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Hildes Cousin Gustav ist tot. In seinem Haus in Siebenbürgen fiel er einem Brand zum Opfer. Merkwürdig, findet Hilde und verdonnert Thekla und Wally dazu, mit ihr in Draculas Heimat zu reisen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Beherzt suchen die drei Hobby-Ermittlerinnen zwischen illegalen Schnapsbrennern und wilden Tieren nach der Wahrheit – und decken mehr dunkle Geheimnisse auf, als ihnen lieb ist.
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Seitenzahl: 390
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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Montage aus istockphoto.com/catnap72; mauritius images/foodcollection Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-479-7 Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo-Literaturagentur.
Wenn Neid und Missgunst brennt wie Feuer,
so wär das Holz nicht halb so teuer.
1
Alles beim Alten. Alles wie früher. Wallys Himmelmutter und allen sonstigen Heiligen sei Dank.
Thekla warf der Agnes-Bernauer-Torte auf ihrem Teller einen liebevollen Blick zu, stach sie an und führte die Gabel zum Mund.
Wally hatte sich für Nusskrokant-Torte entschieden, Hilde für Gemüsecremesuppe mit Brunnenkresse. Alles wie früher. Ein Kaffeekränzchen wie in den Jahrzehnten vor Verbrecherjagd, Wagnis und Lebensgefahr.
Sie saßen an ihrem angestammten Fenstertisch im Café Krönner. Wally in einem neuen Blazer, von irgendeiner Boutique plappernd, die in Scheuerbach eröffnet hatte. Hilde mit säuerlicher Miene an ihrem Kräutertee nippend.
Ein Lächeln stahl sich auf Theklas Gesicht. Wie hatte sie dieses bewährte Bild vermisst, das längst verloren schien. Nun war es wieder da.
Ein kurzes Aufflackern vertrauter Panik ließ sie ängstlich um sich blicken, bis sie Gewissheit hatte, dass tatsächlich kein Schatten von Ali Schraufstetter auszumachen war, keine Spur von dem Kreisbrandrat mit seinem Riecher für Verbrechen.
Ihre Seelenruhe kehrte zurück. Sie ließ die Mandelmasse auf der Zunge zergehen, begann sich rundum wohlzufühlen.
Keine Rede von Mordermittlungen. Kein Anlass für Recherchen.
Sie schluckte genüsslich. Im Grunde unglaublich, wie oft sie bewiesen hatten, dass sie richtig gut darin waren, Verbrechen aufzuklären.
Thekla legte die Kuchengabel hin und begann verstohlen an den Fingern abzuzählen: Mit den Holzer-Blasen, die Hilde an den Beinen des toten Dichters aufgefallen waren, hatte alles angefangen. Kaum war der Fall geklärt, hatte Ali sie wegen einer Explosion auf der Feuerwache, die er nicht als Unfall abtun wollte, um Hilfe gebeten. Kurz darauf hatte er sie auf die höchst verdächtigen Umstände hingewiesen, unter denen eine junge Frau auf der Landesgartenschau ums Leben gekommen war. Dann… Thekla kam auf fünf Mordfälle, die sie, Hilde und Wally in den vergangenen Jahren gelöst hatten.
Eine beachtliche Leistung für drei alte Schachteln.
Nachdenklich stach sie wieder in ihr Tortenstück. Irgendwie auch wieder schade, dass das nun vorbei zu sein schien. Schade? Sie schüttelte entrüstet den Kopf über sich selbst. Wie könnte man bedauern, nicht regelmäßig in Lebensgefahr zu geraten?
»Ich muss gleich noch ins Reisebüro und einen Flug nach Bukarest buchen«, sagte Hilde und riss Thekla damit aus ihren Gedanken. »Mein Vetter Gustav wird am Samstag begraben.«
Thekla musterte sie verwirrt. »Versteh ich recht? Du willst nach Rumänien reisen, um an der Beerdigung eines Vetters teilzunehmen?«
Hilde nickte. »Gustl ist nach seiner Scheidung vor gut zehn Jahren in die alte Heimat zurückgegangen, nach Siebenbürgen. Genau genommen in ein Dörfchen namens Kleingude, das im Kreis Kronstadt liegt, Braşov, falls euch der rumänische Name von Kronstadt mehr sagt.«
Theklas Hirn mühte sich ab, diese erstaunlichen Informationen zu verarbeiten. Rumänien, das Siebenbürgische Becken, Transsilvanien. Hatte Hilde je erwähnt, dass ihre Familie von dort stammte und dass es da noch einen Vetter gab?
Ja, das hat sie, erinnerte Thekla sich vage.
Hilde hatte sogar Reisen nach Siebenbürgen erwähnt. Aber das schien lange her. Und hatte es je mehr als ein paar beiläufige Bemerkungen darüber gegeben? Hatte Hilde je mehr als ein paar nichtssagende Worte über diesen Vetter verloren?
Offenbar schon, denn Wally schien Bescheid zu wissen. Sie machte ein erschrockenes Gesicht. »Der lustige Gustl ist tot? Aber der war doch gerade mal sechzig, als er…« Sie scheute sich sichtlich, weiterzusprechen.
Hilde brachte den Satz für sie zu Ende. »…als er mit Wally Maibier einen Rock’n’Roll aufs Parkett gelegt hat. ›Tutti Frutti, all rooty‹, Elvis, wenn ich mich nicht irre.« Sie rümpfte die Nase.
Thekla hatte von dem Auftritt gehört und auch davon, wie Sepp Maibier ausgerastet war, nachdem man ihm die Sache zugetragen hatte. Er hatte Wally als liederlich und schamlos beschimpft.
Ausgerechnet Maibier, der es gerade nötig hatte, sich zum Moralapostel aufzuschwingen.
»Er ist ein Schwerenöter gewesen«, sagte Hilde und meinte zweifellos ihren Vetter.
»Und ein großer Säufer vor dem Herrn«, fügte Wally fast andächtig hinzu.
Zunehmend deutlicher stiegen in Thekla Erinnerungen an die Berichte auf, die Hilde und Wally damals über ihre Unternehmungen mit dem Vetter geliefert hatten, der aus Siebenbürgen angereist war.
Die drei hatten eine Schifffahrt auf der »Regina Danubia« gemacht und dabei eifrig dem prickelnden Prosecco zugesprochen, der auf dem Sonnendeck ausgeschenkt wurde. Sie waren in einer Gondel der Arber-Bergbahn zum Schutzhaus hinaufgeschwebt, wo sie unbedingt hochprozentigen Jagatee trinken mussten– zum Aufwärmen, weil da oben der Wind so kalt pfiff. Im Laufe der Woche, die für Gustavs Besuch in Niederbayern eingeplant war, hatten sie außerdem noch eine Bärwurz-Brennerei besucht, waren im Granzbacher Dorfwirtshaus beim »Alten Bier« gewesen und irgendwo privat bei einer Kräuterlikör-Verkostung.
Zweifellos hatten sie während der ganzen Zeit einen gehörigen Alkoholpegel aufrechterhalten. Doch all das wusste Thekla nur aus Erzählungen, denn sie selbst war während Gustavs Besuch mit Heinrich auf Hochzeitsreise gewesen.
