Milchreis - Jutta Mehler - E-Book

Milchreis E-Book

Jutta Mehler

3,8

Beschreibung

Dunkle Wolken ziehen über dem malerischen Städtchen Rattenberg in Österreich auf. Die Leiterin der Schlossbergspiele liegt tot am Ufer der Inn, und der Ort droht zum Spielball in den Händen von Verbrechern zu werden. Als plötzlich auch noch Sprudel spurlos verschwindet, stößt Fanni an ihre Grenzen. Wird es ihr dennoch gelingen, den Schurken das Handwerk zu legen?

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/BY Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-213-7 Originalausgabe

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Ich bin ein angesehener Mensch, sagte der Dieb, als er am Schandpfahl stand.

Deutsches Sprichwort

1

»Allein bin ich weniger einsam.« Fanni biss sich auf die Lippen. Zu spät. Es war gesagt, und es traf zu.

Die Tür fiel ins Schloss. Sprudels Schritte entfernten sich.

Du wirst schnell merken, wie einsam du ohne ihn bist! Du hast sie doch nicht alle!

So ist es, dachte Fanni.

Sie trat ans Fenster ihres Hotelzimmers und schaute auf die Straße hinunter. Sprudel bog gerade in den kleinen Fußgängertunnel ein, der ihn ans Ufer des Inn führen würde. Ein kleines Stück flussabwärts würde er die Brücke überqueren, die Kramsach mit Rattenberg verband, an der Spitalskirche vorbeigehen und auf den Schlossberg zuhalten.

Du könntest ihn noch einholen!

Fanni setzte sich aufs Bett.

Herrgott noch mal! Willst du wirklich dumm herumsitzen, während Sprudel sich mit Rattenbergs Kulturbeauftragten trifft, die aussieht wie Liz Taylor zu ihren Glanzzeiten, klug und gewandt ist und offenbar Bemerkenswertes zu berichten hat?

Fanni straffte sich und stand auf. Ich werde den Inn entlanggehen– flussaufwärts.

He! So war das nicht gemei…

Fanni achtete nicht mehr auf die Gedankenstimme. Sie schlüpfte in ihre Sportschuhe, griff nach ihrer Jacke, und gleich darauf fiel erneut die Tür ins Schloss.

Als sie auf die Straße trat, wurde ihr klar, dass sie keine Jacke brauchen würde, selbst wenn sie bis tief in die Nacht draußen bleiben wollte. Der diesjährige Sommer wartete bereits mit der dritten Hitzewelle auf. Die Mittagstemperaturen lagen weit über dreißig Grad, abends kühlte es kaum ab. Die Presse brachte die für Hitzeperioden üblichen Schlagzeilen, die sich langsam, aber sicher abdroschen: »Bauern erleiden Ernteeinbußen«– »Gletscher schmelzen«– »Blow-ups auf den Autobahnen«.

Sieben Uhr abends, dachte Fanni nach einem Blick auf ihre Armbanduhr, und wohl immer noch an die dreißig Grad warm.

Man glaubt sich im süditalienischen Apulien anstatt im Nordtiroler Alpbachtal!

Fanni blieb stehen und ließ den Blick über die Berggipfel wandern, die ringsum Zacken in den knallblauen Himmel schnitten. Um einige besonders markante Gipfel hatten sich kleine weiße Wölkchen gebildet.

Wie Brautkränze, die vom Himmel auf sie heruntergeschwebt sind.

Fanni schüttelte sich, als käme sie aus einem Regenguss. Seit wann hatte ihre Gedankenstimme lyrische Anwandlungen?

Verkrampft, verbissen, verklemmt! Mach dich mal locker! Schau dich weltoffen um! Siehst du, wie Rattenbergs malerische Kulisse im späten Sonnenlicht glänzt?

Und wie der Inn seine lehmige Brühe daherwälzt?, hielt Fanni dagegen. Unmengen von Gletscherwasser rauscht hier vorbei– aus den Ötztaler Alpen, den Stubaiern, den Zillertalern. Der Fluss steht beängstigend hoch, schwappt an der Kaimauer hinauf und hinterlässt hässliche Schlieren.

Die Gedankenstimme verzichtete auf eine Replik.

Fanni stand noch immer vor dem Hoteleingang und wusste nicht recht, wohin. Sollte sie am Kramsacher Ufer den Inn flussaufwärts gehen? Falls sie sich dafür entschied, konnte sie in Badl in einen Rundwanderweg einbiegen, der zum Museumsfriedhof, von dort zur Mariatalkirche und über den Reintaler See zum Fluss zurückführte. Sie würde allerdings spätestens im Mariental umkehren müssen, weil die gesamte Wanderung ihrer Schätzung nach mehr als drei Stunden dauerte.

Aber mittendrin umzukehren lag Fanni ganz und gar nicht.

Deshalb schrieb sie den Rundweg(der sich laut Wanderkarte über weite Strecken mit dem Jakobsweg deckte) ab, wandte sich um und schlug den Weg ein, den Sprudel eine Viertelstunde vor ihr genommen hatte.

Rattenbergs Hauptstraße war wie üblich von Touristen bevölkert. Jetzt am Abend strömten viele dem Schlossberg zu, wo kurz vor dem Dunkelwerden die tägliche Vorstellung auf der Freilichtbühne beginnen würde.

Fanni folgte der Inngasse bis zum Sparkassenplatz, wo sie in die Südtiroler Straße einbog. Warum nicht an den Souvenirläden, den Straßencafés, dem bunten Angebot an mundgeblasenem Glas vorbeischlendern, für das Rattenberg berühmt war? Warum den Blick nicht über die Fassaden der mittelalterlichen Häuser mit ihren Erkern, ihren Wappen, ihren Reliefs schweifen lassen?

