Kötzting befand sich eine Leiche in einem der Dielenschränke –was merkwürdig genug war–, und ausgerechnet Fanni Rot hatte sie aufgestöbert.
Dabei hatte sie doch bloß wissen wollen, wie die Fächer im Schrank angeordnet waren, dessen Front aus Buchenholz sich im Eingangsbereich des Birkenweiler Anwesens neben der bemalten Truhe wirklich gut machen würde.
Dazu wäre ein heller Teppich schön, dachte Fanni.
Hallo? Ein erneuter Anfall von Gedächtnisverlust? In dem Schrank vor deiner Nase hat man eine Leiche verstaut– männlich, würde ich sagen. Höchste Zeit, was zu unternehmen!
Infoschalter, wiederholte Fanni in Gedanken. Wir müssen zum Infoschalter gehen, nach dem Geschäftsführer fragen und ihm den Leichenfund melden.
Aber sie hatte vergessen, wie man die Füße hebt und über einen mit blauer Auslegware bespannten Boden geht.
»Fanni?« Als ihr Sprudel die Hand auf den Rücken legte und sie mit sanftem Druck vorwärtsschob, fiel es ihr wieder ein.
»Rufen Sie bitte den Geschäftsführer. Und glauben Sie mir, die Sache ist dringend«, sagte Sprudel zu der Frau am Infoschalter, die ihn aus kajalumrandeten Augen habichtartig ansah. Am Revers ihrer streng geschnittenen moosgrünen Jacke steckte ein Schildchen mit dem Aufdruck »Ella Kraus«.
Statt etwas zu erwidern oder zu tun, wurde ihr Blick aus den Habichtaugen eine Nuance härter, die spitze Nase wirkte nun tatsächlich wie ein Schnabel.
Warum hat man den Eindruck, als wollte sie euch in Stücke hacken? Wer nicht lächeln kann, sollte keinen Laden eröffnen!
Fanni schluckte ein weiteres wütendes »Grrr« hinunter. Nun hatte sie sich endlich daran gewöhnt, Gespräche zu führen, die nur in ihrem Kopf existierten; hatte die Stärken ihrer Gedankenstimme anerkannt (Warnungen, Ermunterungen, zweckdienliche Vorschläge) und ihre Schwächen (Schmähungen, Flüche, Spott und Häme) wenn auch nicht verziehen, so doch ertragen. Sie empfand es jedoch als Zumutung, dass diese Stimme nun auf einmal anfing, Volksweisheiten von sich zu geben. Mit Grauen dachte sie an den Sommer im vergangenen Jahr, als die Gedankenstimme sie mit Never-Sprüchen bombardiert hatte. Es war geradezu ein Labsal gewesen, als sie wieder damit aufhörte.
»Den Geschäftsführer, bitte«, sagte Sprudel nachdrücklich.
Ella Kraus schüttelte so vehement den Kopf, dass die Klammer, die ihre glatten braunen Haare am Hinterkopf zusammenhielt, wie ein Boot auf rauer See hin- und hergeworfen wurde. »Der Geschäftsführer ist nicht zu sprechen, aber wenn Sie mir sagen, worum es geht, kann ich vielleicht–«
Sprudel ließ sie nicht vermelden, was sie vielleicht konnte. Er zückte sein Handy. »Ich werde die Polizei rufen.«
Ella Kraus hob abwehrend die Hand, ihre Zunge fuhr hektisch übers Lipgloss. »Aber ich bitte Sie!«
»Polizei oder Geschäftsführer«, erwiderte Sprudel unerbittlich.
Ella Kraus nahm den Hörer des Telefons auf dem Infoschalter ab und sagte nur: »Platz einundzwanzig.«
Zwei Minuten später kam ein Mann in Anzug und Krawatte –Fanni schätzte ihn in den späten Dreißigern– auf sie zu. Er wirkte selbstsicher, beinahe lässig, was durch seine Größe von gut eins fünfundachtzig, seine sportliche Erscheinung, die markanten Züge und den modisch-flotten Haarschnitt noch unterstrichen wurde.
»Heudobler«, stellte er sich vor.
Heudobler? Komischer Name. Klingt nach Almhütte, Bergbauer und Weidevieh!
Fanni bemühte sich, die Gedankenstimme auszublenden.
»Darf ich Sie in mein Büro begleiten?«, sagte der Geschäftsführer.
Fanni und Sprudel verneinten unisono.
»Würden Sie bitte mit uns kommen?«, entgegnete Sprudel.
Heudobler wirkte überrascht, nickte jedoch freundlich. Mit einem geschäftsmäßigen »Danke, Frau Kraus« wandte er sich vom Infoschalter ab, um Sprudel zu folgen.
Bevor sie sich ebenfalls umdrehte, fing Fanni den Blick auf, mit dem Ella Kraus ihren Vorgesetzten bedachte.
Wer einmal das Meer gesehen hat, dem gefällt kein anderes Gewässer!