Auch Hildes Gedanken schienen bei den Ausflügen mit ihrem Vetter zu verweilen, denn sie sagte halb bewundernd, halb missbilligend: »Die Siebenbürger Sachsen verstehen zu feiern.«
Soweit Thekla sich erinnerte, hatten die Besäufnisse nach »Tutti Frutti« ein jähes Ende genommen, weil Sepp Maibier seiner Frau jede weitere Beteiligung strikt verbot.
Schluss. Aus. Hausarrest. Kochen. Putzen. Wäsche waschen.
Da Gustavs Gastspiel in Niederbayern sich mit ihrer Hochzeitsreise überschnitten hatte, konnte Thekla sich ausrechnen, dass es exakt zwei Jahre und sechs Monate zurücklag. Und wie hatte Wally vorhin gesagt? »Aber der war doch gerade mal sechzig…«
Hildes Vetter ist also nur knapp dreiundsechzig Jahre alt geworden, folgerte Thekla. Als sie sich fragte, was sie sonst noch über ihn wusste, gelangte sie zu dem Ergebnis: nichts. Hildes und Wallys Berichte hatten sich auf Gustavs Besuch hier beschränkt. Von dem Leben, das er ansonsten führte, war nie die Rede gewesen. Warum eigentlich nicht?
Vermutlich deshalb, gab sie sich selbst zur Antwort, weil Wally jedes Mal zu flennen anfing, wenn Gustavs Name auch nur erwähnt wurde. Sepp Maibier schien ihr das Über-die-Stränge-Schlagen nicht verzeihen und vergessen zu können. Noch Monate nach Gustavs Abreise schwelgte er in Groll und Entrüstung.
»Der Sepp ist ein Schweinehund«, hatte Hilde damals gesagt. »Der nimmt die ›Tutti Frutti‹-Chose doch bloß als Aufhänger, damit er Wally nach Strich und Faden sekkieren kann.«
Thekla hatte ihr entschieden recht gegeben, aber das hatte nichts daran geändert, dass Wally für ein paar unbeschwerte Stunden in vergnügter Gesellschaft heftig büßen musste.
Thekla legte die Kuchengabel auf den Teller, wandte sich Hilde zu und begann jene Fragen zu stellen, die vor zweieinhalb Jahren unterblieben waren. »Hattest du regelmäßig Kontakt zu diesem Vetter in Siebenbürgen? Warum ist er nicht schon vorher einmal zu Besuch gekommen? Warum hast du früher kaum über ihn gesprochen?«
Bevor Hilde antworten konnte, setzte sie hinzu: »Und wieso bezeichnet sich ein kleines Völkchen mitten in Rumänien eigentlich als ›Sachsen‹? Sind die Leute alle aus dem Erzgebirge, dem Vogtland und der Lausitz eingewandert?«
Hilde verneinte mit einem Auflachen. »Unser Freistaat Sachsen hat mit den Siebenbürger Sachsen so wenig zu tun wie Rübezahl mit Rüben.«
Thekla wollte gerade nachfragen, weshalb sie sich dann so nannten, da fuhr Hilde schon fort: »Der Volksstamm geht auf die ›Saxones‹ zurück. Das waren Siedler, die im Mittelalter dem Ruf des ungarischen Königs gefolgt sind und sich am Fuß der Südkarpaten niedergelassen haben. Dafür sind sie mit vielen Privilegien ausgestattet worden und haben Reichtum und oft auch Adelstitel erworben.«
Wally machte Kugelaugen. »Du und Gustl– ihr stammt von einem Edelmann ab?« Hilde verdrehte genervt die Augen, aber Wally ließ sich nicht beirren. »Da müsst ihr ja in Siebenbürgen noch eine Menge begüterte Verwandte haben.«
Das wagte Thekla zu bezweifeln.
Seit dem Mittelalter hatte es auf dem Balkan zahllose Kriege gegeben, die den Menschen dort, falls nicht gleich das Leben, so doch oft Hab und Gut gekostet hatten. Aber selbst wenn die Siebenbürger Sachsen jahrhundertelang gut davongekommen wären und reichlich Ländereien behalten hätten, musste nach dem Zweiten Weltkrieg mit Privatgrundbesitz endgültig Schluss gewesen sein.
Hilde bestätigte es. »1946 sind wir alle enteignet worden. Meine Eltern haben ihre Heimat schon bald nach dem Krieg verlassen und ihre Zelte in Niederbayern aufgeschlagen. Gustavs Familie kam erst etliche Jahrzehnte später nach Deutschland. Die Schengers sind aus unerfindlichen Gründen in Schwaig bei Nürnberg hängen geblieben.« Einige Augenblicke schwieg sie nachdenklich. »Bis zur Jahrtausendwende sind fünfundneunzig Prozent der sächsischen Bevölkerung aus Siebenbürgen abgewandert. Nur ein winziges, verarmtes und entrechtetes Häufchen ist zurückgeblieben. Nicht mehr als zwanzigtausend Seelen.«
Thekla runzelte die Stirn. »Seelen?«
»Die Zahl stammt aus dem Kirchenregister«, erklärte ihr Hilde, »erfasst also nur getaufte Gotteskinder. Die Abweichung von der tatsächlichen Anzahl dürfte allerdings unwesentlich sein.«
Zwanzigtausend Seelen, die sich an ihre Heimat klammerten und von Zeit zu Zeit sogar Zuwachs bekamen, weil der eine oder andere Aussiedler zurückkehrte und in der alten Heimat Fuß zu fassen versuchte.
»Gustav hatte sich in Deutschland ein gut gehendes Geschäft aufgebaut«, erzählte Hilde. »Mit fünfzig hätte er kürzertreten– ach, was sag ich, er hätte privatisieren können. Aber er musste ja noch mal neu anfangen.« Sie verdrehte einmal mehr die Augen. »Und das ausgerechnet im Burzenland. Ich habe bis heute keinen Schimmer, was ihn zurück ins Siebenbürger Becken getrieben hat. Das Leben in Rumänien ist doch mit dem in Deutschland oder Österreich überhaupt nicht zu vergleichen.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Man muss allerdings einräumen, dass sich die Lage der Siebenbürger Sachsen in letzter Zeit entschieden gebessert hat, was daran liegen mag, dass Staatspräsident Johannis einer von ihnen ist.« Sie verstummte und sah aus dem Fenster.
Thekla hörte Wally etwas vor sich hin murmeln und neigte sich ihr zu, um verstehen zu können, was sie sagte.
»…Rock’n’Roll mit mir getanzt… Jagatee, Bärwurz und Doppelbock mit mir getrunken… Ein Windbeutel gewesen… Aber dass er sich in so kurzer Zeit zu Tode säuft, hätte ich nicht…«
Offenbar war auch Hilde auf Wally aufmerksam geworden, denn sie sagte auf einmal scharf: »Er hat sich nicht zu Tode gesoffen. Medizinisch gesehen zumindest. Allerdings könnte er noch leben, wenn er nicht zu beduselt gewesen wäre, um sich in Sicherheit zu bringen, als seine Bude Feuer fing.«
»Der Gustl ist verbrannt?«, rief Wally entsetzt. »Aber wie konnte das passieren?«
»Ich weiß es nicht. Allerdings habe ich vor, es herauszufin…« Hilde brachte den Satz nicht zu Ende, starrte plötzlich unverwandt auf Wally, dann auf Thekla. Plötzlich lachte sie laut auf. »Wir werden das herausfinden.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und deshalb werde ich im Reisebüro nicht einen, sondern drei Flüge buchen.«
Thekla seufzte schwer. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang denken können, die turbulenten Zeiten des Detektivspielens wären Knall auf Fall vorbei?
