Milchbart - Jutta Mehler - E-Book

Milchbart E-Book

Jutta Mehler

4,5

Beschreibung

Fanni Rot leidet seit einem knapp überlebten Mordanschlag unter Gedächtnisverlust und muss sich in psychologische Behandlung begeben. Als wäre das nicht genug, stolpert sie in der Klinik prompt über ihre ermordete Therapeutin - und als Täter kommen eigentlich nur zwei Personen in Frage: Fanni selbst und ein junger Mitpatient. Was bleibt Fanni anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 285

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
11
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren.www.jutta-mehler.de

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

© Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/krockenmitte Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-418-4 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt.

Ernst R. Hauschka

1

»Darf ich dich angrapschen?«, fragte Alexander, wie er es stets tat, wenn er in der Klinik mit Fanni zusammentraf.

Sie lächelte ihn freundlich, ja geradezu wohlwollend an, antwortete jedoch höflich und akzentuiert »Nein«. Dann eilte sie weiter den Flur hinunter, vorbei an Türen aus hellem Kiefernholz, an apricotfarbenen Wänden, an lindgrün gerahmten Aquarellen, die Landschaften in warmen Farben zeigten.

Selbst das stimmungsvollste Ambiente kann keine Wunder bewirken, dachte sie bedrückt, und ein vorwitziger Gedankensplitter fügte naseweis hinzu: Bisher hat die offenbar maßgeschneiderte Atmosphäre jedenfalls noch nicht einmal eine Fata Morgana hervorgerufen!

Fanni kam eine wehmütige Empfindung an, während sie den Nachklang auf sich wirken ließ. Die Gedankenstimme hatte sich also wieder gemeldet. Jene eigenständige, irritierende, aber auf seltsame Weise vertraute innere Stimme, die sie dann und wann heimsuchte, meistens im unpassendsten Moment.

Wie jedes Mal, wenn das geschah, glaubte Fanni auch jetzt wieder zu spüren, dass hinter diesem Stimmchen die einzig verbliebene intakte Schaltstelle verborgen lag – die letzte Brücke (ein schwankender, morscher, unzuverlässiger Steg vermutlich), die sie mit einem Zeitabschnitt verband, der ihr verloren gegangen war.

»Partielle Amnesie« lautete die Diagnose, die besagte, dass ein Teil von Fannis Leben aus ihrem Gedächtnis gelöscht war, und die letztendlich dazu geführt hatte, dass Fanni sich seit zwei Wochen in der Privatklinik von Professor Hornschuh befand.

»Der heftige Schlag auf den Kopf«, hatte der Neurologe in der Münchener Uniklinik erklärt, der die Diagnose stellte, »das Betäubungsmittel, das Ihnen verabreicht wurde, die vorausgegangene wochenlange Bedrohung, all das zusammen hat zu einer Reizüberflutung geführt, aufgrund derer sich Ihr Gehirn genötigt sah, gewisse Verdrahtungen aufzulösen. Diese Schutzmaßnahme hat eine Gedächtnislücke verursacht.«

»Lücke«, hatte Fanni gemurmelt, »was für eine Untertreibung. Der Hohlraum umfasst exakt sechs Jahre.« Laut hatte sie hinzugefügt: »Und wann wird all das Vergessene an seinen Platz zurückkehren?«

Neurologe Dr. Wein hatte sie bedauernd angesehen und sehr ernst geantwortet: »Erinnerungen lassen sich nicht einfach wiederherstellen. Es gibt kein Medikament, keine Therapie, die sie zurückbringen könnten. In manchen Fällen ist der Schaden sogar irreversibel. Die Erinnerungen, die Erfahrungen, die man im betroffenen Zeitraum gemacht hat, sind für immer dahin.« Er rieb sich mit den Fingerkuppen über die Stirn und fuhr müde fort: »Erzwingen lässt sich da gar nichts. Bei Dissoziationen sind sogar Elektroschocks völlig nutzlos.«

Über Dr. Weins letzten Satz war Fanni sehr erleichtert. Dem Wort »Elektroschock«, fand sie, haftete ein ganz übler Beigeschmack an. Weil sie aber wissen wollte, ob ihr Eindruck berechtigt war, hatte sie den Begriff bei Google eingegeben. Leni hatte ihr ein paar Tage zuvor ihren Laptop mitgebracht mit der Bemerkung: »Du musst schnell wieder lernen, damit umzugehen. Wie sollten wir denn sonst in Verbindung bleiben können, während ich in Südamerika bin?«

Fanni googelte also »Elektroschock« und erschrak. Offenbar hatte es Zeiten gegeben, zu denen alle möglichen psychischen Störungen – auch Amnesien – mit Elektroschocks behandelt worden waren. Erst in jüngster Vergangenheit schien man zu differenzieren.