Rattenbergs eindrucksvolles Stadtbild sollte imstande sein(vielleicht hatte die Gedankenstimme ja recht), ihre düstere Stimmung aufzuhellen, die sie am Abend zuvor wie eine Woge verschluckt hatte. Unvermutet. Hinterrücks. Ohne ersichtlichen Grund.

Fanni rieb sich ein paarmal über die Stirn, als könnte man Trübsinn wegrubbeln. Woher kam diese Schwärze, die sie seit gestern Abend einhüllte? Sie und Sprudel hatten sich doch so auf ihre kleine Reise gefreut. Und es war ja auch alles ganz wunderbar gewesen, bis sich dieses seltsame Dunkel auf Fanni heruntersenkte. Schwer. Unheimlich. Drohend. Ja, drohend, als brüte es Unheil aus. Aber irgendwie musste ihm doch beizukommen sein.

Beim ehemaligen Zollhaus gelangte Fanni wieder auf die Innpromenade und folgte nun dem Radweg flussaufwärts.

Sie kam zügig voran. Nur wenige Male musste sie einem Radfahrer ausweichen, einmal einem jungen Paar mit Kinderwagen.

Der Umgebung schenkte sie nun keine Beachtung mehr. Sie hatte den Kopf gesenkt und schaute zu, wie ihre Füße Strecke fraßen. Erst als die Häuser der Marktgemeinde Brixlegg auftauchten, machte sie halt und blickte über den Fluss.

Vom Wasser stiegen helle Nebelschwaden auf, verloren sich in der Dämmerung, die sich bereits über die westlichen Berggipfel senkte.

Willst du warten, bis es finster wird? Rückzug marsch, marsch!

Doch statt der Vernunft zu gehorchen, umzudrehen und sich mit Kurs auf Rattenberg wieder in Bewegung zu setzen, lungerte Fanni an Ort und Stelle herum, als wollte sie testen, ob der Platz zum Campen geeignet sei.

Der Inn war breit und strömte schnell. Seine Wassermassen schienen überwältigend. Sie schwemmten haufenweise Treibholz mit– dicke und dünne Äste, halbe Baumstämme, zersplitterte Bretter, angefaultes Schilf–, dazwischen wirbelten Plastiktüten und Stofffetzen.

Fanni dachte an die Innpromenade in Passau, von der aus man, meistens jedenfalls, in ein träge dahinfließendes Gewässer schauen konnte, das sanft an seinen Ufern entlangstrich. Im Alpbachtal dagegen zeigte der Inn seine gewaltige Kraft.

Was hier in die Fluten gerät, wird auf der Stelle mitgerissen, sinnierte Fanni. Gnadenlos. Kopfüber, kopfunter. Weit und weiter, bis es per Zufall vielleicht in ein Kehrwasser gelangt und sich in irgendwelchen Stauden verfängt.

Ihr Blick machte sich auf die Suche nach einer Uferstelle, an der sich die Strömung– durch ein Hindernis dazu getrieben– flussaufwärts kehrte, fand aber nichts.

Kein guter Tummelplatz für Paddler, dachte sie, als ihr einfiel, dass sie erst neulich einen Bericht über Kanuwandern auf dem Inn gelesen hatte. Wo sollten sie anlegen? Wo einsteigen?

Genau das werden die sich auch fragen und wohl kaum Antwort darauf finden. Was der Grund sein muss, weswegen dir noch kein einziger untergekommen ist!

Ein kleines Boot würde hier zum Spielball der Wassermassen werden, es würde hüpfen und torkeln, herumgeschleudert werden, letztendlich kentern…

Genug gegrübelt! Abmarsch!

Endlich setzte sich Fanni in Trab.

Der Rückweg zog sich endlos, erschien ihr viel länger als die Strecke, die sie hinwärts gegangen war.

Und niemand mehr unterwegs! Gespenstisch!

Sie begegnete tatsächlich keiner Menschenseele. Nur eine Blindschleiche kreuzte irgendwann ihren Pfad.

Schlangengift und Bilsenkraut…

Blindschleichen gehören zur Gattung der Echsen.

Na und! Sie sehen aus wie Schlangen und verheißen bestimmt nichts Gutes.

Fannis Schritte wurden schleppend. Auf einmal fühlte sie sich erschöpft und völlig ausgelaugt.

Sie blieb stehen.

Die Dämmerung hatte sich mittlerweile auch über den Fluss gelegt, ihn eine Nuance dunkler gefärbt. Die Rattenberger Burg– sie schien gar nicht so weit entfernt– war bereits ins Licht der Scheinwerfer getaucht. Am Kai flackerten die ersten Laternen auf, malten helle Kreise auf den Boden. Das wirkte irgendwie gemütlich.

Fanni entschied, eine kleine Rast einzulegen.

Bedachtsam trat sie näher an den Fluss, begutachtete die Uferbefestigung.

Versetzt gelagerte Steinquader bildeten eine maßvoll geneigte Böschung und schufen damit die Voraussetzung, bis an die Wasserlinie hinuntersteigen zu können.

Fanni entschied, sich bis dorthin vorzuwagen und den Blick in die Fluten zu versenken. Galt strömendes Wasser nicht als Seelentröster? Womöglich gelang es dem Inn, alles Trübe und Dunkle aus ihr herauszuwaschen, sodass sie gereinigt, gestärkt und guter Dinge ins Hotel zurückkehren konnte.

Fanni überkletterte die beiden obersten Steinblöcke, dann zögerte sie. Der darunter sah verdächtig glatt aus.

Abzurutschen wäre fatal!

Sie wich nach links aus, wo zwei kleinere Quader ganz passable Trittstufen boten.