Wenn Heudobler für Ella Kraus das Meer ist, dann hat sie wohl schlechte Karten, sagte sich Fanni. Sie himmelt ihn an. Er zeigt ihr die kalte Schulter. Was für ein Fiasko.
In der Öffentlichkeit tut er das. Wer weiß denn schon, was im Hinterzimmer zwischen den beiden vorgeht?
Fanni schaute sich noch einmal um, weil ihr die Vorstellung der beiden als Paar nicht recht gelingen wollte. Dabei fing sie auch den Blick auf, den Ella Kraus ihr und Sprudel hinterherschickte.
Argwöhnisch!
Das war zu mild ausgedrückt, fand Fanni, und sie fragte sich erschrocken, weshalb Ella Kraus ihnen mit stechenden Habichtaugen nachsah.
Erneut lehnte Fanni am weiß lackierten Paneel einer Garderobenwand und betrachtete Sprudel, wie er den Schlüssel ins Schloss des Dielenschranks steckte, ihn vorsichtig drehte, dann zur Seite trat und die Schranktür langsam aufzog, sodass Heudobler freie Sicht hatte.
Fanni vernahm einen heftigen Atemstoß.
»Dem Geruch nach ist die Leiche nicht gerade eben erst im Schrank versteckt worden«, sagte Sprudel. Er schloss den Schrank wieder ab und hielt Heudobler den Schlüssel hin. »Wir wollten als Erstes Sie über unsere Entdeckung informieren. Möchten Sie die Polizei selbst rufen, oder soll ich es tun?«
Heudobler reagierte nicht auf Sprudels Frage.
Weil er auch nicht nach dem Schlüssel griff, machte Sprudel Anstalten, ihn wieder einzustecken.
Endlich kam Leben in den Geschäftsführer. »Ich telefoniere von meinem Büro aus.« Er schnappte sich den Schlüssel, und mit einer Handbewegung forderte er Fanni und Sprudel auf, ihm zu folgen. »Sie müssen mit mir kommen. Sie müssen abwarten, bis die Polizei da ist. Sie müssen ins Verhör genommen werden.«
Ins Verhör genommen! Meint der Kerl etwa, ihr beide habt das Opfer massakriert und in den Kasten gestopft?
Warum sollte er das ausschließen?, überlegte Fanni. Er kennt uns ja nicht. Wir könnten Psychopathen sein. Könnten den Mann erschlagen und Stunden später zurückgekommen sein, um so zu tun, als hätten wir ihn ganz zufällig gerade im Schrank entdeckt.
Die Aussicht auf Verhöre, Verdächtigungen, Skepsis und Argwohn machte Fanni mit einem Mal so müde und so matt, dass sie befürchtete, ihre Knie würden einknicken.
Benommen schaute sie Heudobler nach, der bereits den Gang zwischen den Schuhschränken entlangeilte. Am Infoschalter blieb er stehen und flüsterte Frau Kraus ein paar Worte zu, die eine Reihe spitzer Schreie heraufbeschworen.
Heudobler ließ die Fingerknöchel auf den Tresen krachen, um Ella Kraus zum Schweigen zu bringen. Dann blickte er in Fannis Richtung und bedeutete ihr und Sprudel mit einer ungeduldigen Geste, ihm endlich zu folgen.
Fanni konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Warum sie? Warum immer nur sie? Wie viele Leute waren wohl heute schon in dem Möbelgeschäft aus und ein gegangen? Warum hatte niemand außer ihr in den Schrank geschaut? Nicht einmal eine der Putzfrauen? Plötzlich fühlte sie, wie sich Sprudels Arm um ihre Taille legte. Dankbar schmiegte sie sich an ihn und ließ sich von ihm führen.
Für die Welt bist du nur irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt! Auf Sprudel kannst du dich immer verlassen!
Ja, das konnte sie. Sprudel war ihr Halt, ihre Insel im Ozean. Das wusste sie. Genauso wie sie wusste, dass sie beide zusammengehörten, obwohl ihrer Beziehung etwas Wichtiges fehlte. Etwas, das ihnen abhandengekommen war, weil Fanni sich an dieses »Etwas« nicht erinnern konnte.
Was soll das Geschwafel? Dieses »Etwas« ist die Zuneigung, die du Sprudel entgegenbringst. Und die fühlt sich heute so an wie gestern wie vorgestern und wie voriges Jahr!
So einfach war die Sache nicht. Fanni vermisste die innere Gewissheit, dass diese Zuneigung stets da gewesen war. Nichts, am allerwenigsten Worte, konnte diese Erfahrung ersetzen.
Du liebst ihn doch?
Ja.
Du kommst gut mit ihm aus?
Ja.
Du kannst dir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen?
Nein.
?
Nein, ja, nein. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Was zum Henker fehlt dann?
Erinnerungen, die unser Dasein lebendig machen, dachte Fanni. Greifbare Erinnerungen, die mir das Vergangene nicht wie eine Nachrichtenmeldung erscheinen lassen.
