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Ein vergnüglicher Wohlfühlkrimi mit Herz. Fannis und Sprudels Urlaub in Tirol sollte nichts als Zerstreuung und Erholung bieten. Aber jetzt ist Finja tot. Der leblose Körper des jungen Mädchens liegt auf dem Wanderweg zum Kitzbüheler Horn – so, als wäre er hier aufgebahrt worden. Fanni schwört sich, den Täter zu finden. Sie sucht ihn unter den Nachwuchs- Skirennläufern, die das Mädchen gemobbt haben, und unter deren Mäzenen. Und sie kommt ihm auf die Spur. Doch auch der Mörder hat Fanni längst im Visier.
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Seitenzahl: 340
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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus shutterstock.com/auerimages, shutterstock.com/penphoto
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-787-3
Originalausgabe
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Zu Hause ist, wo die Berge sind.
1
»Da liegt sie vor uns, die Perle Tirols.« Fanni war stehen geblieben und blickte ins Tal. Als von Sprudel keine Reaktion darauf kam, drehte sie sich zu ihm um, sah ihn aufmerksam an und registrierte seine verwirrte Miene.
»Gibt es nicht ein volkstümliches Lied«, sagte sie schließlich, »in dem Kitzbühel so bezeichnet wird?«
Im Gesichtsausdruck ihres Mannes begann sich langsam Begreifen zu spiegeln, dann fing er an zu lachen.
Fanni musste einen Moment überlegen, bis es ihr einfiel. »›Kennst du die Perle, die Perle Tirols …‹, so fängt das Lied an«, sagte sie streng.
»Und wie geht es weiter?«, fragte Sprudel glucksend.
Bevor Fanni darüber nachdenken konnte, intonierte er in schönstem Bariton: »Kennst du die Perle, die Perle Tirols, das Städtchen Kufstein, das kennst du wohl.« Grinsend merkte er an: »Kufstein, Fanni. In dem Lied geht es um Kufstein.«
»Oh.«
Er nahm sie in die Arme und wiegte sie sacht. »Du hast ja recht, in dem Reisemagazin, das wir uns neulich angesehen haben, wurde Kitzbühel als ›Perle der Tiroler Berge‹ bezeichnet. Zu Recht, wie wir gerade sehen.«
Fanni schmiegte sich an Johann Sprudel, den seit fast zwanzig Jahren pensionierten Kriminalbeamten, mit dem sie nun ziemlich lange verheiratet war. Einem Mordfall in Fannis damaliger Nachbarschaft war es zu verdanken gewesen, dass sie ihn kennen- und lieben gelernt und es schließlich geschafft hatte, aus ihrer schon Jahrzehnte andauernden unglücklichen Ehe mit Hans Rot auszubrechen. Die Eheschließung mit Sprudel hatte sie noch keinen Augenblick bereut, und für sie stand felsenfest, dass sie es auch niemals tun würde.
Ein amüsiertes Lächeln kam sie an, als ihr einfiel, dass sie ihn nach langer Beziehung und etlichen Jahren Ehe noch immer »Sprudel« nannte. Aber das zu tun war quasi ein Naturgesetz. Es hatte sich von Anfang so ergeben, und Sprudel hatte ihr einmal erklärt, dass ihn von klein an jeder so gerufen hatte. Sein Vorname würde in seinen Ohren wohl ebenso fremd klingen wie der eines chinesischen Reisbauern. Manchmal nannte Fanni ihn »Liebster«. Aber eher selten. Denn Fanni war absolut kein romantischer Typ.
Mittlerweile hatte Sprudel sie freigegeben und setzte den Weg, den sie am Morgen eingeschlagen hatten, langsam fort. »Perle hin oder her, Kitzbühel kann mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, Österreichs Wintersportort Nummer eins zu sein. Hier ist zum ersten Mal eine hochalpine Skiabfahrt geglückt, und damit wurde der Grundstein für Kitzbühels Aufstieg zu Weltruhm gelegt.«
Sprudel musste kurz verschnaufen, fuhr dann aber fort: »Das erste Hahnenkammrennen fand 1931 statt. Sechsundzwanzig Skisportler haben damals mitgemacht.« Er lachte leise. »Habe ich aus dem Internet. Darüber, wie viele in diesem Jahr dabei waren, habe ich allerdings nichts gefunden.«
»Neunundsiebzig beim Slalom der Herren, siebenundfünfzig beim Super G …« Nun war es an Fanni, zu grinsen und zu feixen. »Du hattest die Ergebnislisten ja stundenlang auf dem Bildschirm.«
»Und du hast die Teilnehmer gezählt?«, fragte Sprudel perplex.
Fanni grinste breiter. »Ich habe die Zahlen abgelesen. Kleines Kästchen, oben links.«
Daraufhin kam von Sprudel nichts mehr, was jedoch daran liegen mochte, dass der Wanderpfad, den sie gewählt hatten, jetzt merklich steiler wurde, weswegen man den Atem nicht auf Worte verschwenden durfte.
Nachdem sie die Steigung und ein darauffolgendes kurzes Stück ebener Strecke zurückgelegt hatten, auf dem sich Atmung und Puls etwas beruhigen konnten, machte Sprudel halt und deutete auf die andere Seite des Tals. »Da hast du sie in ganzer Einzigartigkeit vor Augen, die berühmte Streif.«
Fannis Blick glitt den Hang hinab, den sie gerade hinaufgestiegen waren, registrierte die Häuser, die hier an der Flanke des Kitzbüheler Horns nur noch vereinzelt standen, weiter unten aber immer näher zusammenrückten und schließlich eine Art Insel bildeten, aus der etliche Kirchtürme aufragten. Im Süden steht die Katharinenkirche, sie stammt aus der Blütezeit des Bergbaus, erinnerte sich Fanni. Gestern, am Tag ihrer Ankunft, hatten Sprudel und sie noch einen Rundgang durch die Altstadt gemacht, und wie so oft, wenn sie ihnen unbekannte Orte besuchten, war Sprudel exzellent vorbereitet gewesen, hatte sie auf Sehenswürdigkeiten hingewiesen und ihr die wichtigsten Informationen dazu geliefert. Fannis Blick wanderte ein Stück nach Norden über die Spitalskirche zur Liebfrauenkirche mit ihrem wegen einer zu großen Glocke überdimensionierten Turm und weiter zur Pfarrkirche St. Andreas (gotisch, rekapitulierte Fanni, mit einer barocken Haube), irrte jedoch dann ab, kreuzte die Ache und die Pass-Thurn-Straße, überflog weitere Häuserreihen, Sträßchen und Gässchen, wanderte den dem Kitzbüheler Horn schräg gegenüberliegenden Berghang wieder hinauf und fand irgendwann die Stützen der Hahnenkamm-Seilbahn.