»Jawohl«, bekräftigte Hilde ihren Entschluss. »Ich werde drei Flüge buchen. Für morgen und für so früh wie möglich.«
Wally hatte mit aufgerissenen Augen zugehört. »Du meinst, Thekla und ich sollen morgen mit dir nach Bukarest fliegen?«
Hilde tat, als wäre es längst ausgemacht. »Von da müssen wir mit dem Wagen weiter nach Kleingude.«
Als Wally versuchte, zu Wort zu kommen, starrte Hilde sie nieder. »Bei Kaffee und Kuchen im Krönner werden wir wohl kaum erfahren, wieso mein Vetter zu Tode kommen musste.«
In Wallys Augen traten Tränen. »Aber du kennst doch meinen Sepp. Er wird auf keinen Fall–«
Hilde ließ sie nicht ausreden. »Um deinen Mann soll sich Heinrich kümmern. Er muss ihm die Sache halt irgendwie schmackhaft machen. Wenigstens so weit, dass er dich weglässt.«
Thekla schloss einen Moment lang die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem. Das tat sie in letzter Zeit oft. Es half ihr, gelassen und distanziert zu bleiben, bewahrte sie in vermeintlichen oder wirklichen Gefahrensituationen davor, zu hyperventilieren.
So ist Hilde nun mal, dachte sie nüchtern. So ist sie immer schon gewesen. Springt mit Leuten um wie mit Spielfiguren und verlangt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen. Es stört sie nicht, Wally eine Ehekrise zu bescheren, es stört sie nicht, uns alle drei in ein rumänisches Kaff zu verpflanzen. Für wie lange eigentlich?
Thekla argwöhnte, dass ihre Aufenthaltsdauer in Kleingude vom Fortgang der Recherchen abhing, die Hilde anzustellen gedachte. »Gibt es denn irgendetwas Konkretes, das dich auf den Gedanken gebracht hat, hinter Gustavs Tod könnte mehr stecken als ein Unglücksfall?«, fragte sie.
»Hm«, machte Hilde. »Ich habe im Internet einen Bericht über den Brand gefunden. Die Siebenbürgische Zeitung hat ein Onlineportal. Fotos von der Brandstelle gab es auch…«
Sie musste nicht weiterreden. Thekla wusste es schon: Hilde hatte die Fotos an Ali übermittelt, und Ali hatte wieder einmal Übles geschwant.
Ali Schraufstetter, dachte sie. Man sollte dir den Hals umdrehen. Als ob es nicht gereicht hätte, uns in Niederbayern auf Verbrecherjagd zu schicken. Muss es jetzt auch noch im Ausland sein? Rumänien! Heiliger Birnbaum.
Was Heinrich wohl zu dem Vorhaben zu sagen hatte? Würde er strikt dagegen sein? Die Sache als völlig irrsinnig erklären?
Es wäre ihm nicht zu verdenken.
Hatte er es nicht schon als viel zu riskant befunden, im eigenen Landkreis auf Spurensuche zu gehen, Leute auszuhorchen und in fremden Wohnungen herumzuschnüffeln?
»Also abgemacht«, sagte Hilde soeben diktatorisch und warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. »Morgen um diese Zeit werden wir schon im Burzenland sein.«
Thekla fuhr erschrocken zusammen, als von Wally ein leises Lachen kam. Hatte sie einen Schock erlitten?
»Burzenland.« Wally kicherte albern. »Das klingt nach Zwergen und nach Wichtelmännchen und nach verkrüppelten Tannen…«
Hilde warf ihr einen gereizten Blick zu. »Es klingt einzig und allein nach dem Namen des Bergbaches, der vom Königstein herunterkommt und Kleingude in zwei Hälften zerlegt. Der Bach heißt auf Rumänisch Bârsa. Die Siebenbürger Sachsen nennen ihn Burzen, sie haben…«, unversehens wurde ihr Gesichtsausdruck milde, geradezu verträumt, aber fast sofort legte sich ein spöttischer Zug darüber, »…seine Gestade viel besungen.«
»Mein Burzenland, mein Heimatland, mein allerliebstes Vaterland«, riet Thekla.
Hildes vorübergehende Gemütsbewegung mochte ein Trugbild gewesen sein. Ihre Lippen kräuselten sich mokant. »So ähnlich.«
»Ich erinnere mich. Oh ja, jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Wally eifrig. »Gustl hat uns das Lied ja vorgetragen.« Sie begann zu summen und schließlich zu singen:
»Burzenland, oh du Heimaterde,
du bist so wunderschön,
möcht’ nie von dir gehn.
Burzenland, oh du Heimaterde,
du mein liebstes Plätzchen auf der Welt.«
Thekla musste grinsen. Typisch für Wally, sich so eine Schmalzhymne zu merken. Erstaunlich war allerdings, dass offenbar auch Hilde den Text noch im Kopf hatte. Sie hatte die Worte zwar lautlos, aber einwandfrei mitgesprochen.
Thekla begann darüber nachzugrübeln, wie viel für Hilde diese ferne Region bedeutete, der sie entstammte, in der sie jedoch nicht geboren, geschweige denn aufgewachsen war.
Nichts bedeutet sie ihr, hätte sie Hilde noch vor wenigen Minuten unterstellt, denn sie hatte in all den Jahrzehnten, die sie sich kannten, kaum ein Wort darüber fallen lassen.
Warum?, das hätte Thekla gern gewusst, aber so direkt wollte sie nicht fragen.
Schließlich sagte sie: »Bist du mit deinen Eltern oft zu Besuch in der alten Heimat gewesen?«
Hilde machte eine abwehrende Geste. »Unter Ceaușescu? Wie stellst du dir das denn vor?«
Gar nicht, dachte Thekla. Woher sollte ich eine Vorstellung davon haben?
»Ceaușescu hat nach dem Muster ›Big Brother is watching you‹ geherrscht«, erklärte Hilde. »George Orwell. Erinnerst du dich? ›1984‹. Haben wir in der Mittelstufe gelesen. Seine Augen und Ohren hat die berüchtigte Geheimpolizei Securitate verkörpert. Zweiundzwanzig Jahre lang hat sie Rumänien in Angst versetzt.«
»Und nach Ceaușescu?« Thekla stellte die Frage, obwohl sie nicht recht wusste, ob Hilde über ihre Verbindung zur Heimat ihrer Altvorderen reden wollte. Das Thema schien ihr gleichzeitig lästig und willkommen zu sein.
Hilde malte mit ihrem Löffel einen Galgen in den grünlichen Belag, der von ihrer Gemüsesuppe auf dem Tellerboden zurückgeblieben war. »Ceaușescu ist Ende’89 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und erschossen worden. Seitdem verfolgt Rumänien angeblich einen demokratischen Kurs und gibt vor, sich nach Westen zu orientieren. Aber was man so hört…« Sie ließ den Rest des Satzes offen.