Sie wusste, wie sehr auch Sprudel darunter litt, obwohl sein Gedächtnis intakt war.
Und genau das, dachte Fanni, mag der Grund sein, warum es für ihn noch schwerer ist. Er weiß, was wir füreinander empfunden haben, was wir zueinander gesagt haben, wie es war, wenn wir…
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Heudobler und zeigte auf eine kleine Sitzgruppe –vier Schwingsessel um einen runden Tisch–, die sich in der Ecke gegenüber einem ausladenden Schreibtisch befand.
Er hatte Fanni und Sprudel die Tür seines Büros aufgehalten, hatte die beiden eintreten lassen und die Tür dann zugemacht. Gewichtig. Nachdrücklich.
Als wollte er euch in Haft nehmen!
Fanni ließ sich in einem der Sessel nieder, der wie ein Trampolin federte. Sie würde vollkommen still sitzen müssen, wenn sie nicht seekrank werden wollte.
Heudobler hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und nach dem Hörer des Festnetzanschlusses gegriffen.
»Ich empfange Sie am Hintereingang«, sagte er soeben. »Lassen Sie uns vorerst bitte kein Aufsehen machen.«
Offenbar war Heudoblers Gesprächspartner mit dem Vorschlag einverstanden, denn Heudobler bedankte sich und schien auflegen zu wollen, hielt jedoch inne. Anscheinend wurde ihm noch eine Frage gestellt. Seine Antwort lautete: »Die Herrschaften sitzen in meinem Büro. Nein, ich werde sie keinesfalls gehen lassen.«
Fanni wandte sich an Sprudel. »Wie er wohl gestorben ist?«, flüsterte sie ihm zu.
»Zweifellos gewaltsam«, erwiderte er. »An seiner Schläfe klebt Blut.«
Blut. Fanni schloss die Augen und ließ das Bild erstehen, das sich ihr geboten hatte, als sie die Schranktür öffnete.
Der Tote hockte, den Rücken an die rechte Seitenwand gepresst, mit angewinkelten Knien auf dem Schrankboden. Die Arme waren vor der Brust verschränkt, der Kopf –nach vorn geneigt und hinuntergesunken– ruhte auf ihnen. Das Gesicht des Toten war nicht zu sehen gewesen, nur ein Schopf blonder Haare, die in alle Richtungen abstanden, als hätte sie jemand verwuschelt.
Wie hatte Sprudel Blut an der Schläfe entdecken können?
Er musste sich täuschen. Oh ja, er täuschte sich. Fanni hatte das Bild nun ganz genau vor Augen. Der Hinterkopf, der sich dem Betrachter anschaulich darbot, wies einen runden Blutfleck wie eine Tonsur auf, von der allerdings ein kleines Rinnsal ausging und –ja, insofern hatte Sprudel doch recht– in Richtung linker Schläfe versickerte.
Fanni ließ ihre Wahrnehmungen eine Weile Revue passieren, förderte dieses und jenes Detail zutage: starke, sehnige Hände, ein Label auf der Sweatjacke des Toten, Sportschuhe, ein Regenschirm, der an der Kleiderstange über dem Toten hing und dessen Spitze wie ein Pfeil auf den kreisförmigen Blutfleck am Hinterkopf zeigte.
Sie wollte Sprudel davon berichten, registrierte aber, dass Heudobler das Telefonat beendet hatte, weshalb sie es vorzog zu schweigen. Heudobler stand wortlos auf und strebte der Tür zu.
Dort drehte er sich noch einmal um, blickte Fanni und Sprudel gebieterisch an. »Sie dürfen das Zimmer nicht verlassen, bis ein Beamter mit Ihnen gesprochen hat. Bitte halten Sie sich daran.« Ohne auf eine Antwort zu warten, was sowieso vergeblich gewesen wäre, stürmte er davon.
»Das Opfer war noch jung«, sagte Sprudel, als Heudoblers Schritte auf dem Flur verklungen waren.
»So jung auch wieder nicht«, erwiderte Fanni. »Der Handrücken ist von Sehnen und bläulichen Adern durchzogen, wie es bei einem Zwanzigjährigen bestimmt nicht der Fall ist.«
»Wie alt schätzt du ihn?«, fragte Sprudel. »Dreißig?«
»Hm«, machte Fanni.
Sprudel sah sie fragend an, wartete offenbar darauf, dass sie noch etwas hinzufügte.
»Ist dir an seiner Kleidung nichts aufgefallen?«, sagte Fanni.
Sprudel kniff die Augen zusammen, als könne man hinter geschlossenen Lidern sehen, was der tatsächlichen Beobachtung entgangen war.
»Nein«, gab er dann zu.
»Sportsachen«, sagte Fanni. »Markensportsachen.«
Sprudel machte ein verdutztes Gesicht. »Trägt doch heutzutage jeder.« Er warf einen Blick auf Fannis Bluse. »Jack Wolfskin, Mammut, Fjällräven. Leute in Funktionskleidung kannst du überall finden– in der Kirche, im Konzertsaal…«
Als Fanni gereizt die Augen verdrehte, hielt er inne.