»Das steilste Stück der Streif hat ein Gefälle von fünfundachtzig Prozent«, dozierte Sprudel gerade. »Die Abfahrt steht für das gefährlichste Skirennen der Welt. Es ist ein Ritt auf einer Rasierklinge, heißt es. Entsprechend schwer sind die Unfälle, die sich ereignen. Glücklicherweise scheint aber in all den Jahren kein einziger Rennläufer ums Leben gekommen zu sein.«
Fanni hatte den Sinn von Sportveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihr Leben aufs Spiel setzten – sei es, indem sie ihre Gesundheit durch Dopingmittel ruinierten oder auf Formel-1-Rennstrecken Kopf und Kragen riskierten –, noch nie begriffen.
Wie konnte man nur mutwillig –
Ein Rennläufer, der sich an die Streif wagt, kann die Gefahren der Strecke durchaus einschätzen!, unterbrach sie ihre Gedankenstimme, ihre innere Kritikerin und ständige Begleiterin: besserwisserisch, übergriffig, lästig und ab und zu auch mal hilfreich.
So ein Profi beherrscht seinen Körper, er ist in der Lage, blitzschnell zu reagieren!
Die Gedankenstimme legte eine kleine Pause ein, bevor sie fortfuhr: Als Gegenbeispiel kann man da gut und gerne Fanni Rot anführen! Unsere Möchtegern-Miss-Marple hat sich ein ums andere Mal in Mordermittlungen gestürzt, mutwillig, blindlings, planlos …
Fanni konzentrierte sich auf die jetzt im Spätherbst noch saftig grüne und eigentlich ganz harmlos wirkende Bergflanke, wodurch es ihr gelang, die Stimme in ihrem Kopf auszublenden. Davon wurde jedoch nichts besser, denn nun kam ihr in den Sinn, dass vor einigen Wochen in Kitzbühel fünf Menschen ihr Leben hatten lassen müssen. Die Streif, welche Gefahren sie auch bergen mochte, hatte aber nicht das Geringste damit zu tun gehabt.
Etliche Zeitungsredaktionen betrachteten es offenbar als lukrativ, das schreckliche Geschehen bis zum Gehtnichtmehr auszuschlachten, denn Fanni hatte in einem regionalen Blatt tags zuvor noch diverse Artikel und sogar Fotos der Opfer gesehen.
Als sie und Sprudel angereist waren, hatten sie sich an einer Tankstelle nicht nur mit Treibstoff, sondern auch mit Wanderkarte, Stadtplan und Tagespresse versorgt, und Fanni hatte die Berichte über den spektakulären Mordfall gelesen.
Ein von Arbeitskollegen als ordentlich, ruhig und zurückhaltend beschriebener junger Mann hatte aus heiterem Himmel seine Ex-Freundin Nadine H., deren Partner, Eltern und Bruder erschossen. Danach hatte er sich laut Zeitungsbericht umgehend der Polizei gestellt und ein Geständnis abgelegt. Zum Motiv hatte er keine Aussage gemacht, aber es schien wenig Zweifel daran zu geben, dass es sich um einen Rachefeldzug handelte, denn Nadine H. und der Täter waren offenbar mehrere Jahre zusammen gewesen, bevor sie die Beziehung beendete.
Fanni sah die Neunzehnjährige vor sich, wie sie in der Zeitung abgebildet gewesen war, erinnerte sich an das hübsche Gesicht, umrahmt von langen dunklen Haaren, an das sympathische Lächeln und musste Tränen hinunterschlucken.
Bedrückt wandte sie sich ab und machte gedankenverloren ein paar Schritte auf einen kleinen Bach zu, der am Weg entlangplätscherte. Er war von hohen Grasbüscheln und längst verblühtem Schaumkraut gesäumt.
Ein hübsches Gesicht, umrahmt von langen dunklen Haaren!
Die Gedankenstimme wiederholte es wie ein Mantra, und Fanni bekam das Bild nicht aus dem Kopf. Sie rieb sich über die Stirn, kniff die Augen zu und öffnete sie wieder, aber das Bild war immer noch da.
Weil es sich nicht um dasjenige handelt, das du aus der Zeitung in vager Erinnerung behalten hast! Was du siehst, ist real!
Was faselte die Gedankenstimme denn da?
Komm ins Hier und Jetzt zurück und schau einfach hin!
Tief in Fanni begann sich etwas dagegen zu sträuben, der Gedankenstimme zu gehorchen.
Sie hätte sich gern zu Sprudel zurückgeflüchtet, der noch immer fasziniert auf die Steilhänge des Hahnenkamms starrte und leise vor sich hin murmelte. »Bis zu einhundertzwanzig Kilometer pro Stunde im steilsten Stück. Das muss man sich mal vorstellen. In vielen Ländern ist das die auf Autobahnen gerade noch erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Verrückt. Das ist total verrückt.«
Auf einmal hätte Fanni nichts lieber getan, als sich sämtliche Bekanntmachungen über die Streif anzuhören, sie hätte sich liebend gern die prominentesten Rennläufer der Streif aufzählen lassen und sich sogar nach den Siegerzeiten erkundigt.
Dabei hätte sie versuchen können, sich einzureden, dass das Foto der jungen Frau aus der Zeitung so lange und so anschaulich in ihrem Kopf herumgespukt hatte, bis sie dachte, sie da am Bachufer liegen zu sehen.
Nichts und niemand hat gespukt. Zwischen den Grasbüscheln liegt ein totes Mädchen. Jetzt schau gefälligst hin!
Fanni gab ihren Widerstand auf, trat noch einen Schritt näher, biss die Zähne zusammen und beugte sich vor.
Und wieder war es da, dieses hübsche Gesicht, umgeben von dunklen Haaren, ganz ähnlich dem, das sie aus der Zeitung in Erinnerung hatte.
Aber bei näherem Hinsehen zeigten sich deutliche Unterschiede. Nase und Mund waren bei dem Mädchen am Bachufer viel schmaler, die Augen runder, die Brauen weniger gerade als bei dem auf dem Zeitungsbild. Zudem wirkte dieses Gesicht hier kindlicher. Jünger. Ein, zwei Jahre mindestens.
Abgesehen von den dunklen Haaren gab es also kaum Ähnlichkeit, und trotzdem kam ihr dieses Gesicht bekannt vor. Sie meinte, dem Mädchen erst kürzlich begegnet zu sein. Wann und wo bloß?
Fanni richtete sich auf und dachte nach. Als sich die Antwort auf das Wann und Wo auftat, löste sich ein Schrei aus ihrer Kehle.