Nachdem diese überwunden waren, bewahrte sie nur noch ein flacher Felsblock, dessen eine Hälfte periodisch überspült wurde, davor, nasse Füße zu bekommen. Ein unsichtbares Hindernis im Flussbett schien jene kleinen, seitwärts gerichteten Wellen zu verursachen, die ihn so regelmäßig trafen. Jede zweite schwappte auf den Stein, plätscherte über die vordere Hälfte und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen in einem Becken, das sich rechts hinter dem Stein gebildet hatte, weil die Uferverbauung ein Stück zurückwich und eine kleine Bucht formte. Treibgut sorgte dafür, dass sich das Wasser dort staute.

Fanni setzte sich auf die unterste der Trittstufen und starrte ins Wasser. Ihr Blick folgte den Wellen über den Stein in die Bucht; nahm wahr, wie sie die Wasseroberfläche kräuselten, was etwas wie ein Flüstern erzeugte; registrierte, wie sie den grasigen Bewuchs auf dem Grund des flachen Beckens sanft wogen ließen; bemerkte, dass sie dem Morast am Ufer leise Seufzer entlockten.

Das friedlich wogende Gras wirkte fein und seidig wie Frauenhaar. Fanni betrachtete die Spitzen, die in gleichbleibendem Rhythmus sachte aufstiegen und sachte niedersanken.

In der stillen Bucht war das Wasser klarer. Lehm und Sand hatten Zeit gehabt, sich auf dem Grund abzusetzen.

Fanni konnte erkennen, dass der Grund recht steinig war, und fragte sich, wie dort etwas hatte gedeihen können.

Ihr Blick glitt die spinnwebfeinen Fäden entlang, suchte die Stelle, der sie entsprossen, und fand ein Gesicht, das sie mit aufgerissenen Augen anstarrte.

Fanni zuckte zurück.

Bloß eine Spiegelung!

Natürlich, was sonst? Das Wasser reflektierte ihre eigenen Züge.

Aber was für eine kuriose Spiegelung. Als ob das Grasbüschel aus ihrem Kopf wüchse.

Du solltest dich mal lieber auf den Rückweg machen, anstatt Reflexionen im Wasser zu studieren, die, statt Schwermut zu vertreiben, Vexierbilder heraufbeschwören! Bis zu deinem Hotel in Kramsach hast du noch eine schöne Strecke vor dir!

Fanni gab ihrer Gedankenstimme unumwunden recht. Jawohl, sie sollte sich auf den Weg machen. Augenblicklich.

Ihr Blick haftete noch auf dem sich periodisch verzerrenden Gesicht im Wasser, als sie sich erhob und sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr. Kamm und Bürste benutzte sie ohnehin selten. Sie zupfte gerade eine Strähne, die ihr in die Stirn fiel, zurecht, als sie mitten in der Bewegung innehielt.

Das vermeintliche Spiegelbild hatte sich nicht verändert.

Kann doch nicht sein!

Ist aber so, dachte Fanni und wedelte mit beiden Händen um ihren Kopf herum.

Nichts. Keine Entsprechung.

Geh mal näher ran!

Ihr graute davor, dennoch tat sie den nächsten Schritt.

Zaghaft stieg sie auf die trockene Hälfte des halb überspülten Steinquaders und beugte sich über das Wasserbecken in der Bucht. Dort folgte ihr Blick den unter Wasser wogenden Fäden– die sie aus größerer Entfernung für Grashalme gehalten hatte– bis dahin, wo sie wurzelten. Aus der Nähe wirkten sie schwarz, glatt und seidig. Sie sprossen nur an einer einzigen Stelle. Die befand sich oberhalb einer weißen Stirn. Unterhalb starrten zwei weit geöffnete Augen in den Himmel.

Fanni beugte sich tiefer hinunter und studierte die Gesichtszüge, die sich seltsam konturlos zeigten, was an den Wellen liegen mochte, die sie ständig schlingern ließen.

Augen, Nase und Kinn waren jedoch erkennbar. Neben dem Kinn schwebte ein breites rotes Band im Wasser.

Fanni kniff die Augen zusammen, um den Blick schärfer zu stellen.

Ein Schal!

Richtig. Wehender roter Stoff, der immer wieder einen hellen Hemdblusenkragen freigab. Der Kragen gehörte zu einem Sommerkleid, das in der Taille mit einem ebenfalls roten Gürtel zusammengehalten wurde. Der Rock hatte sich in Ziehharmonikafalten nach oben geschoben. Zwei nackte Beine lagen angewinkelt in einer flachen Mulde. Zwei Füße steckten in roten Pumps.

Eine Wasserleiche!

Fanni richtete sich mit einem Ruck auf, wodurch sie aus dem Gleichgewicht geriet und mit den Armen rudern musste, um nicht in den Fluss zu fallen.

Wenn du nicht ein wenig mehr Umsicht walten lässt, wirst du ihr gleich Gesellschaft leisten!

Fanni raffte ihren Verstand zusammen, der sie als Erstes einen Schritt zurücktreten ließ, wodurch sie wieder den sicheren Trittstein erreichte, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Mit einem Aufstöhnen ließ sie sich erneut darauf nieder und barg das Gesicht in den Händen.

War wirklich und wahrhaftig vorhanden, was sie dort im Wasser gesehen zu haben glaubte, oder halluzinierte sie? Hatte das traumatische Erlebnis damals in Marokko, das ihr einen Teil des Gedächtnisses raubte, noch viel mehr Schaden angerichtet? Hatte damals irgendwo in ihrem Hirn ein zerstörerischer Prozess begonnen, der sich fortsetzte und fortsetzte bis in die geistige Umnachtung?

Flirrende Hitze, schillerndes Wasser! Das sind doch beste Bedingungen für eine Sinnestäuschung!

Fanni stöhnte abermals, senkte das Kinn auf die Knie und verschränkte die Hände über dem Kopf, als müsste sie sich vor einem Kugelhagel schützen.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Als ob es einen Grund gäbe, mich wohlzufühlen, dachte Fanni.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Willst du nicht wenigstens »Danke ja« oder »Danke nein« sagen?