»Du meinst, er war tatsächlich Sportler? Bergsteiger vielleicht. Das würde die sehnigen Hände erklären, die dir anscheinend aufgefallen sind.«
Fanni vollführte eine abwehrende Bewegung, was ihr auf der Stelle leidtat, weil ihr Stuhl sofort mitwippte. »Du hast ja recht. Man läuft heutzutage in Sportkleidung rum, wenn nicht gerade Dirndl und Lederhose angesagt sind.«
Sprudel beugte sich über den Tisch und legte ihr die Hand auf den Arm. »Die Polizei wird bald wissen, wer er ist und was er ist. Morgen können wir es in der Zeitung lesen.«
2
Fanni schaute auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie schon eine halbe Stunde lang in diesem leidigen Schwingsessel saß, der ihr das kleinste Zucken übel nahm, indem er zu schaukeln anfing wie eine Kinderwiege.
Gereizt stand sie auf, trat ans Fenster und musste erkennen, dass es auf einen Hinterhof hinausging. Reihenweise Müllcontainer, mit Kisten bestückte Paletten, stapelweise Möbelroller, haufenweise alte Kartons, nichts, was man sich gern angesehen hätte.
Sie wandte sich ab, machte ein paar Schritte in den Raum zurück, betrachtete ein Poster des Eiffelturms, das an der Wand über dem Tisch hing, sowie eines von Big Ben dicht daneben, ging weiter und blieb dann vor dem Schreibtisch stehen.
Heudobler schien entweder so gut wie nichts zu tun zu haben, oder er war Ordnungsfanatiker.
Fannis Blick fand ein einzelnes Blatt Papier– der Computerausdruck einer Preisliste, soweit sie erkennen konnte. Daneben, genau genommen parallel dazu, lag ein Filzstift. Die Tischplatte aus Mahagoni glänzte wie frisch poliert. Rechts außen stand ein Monitor mit Tastatur davor, links gab es eine Telefonanlage, dahinter entdeckte Fanni ein Foto. Es zeigte eine ausnehmend hübsche junge Frau in einem bauchfreien Top und kurzen Hosen. Sie lachte in die Kamera, die leicht gewellten brünetten Haare flogen im Wind.
Fanni drängte sich das Bild ihrer Tochter Leni auf, die aus ihrem letzten Urlaub eine ganze Reihe ähnlicher Fotos geschickt hatte. Um das bewerkstelligen zu können, hatte sie Fanni ein Tablet geschenkt, auf dem eine Funktion installiert war, die sich »WhatsApp« nannte. »Damit lässt sich viel schneller und einfacher kommunizieren«, hatte Leni ihr erklärt. »Vor allem Fotos lassen sich ganz leicht verschicken.«
Leni und Marco hatten ihren Sommerurlaub in Spanien verbracht, und danach waren sie für einige Tage an die Küste Liguriens gekommen, wo Sprudel ein Häuschen besaß, weil sie –wie Leni sich ausdrückte– ja mal nach dem Rechten sehen mussten.
Dieses Nach-dem-Rechten-Sehen hatte letztendlich dazu geführt, dass Fanni und Sprudel im September in Bad Kötzting landeten.
»So kann es nicht weitergehen. Ihr beide braucht irgendeine Form von Unterstützung, kompetenter Unterstützung«, hatte Leni gesagt, als ihr klar geworden war, wie tiefgreifend Fannis Gedächtnisverlust ihre Beziehung zu Sprudel störte. Sie hatte ihrer Mutter geraten, es mit einer Behandlung in der TCM-Klinik in Bad Kötzting zu versuchen.
Fanni hatte selbst schon von dieser Einrichtung gehört, in der unter deutsch-chinesischer Führung nach »traditionell chinesischer Medizin«, kurz TCM, behandelt wurde. Sogar in aussichtslosen Fällen würden gute Erfolge verbucht, hieß es. Fanni wusste auch, dass der Klinik eine Ambulanz angeschlossen war, wo sich diejenigen kurieren lassen konnten, die nicht stationär aufgenommen werden wollten. Kurieren. Von Leiden, die heilbar oder wenigstens zu lindern waren. Partielle Amnesie gehörte nicht dazu.
Sie hatte den Vorschlag schon ablehnen wollen, als Leni sagte: »Konfuzianische Heilsysteme können dir vielleicht nicht dein Gedächtnis zurückgeben, aber womöglich bringen sie dir bei, mit diesem Defizit umzugehen.«
Das hatte Fanni zu denken gegeben. Sie musste lernen, sich mit den Löchern in ihrer Vergangenheit zu arrangieren. Wenn sie es nicht tat, würden die Erinnerungslücken ihr Leben, ihre Beziehung zu Sprudel kaputtmachen. So weit durfte sie es nicht kommen lassen.