Im nächsten Moment stand Sprudel an ihrer Seite, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Was hat dich denn so erschreckt?«
Fanni wies auf die Uferstelle, die sie am liebsten zum Verschwinden gebracht hätte. »Finja. Da liegt Finja Mittl… nein Fellner heißt sie wohl. Finja, Carlas Enkeltochter.«
Sprudel ließ sie los, wandte sich mit einem Ruck in die bezeichnete Richtung, starrte eine Weile auf den leblosen Körper und beugte sich schließlich darüber.
Fannis Blick irrte in die Ferne. Weg, nur weg von diesem Unglücksort. Über wie viele Tote war sie in den vergangenen Jahren schon gestolpert? Sie mochte sie nicht mehr zählen, und sie wünschte sich nichts mehr, als dass endlich Schluss damit wäre. Auf der Suche nach einem Ausweg begann ihr Blick über die umliegenden Berggipfel zu wandern. Direkt vor ihr ragte das Kitzbüheler Horn auf, nordöstlich davon der Obingkogel. Ganz im Norden erhob sich der Wilde Kaiser mit dem markanten Ellmauer Tor, der Mautspitze und der Ackerlspitze. Auf der Westseite der Talsenke …
Auch noch so ausgiebiges Gebirgszackenaufzählen wird nichts daran ändern, dass Carlas Enkelkind in kaum einem Meter Entfernung leblos im Uferbewuchs liegt!
Mit einem tiefen Seufzer zwang Fanni den Blick zurück zu dem toten Mädchen.
Als Sprudel sich aufrichtete und zu ihr umdrehte, war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. »Es ist tatsächlich Finja.« Nach einer Pause fügte er leise hinzu: »Sie muss schon einige Zeit tot sein, zwei, drei Stunden mindestens. Ihre Haut fühlt sich eiskalt an.« Er holte stockend Luft. »Um ihren Hals spannt sich eine gelbe Reepschnur.«
Fanni nickte mechanisch. Sie hatte die Schnur bemerkt, und ihr Verstand hatte die einzig logische Schlussfolgerung daraus gezogen. Aber sie war noch längst nicht so weit, der Sache ins Auge zu sehen. Sie registrierte kaum, wie Sprudel den Notruf absetzte.
Finja Fellner, dröhnte es unentwegt in ihrem Kopf. Carlas siebzehnjährige Enkeltochter. Finja … Finja … Weiter kam sie nicht.
Am Abend zuvor waren sie und Sprudel mit dem Mädchen kurz bekannt gemacht worden. Es war gegen halb acht gewesen, als Finja im Eingangsbereich des Apartmenthauses erschien, wo sich die Gäste ihrer Großmutter versammelt hatten.
Fanni war gerade mit Gabi Welter im Gespräch gewesen, hatte deshalb nur einen kurzen Händedruck, begleitet von einer Begrüßungsfloskel, mit Finja getauscht und sie bloß flüchtig angesehen.
Dennoch hegte sie inzwischen keinen Zweifel mehr, dass es Carlas Enkelin war, die dort im Gras lag, zumal Sprudel es ja bestätigt hatte.
Er sprach noch immer in sein Mobiltelefon, schien Ortsangaben zu übermitteln.
Du solltest dir ein Bild machen, bevor die Kripo eintrifft und hier alles abriegelt!
Fanni schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie würde nichts dergleichen tun. Ganz im Gegenteil. Sie würde den Blick wieder auf die Berggipfel richten, die Gedanken kurzhalten und so tun, als wäre das alles bloß ein bedrückender Traum.
Der mit einer Einladung auf Büttenpapier begonnen hatte.
Die du Sprudel vorenthalten wolltest!
Was mir nicht gelungen ist, dachte Fanni.
Sie hatte Sprudel nicht glattweg hintergehen wollen, es aber auch nicht über sich gebracht, ihm den Brief zu zeigen, der sie vor einiger Zeit erreicht hatte, weil sie wusste, dass er versuchen würde, sie zu einer Zusage zu bewegen.
Unentschlossen, was sie damit tun sollte, hatte sie das Kuvert samt Inhalt in den Stapel Werbeprospekte gesteckt, der sich auf einem niedrigen Tischchen in der Zimmerecke immer über Monate hinweg ansammelte, von Sprudel gelegentlich durchgeblättert und schließlich entsorgt wurde. Mit etwas Glück würde er das Schreiben zu spät in die Hände bekommen oder völlig übersehen.
Er fand es …
Kiberer bleibt Kiberer!
Fanni stöhnte entsetzt auf. Wollte sich die Gedankenstimme diesmal etwa auf Austriazismen einschießen?
… leider noch rechtzeitig.
»Wer ist Carla Mittler?«, hatte Sprudel gefragt.
»Entfernte Verwandte«, hatte Fanni recht einsilbig geantwortet.
Es hatte Sprudel einige Anstrengung gekostet, ihr die genauen Zusammenhänge zu entlocken, aber irgendwann wurde klar, dass Carla nicht nur Fannis Cousine (eine Cousine zweiten Grades genau genommen), sondern auch eine ehemalige Studienkollegin war.
»Wir sind zu sechst gewesen, haben Tür an Tür im selben Studentenwohnheim gewohnt«, hatte Fanni auf Sprudels Drängen hin berichtet. »Wollten berühmte Wissenschaftlerinnen werden. Mikrobiologie.« Sie hatte ironisch aufgelacht. »Ich war die Erste, die ihre Illusionen begraben musste. Du weißt ja, warum.«
Sprudel wusste es. Fanni hatte ihm schon vor langer Zeit ihr großes Geheimnis verraten, das außer ihr nur ihre Zwillinge kannten sowie deren biologischer Vater, der aber längst nicht mehr lebte. Niemand sonst hatte je erfahren, dass sie damals eine Affäre mit einem der Universitätsprofessoren gehabt hatte, schwanger geworden war und sich deshalb in die Ehe mit Hans Rot gestürzt hatte.
»Carla war die Nächste«, hatte Fanni weiter erläutert. »Sie hat einfach zu viele Klausuren verbockt. Traudl und Irmi haben etliche Semester durchgehalten, schließlich aber auf Lehramt für Grundschule umgesattelt. Nur Gabi und Becki haben das Studium zu Ende gebracht, dann aber geheiratet, und das war’s dann auch für die beiden.«
»Ihr sechs seid aber trotzdem all die Jahre in Verbindung geblieben?« Sprudel hatte sich höchst erstaunt angehört.
»Die anderen ja. Ich habe mich rausgehalten«, hatte Fanni zugegeben.