Fanni hob den Kopf und schaute sich um.

Auf dem Uferweg stand ein mit Angelgerät bepackter Mann und blickte besorgt auf sie hinunter.

»Kann ich helfen?«, wiederholte er.

Fanni schluckte. Danke ja oder danke nein?

Wie wär’s mit »Vielleicht«?

Bevor sie sich für etwas entscheiden konnte, legte der Mann seine Utensilien an den Wegrand, stieg zu ihr hinunter, ging neben ihr in die Hocke und sah ihr prüfend ins Gesicht.

»Ich weiß nicht«, sagte Fanni.

Die Miene des Fremden, die zuvor Beunruhigung und Sorge ausgedrückt hatte, hellte sich plötzlich auf, seine Augen blitzten. Er wirkte, als hätte er soeben eine freudige Überraschung erlebt oder rechne fest damit, gleich eine zu erleben.

Was glaubt der? Dass du ihm begeistert um den Hals fällst, weil er sich zu dir herunterbemüht hat?

Fanni musste zugeben, dass der Angler genau diesen Eindruck erweckte. Hatte es nicht sogar den Anschein, als wolle er die Arme ausbreiten? Er führte die Bewegung jedoch nicht aus und ließ die Hände wieder sinken. Es waren sehnige, braun gebrannte Hände, die er nun hinter dem Rücken verschränkte, als hätte er sie unversehens in Verbannung schicken müssen.

Fanni suchte seinen Blick, der ihr jetzt betont gleichmütig begegnete. Seine Gesichtszüge waren auf einmal unbewegt, wie mit Lack überzogen. Die beiden tiefen Falten, die von der Nase zu den Mundwinkeln verliefen, die leicht gerunzelte Stirn, der starre emotionslose Ausdruck gaben ihm das Aussehen einer Gelehrtenbüste.

Fanni schätzte den Mann auf Mitte sechzig. Er war groß gewachsen, breitschultrig und muskulös. Das schüttere Haupthaar ließ ihn womöglich älter aussehen, als er tatsächlich war.

Unvermittelt tauchte Sprudel vor ihrem inneren Auge auf. Wieso? Die beiden sahen sich überhaupt nicht ähnlich.

»Ich wollte Sie nicht belästigen«, sagte der Angler und wandte sich zum Gehen.

»Das haben Sie nicht«, hielt Fanni ihn auf.

Er sah sie abwartend an.

Fanni deutete stumm ins Wasser.

Der Angler hob auf eine Art die Schultern, die Resignation und Willfährigkeit ausdrückte, als wollte er sagen, dass er sich zwar brüskiert fühle, aber weit davon entfernt war, unhöflich oder abweisend zu erscheinen. Wenn die Dame von ihm verlangte, Laufkäfer, eine tote Ratte oder einen verendeten Wasservogel zu besichtigen, würde er das eben tun.

Er beugte sich so weit vor, wie er es wagen konnte, ohne die Balance zu verlieren, und blickte in die kleine Bucht. Im nächsten Moment entwich ihm ein Luftschwall.

»Donner und Doria.«

Kaum hatte er es ausgesprochen, zückte er ein Mobiltelefon, wählte, und gleich darauf hörte Fanni ihn einen Leichenfund melden.

Sie bekam nur halb mit, was er sagte, weil ihr das Donner und Doria noch befremdlich in den Ohren klang. »Donner und Doria«, wie unpassend.

Was wäre denn deiner Meinung nach passender gewesen? Ein Spruch, wie er auf einem der Grabkreuze auf dem Kramsacher Friedhof zu lesen sein könnte: »Sie war stramm wie eine Eiche, jetzt ist sie eine Wasserleiche.«

Fanni kam ein winziges Lächeln an. Der Kramsacher Museumsfriedhof. Sie hatte ihn zusammen mit Sprudel besichtigt, gestern, nach der Tour aufs Wiedersberger Horn. Es war ein amüsanter Ausflug gewesen.

Sprudel hatte eine Broschüre des Tourismusverbandes gezückt und daraus die wohl bekannteste Inschrift vorgelesen: »Hier liegt Martin Krug, der Kinder, Weib und Orgel schlug.«

Das schmiedeeiserne Grabkreuz des Organisten hatten sie unter einer Efeuranke in dem kleinen Wäldchen entdeckt, das den Friedhof beherbergte. Zwischen Bäumen locker verteilt befanden sich noch viele weitere Grabkreuze mit skurrilen Sprüchen. Offenbar waren sie aus ganz Österreich zusammengetragen worden. Laut Broschüre handelte es sich sogar um die weltweit größte Sammlung kurioser Grabinschriften.

»Wir müssen warten, bis die Polizei da ist«, sagte der Angler und setzte sich neben Fanni auf einen Steinquader.

Eine ganze Weile hockten sie– jeder vor sich hin brütend– nebeneinander. Plötzlich streckte der Angler die Hand aus. »Hofer. Maximilian Hofer aus Regen im Bayerischen Wald.«

Fanni schüttelte die dargebotene Hand und stellte sich vor.

Erneut bedachte er sie mit einem Blick, als ob er etwas von ihr erwarte.

Was kann der Kerl bloß wollen?

Vielleicht will er ein Dankeschön hören, überlegte Fanni, ein Dankeschön dafür, dass er mir Gesellschaft leistet. Gut, den Gefallen konnte sie ihm tun.

Als Antwort nickte er bloß und wirkte enttäuscht.

Möglicherweise ist er eine prominente Persönlichkeit und meint, du müsstest ihn kennen!

Eine prominente Persönlichkeit aus Regen im Bayerischen Wald? Mit Namen Hofer? Einem Allerweltsnamen, so gewöhnlich wie Schuster, Winter und Schneider?