Um bei diesem Lernprozess zu helfen, war Fanni der alte Konfuzius so willkommen wie jeder andere. Oder stammten die chinesischen Heilmethoden gar noch aus einer vorkonfuzianischen Ära?
Wie auch immer, sie hatte zugestimmt, und nun waren sie und Sprudel schon seit einer knappen Woche in Bad Kötzting.
»So, so, dann wolln mer uns mal mit den Hauptzeugen befassen.«
Erschrocken stellte Fanni das Foto auf die Schreibtischplatte zurück. Ganz in Gedanken versunken, hatte sie es in die Hand genommen und minutenlang angestarrt. Hastig kehrte sie zu ihrem Schwingsessel zurück, ließ sich vorsichtig darauf nieder und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, der ihr verriet, dass seit dem Leichenfund bereits mehr als eine Stunde vergangen war.
Der Ermittlungsbeamte, der nun ihr gegenüber Platz nahm, betrachtete sie abschätzend. Fanni revanchierte sich mit einem Hochziehen der Augenbrauen.
Was durchaus angebracht ist! Sieht er nicht aus wie ein Bierkutscher, der seine gesamte Freizeit im Wirtshaus verbringt?
Fanni stimmte ihrer Gedankenstimme zu. Der Beamte, der sie gleich vernehmen würde, war ein vierschrötiger Kerl mit Händen wie Dreschflegel. Auf dem feisten Hals saß ein runder Kopf mit müden Augen und einem schlaffen Mund.
Und sieh dir bloß die Nase an! Zeugt sie nicht von einer immensen Vorliebe für Zwetschgenbrand?
Fanni musste ein Schmunzeln unterdrücken. Die Nase ihres Gegenübers wirkte wie eine überreife Pflaume.
»Sie zwei ham also die Leiche im Schrank gefunden«, sagte Pflaumennase.
Fanni und Sprudel nickten einträchtig.
»Und warum ham Sie in den Schrank reingschaut?«
Fanni stöhnte auf. Hatten sie es mit einem kompletten Deppen zu tun?
Sprudel übernahm es, auf die albern anmutende Frage des Beamten zu antworten, der aller Wahrscheinlichkeit nach Kriminalkommissar war, aber bisher noch nicht einmal seinen Namen genannt hatte.
Schnell zeigte sich, dass er alles ganz genau wissen wollte. Warum waren die Herrschaften ausgerechnet heute hierhergekommen? Warum hatten sie sich nicht von einem Verkäufer beraten lassen, der den Schrank dann für sie geöffnet hätte? Warum hatten sie ausgerechnet diesen Schrank von innen sehen wollen?
Fanni hörte nur noch mit halbem Ohr zu, bis Pflaumennase sagte: »Wissen S’, wie das Ganze für mich ausschaut? Sie ham den Mann gestern attackiert, bis er bewusstlos war, und ihn dann im Schrank verstaut. Heut sindS’ nachschauen kommen, was aus ihm geworden ist.«
Fanni konnte nicht an sich halten. »Und als wir festgestellt haben, dass er tot ist, sind wir so blöd gewesen, den Geschäftsführer zu informieren.«
Pflaumennase grinste verschlagen. »Das war nicht blöd, das war gscheit. Weil Sie nämlich vorhin beobachtet worden sind, wie Sie in den Schrank reingschaut ham. Und sindS’ mir net bös, aber die Zeugin sagt, Sie ham sich schon recht sonderbar benommen.«
»Wie würden Sie sich denn benehmen, wenn Sie in einem Möbelgeschäft wären und in einem der ausgestellten Schränke einen Erschlagenen finden würden?«, fragte Fanni.
Pflaumennase lächelte selig und zeigte mit dem Finger auf sie. »Jetzt ham Sie sich aber verplaudert, meine Dame. Erschlagen ist er worden. So, so.« Seine Stimme wurde schulmeisterlich. »Das nennt man Täterwissen.«
Großer Gott! Halt die Klappe, Fanni! Der Kerl ist irre! Der dreht dir schneller einen Strick, als du eine Schranktür zuschlagen kannst!
Sprudel versuchte es mit Vernunft. »Der Tote hatte Blut an der Schläfe. Da ist es doch naheliegend, anzunehmen, dass er erschlagen wurde.« Weil Pflaumennase nicht antwortete, fragte er noch: »Haben Sie ihn schon identifiziert?«
Die von vielen kleinen Äderchen durchzogenen Wangen des Kommissars färbten sich purpurn. »Das trauen Sie sich fragen? Ham Sie nicht dafür gesorgt, dass das Mordopfer keine Papiere einstecken hat? Keinen Ausweis, keinen Führerschein, kein gar nichts? GestehenS’ lieber gleich, dass Sie ihm eins übern Schädel gegeben und seine Taschen ausgeleert ham. WartenS’ lieber nicht ab, bis wir Ihnen alles nachgewiesen ham. SagenS’ mir lieber sofort, wer er ist und warum Sie ihn umgebracht ham.«
Weil Fanni und Sprudel ihn sprachlos anstarrten, fügte er hinzu: »SchaunS’, die Sach ist doch klar. Wenn’s jemand anders gewesen wär, dann hätt der doch den Schlüssel abgezogen, damit niemand in den Schrank hineinschauen kann.«
Da hat Pflaumennase wirklich logisch überlegt. Und mir nix, dir nix stehst du unter Verdacht, Fanni Rot!