»Woher weißt du dann –«
Fanni hatte bereits abgewunken, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. »Hans natürlich. Du kennst ihn ja. Immer auf dem neuesten Stand, mein Ex-Mann. Was nicht im Bayerwaldboten steht, erfährt er von seinen Vereinsbrüdern, von Nachbarn und Verwandten und was weiß ich, woher noch. Für die anderen vier, Becki, Gabi, Irmi und Traudl, hat er sich weniger interessiert. Aber Carla war ja schließlich Verwandtschaft.« Sie hatte die Augen verdreht. »Außerdem kannte er sie von früher. Als die beiden Teenager waren, hat sie eine Zeit lang in seiner Nachbarschaft gewohnt. Aber frag jetzt nicht, wann genau, wo oder warum.«
Sprudel hatte nicht so ausgesehen, als wäre ihm eine solche Frage auch nur ansatzweise in den Sinn gekommen. Dass Fanni sich für die Angelegenheiten ihrer Mitmenschen (Kinder, Enkel und Sprudel ausgenommen) nur dann interessierte, wenn diese für Ermittlungen in einem Mordfall relevant waren, wusste er längst.
»Dann weißt du also auch nicht, wie es kommt, dass Carla Mittler jetzt in Kitzbühel ansässig ist und ein Gästehaus mit einem halben Dutzend Ferienwohnungen besitzt?«, hatte er stattdessen gefragt, und Fanni hatte es bestätigt.
»Nein, das weiß ich natürlich nicht.«
Daraufhin hatte sich Sprudel wieder dem Text auf dem Büttenpapier zugewandt und eine Weile darüber gebrütet. »Sie schreibt, dass es ihr wichtig ist. Sie schreibt, dass sie dich sehr bittet, die Einladung anzunehmen.«
Auf seinen fragenden Blick hin hatte Fanni die Schultern gezuckt. »Ich begreife wirklich nicht, wie sie auf so etwas kommt. Es muss Jahrzehnte her sein, dass ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Auf der Beerdigung von Onkel Herbert wahrscheinlich.«
Sprudel hatte sie streng angesehen. »Du willst also nicht wissen, weshalb sich deine Cousine nach all den Jahren die Mühe gemacht hat, deine Anschrift herauszufinden, um dich zu ersuchen, eine Woche kostenfrei in einer ihrer Ferienwohnungen im Nobelort Kitzbühel zu verbringen?«
Fanni hatte verstockt zurückgeblickt. »Jetzt im November stehen die sowieso alle leer.«
»Fanni«, hatte Sprudel daraufhin in hörbar vorwurfsvollem Ton gesagt. »Ich weiß, wie zuwider dir solche Treffen sind. Wir vermeiden sie ja auch weitgehend. Aber meinst du nicht, dass Carla einen triftigen Grund dafür haben könnte, dich um diesen Besuch zu bitten?«
Daraufhin hatte Fanni schuldbewusst genickt. Die Frage nach dem Anlass für Carlas dringliche Einladung hatte sie umgetrieben, seit sie das Büttenpapier zwischen die Werbeprospekte gesteckt hatte.
»Sie hält ein Sträußchen in der Hand.«
Fanni schreckte aus ihren Gedanken auf und bedachte Sprudel mit einem verständnislosen Blick.
»Finja«, präzisierte Sprudel. »Du musst sie dir genau ansehen.«
Fanni verschränkte die Arme, krallte die Finger in die Ärmelaufschläge ihrer Jacke und rührte sich nicht vom Fleck.
Sowohl Sprudel als auch die Gedankenstimme hatten sie in früheren Fällen stets davon abzuhalten versucht, eigene Ermittlungen anzustellen. Weshalb auf einmal diese Kehrtwende?
»Jetzt«, sagte Sprudel. »In wenigen Minuten wird hier alles abgeriegelt sein. Dann ist es zu spät dafür.«
Anstatt Sprudels Aufforderung Folge zu leisten, schüttelte Fanni den Kopf. »Wir werden uns auf keinen Fall in die Sache hineinziehen lassen. Irgendwann muss Schluss sein. Keine Ermittlungen mehr.« Sie produzierte eine steile Falte auf der Stirn. »Egal, was passiert. Egal, wer wie, wann, warum und wo zu Schaden gekommen ist. Ich will dem Ganzen ein für alle Mal ein Ende bereiten. Für Verbrechensaufklärung ist die Polizei zuständig, die hoffentlich gleich da sein wird. Wir halten uns komplett raus.«
Sprudel machte ein unglückliches Gesicht. »In jedem anderen Fall wäre ich über deine Entscheidung froh und erleichtert gewesen, aber in diesem fühle ich mich verpflichtet …« Er schien nicht recht weiterzuwissen.
Fanni sah ihn erstaunt an. »Wie kannst du dich zu irgendetwas verpflichtet fühlen? Bis gestern hast du Carla und Finja überhaupt nicht gekannt, und auch da bist du ihnen nur kurz begegnet.«
Das ließ sich nicht abstreiten. Bei ihrer Ankunft am späten Nachmittag hatte Carla sie begrüßt, sie in die Ferienwohnung geführt, die ihnen zur Verfügung stand, und ihnen bezüglich des weiteren Ablaufs einen Vorschlag unterbreitet, den Fanni und Sprudel ohne Einwände angenommen hatten.
Geplant war, dass die ehemaligen Studienkolleginnen am Abend in Carlas Wohnung im Dachgeschoss des Gästehauses zusammentreffen sollten, um Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse und so weiter auszutauschen. Für die Ehemänner – später stellte sich heraus, dass nur zwei mitgekommen waren – hatte Carla eine Begegnung in der Zirbenstube vorgesehen, einem Aufenthaltsraum im Untergeschoss, wo es einen großen Flachbildfernseher, zwei runde Tische mit Stühlen, eine kleine Theke und einen ansehnlichen Kühlschrank mit Getränken und abgepackten Snacks gab. Ab acht sollte die Übertragung eines Champions-League-Spiels laufen, und Carla schien davon auszugehen, dass sich die Männer dafür interessieren würden.
Finja war dann am Abend kurz in der Eingangshalle aufgetaucht, wo sich alle versammelt und begrüßt hatten, bevor sich die Männer in die Zirbenstube, die Frauen ins Dachgeschoss aufmachten.
»In der Halbzeitpause«, erklärte Sprudel jetzt, »hat Carla bei uns hereingeschaut und gefragt, ob wir Nachschub an Getränken brauchen. Peter und ich hatten jeder nur ein Bier getrunken, deshalb war noch mehr als genug da. Trotzdem hat Carla darauf bestanden, den Kühlschrank aufzufüllen, und mich darum gebeten, ihr dabei zu helfen. Also bin ich ihr den Gang runter in den Lagerraum gefolgt, und dort hat sie mir die Hand auf den Arm gelegt und gesagt, sie müsse etwas unter vier Augen mit mir besprechen.«
Das überraschte Fanni derart, dass sie nun ihrerseits die Hand auf Sprudels Arm legte, gleichzeitig aber heftig zudrückte. »Wie kommt Carla –«
Sprudel unterbrach sie. »Hör auf, mir den Arm zu zerquetschen. Ich wollte es dir ja gerade berichten.«
Fanni lockerte den Griff, ließ aber nicht los.