Dieser Hofer könnte natürlich der Regener Bürgermeister sein, überlegte Fanni, oder der örtliche Polizeichef oder der Organisator der Inselkonzerte. Aber selbst dann kann er doch nicht erwarten, dass ihn alle Welt erkennt.

Hofer war wieder aufgestanden und ans Wasser getreten. Schwermütig starrte er hinein. »Wer kann das sein?«

»Liz Taylor«, platzte Fanni heraus.

Hofer drehte sich um und sah sie derart bestürzt an, dass offenkundig war, welchen Schluss er aus ihrer Antwort zog.

Gratuliere! Jetzt ist es für ihn ausgemacht, dass du einen Sprung in der Schüssel hast. Weißt du, was dieser Hofer auf deinen Grabstein setzen lassen würde, gäbe man ihm Gelegenheit dazu? »Hier ruht die irre Fanni Rot– komplett umnachtet fand sie den Tod.«

Fanni unterdrückte einen Klagelaut und presste die Fingerspitzen an die Stirn. Nicht genug damit, dass sie sich soeben vor dem Angler aus dem Bayerwald unmöglich gemacht hatte, schien sich ihre Gedankenstimme nun auf skurrile Grabsprüche einzuschießen.

Wie lange ertrug sie diese Stimmen-Plage eigentlich schon? Ein Leben lang? Vermutlich. Jedenfalls erinnerte sie sich nicht daran, je davon verschont gewesen zu sein. Sie war sich allerdings sicher, dass sich die Gedankenstimme früher gesitteter verhalten hatte. Zurückhaltender. Dieses infame Sprüche-Spiel hatte jedenfalls erst während der Ermittlungen im Wolfsmilch-Fall begonnen. Mit Never-Parolen. Peinigend. Sadistisch. Unentwegt, bis der Täter überführt war. Und ein Jahr später, als Fanni und Sprudel zwei Mordfälle in Bad Kötzting aufklärten, war sie mit chinesischen Weisheiten bombardiert worden. Nun gab es Grabsprüche. Schauderhaft.

»Liz Taylor«, wiederholte Hofer in einem Ton, hohl vor zurückgehaltener Empörung.

Fanni sah auf. »Roter Schal, rote Schuhe, dunkle Haare. Sie muss es sein, auch wenn sich die Gesichtszüge kaum erkennen lassen.«

»Liz Taylor ist schon seit Jahren tot«, sagte Hofer dumpf. »Liegt vermutlich auf einem amerikanischen Friedhof.«

Willst du ihn nicht endlich aufklären?

»Ich weiß«, erwiderte Fanni. »Aber die Kulturbeauftragte der Stadt sieht ihr auf den ersten Blick verblüffend ähnlich, finde ich.« Sie verschwieg, dass sich dieser erste Eindruck bald relativiert hatte.

Hofer hatte sich mit einem Ruck vorgebeugt, um die Frau unter Wasser genauer betrachten zu können. Dabei geriet er ins Schwanken, fing sich jedoch wieder. Nach einer Weile richtete er sich auf.

»Sie haben recht. Das ist sie. Woher kennen Sie sie?«

Fanni wollte schon antworten, dass Liz Taylor in den Sechzigern wöchentlich in den Illustrierten abgebildet gewesen war, als ihr klar wurde, dass Hofer die Kulturbeauftragte meinte. »Sprudel und ich sind gestern nach der Aufführung mit ihr zusammengetroffen.«

Täuschte sie sich, oder war Hofer soeben zusammengezuckt? Hatten sich seine Augen verengt und die Brauen gehoben?

Als er sprach, war seine Miene wieder blank. »Jemand hat Sie mit ihr bekannt gemacht?«

Fanni nickte vage. Wieso sollte sie sich vor einem Fremden darüber auslassen, wie der Kontakt zustande gekommen war? Außerdem war es purer Zufall gewesen.

Nach der Aufführung der Laienspielgruppe auf der Schlossbergbühne– ein Stück mit dem Titel »Räuberg’schichten« stand dieses Jahr auf dem Programm– hatten sich die Akteure unters Publikum gemischt, und diejenigen Zuschauer, denen es nicht eilig damit war, nach Hause zu kommen, hatten mit diesem oder jenem Darsteller ein Glas getrunken und einen Schwatz gehalten. Fanni und Sprudel hatten sich eine Weile mit einer Nebendarstellerin unterhalten, danach mit dem Regisseur, und irgendwann befanden sie sich im Gespräch mit der Kulturbeauftragten der Stadt Rattenberg, die eine der Hauptrollen spielte. Ihren Namen kannten sie aus dem Programmheft: Cornelia Wolters. Überraschend war, dass Frau Wolters wusste, wen sie vor sich hatte, als Fanni und Sprudel sich vorstellten.

Sie hatte gelacht, als Fanni fragte, woher sie sie kenne. »Grad hat sich wieder gezeigt, wie klein die Welt ist.« Dann wurde sie ernst. »Erinnern Sie sich an die Familie Stolzer aus Deggendorf? An Willi, der vor etlichen Jahren im Klettergarten verunglückt ist, weil irgendwas an seiner Sicherung manipuliert war? Sie beide haben den Fall damals aufgeklärt und Willis Mörder überführt.«

An die Stolzers erinnerte sich Fanni gut. Sie waren Bergfreunde von ihr und ihrem damaligen Mann Hans Rot gewesen. Willis Tod fiel allerdings in den Zeitraum, den Fannis Gedächtnis auszulöschen beschlossen hatte.

»Die Stolzers stammen aus Rattenberg«, hatte Cornelia Wolters zu Fannis nicht geringer Überraschung kundgetan. »Sie sind einmal angesehene Bürger unserer kleinen Stadt gewesen.«

Fanni war bis zu diesem Augenblick davon überzeugt gewesen, die Stolzers seien alteingesessene Deggendorfer. »Dass sie irgendwann in Rattenberg gewohnt haben, hat nie einer von ihnen erwähnt.«

»Ist ja auch schon eine Weile her«, erwiderte Cornelia Wolters verschmitzt.