Thekla erinnerte sich, wie die Medien in den neunziger Jahren über die Zustände in Siebenbürgen berichtet hatten und wie daraufhin in ihrem früheren Wohnort Moosbach ein Rumänienhilfe-Verein gegründet worden war. Ehrenamtliche Helfer hatten alles gesammelt, wovon die Moosbacher sich trennen konnten: Kleidung, Schuhe, Geschirr, Spielsachen… Sie und ihr Bruder hatten meist Verbandszeug aus ihrer Apotheke beigesteuert sowie Babybrei, Fläschchen samt Sauger und Fieberzäpfchen. Das örtliche Busunternehmen hatte einen Transporter zur Verfügung gestellt, den die Burschen vom Schützenverein bis oben vollgeladen und via Österreich und Ungarn nach Rumänien gekarrt hatten.
Theklas Gedankengang brach ab, als sie Hilde sagen hörte: »…aber die Lage hat sich in den letzten Jahren allmählich gebessert– politisch und überhaupt, und dank der Rückkehrer kommt die Sache der Siebenbürger Sachsen irgendwie in Schwung. Als Gustl zu Besuch war, hat er nicht nur Rock’n’Roll getanzt und gesoffen. Er hat auch einiges erzählt. Dass heutzutage in Siebenbürgen eine Zeitung in deutscher Sprache erscheint beispielsweise, dass es in Buchhandlungen Bücher in deutscher Sprache gibt und dass am Honterusgymnasium in Kronstadt die Unterrichtssprache Deutsch ist. Was für ein Fortschritt, wenn man bedenkt, wie es nach dem Krieg für die Leute dort aussah.«
Es erschütterte Thekla geradezu, wie wenig sie über Hildes Familie und deren ehemalige Heimat wusste. Sie hatte nie wirklich realisiert, dass Hildes Eltern nicht seit jeher in Granzbach sesshaft gewesen waren.
Verwirrt fragte sie sich jetzt, ob in Hildes Geburtsurkunde tatsächlich »Granzbach« stand oder etwa »Kleingude« oder irgendein Ort dazwischen, in dem sie unterwegs zur Welt gekommen war.
»Rumänien, speziell Siebenbürgen, ist kein Land, das Reiseveranstalter besonders anpreisen«, sagte Hilde. »Aber in den letzten Jahren hat der Tourismus trotzdem stetig zugenommen. Hermannstadt ist inzwischen vielen ein Begriff, auch von Kronstadt hat man wohl schon läuten hören. Transsilvanien sagt natürlich jedem was, der schon mal einen Dracula-Film gesehen hat.«
Vor Theklas innerem Auge tauchten Bilder eines Schlosses auf, dessen Türme und Türmchen in dichtem Nebel nur undeutlich zu erkennen waren; das geisterhaft auf einem hohen Felsen thronte und einen frösteln ließ; das umgeben war von dunklem Wald, in dem Wölfe und Bären hausten und Vampire ihr Unwesen trieben.
Hastig schüttelte sie die Vision ab. Das war die Hollywoodversion von Siebenbürgen. Wie mochte das Ländchen im Karpatenbogen in Wirklichkeit aussehen?
»Dabei ist Siebenbürgen eigentlich wie geschaffen für Reiseprospekte«, hörte sie Hilde halb spöttisch, halb schwärmerisch sagen. »Sonnenbeschienene Bergflanken, gemütliche kleine Dörfer, leise murmelnde Bäche, Schafherden und ihre Schäfer und auf allen Wegen Pferdefuhrwerke, die von schnauzbärtigen Kerlen gelenkt werden.«
Thekla sah sie verwundert an. Wo hatte Hilde solche Eindrücke her? Aus Erzählungen ihrer Eltern? Aus Büchern und Magazinen? Oder aus eigener Sicht?
Wie viele Reisen hatte sie– irgendwann nach Ceaușescu– nach Siebenbürgen unternommen? Wo hatte sie während ihrer Aufenthalte gewohnt?
Thekla wollte noch mal auf das Thema zurückkommen, wurde jedoch daran gehindert, weil Wally sagte: »Gustl hat mir ein paar Bilder gezeigt, als er zu Besuch da war. Von seinen Milchschafen, seinem Schnapslager und von seinem Dorf. Ich habe die Häuser nicht gezählt, aber mehr als ein Dutzend können es nicht sein. Meint ihr nicht auch, dass es schwierig werden könnte, in so einem kleinen Nest eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden?«
Hilde grinste. »Die Villa Bavaria hast du nicht zu sehen bekommen?« Sie wartete Wallys Antwort nicht ab. »Seltsam. Gustl war so stolz auf sein Hotel. Und da werden wir auch wohnen.«
2
Am Bukarester Flughafen Henri Coandă wurden sie bereits erwartet.
Wäre ja noch schöner, wenn Alina nicht dafür gesorgt hätte, dass wir abgeholt werden, dachte Hilde.
Der Mann, der sich ein Schild mit der Aufschrift »Hilde Westhöll« vor die Brust hielt, als hätte er für ein erkennungsdienstliches Foto Aufstellung genommen, war gut in den Fünfzigern, klein und stämmig. Hilde erkannte ihn sofort, obwohl es etliche Jahre her war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie besann sich sogar auf seinen Namen: Ion.
Ion hatte sie und Eckbert vom Flughafen abgeholt. Dreimal insgesamt.
Für Hilde war Gustavs Einladung anlässlich der Eröffnung seines Hotels seinerzeit überraschend gekommen. Und noch heute staunte sie darüber, dass sie damals tatsächlich nach Siebenbürgen gereist war. Ursprung, Wurzeln, Heimat, Altvordere– sie hatte sich nie dafür interessiert und war überhaupt nicht scharf drauf gewesen, die wenigen Urlaubstage, die sie sich gönnte, in Kleingude zu verbringen. Sie hatte weder eine Verbundenheit mit Siebenbürgen gespürt noch mit Vetter Gustav, zu dem der Kontakt über die vergangenen Jahrzehnte hinweg zwar nie abgerissen, aber auch nicht wirklich gepflegt worden war.
Eckbert war die treibende Kraft gewesen. Er hatte sie kontaktiert, hatte sich ihr als Gustavs Schulfreund vorgestellt, der wie ihr Vetter in den 1970er Jahren sein Heimatland verlassen und in Deutschland Fuß gefasst hatte. Er hatte ihr gesagt, dass er Gustavs Einladung sehr, sehr gerne annehmen würde, aber seines Gesundheitszustandes wegen nicht wage, allein zu reisen. Er hatte sie– mühsam genug– zu jener ersten Reise überredet, auf der sie dann verblüffenderweise jede Minute genossen hatte.
Der Grund dafür war hauptsächlich Eckbert gewesen, bei dem sie (eingebildete oder tatsächliche) Ähnlichkeiten zu ihrem früh verstorbenen Mann Gregor entdeckte. Und so blieb es nicht aus, dass sie sich mehr und mehr zu ihm hingezogen fühlte.
Hätte allerdings jemand zu sagen gewagt, sie hätte sich in ihn verliebt, dann würde sie diese Unterstellung entrüstet von sich gewiesen haben. Sie fand es einfach wohltuend und angenehm, mit Eckbert zusammen zu sein. Zwischen ihnen herrschte eine Nähe, die ihr seit dem Tod ihres Mannes schmerzlich gefehlt hatte. Aber verliebt war Hilde ganz bestimmt nicht.