»Carla hat mir erzählt, dass sie von Zeit zu Zeit mit Hans telefoniert. Ein-, zweimal haben sie sich anscheinend sogar getroffen. Dein Ex scheint ziemlich damit anzugeben, dass du schon ein paar Mörder hinter Gitter gebracht hast.«
Fanni schnaubte, und Sprudel musste kurz grinsen.
Das ist wieder einmal typisch für Hans Rot, dachte Fanni.
Ihr gegenüber hatte er immer demonstrativ verächtlich getan, hatte sich jedes Mal darüber lustig gemacht, wenn sie und Sprudel auf Mörderjagd gewesen waren, aber anderen gegenüber tat er offenbar groß mit den Fähigkeiten seiner Ex-Frau.
Sprudel war schnell wieder ernst geworden. »Was Hans über deine Erfolge –«
»Unsere Erfolge«, berichtigte ihn Fanni.
»… unsere Erfolge«, wiederholte Sprudel willfährig, »erzählt hat, war der Grund für die Einladung nach Kitzbühel.«
Fanni blinzelte verwirrt. Was Sprudel da sagte, machte nicht den geringsten Sinn. »Aber Carla konnte doch unmöglich wissen, dass ihre Enkeltochter ermordet werden …« Sie beendete den Satz nicht.
»Natürlich nicht«, sagte Sprudel. »Sie wollte uns bitten, Nachforschungen über Finjas Vater anzustellen.«
»Nachforschungen über Finjas Vater«, plapperte Fanni automatisch nach, unfähig, das Gehörte zu verarbeiten. »Wieso sollten wir –«
Sprudel ließ sie nicht ausreden. »Das konnte sie mir nicht mehr sagen, weil Peter aus der Zirbenstube gerufen hat, dass die zweite Halbzeit schon angepfiffen sei und wo ich denn so lange bliebe. Carla hat nur noch gesagt: ›Wir reden morgen über die Sache, wenn Fanni auch dabei ist‹, dann ist sie wieder nach oben gegangen und hat völlig vergessen, dass sie eigentlich Getränkenachschub hatte holen wollen. Um Peter nicht irre zu machen, habe ich mir schnell ein paar Flaschen unter den Arm geklemmt und bin zu ihm zurück in die Zirbenstube.«
»Und jetzt meinst du …« Diesmal verstummte Fanni wieder ohne sein Zutun.
»Was ich meine, ist erstens«, sagte Sprudel ernst, »dass Carla uns hierher eingeladen hat, weil sie auf unsere Hilfe gehofft hat; zweitens, dass wir es bisher immer abgelehnt haben, an Zufälle zu glauben; und drittens, dass wir nach all unseren erfolgreich gelösten Mordfällen nicht einfach zu ihr sagen können, wir hätten von jetzt auf gleich keine Lust mehr, Ermittlungen anzustellen.«
Fanni verstärkte den Griff um seinen Arm wieder, sagte aber nichts. Was hätte sie schon dagegen vorbringen können?
Eben! Heraushalten geht in diesem Fall nicht. Im Grunde steckt ihr ja schon mittendrin! Und wenn du dir die letzte Chance, eigene Eindrücke zu gewinnen, jetzt entgehen lässt, wirst du es später bereuen. Sondergleichen wirst du es bereuen! ›Krowotisch wirst es bereuen‹, würde ein Wiener Urgestein wie Hans Moser wahrscheinlich sagen.
Der Seufzer, den Fanni ausstieß, bevor sie auf das tote Mädchen im Uferbewuchs zutrat, galt in diesem Moment mehr der Gedankenstimme als der Gewissheit, wieder einmal in einen Kriminalfall verwickelt zu werden. Hatte diese lästige Stimme in ihrem Kopf allen Ernstes beschlossen, sie mit Austriazismen zu bombardieren?
Krowotisch. Also wirklich, dachte Fanni.
Ins Hochdeutsche übertragen bedeutete »krowotisch« genau genommen »kroatisch«. Ein Kroate wurde in Österreich als Krowot bezeichnet, wusste Fanni. Was auch immer mit dem Wort »krowotisch« im Sprachgebrauch ausgedrückt werden sollte, im Sinne von stark, sehr oder heftig ließ es sich wohl eher nicht anwenden.
Im Sinne von »außergewöhnlich« aber durchaus!
Fanni wollte da nicht recht beipflichten. Sie erinnerte sich noch ganz gut an den Sketch »Hallo Dienstmann« von und mit Hans Moser, durch den der Ausdruck »krowotisch« geradezu Berühmtheit erlangt hatte. In ihrer Kindheit war der Einakter oft im Fernsehen – schwarz-weiß, versteht sich – ausgestrahlt worden. Hans Moser und Paul Hörbiger diskutierten darin die Frage, wie sie einen schweren Koffer die Treppe hinaufbefördern sollten. »Wie nehmen wir ihn denn?« – »Mit Untergriff?« – »Über Hirn?« – »Ich glaub, ich nehm ihn krowotisch.«
»Sie hält ein Sträußchen Blumen in der Hand«, wiederholte Sprudel.
Fannis Blick senkte sich auf Finjas hingestreckten Körper und fand auf der Brust fünf kleine weiße Blüten. Die Blütenblättchen waren jeweils kreisförmig um einen gelben Stern angeordnet und liefen am äußeren Ende spitz zu. Schlanke Stiele mit schmalen Blättern steckten in Finjas rechter Hand, die locker auf der Brust lag.
Finjas linker Arm hing nachlässig über einem Wurzelstock, als hätte er nicht recht gewusst, wohin mit sich. Insgesamt wirkte das Szenario, als hätte Finja hier aufgebahrt werden sollen, wobei aber derjenige, der das tun wollte, gestört worden war oder sein Vorhaben aus anderen Gründen aufgegeben hatte.
Was sind denn das für seltsame Blumen?
Fanni zuckte unmerklich die Schultern. Solche Blüten waren ihr noch nie untergekommen. Woher sie stammten und wie sie hießen, würde sich aber sicher klären lassen. Falls es denn von Bedeutung war. Vorerst ging es darum, sich ein Gesamtbild zu verschaffen und zugleich möglichst viele Details zu erfassen und zu speichern.
Und das im Eiltempo! Die Bullerei ist schon im Anmarsch!