»Aber selbst bei Psychosen, die statistisch gesehen darauf ansprechen«, hieß es in dem Artikel auf Fannis Bildschirm, »ist die Anwendung von Elektroschocks ein Lotteriespiel. Wenn man eine kaputte Uhr in die Ecke wirft«, schrieb der Verfasser, »kann es tatsächlich passieren, dass sie wieder funktioniert. Genauso verhält es sich, wenn man Elektroschocks durch ein Gehirn jagt.«

Fanni blieb vor einer Tür stehen, an der ein dezentes Schild mit der Aufschrift »Marita Bogner, Therapeutin« angebracht war. Unter dem Namen befand sich das Logo der Parkklinik, deren Leiter Professor Hornschuh aus Wien war: da Vincis Quadratur des Kreises. Fanni hob die Hand, um anzuklopfen, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken.

Statt ihrer Therapeutin gegenüberzutreten, statt sich couragiert in eine neue Gesprächsrunde mit ihr zu stürzen (»Ein Wort«, hatte man Fanni erklärt, »eine Geste, ein Bild, eine noch so winzige Kleinigkeit kann die gesamte Erinnerung zurückbringen. Gespräche mit einem Therapeuten sind der beste Weg zu diesem Ziel.«), statt also zu tun, was der Terminplan vorschrieb, lehnte sich Fanni an die apricotfarbene Wand und schloss die Augen.

Wie deprimierend, dachte sie, dass dieses Wort womöglich nie fällt, die Geste nie ausgeführt, das Bild nie auftauchen wird. Der springende Punkt nämlich ist, dass es Wort, Bild und Geste überhaupt nicht geben muss. Aber was dann? Soll ich mich bis ans Ende meiner Tage in der Parkklinik einquartieren, weil ich vergessen habe, was sich in meinem Leben während der vergangenen sechs Jahre ereignet hat?

Du kannst ja hier die Fliege machen! Niemand zwingt dich, zu bleiben. Quartier dich doch bei Hans Rot ein oder bei diesem Sprudel. Beide scheinen ganz wild darauf zu sein, dich unter ihre Fittiche zu nehmen. Oder such dir ein Einzimmerapartment – in Deggendorf beispielsweise. Da kannst du dich Tag und Nacht vors Radio setzen und auf dein Schlüsselwort warten!

Fanni stöhnte laut auf. Nie, niemals hätte sie sich vorstellen können, wie es war, wenn man einen Teil seines Lebens nur aus Erzählungen anderer kannte, mochten einige der Berichterstatter – so wie ihre Tochter Leni – noch so vertrauenswürdig sein. Eigene Erfahrungen und Erinnerungen ließen sich durch nichts ersetzen.

Zusammen bilden sie das, dachte Fanni, was man Persönlichkeit nennt – Individualität, Wesensart. Das lässt sich nicht kopieren, mit bloßen Worten schon gar nicht.

Womit wir wieder auf die Elektroschocks kommen! Ein kräftiger Stromstoß durchs Hirn könnte dir womöglich eine ganz neue Persönlichkeit verschaffen!

Fanni musste grinsen. Was, wenn er ganz nebenbei einem vorlauten Gedankenstimmchen den Garaus machen würde?

Grmpf!

Fanni hob erneut die Hand, um anzuklopfen.

Elektroschocks sind passé, dachte sie. Heutzutage versucht man es – weniger schmerzhaft, aber wohl ebenso erfolglos – mit Gesprächstherapie.

»Die einzige Möglichkeit, an die Erinnerung heranzukommen«, hatte ihr Dr. Wein versichert.

Fanni hatte auf ihr Klopfen hin das gewohnte »Ja, bitte« erwartet, aber hinter der Tür blieb es still. Sie wiederholte die Prozedur und trommelte schließlich, als sich Marita Bogner noch immer nicht vernehmen ließ, mit den Fingerknöcheln ein Stakkato aufs Holz. »Frau Bogner, sind Sie da?«

Wo soll sie denn sonst sein, die Gute? Sie ist ja nicht herausgekommen, seit du dem Milchbart begegnet bist! Oder ist sie nach der Gesprächsrunde mit ihm vor lauter Frust aus dem Fenster gesprungen, weil sie endlich kapiert hat, in welcher Sackgasse er steckt?