Fanni hatte jetzt vollauf genug. Genug von haltlosen Beschuldigungen und von neunmalklugen Weisheiten sowieso.
Sie erhob sich zu voller Größe (was nicht eben viel war, ihr jedoch ermöglichte, auf Pflaumennase hinunterzublicken). Mit geradezu gefährlich leiser Stimme sagte sie: »Wir haben den Toten aus purem Zufall im Schrank gefunden und haben ihn nie zuvor gesehen. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Und jetzt werden wir gehen. Wir sitzen schon viel zu lange untätig hier herum.«
Der Kommissar (falls ihm dieser Titel zustand) schaute verdutzt zu ihr auf. Fanni starrte kalt auf ihn hinunter.
Als er zum Sprechen ansetzen wollte, ließ Fannis Basiliskenblick ihn den Mund wieder zuklappen.
Nach einigen Augenblicken sagte er matt: »Dann gehnS’ halt.« Energischer fügte er hinzu: »Aber haltenS’ sich zur Verfügung der Polizei. Und denkenS’ schon mal über Ihr Alibi nach.« Er stach den Zeigefinger in die Luft. »LassenS’ unten am Eingang vom Kollegen Ihre Personalien aufnehmen und sagenS’ ihm, wie Sie zu erreichen sind.«
Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war Fanni bereits aus dem Zimmer. Sprudel folgte ihr eilig.
Sie taten wie geheißen, meldeten sich bei einem Polizisten, für den am Eingang Stuhl und Tisch aufgestellt worden waren, zeigten ihre Ausweise vor und gaben an, dass sie zurzeit im Gästehaus Meier in Weißenregen wohnten. Er benötigte doppelt so lange, wie Fanni ihm zugestehen wollte, bis er alles vermerkt hatte.
Irgendwann standen sie dann draußen in der Zufahrt zum Einrichtungshaus und sahen sich betroffen an.
»Was für ein Schlamassel«, sagte Fanni schließlich. »Hätte ich doch die blöde Schranktür nach dem ersten Blick hinein sofort zugeschlagen und ihr schleunigst den Rücken gekehrt.«
»Säßen wir dann nicht noch tiefer in der Tinte?«, erwiderte Sprudel. »Offenbar sind wir ja beobachtet worden, und über kurz oder lang hätte man die Leiche im Schrank entdeckt. Der Zeuge hätte sich an uns erinnert, und wir wären erst recht verdächtig gewesen.«
»Was heißt ›erst recht‹?«, regte sich Fanni auf. »Was der pflaumennasige Kerl sich da zusammenphantasiert, ist doch völlig abwegig. Warum macht er seine Arbeit nicht vernünftig –Ermittlungen, verstehst du, Sprudel, Ermittlungen sollte er anstellen–, anstatt sich an ein Hirngespinst zu klammern.«
Vielleicht legt er es ja darauf an, dass Fanni Rot die Initiative ergreift?
Fanni schüttelte unmerklich den Kopf. Einen Kriminalbeamten, der ihre Einmischung in seinen Fall begrüßte, hatte es noch nie gegeben, und es würde ihn auch niemals geben. Jede Vernunft und Erfahrung sprachen dagegen.
Fanni und Sprudel hatten mittlerweile den Kundenparkplatz des Einrichtungshauses überquert und waren jetzt notgedrungen am Straßenrand stehen geblieben, weil so starker Verkehr herrschte, dass es fast unmöglich schien, die Fahrbahn, die Bad Kötzting mit Miltach im Westen und Arnbruck im Osten verband, zu kreuzen.
Wo wollt ihr denn eigentlich hin? Bevor man eine Leiter besteigt, sollte man sich vergewissern, dass sie an der richtigen Wand lehnt!
Fannis Blick glitt über die Stadt, die direkt vor ihr auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lag, und blieb an der Kirchenburg haften. Hinter der Wehranlage erhob sich die Stadtpfarrkirche.
Bereits Anno Domini 1179 schriftlich erwähnt!
Die Bemerkung rief Fanni in Erinnerung, was sie im Stadtführer darüber gelesen hatte.
Das Schloss, dessen Mittelpunkt die Kirche bildete, war im 12.Jahrhundert der Stammsitz der Chostinger gewesen. Fanni hatte nie zuvor von diesem Geschlecht gehört. Jene Chostinger schienen jedoch gut betucht gewesen zu sein, denn sie hatten ihren Besitz schwer befestigt: äußere Ringmauer, Burggraben, innerer Ring, quadratischer Turm, Schießscharten…
Die Kirchturmuhr schlug ein Uhr mittags.