Tatsächlich war von der Straße her das Zuschlagen von Autotüren zu hören. Stimmen wurden laut. Sprudel rief etwas hinüber und winkte.
Fanni warf einen letzten Blick auf das tote Mädchen. Dann kehrte sie auf den Wanderweg zurück, wo soeben der erste Polizeibeamte erschien.
Wenig später war die Stelle, an der Finja lag, mit rot-weißen Bändern abgesperrt.
Fanni und Sprudel hockten gut fünfzig Meter unterhalb des Fundorts auf einer Planke, die den Wanderweg von einer Wiese abgrenzte, und machten ihre Angaben.
Nein, sie hatten nichts angefasst. Sprudel hatte nur kurz die Fingerspitzen an Finjas Hals gelegt, dann hatten sie sich zurückgezogen. Nein, sie waren nicht um die Tote herumgetrampelt, nur vorsichtig an sie herangetreten.
Ja, sie kannten das tote Mädchen. Konnten bezeugen, dass es sich um Carla Mittlers Enkelin Finja handelte, die sie am Abend zuvor in Carlas Gästehaus kennengelernt hatten.
Und nein, sie hatten niemanden getroffen. Auf dem Weg von Carlas Gästehaus bis zu der Stelle, wo sie stehen geblieben waren, um zu verschnaufen und einen Blick auf die Streif zu werfen, war ihnen niemand entgegengekommen, niemand hatte sie überholt, und auch auf den Wegen, die sie gekreuzt hatten, war niemand zu sehen gewesen. Dort, wo sie haltgemacht hatten, war ihnen, ebenso wie am Fundort der Leiche, nichts Erwähnenswertes aufgefallen. Kein Geraschel, kein Rumoren, erst recht keine obskure Person.
»Was sind das für Blumen?«, fragte Fanni den Kriminalbeamten, nachdem er sein Notizbuch geschlossen und ihnen eingeschärft hatte, sich zur Verfügung zu halten.
Hätte Fanni sich plötzlich in ein Tiroler Grauvieh-Rind verwandelt und lauthals gemuht, hätte er sie nicht verblüffter anstarren können.
»Die Tote hält ein Sträußchen in der Hand«, erklärte ihm Fanni mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte. »Es sind Blumen, die ich noch nie gesehen habe. Was sind das denn für welche?«
Der Beamte machte eine unwirsche Geste, drehte sich um und ging kopfschüttelnd davon.
»Es sind Milchsterne«, sagte eine Jungmädchenstimme. »Jedenfalls nennt meine Oma sie so.«
Fanni blickte sich um und stellte fest, dass die Stimme einer jungen Polizistin gehörte, die offensichtlich die Aufgabe hatte, dafür zu sorgen, dass niemand durchs Absperrband schlüpfte. Sobald die ersten Schaulustigen und mit ihnen die unvermeidlichen Reporter auftauchten, würde sie wohl einiges zu tun bekommen.
Fanni machte einen Schritt auf die junge Frau zu. »Milchsterne? Ja, der Name beschreibt die Blüten treffend. Wachsen sie wild hier in der Gegend?«
»Müssten sie eigentlich«, sagte die junge Polizistin nach kurzem Nachdenken. »Aber besonders verbreitet scheinen sie nicht zu sein. Ich hab jedenfalls noch nie irgendwo welche gefunden, ich kenne sie nur aus dem Garten meiner Oma.«
2
»Carla schläft«, sagte Becki. »Gabi hat ihr was gegeben.«
Fanni und Sprudel waren Becki im Eingangsbereich begegnet, und Fanni hatte sie nach Carla gefragt.
Fanni nickte wissend. Sie hatte am Abend zuvor schon mitbekommen, dass Gabi Medikamente anbot wie Naschwerk.
»Ihr Sohn betreibt eine Apotheke«, hatte ihr Becki zugeraunt. »Da scheint sie sich hemmungslos zu bedienen.«
Und großzügig zu verteilen, dachte Fanni nun, denn sie hatte gesehen, wie Gabi ein ganzes Häufchen Pillen auf Traudls offene Handfläche schüttete, nachdem die gesagt hatte, ein bisschen Hilfe beim Einschlafen könne in ungewohnter Umgebung nicht schaden.
Carla war also von Finjas Tod bereits in Kenntnis gesetzt worden. Hatte man ihr auch Fragen über ihre Enkelin gestellt?
»Ein paar«, antwortete Becki, als Fanni sich danach erkundigte.
Wieso weiß die das?
Es war, als hätte Fannis Gedankenstimme auch bei Becki Gehör gefunden, denn sie begann unaufgefordert zu berichten. »Peter war Brötchen holen. Ich habe derweil Kaffee gekocht. Wir wollten es uns in unserem Erker-Eckchen gemütlich machen und ausgiebig frühstücken.« Sie deutete auf die Wohnungstür rechts neben dem Hauseingang, die mit dem Schriftzug »Dachstein« gekennzeichnet war. »Wir haben die Parterrewohnung mit dem Erker, der wie ein Türmchen aussieht.« Becki merkte offenbar, dass sie abschweifte, hüstelte und fuhr dann fort. »Als Peter zurückkam, habe ich ihm die Haustür aufgemacht, weil er keine Schlüssel mitgenommen hatte. Da sind zwei Polizisten mit hereingekommen. Sie hatten gerade bei Carla geklingelt und haben darauf gewartet, eingelassen zu werden.«
Sie atmete gequält aus. »Als ich ihre angespannten Gesichter gesehen habe, war mir klar, dass etwas passiert sein musste. Ich habe mich als Carlas Freundin vorgestellt, und da haben sie mich gefragt, ob ich mit nach oben kommen würde, weil sie Carla eine schlimme Nachricht zu überbringen hätten.« Becki legte eine Hand über ihre Augen, als könne sie damit eine Erinnerung auslöschen. »Ich war dabei, als sie es ihr gesagt haben.«
Fanni wartete nachsichtig, bis Becki sich so weit gesammelt hatte, um weitererzählen zu können. »Anfangs war Carla wie erstarrt, hat die Fragen der Polizisten automatisch beantwortet und nicht die kleinste Gefühlsregung gezeigt. Ich habe mir aber gut ausmalen können, was passieren würde, sobald sich die Schockstarre löst. Deshalb habe ich, noch bevor die Polizisten wieder gegangen sind, Gabi angerufen. Zum Glück ist sie im Haus gewesen, hat sich ihre Reiseapotheke geschnappt und war schon da, als bei Carla das Begreifen einsetzte.« Becki schluckte. »Das war aber auch notwendig.« Daraufhin verstummte sie. Aber Fanni konnte sich ohnehin recht gut vorstellen, wie es gewesen war, als die Erstarrung von Carla abfiel und der Schmerz mit voller Wucht zuschlug.