Fanni öffnete die Tür.

Marita Bogner saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte sie an.

»Ich wollte …«, begann Fanni, während sie ein paar Schritte in den Raum machte, »ich wollte Sie wirklich nicht stören, Frau Bogner. Natürlich brauchen Sie eine Verschnaufpause zwischen zwei Therapiestunden. Aber …« Ihre Stimme versandete, weil Marita Bogner sie noch immer unverwandt ansah.

Falsch, sie sieht durch dich hindurch!

»Ist Ihnen nicht gut, Frau Bogner?« Fanni trat noch einen Schritt näher.

Die Therapeutin rührte sich nicht. Sie saß weit zurückgelehnt in ihrem bequemen Drehstuhl und ließ die Arme baumeln. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt. Er ruhte am Gestänge eines soliden Paravents aus Eisenstreben, zwischen denen bunte Kassetten mit geometrischen Motiven eingepasst waren.

Fannis Blick wanderte über Marita Bogners bleiche Stirn zu ihren ausdruckslosen Augen, über die schmale Nase zu den blau angelaufenen Lippen, die kein Hauch von Leben oder Lippenstift rötete; er kroch über das runde Kinn und blieb an einem Muster aus Steppstichen hängen, das sich quer über den Hals der Therapeutin zog.

Sie ist tot, Fanni Rot! Du hast es hier mit einer Leiche zu tun!

Fanni wedelte mit beiden Händen, als wollte sie die Gedankenstimme wie einen schlechten Geruch aus dem Zimmer scheuchen.

Mit sinnlosem Herumfuchteln wirst du nicht ungeschehen machen können, dass Marita Bogner ermordet worden ist, erwürgt, erdrosselt, stranguliert – irgend so was in der Art. Ihr Halsschmuck besteht aus Würgemalen. Du befindest dich definitiv vor einer Toten, Fanni!

Fanni schluckte, starrte die reglose Therapeutin an, schluckte wieder.

Nein, dachte sie, nein, nein, nein. Frau Bogner kann nicht tot sein, ermordet schon gar nicht. Wann denn? Von wem denn? Ich halluziniere. Mein Gehirn rennt immer weiter in die Irre. Versucht es etwa, die Leerstelle, die es selbst verursacht hat, mit Trugbildern zu füllen?

Das angebliche Trugbild wirkt aber verdammt echt! Du könntest die Probe aufs Exempel machen. Wenn real ist, was du siehst, muss es sich auch fühlen lassen. Fass mal an!

Fanni trat einen weiteren Schritt auf Frau Bogner zu, sodass sie jetzt an der Schmalseite des Schreibtisches stand. Sie brauchte nur ihren linken Arm auszustrecken, dann konnte sie die Hand auf Maritas rechte Schulter legen. Aber sie zögerte.

Na los doch!

Plötzlich gab der Drehstuhl ein leises Knacken von sich und machte im selben Augenblick einen kleinen Ruck in Fannis Richtung. Frau Bogner schien sich ihr zuzuwenden.

»Ha!«, rief Fanni. »Das haben Sie sich aber fein ausgedacht.« Sie lehnte sich an die Schreibtischecke, schob eine Pobacke auf die Arbeitsplatte, sodass sie halb saß, und stützte sich mit den Händen auf einer der Kunststofffolien ab, die dort herumlagen und offenbar Patientendaten enthielten. »Schade«, fuhr sie fort. »Es hätte wirklich funktionieren können. Offensichtlich setzt meine Amnesie ja zu dem Zeitpunkt ein, zu dem ich die Leiche meiner Nachbarin Mirza Klein unter meinen Johannisbeerstauden entdeckt habe. Ein neuerlicher Leichenfund, dachten Sie wohl, könnte das geeignete Schlüsselerlebnis sein, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.« Sie hob in einer bedauernden Geste die Hände. »Aber leider …«

Fanni unterbrach sich, weil sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Haltsuchend griff sie um sich, warf einen Bücherstapel um, der mit Gepolter zu Boden fiel und eine Schale mit Stiften, Büroklammern und allerlei Krimskrams mit sich riss. Endlich bekam sie etwas zu fassen, das ihr half, sich zu stabilisieren. Sie behielt das Ding in der Hand, während sie sich aufrichtete und wieder auf die Füße kam.