Fanni wartete auf mehr und wurde nicht enttäuscht.

»Ende des 15.Jahrhunderts, als Rattenberg noch zu Bayern gehört hat, ist von der Obrigkeit der Bau unserer Pfarrkirche beschlossen worden«, berichtete die Kulturbeauftragte. »Christian Nickinger, der für das Vorhaben verantwortliche Baumeister, hat sich im ganzen Land nach guten Leuten umgesehen und hat unter anderem einen Johann Stolzer angeworben. Dieser Stolzer hat so prima gearbeitet, dass man ihn nicht mehr gehen lassen wollte. Und was war wohl die einfachste Möglichkeit, ihn hier festzunageln?« Sie grinste. »Man hat ihn mit einer Rattenberger Bürgerstochter verkuppelt. Einer, die gewusst hat, was sie der Stadt schuldig ist. Sie hat dem Stolzer nämlich im Lauf der Jahre ein gutes Dutzend Kinder geboren.«

»Ein halbes Jahrtausend ist das her«, hatte Fanni ausgerufen, und Cornelia Wolters hatte genickt.

»Längst vergessen und begraben, wäre mein Bruder nicht so ein Maulwurf, der mit Vorliebe in halb zerfallenen Urkunden gräbt. Martin hat das Dutzend Kinder genau unter die Lupe genommen. Dabei ist er auf die bayerischen Stolzers gekommen und hat irgendwann Verbindung mit ihnen aufgenommen. Daraufhin sind sie angereist. Toni und Gisela, Martha und Willi. Der Kontakt zu ihnen ist danach nicht mehr ganz abgerissen. Deswegen weiß ich, wie Willi zu Tode kam und wer seinen Mörder überführt hat. Ohne Sie wäre der wahrscheinlich nie gefasst worden.«

Sprudel hatte daraufhin ein paar bescheiden abwehrende Worte gefunden, aber Fanni war stumm geblieben. Selbstverständlich wusste sie, wie sie und Sprudel Willis Mörder auf die Fährte gekommen waren; wie Leni dabei in Gefahr geraten war; wie sie beide letzten Endes dem Täter in die Fänge gerieten und mit Ach und Krach gerettet werden konnten. Sprudel hatte ihr mehrfach davon erzählt.

Fanni wusste über das alles Bescheid, wie die Zuschauer nach der heutigen Aufführung über die Abenteuer des Räuber Faigl Bescheid wussten. Wie Zuschauer eben. Im Theater, im Kino, in Zeitungsberichten war das in Ordnung, gehörte sich so. Aber im wirklichen Dasein? Was, wenn man wie Fanni das Publikum des eigenen Lebens war? Zumindest eines Teils davon?

Sie horchte auf, als sie Cornelia Wolters mit gesenkter Stimme sagen hörte: »…die Sache gefällt mir nicht. Irgendwas ist faul. Das Dumme ist nur, dass ich keinen Beweis habe. Nicht den kleinsten. Ehrlich gesagt habe ich nichts als ein ungutes Gefühl.« Sie lächelte befangen. »Jetzt, wo wir uns begegnet sind, geht mir die Frage im Kopf herum, ob Sie vielleicht…« Offensichtlich scheute sie sich, den Satz zu beenden.

Es entstand eine peinliche Pause.

Sprudel warf Fanni einen fragenden Blick zu, den sie mit einem blinden Starren erwiderte, denn exakt in diesem Augenblick war sie von jener Woge erfasst worden, die sie in Schwärze hüllte.

Die Pause dehnte sich. Als das Schweigen prekär wurde, sagte Sprudel in höflichem, aber distanziert wirkendem Ton: »Wenn wir auf irgendeine Weise helfen können– gern.«

Daraufhin hatte ihn Cornelia Wolters impulsiv am Arm gepackt. »Wenn Sie beide sich morgen ein wenig Zeit nehmen könnten, gegen vier vielleicht? Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die richtigen Schlüsse…« Ihre Stimme versandete. Sie gab Sprudels Arm frei, öffnete ihre Handtasche und brachte ein kleines blaues Büchlein, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, zum Vorschein.

Sie reichte es Sprudel. »Ich habe mir da drin Notizen gemacht. Eine Aufstellung, die Sie sich ansehen sollten. Eine alarmierende Aufstellung, wie ich finde. Nehmen Sie«, drängte sie, weil Sprudel keine Anstalten machte, nach dem Büchlein zu greifen. »Da steht alles drin, was ich in den vergangenen Monaten zusammengetragen habe. Es…«

Sie unterbrach sich, weil zwei Darsteller, ein Mann mittleren Alters mit Vollbart, der im Stück einen räuberischen Musikanten gespielt hatte, und der Junge, der zum Auftakt auf der Bühne ein Rad geschlagen hatte, auf sie zukamen. Ein weiterer Mann, der Fanni trotz seiner imposanten Erscheinung zuvor nicht aufgefallen war, befand sich in ihrer Begleitung. Hastig drückte Cornelia Wolters Sprudel das Notizbuch in die Hand. »Nehmen Sie. Schauen Sie sich die Sache an.« Fast flüsternd fügte sie hinzu: »Bei Ihnen ist es sowieso besser aufgehoben.«

Sprudel hatte das Büchlein in seine Jackentasche gleiten lassen, bevor die beiden Männer und der Junge bei ihnen angelangt waren. Der Musikantendarsteller mit dem Vollbart wurde ihnen als Martin Steber vorgestellt, die imposante Erscheinung als Herr Ziller. Zu wem der Junge gehörte, erfuhren sie nicht, denn der wurde von irgendwoher gerufen und sauste davon, bevor sie sich ihm zuwenden konnten.