Essenszeit!
Fanni hatte keinen Appetit. »Ich muss ein Stück laufen, Sprudel.«
Er nickte. »Ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Dass dich nur ein strammer Marsch wieder ins Lot bringen kann.«
Letztendlich konnten sie doch noch die Straße überqueren und schlugen dann den Weg am Fluss ein, der sich Uferpromenade nannte.
Dass das schmale Sträßchen am Ufer entlangführte, ließ sich nicht abstreiten. Es als Promenade zu bezeichnen, schien Fanni aber –selbst ohne die »Promenade des Anglais« in Nizza als Vergleich heranzuziehen– geradezu unanständig. Das Gässchen war keinen halben Meter breit und zu beiden Seiten mit wild wuchernden Stauden, Brennnesseln und japanischem Springkraut bewachsen. Es endete schon nach kurzer Zeit an einer Brücke, auf der die Hauptverkehrsstraße über den Fluss führte.
Weil sie nicht schon wieder umkehren wollten, folgten Fanni und Sprudel dem Verkehrsweg über die Brücke, wo sie feststellten, dass sich die »Uferpromenade« auf der anderen Seite fortsetzte.
»Der Mann im Schrank scheint tatsächlich erschlagen worden zu sein, und offenbar hat man ihn nicht identifizieren können«, sagte Fanni, als sie sich wieder am Wasser befanden. »Oder glaubst du, dieser seltsame Kommissar hat uns was vorgeflunkert?«
Sprudel verneinte. »Warum hätte er das tun sollen?« Gedankenvoll fuhr er nach einer Weile fort: »So unlogisch ist das eigentlich gar nicht, was er sich zusammenreimt, wenn man die Sache von seiner Warte aus betrachtet: Zwei Fremde mit ziemlich dubiosem Hintergrund– hast du seine Miene gesehen, als ich seine Fragen nach unseren Lebensumständen beantwortet habe? Nicht verheiratet, Wohnsitz in Italien…– tauchen urplötzlich in Bad Kötzting auf.«
»Ja«, knurrte Fanni, »ich habe die Miene von dem Trottel gesehen. Vermutlich hat er genau in diesem Moment das Urteil über uns gefällt.«
»Ein für hiesige Verhältnisse recht zwielichtiges Paar«, sprach Sprudel bedächtig weiter, »erscheint also in dem beschaulichen Städtchen Bad Kötzting, wo seltener ein Mord geschieht, als der Weiße Regen den Schwedenstein überschwemmt, und prompt gibt es einen Toten. Es handelt sich um einen Mann, der genauso wenig von hier ist –andernfalls wäre die Leiche bereits identifiziert, weil in Kötzting vermutlich jeder jeden kennt– und der merkwürdigerweise keine Papiere einstecken hat, keinen Ausweis, keinen Führerschein, nichts. Drängt sich ein Szenario, wie es der Kommissar entworfen hat, nicht geradezu auf?«
Sprudel blieb stehen und deutete auf das Gleis der Regentalbahn, das in einiger Entfernung vorbeiführte. »Das Paar und das Opfer, spekuliert der Kommissar höchstwahrscheinlich, sind gemeinsam angereist oder haben sich hier getroffen. Jedenfalls kannten sie sich. Vielleicht sind sie zusammengekommen, um ein Problem zu lösen, einen Konflikt beizulegen, sich über einen Streitpunkt zu einigen. Was auch immer, es gelingt ihnen nicht. Im Gegenteil. Die Sache spitzt sich zu, und das zwielichtige Paar beschließt, den Zankapfel auf nicht ganz alltägliche Weise aus dem Weg zu schaffen.«
»Und dafür sucht es sich die Flurmöbelabteilung des größten Einrichtungshauses in der Region aus«, sagte Fanni ironisch.
Sie verhielt den Schritt, weil die »Uferpromenade« nun endgültig endete, indem sie in einen Campingplatz mündete. Kurz davor verwies ein Schild auf ein »Flussfreibad«, das jedoch nirgends zu sehen war. Fanni vermutete, dass es sich bloß um diejenige Stelle handelte, an der die Kinder im Sommer ins Wasser sprangen, weil es hier durch ein Wehr aufgestaut war.
Erstaunt stellte sie fest, dass etliche Wohnwagen auf dem Campingplatz standen. Die meisten wiesen ein Vordach auf, das fast so stabil wie ein Anbau befestigt zu sein schien.
»Dauercamper«, murmelte sie. Widerwillig musste sie zugeben, dass das von einigen Bäumen beschattete, an eine Pferdekoppel grenzende Wiesengelände direkt am Fluss für einen Campingplatz ideal war.
»Sie müssen den Mord ja nicht geplant haben«, sagte Sprudel.
Fanni brauchte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, wovon er sprach.