Eckbert schon. Bis über beide Ohren hatte er sich vernarrt: in Gustavs Schafe, in die Hügel, auf denen sie grasten, in die Kerle, die sie hüteten, sogar in die Wildtiere, die sie bedrohten. Ins Burzenland, wie es leibte und lebte. Als der Aufenthalt zu Ende ging, nahm er Hilde das Verspechen ab, im nächsten Sommer wieder eine Woche gemeinsam mit ihm in Gustavs Hotel zu verbringen. Sie gab es gern.
So kam es, dass Hilde und Eckbert drei aufeinanderfolgende Sommer nach Kleingude reisten. Einen Monat bevor sie ein viertes Mal ins Burzenland aufbrechen konnten, starb Eckbert an seiner Herzschwäche, und damit war Kleingude für Hilde erledigt. Zurück blieb eine bittersüße Erinnerung an Kräuterschnaps und Nusslikör, an Zwetschgenwasser und Himbeergeist, Schluck für Schluck ausgekostet, während über den Karpatengipfeln die Sonne unterging.
Ion, der Aromune aus der Dobrudscha, war schon damals Gustavs Faktotum gewesen. Er hatte kein Wort Deutsch gesprochen, und daran hatte sich offenbar nicht viel geändert.
Heftig gestikulierend führte er die drei Damen zu einem Kleinbus mit der Aufschrift »Villa Bavaria« und scheuchte sie hinein. Ihr Gepäck verstaute er auf der Rückbank.
Hilde, Thekla und Wally schienen seine einzigen Fahrgäste zu sein, und Hilde fragte sich, wie Gustavs Villa Bavaria zurzeit wohl ausgelastet war. Besonders groß konnte der Andrang nicht sein, wenn außer ihnen keine weiteren Gäste angereist waren. Allerdings würde die Maschine, mit der sie geflogen waren, nicht die einzige sein, die an diesem Tag in Bukarest landete.
Für einen richtigen Touristenansturm war es aber ohnehin noch viel zu früh im Jahr. Auf den Bergen lag noch Schnee, und in den Städten war es zu kalt, um in Straßencafés oder auf Parkbänken zu sitzen.
Erstaunt spürte Hilde eine leise Sehnsucht, die sich wie unterschwelliger Zahnschmerz anfühlte, als sie an längst vergangene Sommertage mit Eckbert dachte: bei einem Kaffee in Kronstadt im Schatten der schwarzen Kirche, bei Wein und Käse in Bran am Souvenirmarkt, bei einer Brotzeit aus dem Rucksack in den Hügeln um Kleingude, wo das Gras sich mangels Regen schon im Juni braun färbte, oder einfach auf der Terrasse des Hotels.
In Erinnerungen versunken lehnte sie sich in ihren Sitz zurück, machte die Augen zu und versuchte, das Motorengeräusch auszublenden. Warum hatte sie immer nur diese eine Woche mit Eckbert hier verbracht und sich den Rest des Jahres über von der Sorge ums Bestattungsinstitut auffressen lassen, die völlig umsonst gewesen war? Vor allem nachdem ihr Neffe Rudolf den Betrieb übernommen hatte, hätte sie sich um überhaupt nichts mehr kümmern müssen. Sie und Eckbert hätten zusammen…
Theklas Stimme rief sie in die Gegenwart zurück, drang in ihr Bewusstsein und machte ihr klar, dass ihre beiden Gefährtinnen mit Informationen versorgt werden wollten. Ihr zuliebe hatten sie sich geradezu überstürzt auf diese Reise begeben, ohne zu wissen, wie sie verlaufen, und ohne eine Vorstellung von der Gegend, in die sie sie führen würde. Alles war viel zu schnell gegangen, als dass vor der Abfahrt Zeit dafür gewesen wäre, die beiden darüber zu unterrichten, was sie erwartete.
Widerwillig schlug Hilde die Augen auf. »Wir werden sicherlich gut fünf Stunden unterwegs sein.«
Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. Der Kleinbus hatte das Flughafengelände längst verlassen und befand sich nun auf dem Zubringer zur mehrspurigen Fahrbahn Richtung Hauptstadt. Rund um Bukarest unterschied sich das Verkehrsnetz kaum von dem anderer europäischer Länder. Aber bereits wenige Kilometer weiter nördlich, östlich oder westlich sah die Sache ganz anders aus.
Ion blinkte und fädelte sich in den dicht fließenden Verkehr ein.
»Die ersten fünfzig Kilometer werden wir noch auf der Autobahn oder einer Schnellstraße fahren können«, erläuterte Hilde. »Dann wird es– milde ausgedrückt– ländlich. Die Straßen sind schmal und kurvig, ab Kronstadt regelrecht schäbig und voller Schlaglöcher. So war es jedenfalls früher, und ich fürchte, dass sich daran nichts geändert hat.«
»Wie oft bist du schon in Kleingude gewesen?«, fragte Wally.
Seit sie gelandet waren, füllten Eckbert, Kleingude und alles, was dazugehörte, ihr gesamtes Denken aus, sodass Hilde nicht lange nachrechnen musste. »Dreimal. In den Jahren 2010, 2011 und 2012. Immer zusammen mit Eckbert. Habe ich ihn nie erwähnt? Eckbert war ein Schulfreund von Gustav. Er kam aus dem Nachbardorf. Für August 2013 hatte uns Gustav im Januar schon Zimmer reserviert. Im April hatte Eckbert den ersten Infarkt. Der zweite– im Juli– hat ihn dann umgebracht.«
Sie merkte selbst, wie gepresst ihre Stimme klang. Eckberts Tod hatte sie damals schwer getroffen, schmerzte sie noch immer, was sie sich jedoch bis heute niemals eingestanden hatte.
Sie räusperte sich, um ihre Stimme zu klären. »Gustav ist 2007 ins Burzenland zurückgekehrt. Als die Villa Bavaria drei Jahre später kurz vor der Eröffnung stand, hat er Eckbert und mich eingeladen. Wir beide sind die ersten offiziellen Hotelgäste gewesen.«
Hastig schob sie eine wehmütige Reminiszenz an die einvernehmliche Stille beiseite, in der sie und Eckbert am Abend vor der Ankunft weiterer Gäste im Mondschein auf der Terrasse der Villa Bavaria zusammengesessen hatten. Mit Mühe gelang ihr ein nüchterner Ton. »Der Betrieb lief gut, so gut, dass sich Gustav ein Privathäuschen bauen lassen konnte und nicht länger in dem kleinen Appartement im Dachgeschoss des Hotels wohnen musste. Die Mansarde hat er dann Ion überlassen.«
Sie machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln, die Thekla für eine Zwischenfrage nutzte. »Wenn ich alles richtig mitgekriegt habe, dann müsste der Brand im Privathaus ausgebrochen sein. Liegt oder besser lag es in der Nähe des Hotels?«
Der Anflug eines Lächelns umspielte Hildes Lippen. »Das Grundstück für sein Zuhause hat Gustav sehr sorgfältig ausgesucht. Es liegt auf der Kuppe des Sonnenhügels und ist von der Villa Bavaria weit genug entfernt, um die Hotelgäste wie Stummfilmfiguren wirken zu lassen, liegt dabei aber so günstig, dass er alles im Blick hatte. Das Hotel, die Nebengebäude, die Zufahrt, sogar das Winterquartier der Schafe…«
Sie unterbrach sich, weil sie einen Seufzer ersticken musste.