Marita Bogner bewegte sich nicht, verzog keine Miene.

Fanni stand keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt und starrte sie an. Nach einer Weile holte sie tief Luft.

Hast du es jetzt endlich kapiert, Fanni Rot?

»Aber sie kann doch unmöglich …«, stammelte Fanni.

Klar kann sie! Warum denn nicht? Hat dein Hirn nur eine Lücke, oder ist es komplett verödet? Die Frau ist tot, Fanni, vermutlich ermordet, und du tätest gut daran, endlich …

In diesem Moment ertönte ein kurzes Klopfen, dann flog die Tür auf.

»Darf ich dich angrapschen?«

Fanni wirbelte herum und sah sich Alexander Pauß gegenüber, der sie fragend ansah.

Die Antwort heißt »Nein« und soll möglichst deutlich, unpersönlich und emotionslos gesprochen werden!

Fanni brachte nur ein Krächzen heraus. Daraufhin hob Alexander die Hand bis in Brusthöhe und strich ihr sanft über den Kopf. Er überragte sie um gut fünfundzwanzig Zentimeter.

Sie schloss für einen Moment die Augen und klammerte sich an dem Ding fest, das sie noch immer in der Hand hielt. Als ihre Umgebung wieder hell wurde, bemerkte sie, dass sich Alexander von ihr ab- und der Therapeutin zugewandt hatte, die nach wie vor reglos in ihrem Drehstuhl saß.

»Darf ich dich angrapschen?«

»Nein!«, schrie Fanni.

Doch Alexander kümmerte sich nicht um sie.

Seine Konditionierung haut offenbar nur dann hin, wenn der tatsächlich Angesprochene antwortet, und zwar mit möglichst neutraler Stimme!

Alexander breitete soeben die Arme aus und beugte sich zu der Toten hinunter. Bevor Fanni auf irgendeine Weise reagieren konnte, hatte er Marita Bogner schon umfasst.

»Sie ist tot«, flüsterte Fanni.

Alexander betrachtete das Würgemal an Marita Bogners Hals. Dann ließ er von ihr ab und sagte: »Ja. Sie atmet nicht. Ihre Kehle scheint verletzt worden zu sein.«

Schau her, der verkorkste Junge hat mehr Hirn als Fanni Rot!

Fanni warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. »Wir müssen den Professor informieren.«

Alexander drehte sich zum Schreibtisch um und hob den Telefonhörer ab. »Wenn man Null-Null wählt, blinkt in der Zentrale ein Alarmlämpchen auf. Der Pförtner kann sehen, von wo aus angerufen wurde, und sofort jemanden vom Personal dorthin schicken.«

Warum hat Fanni Rot eigentlich nicht schon vor einer Viertelstunde Null-Null gewählt?

Fanni seufzte. Selbst ein Zwangsneurotiker war ihr haushoch überlegen.

Alexander hatte zweimal kurz hintereinander auf die Null der Telefontastatur getippt und den Hörer dann aufgelegt. Jetzt wandte er sich wieder Marita Bogner zu.

»Darf …«, begann er, unterbrach sich jedoch und blieb abwartend stehen.

Fanni krampfte ihre Hände um das Ding, das sie noch immer nicht losgelassen hatte. Plötzlich spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrer Linken und öffnete sie reflexartig. Als ihr Blick auf den Handteller fiel, zeigte sich ein tiefer Schnitt, aus dem Blut quoll. Fanni schaute verständnislos auf die Wunde. Erst nach einer Weile nahm sie den Gegenstand in Augenschein, den sie mit der Rechten noch festhielt. Es handelte sich um eine fast dreißig Zentimeter hohe Figur aus Metall.

Fanni beförderte sie vorsichtig auf den Schreibtisch zurück. Sie kannte diese Art von kunsthandwerklichen Figuren gut, hatte selbst eine davon für Leni gekauft, die ein Faible dafür hatte. Die Besonderheit all jener Figuren aus dunklem Stahl – es gab auch Tiere, hauptsächlich aber menschliche Gestalten, die gerade irgendeiner Beschäftigung nachgingen – lag darin, dass sie so weit als möglich aus technischen Kleinteilen gefertigt waren. Köpfe bestanden aus Muttern, Kniegelenke aus Schrauben, Hüftknochen, Schuhe, Räder oder Werkzeugköpfe wiederum aus Muttern. Leni besaß beispielsweise einen Hund, der gerade einen Schraubenknochen fraß, und ein Schülerpaar, das mit Schraubengriffeln auf eine Tafel aus Muttern schrieb.