Fanni fühlte einen Anflug von Erregung, als Ziller ihr die Hand reichte. Die Autorität, die von ihm ausging, war deutlich zu spüren. Er musste ein wichtiger Mann sein. Wie wichtig, erfuhr sie bereits im nächsten Moment. Ziller war Aufsichtsratsvorsitzender eines großen österreichischen Industriekonzerns und– was für die Kulturbeauftragte wohl die wichtigere Rolle spielte– Hauptsponsor der Festspiele.

»Wenn wir unseren Lothar Ziller nicht hätten…« Cornelia Wolters machte eine Geste, die eindeutig zu verstehen gab, dass es dann aus wäre mit den Theaterstücken auf dem Schlossberg.

Der weiteren Unterhaltung hatte Fanni entnommen, dass nicht nur Zillers Finanzspritzen unentbehrlich für den Fortbestand der Festspiele waren, sondern auch dessen Rat und Mithilfe.

Sie nahm ihn genauer in Augenschein.

Ziller war nicht ganz so groß wie zunächst angenommen, denn Sprudel überragte ihn um etliche Zentimeter. Fanni fragte sich, ob das Ansehen, das er genoss, alle um ihn herum kleiner wirken ließ. Sogar der lange Steber schien ihn kaum zu überragen.

Vielleicht trug auch die volltönende Stimme das ihre dazu bei, Zillers Größe falsch einzuschätzen. Sie ließ ihn womöglich mehr Raum einnehmen, als sein Körper tatsächlich beanspruchte.

Wie auch immer, Ziller schien der ungekrönte König der Schlossbergspiele zu sein.

Fanni konnte nicht aufhören, ihn zu mustern, auch wenn sie ihn damit auf sich aufmerksam machte. Und da war er auch schon, der prüfende Blick seiner Augen, einen Moment lang dunkel und unergründlich, dann wohlwollend, freundlich, ein wenig forschend.

Fanni riss sich davon los und konzentrierte sich auf Steber, der soeben mit scharfer Stimme sagte: »Ich hab die Schnauze voll von dem Kerl. Fast alle von uns haben die Schnauze voll von ihm. Du doch am allermeisten, Cornelia. Hau doch endlich auf den Tisch und mach ihm deutlich, dass wir nicht sein Fußvolk sind.«

Cornelia Wolters zuckte ratlos die Schultern. »Das habe ich doch schon versucht. Aber Oliver weiß genau, dass er uns in der Hand hat. Entweder wir lassen uns seine Starallüren bieten, oder er wirft hin. Dann können wir die Festspielsaison für heuer auf einen Schlag beenden. Er ist nun mal der Einzige, der Knall auf Fall als Räuber Faigl einspringen konnte.« Sie verschnaufte kurz, dann fügte sie niedergeschlagen hinzu: »Wir können von Glück reden, dass die Katzbacher das Stück vergangenes Jahr monatelang geprobt haben, aber dann wegen dem Brand nicht mehr zur Aufführung bringen konnten.«

»Kann er denn einfach hinwerfen?«, fragte Steber ungläubig. »Hast du keine schriftliche Vereinbarung mit ihm?«

Cornelia Wolters’ Antwort ging in einem Gekreische und Gejohle unter, das von den Garderoben herüberhallte.

Steber schien sie jedoch gehört zu haben, denn er sagte: »Linhart hat dir also tatsächlich damit gedroht?«

Wieder konnte Fanni nicht verstehen, was Cornelia Wolters darauf sagte, hatte dem Gespräch jedoch entnommen, dass die Laienspielgruppe ihrem Hauptdarsteller Oliver Linhart auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, was der offenbar weidlich ausnutzte.

Als Fanni sich nach ihm umsah, entdeckte sie ihn, von etlichen jungen Mädchen, einigen älteren Frauen und ein paar Männern aus dem Publikum umringt, im Schein der Lampe vor dem Imbissstand. Er schien seinen Bewunderern eine ganze Menge zu sagen haben, und die schienen gar nicht genug von ihm zu bekommen. Offensichtlich hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich abzuschminken und die Kleidung zu wechseln. Er trug noch die Räuberkluft– enge Hosen, Stulpenstiefel, ein weites Hemd mit einer ärmellosen Weste darüber– und schwenkte beim Reden mit der rechten Hand seinen mit einer Feder garnierten Hut. Die Kostümierung stand ihm prächtig, was der Grund dafür sein mochte, dass er sie nicht abgelegt hatte.

Sie horchte auf, als sie Sprudel sagen hörte: »Ich denke, meine Frau und ich sollten uns verabschieden. Sie haben anscheinend wichtige und vertrauliche Dinge zu besprechen. Nichts für fremde Ohren.«

Cornelia Wolters schien mit Fannis und Sprudels Aufbruch nicht recht einverstanden zu sein, protestierte jedoch nicht. Sie reichte ihnen die Hand und sagte möglichst beiläufig: »Wir sehen uns ja morgen.«

Ziller und Steber murmelten kurze Abschiedsworte, dann nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.

»Oliver Linhart…«, begann Ziller. Aber Fanni bekam nicht mehr mit, wie er fortfuhr, denn Cornelia Wolters zog sie beiseite und raunte in ihr Ohr: »Eremitenkloster. Morgen. Sechzehn Uhr. Bitte.«

Zu diesem Zeitpunkt muss sie schon tot im Wasser gelegen haben, sonst wäre sie gekommen, dachte Fanni.

Sie und Sprudel hatten am folgenden Tag im Kreuzgang eine Zeit lang vergeblich auf Cornelia Wolters gewartet und anschließend eine gute Stunde damit verbracht, die öffentlich zugänglichen Räume des Klosters zu besichtigen.