Vielleicht hätte sie nach Eckberts Tod doch noch mal herkommen sollen. Gustav hatte sie auch danach noch regelmäßig eingeladen, aber sie hatte ebenso regelmäßig abgesagt. Ohne Eckbert nach Kleingude zu reisen, war ihr irgendwie unpassend erschienen. War nicht er es gewesen, der das Burzenland für sie erst zum Leben erweckt hatte?
»Hotel, Privathaus, Nebengebäude, Schafställe. Dein Vetter muss es ja in seiner alten Heimat zu einigem Wohlstand gebracht haben«, hörte sie Thekla sagen.
Der unebene Straßenbelag verzerrte Hildes Nicken zu einem achterförmigen Schlingern. »Gustav war der geborene Unternehmer. Er hätte es überall auf der Welt zu etwas bringen können. Den Beweis dafür hat er schon als junger Kerl geliefert. Kaum in Franken angekommen, hat er sich als Erstes nach einem lukrativen Geschäftsmodell umgesehen, hat dann zielsicher zugeschlagen, und bald gab’s ›Gustl’s Imbiss‹ an jeder Ecke in und rund um Nürnberg.« Sie schmunzelte halb spöttisch, halb bewundernd. »›Bratworscht im Weggla‹. Die fränkische Antwort auf Hamburger und Co.«
Hilde hatte Gustavs Geschäftstüchtigkeit stets großen Beifall gezollt. Gegen ihn waren sie und ihr Mann– florierendes Bestattungsinstitut hin oder her– Stümper gewesen.
Gustav hätte ein riesiges Bratwurstimperium haben können, wenn ihm daran gelegen gewesen wäre. Aber aus Profit hatte er sich nichts gemacht. Das war sein Schwachpunkt gewesen. Sobald ein Geschäft genug einbrachte, verlor er das Interesse daran, wandte sich anderen Dingen zu, suchte neue Herausforderungen. Gustl war unbeständig und flatterhaft gewesen. Daran war die Ehe mit Margot zerbrochen. Ob ihm das manchmal leidgetan hatte? Hilde wiegte den Kopf. Schwer zu sagen. Aber warum hatte er einen– im wahrsten Sinne des Wortes– derart großen Schritt getan und war nach Rumänien zurückgekehrt? Um Margot vergessen zu können?
Vielleicht hing er ja stärker an seiner Frau, als er es selbst für möglich gehalten hat, sagte sie sich. Margot hat ihm gefehlt, die Bratwürste nicht. Im Gegenteil, Hilde musste grinsen, er hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes satt.
Ihr fiel ein, dass sie mit Eckbert sogar einmal darüber gesprochen hatte, weshalb Gustav sich die alte Heimat für seinen Neustart ausgesucht habe. Gustl sei ein Abenteurer mit Hang zu Schwärmerei und Kapriolen, hatte Eckbert gesagt und sicherlich recht gehabt. Aber musste ihr Vetter deshalb im Burzenland ein Touristenhotel bauen und in den Hügeln drum herum Schafe züchten?
Hilde hatte sich manchmal gefragt, wie sich beides miteinander vertrug. Erstaunlicherweise schien sowohl das eine wie das andere zu florieren.
Aber– darin war Hilde sich sicher– Gustav wäre nie ins Burzenland zurückgekehrt, hätte er nicht einige wichtige Voraussetzungen dafür mitgebracht.
Erstens hatte er die rumänische Sprache noch immer fließend beherrscht. Zweitens hatte er Freunde in der Gegend. Drittens kannte er jedes Fleckchen Erde im Karpatenbogen. Und viertens, der wichtigste Punkt: Gustav wusste mit dem Amtsschimmel umzugehen.
Ihr Vetter war fast erwachsen gewesen, als seine Familie in den Siebzigern mit einer der großen Auswanderungswellen aus Siebenbürgen weggespült worden war und bald darauf zu Landsleuten stieß, die schon Jahrzehnte zuvor im Fränkischen gelandet waren. Dank der rumänischen Sprache, die er in Wort und Schrift nicht nur fehlerfrei beherrschte, sondern auch elegant anzuwenden vermochte, kam er schnell in den Ruf, unentbehrlich zu sein, wenn Papierkram mit rumänischen Behörden zu erledigen war. Er reichte Gesuche ein, füllte Formulare aus, verfasste Widersprüche, beantwortete Anfragen. All das lehrte ihn, wie in rumänischen Ämtern der Hase lief und wie man mit den rumänischen Bürokraten am besten zurande kam.
Für die Rückkehr waren seine Erfahrungen ein solider Grundstock, und sie erlaubten ihm, einen Coup zu landen, der bis dato kaum einem anderen Siebenbürger Sachsen gelungen war.
Zu Hildes enormer Verblüffung hatte Gustav es geschafft, einen großen Teil der nach dem Krieg konfiszierten Grundstücke seiner Eltern von der rumänischen Regierung zurückübereignet zu bekommen. Offenbar handelte es sich um viele Hektar Land in und um Kleingude. Hilde hätte neidisch werden können, denn auch ihre Familie war damals enteignet worden. Sie hätte ebenfalls– eventuell mit Gustavs Hilfe– versuchen können, das Land ihrer Eltern, das sich an den Hängen des Königstein befunden hatte, zurückzugewinnen. Aber ihr lag nicht das Geringste daran. Was hätte sie mit solch unwegsamem Gelände denn anfangen sollen? Schafe darauf weiden lassen? Gott bewahre. Bebauen? Unmöglich. Brach liegen lassen? Wozu?
Land nur um des Besitzes willen zu vereinnahmen– ganz zu schweigen davon, dass bei der Sache ein riesiger Batzen Schmiergeld angefallen wäre– schien ihr…
»Plemplem«, sagte sie leise.
»Was ist denn aus den Bratwürsten geworden, als dein Vetter nach Siebenbürgen zurückgekehrt ist?«, schnitt Theklas Stimme in ihre Gedanken.
Hilde zog ein Gesicht. »Scheidungskinder.« Theklas verständnislose Miene bewog sie zu präzisieren: »Gustav hat auf das Sorgerecht verzichtet, die Wörscht sind bei Margot geblieben.«
Der Schlussstrich, den Gustav gezogen hatte, war offenbar endgültig gewesen.
»Ist sie auch eine Siebenbürger Sächsin?«, fragte Wally.
»Margot?« Hilde musste lachen. »Margot fränkelt wie Herbert Hisel, Gott selig. Und blödeln kann sie genauso gut. Wenn die Margot am Christkindlesmarkt in der Verkaufsbude steht, verdoppelt sich der Umsatz von einer Minute auf die andere. Margot und die Bratwörscht im Weggla stammen aus dem Frankenland. Sie gehören zusammen.« Spitz fügte sie hinzu: »Wie Gustav und das Poussieren zusammengehört haben.«
»Er hat seiner Ex alles überlassen? Einfach so?« Wallys Ton drückte Zweifel aus.
»Das Geschäft, das Haus, den Wagen– ach ja, den Sohn nicht zu vergessen«, zählte Hilde auf. »Was aber nicht heißen soll, dass er mit leeren Händen gegangen ist. Gustav hatte seine Gewinne in Aktien angelegt. Das Portfolio muss umfangreich gewesen sein. Und eine ganze Menge Schwarzgeld war auch da, möchte ich wetten.«
»Was ist aus dem Sohn geworden?«, wollte Thekla wissen.