Die Figur, die nun rücklings auf der Schreibtischplatte ein wenig hin- und herschaukelte, weil sie keine glatten Flächen aufwies, die sie stabil aufliegen lassen konnten, stellte ein spielendes Mädchen dar. Das Kind stand auf einem Bein, hatte das andere angewinkelt, wie um einen Schritt zu tun, und hielt die rechte Hand in Kopfhöhe. Senkrecht darunter befand sich eine Mutter auf der Bodenplatte, die dort keinen sichtbaren Sinn erfüllte.

Die unnütze Mutter irritierte Fanni. So waren die Schraubenmännchen nicht konzipiert. An ihnen war alles funktionell, spitzfindig ausgeklügelt.

Sie richtete die Figur auf, und nun wirkte die Szenerie klarer: ein Kind, das etwas auf den Boden prallen ließ, während es lief. Aber was bloß? Sollte diese Mutter auf der Bodenplatte einen Ball darstellen?

Fanni schüttelte den Kopf. So dilettantisch waren Schraubenmännchen nicht gemacht. Und in jeder anderen Hinsicht wies gerade dieses außergewöhnlich große Exemplar enorme Sorgfalt im Detail auf: Das Mädchen trug eine Mütze mit winzigen Muttern als Troddeln, und eine Blume reckte ihre Knospen aus klitzekleinen Stummelschräubchen empor. Die Schraubenfinger der linken Hand des Kindes waren gespreizt, als wollten sie versuchen, dessen Konzentration und Balance zu unterstützen.

Fanni kniff die Augen zusammen und studierte die beziehungslose Mutter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie hochkant stand, als sollte sie ein Rad darstellen (das die Bodenplatte jedoch nicht berührte, sondern durch einen schmalen Steg mit ihr verbunden war), und dass an der Lauffläche Rillen eingefräst waren. Fannis Blick eilte etliche Male zwischen der gerillten Mutter und der erhobenen Hand des Mädchens hin und her.

Das Kind spielt eindeutig mit einem Jojo!

So ist es, dachte Fanni. Dazu passt die Gebärde, und damit fügt sich die gerillte Mutter ins Bild. Aber wo befindet sich der Faden, der sich im Gehäuse des Jojos aufwickeln soll? Bei all dieser Detailtreue muss er vorhanden gewesen sein. Vermutlich als Drahtstück, das von der Hand des Kindes zu der Rillenmutter geführt hat.

»Hier ist die Null-Null gewählt worden. Was ist passiert?«

Fanni fuhr herum und presste unwillkürlich die blutende Hand auf ihre Brust. Wie hatte sie sich bloß mit einem Schraubenmännchen beschäftigen können, während …

»Um Himmels willen, Frau Bogner!«

Die Person, die in der Tür erschienen war – es handelte sich um die recht resolute Schwester Rosa –, eilte auf die tote Therapeutin zu. Sie drängte Alexander zur Seite, als wäre er ein unbrauchbares Requisit, und legte Marita Bogner zwei Finger an die Halsschlagader.

Fanni bemerkte, dass Alexander zum Reden ansetzte. Eine Frau zwischen vierzig und fünfzig hatte das Zimmer betreten. Es war nicht schwer zu erraten, was er sie fragen wollte.

Mit einem schnellen Schritt trat Fanni zu ihm und packte ihn am Arm, um ihn mit sich aus dem Zimmer zu zerren. Sie war darauf vorbereitet, ihre ganze Kraft dafür aufwenden zu müssen, stellte jedoch schon nach wenigen Schritten fest, dass er sich nachziehen ließ wie eines dieser Spielzeugtiere auf Rädern.

Hat Leni nicht als Kind eine Rollschildkröte besessen?

Fanni versuchte, die sinnlos plappernde Gedankenstimme auszublenden, während sie Alexander den Flur hinuntersteuerte. Am Fuß der Treppe, die zu den Patientenzimmern hinaufführte, blieb sie stehen und sagte in strengstmöglichem Tonfall: »Du gehst jetzt auf dein Zimmer und bleibst dort.«

Alexander nickte gehorsam und trat auf die erste Stufe.