Schließlich seufzte Becki schwer. »Gott sei Dank hat Gabi genau gewusst, was sie in so einem Fall verabreichen muss.«
Fanni hätte auch am liebsten geseufzt. Gabi hatte vermutlich gründliche Arbeit geleistet und Carla nachhaltig sediert. Besorgt fragte sie sich, wann sie wohl wieder ansprechbar sein würde. Um erfolgversprechende Mordermittlungen anstellen zu können, war es unabdingbar, möglichst viel über das Opfer zu erfahren. In früheren Fällen hatte es sich oft um jemanden aus Fannis persönlichem Umfeld gehandelt, und das hatte ihr – so betrüblich es ansonsten auch gewesen war – eine ganze Menge genutzt.
Wann würde Carla imstande sein, mit ihr über Finja zu sprechen? Sie mit dem Mädchen vertraut zu machen, ihr Auskunft über deren Freundeskreis, über Gewohnheiten und Eigenarten, Vorlieben und Aversionen zu geben und über Finjas Stimmung in den vergangenen Tagen? Wann würde Carla ihr erklären können, wieso Sprudel und sie Nachforschungen über Finjas Vater anstellen sollten?
Könnte er womöglich etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben?
Bevor ich nicht mit Carla gesprochen habe, spekuliere ich erst einmal über gar nichts, beschied Fanni ihrer Gedankenstimme.
»Nachdem Carla eingeschlafen war, hat Gabi als Erstes Irmi und Traudl informiert«, sagte Becki gerade. »Auch sie waren beide im Haus und sind gleich zu uns hochgekommen. Alle zusammen haben wir dann ausgemacht, abwechselnd bei Carla Wache zu halten. Sie sollte auf keinen Fall allein sein, wenn sie aufwacht.« Becki sah kurz auf ihre Armbanduhr. »Irmi hält die Stellung noch bis Mittag, dann löst Traudl sie ab.«
Fanni fing Beckis erwartungsvollen Blick auf, reagierte aber nicht darauf.
Fraglos war es erforderlich, Carla im Auge zu behalten. Aber das mussten die anderen tun. Sie selbst konnte nicht die Geduld aufbringen, tatenlos herumzusitzen, bis Carla aufwachte.
Aber wo und wie willst du denn ansetzen ohne das geringste Hintergrundwissen? Willst du etwa die Kiberer fragen, was Carla ihnen von ihrer Enkeltochter berichtet hat?
Das brachte Fanni auf den Gedanken, Becki müsse Carlas Antworten mitbekommen haben, den sie jedoch gleich wieder verwarf, weil ihr einfiel, dass Becki mit Gabi telefoniert hatte, während die Polizisten mit Carla gesprochen hatten.
Grüblerisch nagte sie an ihrer Unterlippe, als sie Sprudel zu Becki sagen hörte: »Peter hat gestern erwähnt, dass du all die Jahre Kontakt mit Carla hattest. Hast du auch Finja gekannt, sie vielleicht sogar einmal getroffen?«
Becki dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete. »Vor Jahren habe ich sie ab und zu gesehen, wenn sie zu Besuch bei Carla war und wir zum Skifahren hier gewesen sind, Peter und ich. Aber das ist lange her. In letzter Zeit habe ich nicht mehr viel von ihr gehört. Ich wusste nicht einmal, dass das Mädel seit ein paar Monaten bei Carla wohnt. Gabi, Irmi und Traudl haben auch nichts davon gewusst. Wir sind genauso überrascht gewesen wie du, als Carla damit herausgerückt ist. Und mehr hat sie zu dem Thema ja nicht verlauten lassen.«
Fanni nickte unmerklich. Auch am gestrigen Abend, als sie in Carlas Wohnung zusammensaßen, hatte Carla keinen Grund für Finjas Umzug nach Kitzbühel genannt. Und jetzt hatte Gabi dafür gesorgt, dass sie es vorerst nicht nachholen konnte.
Wer außer Carla könnte uns bloß Auskünfte über Finja geben?, fragte sich Fanni ratlos.
»Hat Carlas Enkelin nicht erwähnt, sie sei gerade auf dem Weg zu einer Schulveranstaltung, als sie uns gestern begrüßt hat?«, sagte Sprudel in diesem Moment.
Becki nickte. »Ja, das hat sie. Ich habe aber keine Ahnung, zu welcher Schule sie wollte.«
»Sie war zu Fuß unterwegs«, sagte Sprudel. »Ich habe sie in das Gässchen einbiegen sehen, das an der Ache entlang nach Süden führt.«
Was nichts heißen muss!
Was aber das Einzige ist, was wir haben, wies Fanni die Gedankenstimme zurecht.
»Nicht weit von hier in südlicher Richtung liegt die Handelsschule. Das würde auch vom Alter her passen«, sagte plötzlich eine Stimme schräg hinter Fanni. Sie fuhr herum und sah sich Traudl gegenüber, die offenbar unbemerkt die Treppe heruntergekommen war und sich zu ihnen gesellt hatte.
»Oberstufe Gymnasium würde auch passen«, merkte Fanni an.
»Das nächste Gymnasium ist aber in St. Johann«, sagte Becki. »Das sind gut zehn Kilometer. Da wäre Finja doch nicht zu Fuß hingegangen.«
Damit hat das Zuckerl auf jeden Fall recht!
Fanni schnappte überrascht nach Luft, musste aber eingestehen, dass der Ausdruck »Zuckerl« auf Becki zweifellos zutraf. Ihre Erscheinung ließ tatsächlich an Süßes denken.
Bereits tags zuvor war Fanni der mintgrüne Hosenanzug aufgefallen, zu dem Becki einen rosa Pulli und rosa Stiefeletten getragen hatte. Das rosa Lipgloss war eine Nuance heller gewesen als der Pulli und der Lidschatten eine Nuance heller als der Hosenanzug.
Becki war auch früher schon um die Hüften gut gepolstert gewesen und mit den Jahren noch sichtlich molliger geworden. Als junge Frau hatte sie feine, weiche Gesichtszüge gehabt, die mit dem Alter aber irgendwie den Halt verloren zu haben schienen.
Und in diesen zuckrigen Farben sieht sie nun aus wie ein Marshmallow!
Fanni musste sich ein Grinsen verbeißen. Der Vergleich drängte sich zweifellos auf, denn Becki hatte heute einen weißen Pulli zu einer gelben Hose gewählt.
Ein seltsames Paar, Peter Neuhuus und seine Frau, ging es ihr durch den Kopf. Er schlank, sportlich, jugendlich, sichtlich um einiges jünger als Becki, sie fast verwelkt und ein wenig aus den Fugen geraten …
Becki umgab eine Duftwolke, die nur von einem Parfüm mit Namen »Sugar Candy« oder »Douceur de Vivre« stammen konnte.