»Daniel? Der wohnt, soviel ich weiß, noch bei seiner Mutter, obwohl er inzwischen schon Ende zwanzig sein muss. Scheint nicht recht auf eigenen Füßen stehen zu können.« Hilde schaute aus dem Fenster, weil der Wagen unvermittelt angehalten hatte. Der Grund dafür war offensichtlich: Vor einer Kreuzung hatte sich ein kleiner Stau gebildet.
Sie nutzte die Verkehrsstockung, um die Hinweisschilder am Straßenrand zu studieren. Auf einem blauen mit weißer Schrift las sie »Braşov10«.
»Zwei Drittel der Strecke haben wir schon hinter uns«, stellte sie befriedigt fest.
Das letzte Drittel würde sie allerdings genauso viel Zeit kosten wie die ersten beiden.
Als die Wagenkolonne wieder anfuhr, registrierte sie erstaunt, dass Ion sich links einordnete und kurz darauf von der Straße nach Kronstadt auf eine Nebenstrecke abbog.
Sie zupfte ihn am Ärmel. »Wir müssen doch in Richtung Braşov fahren.«
Ion zeigte auf eine Anzeige am Armaturenbrett. »Benzina.«
Er musste also tanken, was bei der Entfernung Bukarest–Kleingude nicht weiter verwunderlich war. Aber warum hatte er nicht längst an einer der Tankstellen angehalten, die in regelmäßigen Abständen die Hauptstraße säumten? Warum kurvte er dazu in die Pampa?
Mehrere Kilometer sogar, wie sich schließlich zeigte.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie ein Dorf, dessen Namen aus zu vielen Vokalen bestand, als dass Hilde ihn richtig ablesen, geschweige denn hätte behalten können.
Kurz hinter dem Ortsschild hielt Ion vor einer Zapfsäule, die sich neben zwei weiteren unter einem geschwungenen Dach befand.
Er deutete auf ein dahinter aufragendes Gebäude und nuschelte etwas, das sich wie »Manca– bea« anhörte, und klopfte dabei auf seinen Bauch.
Essen und trinken, riet Hilde. Ion wollte anscheinend nicht nur tanken, sondern auch gleich Mittagspause machen.
Dagegen war nichts einzuwenden. Blieb die Frage: Wie viel Zeit veranschlagte er dafür?
Hilde klopfte auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr und sah ihn fragend an.
Er beschrieb mit dem Zeigefinger einen Halbkreis.
Dreißig Minuten.
Sie nickte. »Okay.«
»Ich muss sowieso allerdringendst pinkeln«, sagte Wally.
Ion sprang aus dem Wagen, schob die hintere Tür auf und wartete sichtlich ungeduldig, bis seine Fahrgäste ausgestiegen waren, dann zeigte er wieder auf das Gebäude.
Thekla, Hilde und Wally eilten darauf zu. Als sie eintraten, stellten sie fest, dass es sich um eine gepflegte, modern eingerichtete Cafeteria handelte. Sogar die Toiletten, die sie sofort aufsuchten, erwiesen sich als akzeptabel.
Ion wusste offenbar, wie man deutsche Gäste zufriedenstellte.
Im Gastraum entdeckte Thekla einen freien Tisch zwischen zwei bodentiefen Fenstern, der ihnen angenehm schien.
Kaum hatte sie sich auf den weißen Plastikstühlen mit Schalensitz niedergelassen, stieß Wally einen Entzückensruf aus und zeigte auf die Kuchentheke, die sie von ihrem Platz aus direkt im Blick hatte.
Hilde neigte sich zur Seite, um besser sehen zu können, und registrierte beeindruckt, wie groß die Auswahl war: Nusshörnchen, Mohnkuchen, Hefezopf, Sahneschnitten…
»Die Nusstorte sieht besonders lecker aus«, verkündete Wally. »Obwohl auch der…«
Hildes Interesse an der Kuchentheke war bereits erloschen. Müßig ließ sie den Blick durch den Raum streifen.
Außer ihr, Thekla und Wally schienen keine Ausländer hierhergefunden zu haben. Einheimische jedoch schon. Am Nebentisch saß ein junges Paar mit zwei Kindern. Rumänen, wie Hilde der Unterhaltung entnahm. Der nächste Tisch war von drei Männern besetzt, dem Aussehen nach wenig erfolgreiche Geschäftsleute, die das »Repede« wohl als Treffpunkt gewählt hatten.
Hilde fragte sich, ob der Name des Lokals, der über der Eingangstür stand, auf die Papierservietten und den Rand der Kuchenteller gedruckt war, eine Bedeutung in wörtlichem Sinn hatte.
»Wie Italienisch, Französisch und Spanisch hat sich die rumänische Sprache aus dem Lateinischen entwickelt«, hatte Eckbert ihr einmal erklärt. »Folglich gibt es viele Entsprechungen.«
Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach einem Wort, das in einer dieser Sprachen genauso oder wenigstens ähnlich wie »repede« klang. Aber etwas Besseres als »rapido« fiel ihr nicht ein. Sie dachte eine Weile darüber nach, ob es sein konnte, dass die Cafeteria »Rasch« oder »Schnell« hieß, und gelangte zu der Ansicht, dass es nicht abwegig war.
Währenddessen war ihr Blick über die Köpfe weiterer Gäste und zwangsläufig auch über die Einrichtung des Lokals gewandert. Offenbar hatte der Besitzer des »Repede« eine Vorliebe für alle Arten von Kunststoff. Vollplastiktische und -stühle bestückten den Raum, Polyestergardinen hingen an den Fenstern, Kunstblumen steckten in Acrylglasvasen, die auf Spitzendecken aus Polyester standen.
»…der Sohn wird wohl alles erben«, sagte Thekla, als sie bei Kaffee und Kuchen saßen, als hielten sie eines ihrer Montagstreffen im Krönner ab.
Erst als sie fortfuhr: »Oder hat dein Vetter hier eine neue Familie gegründet?«, fiel Hilde wieder ein, wovon zuvor die Rede gewesen war.
»Durchaus möglich«, antwortete sie, ohne lang zu überlegen. »Enthaltsam hat er ganz bestimmt nicht gelebt.«
Im Nachhinein fand sie es allerdings seltsam, dass sie nicht einmal zu der Zeit, als sie mit Eckbert drei Sommer hintereinander eine Woche lang in Kleingude gewesen war, etwas von einer halbwegs ernst zu nehmenden Liaison gehört hatte.
War da nichts außer den üblichen Techtelmechteln?, fragte sie sich. Oder hat Gustav es vorgezogen, die Sache geheim zu halten?
Nicht ein einziges Mal war ihr etwas von einer Frau in Gustavs Leben zu Ohren gekommen. Damals nicht und nach Eckberts Tod, als der Kontakt zwischen ihr und Gustav wieder spärlicher wurde, erst recht nicht.
In den vergangenen vier Jahren hatten Gustav und Hilde meist nur an Weihnachten und an den Geburtstagen Grußkarten ausgetauscht. Ab und zu hatten sie miteinander telefoniert, sich aber wenig zu sagen gehabt.
Gustavs Besuch vor drei Jahren war eine riesige Überraschung gewesen, und es war auch bei diesem einen geblieben. Hilde fragte sich noch heute manchmal nach dem Grund für Gustavs unvermutetes Auftauchen in Granzbach. Eine sinnvolle Antwort hatte sie nie gefunden und würde es nun wohl auch nicht mehr tun.