Unversehens packte ihn Fanni erneut am Arm. »Wieso bist du eigentlich nach deiner Sitzung mit Frau Bogner noch einmal in ihr Zimmer gekommen? Vorhin, als meine Stunde bereits angefangen gehabt hätte …« Sie verhedderte sich. »Du warst doch vor mir dran, oder?

Alexander nickte. »Ja, wir haben uns doch auf dem Gang getroffen. Ich kam gerade von Frau Bogner, und Sie wollten offenbar zu ihr.«

»Und weiter«, drängte Fanni.

»Nichts weiter«, antwortete Alexander. »Nachdem ich ein paar Minuten in meinem Zimmer war, habe ich festgestellt, dass ich meinen Talisman nicht mehr hatte. Sie wissen schon, das Engelchen, das mich daran hindert, einfach …« Seine Stimme versandete. Aber nach einem Atemzug fuhr er fort: »Ich habe eine Weile danach gesucht, bis mir eingefallen ist, dass ich ihn während der Therapiesitzung bei Frau Bogner aus der Tasche genommen haben könnte, weil …« Wieder stockte er.

»Deshalb bist du also zurückgekommen«, sagte Fanni. »Du wolltest deinen Talisman holen.«

Alexander nickte unglücklich, wandte sich von der Treppe ab und machte Anstalten, über den Flur zurückzugehen. »Ich muss meinen Schutzengel haben!«

Fanni stellte sich ihm in den Weg. »Warte. Warte, bis – bis Schwester Rosa alles geregelt hat. Dann bekommst du ihn sicher zurück. Warte einfach auf deinem Zimmer.«

Alexander schien unschlüssig.

Der Engel ist vermutlich ein wesentliches Element im Rahmen seiner Therapie! Wer weiß, was alles passieren kann, wenn Alexander solch wichtige Haltegriffe plötzlich verloren gehen?

Haltegriffe! Als ob wir uns in einem öffentlichen Verkehrsmittel befänden, dachte Fanni ärgerlich. Soll ich Alexander etwa mitten in einen Tatort platzen lassen, an dem es in wenigen Minuten von Polizei, Ärzten und so weiter wimmeln wird, um einen Haltegriff zu finden? Man würde ihn sowieso nicht durchlassen.

Laut sagte sie: »Alexander, bitte!«

Alexander senkte ergeben die Lider und begann die Treppe hinaufzusteigen.

Die Strapaze, dieses »Alexander, bitte« mit einem Maximum an Überzeugungskraft auszustatten, gab Fanni den Rest. Sie ließ sich gegen die apricotfarbene Mauer vis-à-vis der Treppe fallen und spürte, wie ihre Knie einknicken wollten. Warum nicht? Sollten sie doch nachgeben, sollte ihr Rücken doch an der Mauer entlang abwärtsrutschen, bis ihr Hintern auf den Boden traf. Sie würde einfach eine Weile hier in aller Stille sitzen bleiben, um nachzudenken.

In aller Stille? Horch doch mal!

Fanni stützte sich von der Mauer ab und neigte lauschend den Kopf. Von beiden Seiten des Flures waren Schritte und Stimmen zu hören, untermauert von Lagen undefinierbarer Geräusche.

Man wird dieses Plätzchen, das sich Fanni Rot zum Meditieren ausgesucht hat, wohl kaum unbeachtet lassen!

Von links kamen die Schritte und Stimmen näher.

Fanni sprintete die Treppe hinauf.

In ihrem Zimmer ließ sie sich in den Louis-quinze-Sessel fallen, der unter dem Fenster stand; eine Replik, die jedoch recht gelungen und erstaunlicherweise sehr bequem war. Fanni zog die Beine an und legte den Kopf an die gepolsterte Lehne. Als ihr Blick die idyllisch in bunte Spätherbstfarben getauchte Parklandschaft vor dem Fenster einfangen wollte, schloss sie die Augen und presste die Fäuste darauf, bis sie bunte Kreise sah.

2

»Ich glaub es nicht«, sagte Hans Rot. »Ich glaube es einfach nicht.«

Er hatte sich in den Louis-quinze-Sessel geworfen und hockte breitbeinig da, während ihm Fanni auf einem Rattanstuhl gegenübersaß, den sie sich aus der Ecke herangezogen hatte.

»Möchtest du einen Schluck Saft trinken?«, fragte sie kleinlaut. »Vera hat mir…«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!