Traudl dagegen haftet ein Geruch nach Bitterwurz an!
Was wohl daran liegt, dachte Fanni, dass Traudl so schwer mit ihrem Schicksal hadert.
Als am Abend zuvor jede von ihnen einen kurzen Überblick über ihren Lebensweg gegeben hatte, um die anderen (hauptsächlich Fanni) vom wesentlichsten Geschehen in Kenntnis zu setzen, war schnell klar geworden, dass Traudl von allen die Unzufriedenste war. Ihren Job als Grundschullehrerin hatte sie gehasst, aber aus finanziellen Gründen nicht aufgeben können. Ihre Ehe schien ein Desaster gewesen zu sein, doch sie hatte es offenbar nicht fertiggebracht, einen Schlussstrich zu ziehen. Den zog dann schließlich das Schicksal, indem es ihren Mann das Zeitliche segnen ließ. Anscheinend war damit aber alles nur noch schlimmer geworden, und Traudl fühlte sich seither völlig verlassen, einsam, abgehängt.
Fanni hatte den Eindruck gewonnen, dass sie allen alles neidete, selbst das, was sie gar nicht hätte haben wollen.
Diese Frau ist wohl von jeher ein Neidkragen gewesen!
Das war nicht von der Hand zu weisen. Und wie alle schlechten Eigenschaften hatte sich auch Traudls Missgunst im Alter verstärkt, hatte sie bitter und verdrossen werden lassen. Ihre verkniffene Miene stellte das recht deutlich zur Schau.
»Die Handelsschule also«, sagte Sprudel, und es klang wie »Warum stehen wir eigentlich noch hier herum?«.
Einen Versuch ist es allemal wert, dachte Fanni und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gleich Mittag. Da müssten die Schüler ja bald alle aus dem Gebäude kommen.«
»Dann sollten wir uns beeilen«, meinte Sprudel.
Ob am Abend zuvor in der Schule eine Veranstaltung stattgefunden hatte, würde sich bestimmt ganz einfach feststellen lassen. Wenn ja, konnten sie ziemlich sicher sein, dass Finja auf die Handelsschule ging und diese Veranstaltung hatte besuchen wollen. Schwieriger würde es werden, aus der Schülerhorde Klassenkameraden von Finja herauszufischen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Aber simpel waren Mordermittlungen ja noch nie gewesen.
Fanni wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihr noch etwas einfiel.
Sie griff nach Beckis Handgelenk. »Hat die Polizei etwas zu Finjas Todeszeitpunkt verlauten lassen?«
»Ich …«, Becki schüttelte den Kopf, »… glaube nicht.«
Sprudel hielt bereits die Haustür auf, und Fanni eilte hinaus auf die Straße.
Sie fröstelte, als die Novemberkälte unter ihre Jacke drang. Über Nacht hatte es auf den Berggipfeln ein wenig Schnee gegeben, der liegen geblieben war und einen kalten Hauch über das Tal wehen ließ. Das Wasser der Ache dampfte, in Ufernähe hatten sich kleine Inseln aus Eis gebildet.
Fanni und Sprudel studierten kurz den Stadtplan, den sie tags zuvor an der Tankstelle erworben hatten, fanden die Handelsschule eingezeichnet und prägten sich die Route dorthin ein. Wie vorgesehen, folgten sie dann der am Fluss verlaufenden Fuß- und Radtrasse bis zum Hornweg, auf dem sie die Ache überquerten, um schließlich über das Gries und den Traunsteinerweg an ihr Ziel zu gelangen.
»Ich bin zwar kein Pathologe«, sagte Sprudel irgendwann. »Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Finja nicht mehr als ein paar Stunden tot war, als wir sie gefunden haben.«
»Das heißt, sie könnte tatsächlich auf dem Schulweg abgepasst und ermordet worden sein«, präzisierte Fanni.
»Andererseits war es ja ziemlich kalt heute Nacht«, relativierte Sprudel seine Bewertung. »Das wiederum könnte bedeuten, dass der Todeszeitpunkt doch früher anzusetzen ist.«
»Als wir sie gefunden haben, hatte Finja Jeans, Hoodie und Turnschuhe an«, sagte Fanni, weil ihr der Gedanke gekommen war, dass man eventuell anhand der Kleidung auf den Todeszeitpunkt schließen konnte. »Und gestern Abend?«
»Vermutlich auch«, beantwortete Sprudel die Frage. »Das tragen sie doch in dem Alter alle und zu jeder Gelegenheit, in der Schule, zu Hause, in der Kneipe, wo auch immer.«
Schade, dachte Fanni, dass Schuluniformen längst passé sind.
»Wenn Finja auf dem Weg zur Schule gewesen wäre, hätte sie dann nicht eine Büchertasche dabeihaben müssen?«, sagte Sprudel.
Die sonst wo liegen kann. Womöglich schwimmt sie gerade die Kitzbüheler Ache hinunter und kommt demnächst im Chiemsee an!
»Wir sind schon da«, sagte Fanni.
Der modern wirkende Schulkomplex lag etwas zurückgesetzt in einer ruhigen Straße. Fanni und Sprudel durchquerten einen kleinen, geschmackvoll angelegten Park (er hätte ebenso gut zu einer Kurklinik oder einem Seniorenheim gepasst), durch den man zum Eingang gelangte.
»Nobel«, murmelte Sprudel.
Fanni deutete auf die Inschrift über dem Haupteingang. »Die Schule nennt sich ja auch ›Bundeshandelsakademie‹.«
Der Vormittagsunterricht schien tatsächlich schon beendet zu sein, denn der kleine Park füllte sich mit Schülerinnen und Schülern, von denen sich die meisten um einen Betonblock versammelten, der den Sockel für eine aus Stein gehauene weibliche Figur bildete.
Fanni reckte den Hals, weil sie den Eindruck hatte, dass dort irgendetwas vor sich ging, konnte aber nicht erkennen, was.
Sprudel, ohnehin gut zehn Zentimeter größer als sie, war auf einen erhöhten Randstein gestiegen, was ihm offenbar einen Überblick verschaffte. »Da vorne scheint eine Gedenkstätte zu entstehen.«
Die Nachricht von Finjas Tod hatte also bereits die Runde gemacht.
Fanni und Sprudel versuchten, sich möglichst unauffällig unter die versammelten Schüler zu mischen. Als sie näher an die Statue herangelangten, konnte Fanni schließlich ein Klassenfoto im Holzrahmen und ein Herz aus Keramik, einen Rosenkranz sowie Blumen und Kerzen sehen, die auf einem kleinen Grashügel arrangiert worden waren.