Sie hatten das Springende Gewölbe bewundert, so genannt, weil sich die Rippen abwechselnd mal auf der linken, mal auf der rechte Seite schnitten; hatten die bemalten Wappensteine studiert, die laut Stadtführer davon kündeten, dass um 1500 herum bayerische Wanderkünstler hier gearbeitet hatten; und hatten lange, sehr lange die Heiligenfiguren betrachtet, die den Verbindungsgang zur Klosterkirche flankieren. Fanni hätte jetzt noch auswendig hersagen können, wer dort auf einem Podestchen stand: Nikolaus, Leonhard, Wolfgang, Florian, Maria Magdalena…

Als Cornelia Wolters um Viertel vor sechs noch immer nicht gekommen war, hatten Fanni und Sprudel die Kirche betreten, um sich das Kuppelfresko anzusehen.

»Der Augustinerhimmel«, hatte Sprudel leise gesagt.

Fanni hatte wissend genickt, denn auch sie hatte den Stadtführer studiert und die Beschreibung des Kuppelfreskos gelesen. Es stammte aus dem 18.Jahrhundert, war von einem gewissen Johann Josef Waldmann gemalt worden und zeigte– wie der Name bereits vermuten ließ– eine Schar Augustinermönche. Sie segelten dort oben herum, wie der Künstler sie sich wohl im Himmel schwebend vorgestellt hatte. Einige, die zu jener Zeit im Eremitenkloster lebten, waren offenbar authentisch dargestellt.

»Kurz vor sechs«, sagte Sprudel, nachdem sie eine Weile in der Kirche herumgeschlendert waren.

Fanni schlug vor, in den Kreuzgang zurückzukehren, falls Cornelia Wolters dort auf sie wartete. Das taten sie dann auch, fanden jedoch niemanden vor. Stattdessen bekamen sie über Lautsprecher zu hören, dass das Museum um achtzehn Uhr schließen würde. Die Besucher wurden gebeten, sich umgehend zum Ausgang zu begeben.

Etwas ratlos hatten sich Fanni und Sprudel auf den Rückweg ins Hotel gemacht.

»Wir lassen uns an der Rezeption die Telefonnummer heraussuchen und rufen sie an«, hatte Sprudel entschieden.

Fanni war einverstanden gewesen. »Ich habe gestern Abend erwähnt, wo wir abgestiegen sind. Vielleicht hat sie sogar schon an der Rezeption angerufen und eine Nachricht hinterlassen.«

Hatte Cornelia Wolters nicht.

Ihre Telefonnummer war jedoch schnell herausgefunden.

Fanni und Sprudel gingen auf ihr Zimmer, wo Sprudel den Anschluss wählte und gleich darauf verbunden war.

Er stellte sich vor und fragte nach Cornelia. Fanni registrierte, dass er die Verabredung mit keinem Wort erwähnte.

Das Gespräch war nach vierzig Sekunden beendet.

»Sie ist am frühen Nachmittag aus dem Haus gegangen«, berichtete Sprudel, nachdem er aufgelegt hatte, »und hat angekündigt, dass sie erst nach der Abendvorstellung wieder zurück sein würde.« Er legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist sie zu einer wichtigen Besprechung ins Rathaus gerufen worden und hat keine Zeit mehr gehabt, uns zu informieren. Oder irgendein Promi ist unerwartet in Rattenberg eingetroffen, um den sie sich als Kulturbeauftragte kümmern musste.«

Fanni hatte beipflichtend genickt. »Natürlich, sie wird aufgehalten worden sein.«

Daraufhin hatte Sprudel sich in einen der beiden Polstersessel sinken lassen, die vor einem kleinen Glastisch standen, und zum zweiten Mal an diesem Tag– er hatte sich am Morgen bereits damit befasst– die Einträge in dem Notizbuch studiert, das Cornelia Wolters ihm am vergangenen Abend mehr oder weniger aufgedrängt hatte.

»Ich werde nicht schlau daraus«, hatte er nach einiger Zeit gesagt. »Frau Wolters hat nichts anderes getan, als Rattenbergs Sehenswürdigkeiten aufzulisten: Apothekerhaus, Nagelschmiedhäuser, Geburtshaus der heiligen Notburga, ehemaliges Zollhaus, Badhaus… Wozu denn? Die Namen stehen doch alle in dem kleinen Stadtführer, der überall aufliegt.«

»Manchmal steht eine Zahl dabei«, hatte Fanni mit einem Blick über seine Schulter festgestellt.

Woraufhin Sprudel geradezu entrüstet ausschnaufte. »Und was soll die besagen?«

»Vielleicht eine Jahreszahl«, hatte Fanni stirnrunzelnd angemerkt.

Sie hätte beim besten Willen nicht erklären können, warum es ihr widerstrebte, sich näher mit den Einträgen in dem Notizbuch zu beschäftigen. Lag es an einer gewissen Aversion gegen Cornelia Wolters? Sicher nicht. Die Frau war ihr durchaus sympathisch. Auch Neid oder Eifersucht konnten schwerlich im Spiel sein, dafür zeigte Sprudel seine Zuneigung zu Fanni zu verlässlich.

Warum also hätte Fanni das Notizbuch, das Sprudel nun mit neuer Intensität studierte, am liebsten genommen und in den Inn gepfeffert? Warum schien es ihr so bedrohlich wie ein knurrender Hund mit Schaum vorm Maul?

Nichts davon ließ sich beantworten, deshalb gab Fanni sich Mühe, zu Sprudels laut ausgesprochenen Überlegungen etwas beizutragen, um nicht zu abweisend zu wirken.

»Das Rätselhafteste von allem ist die Skizze auf der letzten Seite«, hatte Sprudel irgendwann gesagt. »Sieht aus wie ein Labyrinth. Zwischen die Linien sind ein paar Anmerkungen gekritzelt.« Er musste das Büchlein um hundertachtzig Grad drehen, um einige entziffern zu können: »›Durchbruch‹, ›verschüttet‹, ›oft überschwemmt‹, ›Einsturzgefahr‹.«