»Stell es dir so vor«, fuhr er fort, »die drei stiefeln –egal, was sie dorthin verschlagen hat– im Möbelhaus herum. Sie kommen dabei wieder auf ihre Kontroverse zu sprechen, überwerfen sich mehr und mehr, bis, sagen wir, dem Mann der Kragen platzt. Er schlägt zu–«
»Womit denn?«, unterbrach ihn Fanni.
Das brachte Sprudel aus dem Konzept.
In dem Schrank befand sich nicht nur eine Leiche!
»Kann man jemandem mit einem Schirmgriff den Schädel einschlagen?«, fragte Fanni.
»Wenn er mit Metall verstärkt ist, bestimmt«, antwortete Sprudel. »Wie kommst du ausgerechnet darauf?«
»An der Kleiderstange hing einer«, sagte Fanni.
»Ein Schirm? Im Schrank, neben der Leiche?«
»Direkt über ihr.«
Damit kam Sprudel wieder in Fluss. »Das Paar und das Opfer befinden sich in der Garderobenabteilung. Überall hängen Schirme zur Dekoration herum. Der Mann greift sich einen und schlägt zu. Das Opfer bricht vor dem Dielenschrank zusammen. Der Täter und seine Komplizin sehen sich um. Niemand in der Nähe. An eine Überwachungskamera, die es auch tatsächlich nicht gibt –sonst müsste der Kommissar nichts mutmaßen–, denken sie nicht. Kurz entschlossen packen sie das Opfer, verstauen es im Schrank, schließen ab, stecken den Schlüssel ein und machen sich davon.«
»Aber am nächsten Tag kommen sie wieder«, sagte Fanni. Es gefiel ihr gar nicht, dass die auf sie beide als Täter zugeschnittene Theorie durchaus überzeugend klang.
»Das zeigt, dass sie den Mord nicht geplant hatten«, fuhr Sprudel fort. »Die Tat hat sie selbst überrascht. Ist sie wirklich geschehen? Ist ihr Bekannter tatsächlich tot? Sie wollen sich vergewissern. Und als sie die Leiche im Schrank wirklich vorfinden, verfallen sie auf den Gedanken, den Fund ganz harmlos zu melden.«
Fanni warf einen letzten Blick auf den Campingplatz, dann wandte sie sich ab, um den Rückweg anzutreten. Nach einer Weile sagte sie: »Du hast recht. Man könnte es sich wahrhaftig so vorstellen– sofern man mit genügend Vorurteilen behaftet ist.«
»Wir sollten darüber nachdenken, was sich als Verteidigung vorbringen ließe«, meinte Sprudel.
»Ein Alibi«, kam es spontan von Fanni.
»Ein Alibi«, wiederholte Sprudel. Es hörte sich erleichtert an.
Mit den nächsten Worten versetzte ihm Fanni einen Dämpfer. »Fragt sich, für welchen Zeitraum wir eins brauchen.«
Sprudel blieb stehen und blickte konzentriert auf einen Strudel im Fluss. »Der Todeszeitpunkt müsste –extrem weit gegriffen– zwischen gestern früh und heute Vormittag liegen. Was haben wir da gemacht?«
Jetzt fokussierte auch Fanni den Blick auf den Strudel. »Gestern war Freitag. Da sind wir nach dem Frühstück, so um kurz nach zehn, nach Gotzendorf aufgebrochen, in den Weiler, aus dem die Rote Res stammen soll– hat sie nun eigentlich dem Räuber Heigl die Treue gehalten oder nicht? Dort haben wir den Wagen stehen lassen und sind auf dem Kamm des Kaitersbergs bis zu den Rauchröhren gewandert.«
Ihr Blick verlor sich, als sie an den Moment ihrer Ankunft bei den zwei riesigen Felstürmen dachte. »Fast wie früher«, hatte Sprudel halb befreit, halb wehmütig geseufzt und sie in die Arme genommen. »Wie früher, als wir auf den Großen Falkenstein gestiegen sind, den Rachel, den Lusen.« Halb zu sich selbst hatte er hinzugefügt: »Mir ist, als hätte ich eine Last abgeworfen.«
Fanni hatte zugeben müssen, dass auch sie sich schon seit Tagen besser fühlte– leichter, unverkrampfter.
»Und wer kann das bezeugen?«, sagte Sprudel.
Im ersten Moment kapierte Fanni nicht, was er meinte. Dann sagte sie ernüchtert: »Theoretisch alle, die wir auf dem Weg getroffen und durchwegs freundlich gegrüßt haben. Praktisch allerdings niemand. Selbst wenn wir die Leute noch ausfindig machen könnten, wer würde sich schon an uns erinnern?«
Sprudel nickte mit Nachdruck.
»Gegen drei am Nachmittag sind wir zu unserer Wohnung zurückgefahren«, rekonstruierte Fanni weiter. »Wir haben geduscht, schnell was gegessen und sind dann gleich wieder ins Auto gestiegen, weil wir um vier in der Klinik einen Behandlungstermin hatten.«