Unverhohlen gestand sie sich ein, dass sie alles in allem recht wenig über Gustavs Lebensumstände in Siebenbürgen wusste. Zum einen, weil sie sich nicht wirklich dafür interessiert hatte, zum andern, weil Gustav sich offenbar recht gut bedeckt halten konnte, wenn er es so wollte.
Aber geheiratet hat er kein zweites Mal, dachte Hilde. Das hätte er mir erzählt.
Thekla hatte die Stirn in Falten gelegt, als krame sie in ihrer Erinnerung nach etwas ganz Bestimmtem. Schließlich schien sie darauf zu stoßen. »Alina. Hast du nicht jemanden mit Namen Alina erwähnt? Hat sie dir die Todesnachricht geschickt? Könnte sie Gustavs Lebensgefährtin gewesen sein?«
Hilde zuckte die Schultern. »Offiziell ist Alina Geschäftsführerin der Villa Bavaria. Wieso hackst du eigentlich auf Gustavs Beziehungskisten herum?«
Thekla sah sie missbilligend an. »Weil wir ein Motiv brauchen werden, falls sich herausstellt, dass Ali wieder einmal ins Schwarze getroffen hat.«
»Ob Alina privat mit Gustl verbandelt war…« Hilde ließ den Rest offen und zuckte erneut die Schultern.
Es würde sich erweisen.
Und was würde sich noch erweisen? Dass es bei dem Brand, der Gustav das Leben gekostet hatte, nicht mit rechten Dingen zugegangen war? Was durchaus sein konnte, denn Gustav hatte sicherlich Neider gehabt. Wie viele in Kleingude ihm wohl schon allein die Rückübereignung des Besitzes missgönnt hatten? Ganz zu schweigen von dem Hotel, das er dann dorthin gebaut hatte.
Aber selbst wenn es Spuren geben sollte, die zweifelsfrei auf Brandstiftung hinwiesen, wie sollten sie sie erkennen?
Anhand der Fotos hatte Ali nicht viel mehr sagen können, als dass ihm die Sache komisch vorkäme. Er hatte noch etwas von Glassplittern und Verpuffung gemurmelt, aber Hilde hatte gar nicht mehr richtig zugehört. Es hatte ihr genügt, dass durch die Bilder der Argwohn des Kreisbrandrats geweckt worden war.
Wir hätten ihn mitnehmen sollen, ging es ihr durch den Kopf. Ali würde wissen, worauf man achten muss; er könnte fachmännische Untersuchungen anstellen und die richtigen Schlüsse ziehen.
Falls es nicht längst zu spät dafür war.
Sie stieß nun doch einen Seufzer aus. »Mehr als uns ein bisschen umsehen und– so weit möglich– umhören, können wir wohl nicht tun.«
Weil keine Antwort darauf kam, blickte sie von ihrem Teller hoch und stellte fest, dass Wally sich erhoben hatte und wie magisch angezogen auf die Kuchentheke zusteuerte.
»Quarkbällchen. Mhm, wie lecker die aussehen. Die muss ich unbedingt noch probieren.«
Thekla war ebenfalls aufgestanden und hielt auf eine Auslage mit abgepackten Süßwaren zu, die sie so gründlich studierte, als vertrete sie Verbraucherschutz, Lebensmittelaufsicht und Gesundheitsamt gleichzeitig.
Hilde sah ihr mit müdem Blick dabei zu, fühlte sich auf einmal schlaff und träge. Nach einer Weile wandte sie sich ab und schaute aus dem Fenster.
An der Tankstelle herrschte momentan nur wenig Betrieb. Ion hatte den Kleinbus nach dem Auftanken von der Zapfsäule weggefahren und in einer Parkbucht seitlich des »Repede« abgestellt. Hilde konnte nur das Heck sehen und Ion, der soeben daran vorbeiging.
Neben einem roten Kleinlaster mit einer Aufschrift, die sie aus der Entfernung nicht lesen konnte, blieb er stehen und klopfte ans Fenster der Fahrertür. Die Scheibe wurde hinuntergelassen, und Ion sagte etwas zu der Person im Wagen.
Hilde richtete sich auf. Ihre Neugier war erwacht. Hatte Ion ganz zufällig einen Bekannten entdeckt, oder war dieses Treffen verabredet? Hatte er deswegen den Abstecher zum »Repede« gemacht?
Sie beugte sich vor, um ihren Blickwinkel zu vergrößern, und beobachtete Ion genau. Er war einen Schritt zurückgetreten, die Fahrertür ging auf, und ein langer Kerl mit pechschwarzen Haaren stieg aus. Er überragte den etwas pummeligen Ion um mehr als zwei Köpfe.
Hilde hätte beinahe laut aufgelacht. Was für ein Gegensatz. Lang, schwarz, hakennasig türmte sich neben klein, rund, plattnasig auf.
Die beiden traten an die Ladefläche des roten Kleinlasters, wo der Lange einen Zipfel der Plane zurückschlug, die sie überspannte. Ion warf einen Blick durch die entstandene Öffnung, nickte, eilte zu seinem Minibus und öffnete die Klappe des Kofferraums. Der Lange hatte mittlerweile eine Kiste ausgeladen, die etwa die Größe einer Kühlbox besaß, übergab sie Ion, ging zurück und holte eine weitere.
Gut ein Dutzend Kisten und drei kleine Fässer packten die beiden in den Kleinbus um. Der Kofferraum musste randvoll sein. Deshalb also hatte Ion ihr Gepäck im Wageninneren verstaut.
»Möchtest du probieren? Schmeckt himmlisch.«
Hilde machte eine abwehrende Geste, die recht barsch ausfiel und Wally sicherlich verletzte. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Wally würde die Kränkung schon verschmerzen. Im Augenblick konnte Hilde beim besten Willen keine Rücksicht auf Wallys Befindlichkeiten nehmen, denn die Vorgänge in der Parkbucht beanspruchten ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Ion hatte mittlerweile den Kofferraum geschlossen und war mit dem Langen hinter einen Betonpfeiler getreten.
Hilde rutschte samt Plastikstuhl ein Stück nach rechts in der Hoffnung, die beiden wieder in den Blick zu bekommen, konnte vorerst jedoch nur Ions Hand sehen, die ein Bündel Scheine aus der Gesäßtasche zog. Offenbar ging es ans Bezahlen. Der Lange– er befand sich außerhalb ihres Sichtfeldes– schien das Geld zu zählen, denn als sie Ion schließlich im Visier hatte, sah sie ihn abwartend dastehen. Eine halbe Minute später kam wieder Bewegung in die Szene. Ion nickte und deutete einen Gruß an, indem er zwei Finger an eine imaginäre Hutkrempe legte. Im nächsten Moment schoss der Lange hinter dem Pfeiler hervor, sprang in seinen roten Kleinlaster und fuhr davon.
Ion blickte sich argwöhnisch um, bevor er sich in Marsch setzte und auf den Eingang der Cafeteria zuschritt.
Als er eintrat, wandte Hilde sich hastig vom Fenster ab und neigte sich ostentativ Wally zu. »Ja bitte, lass mich das Quarknockerl mal probieren.«
Dafür war es allerdings zu spät. Wally hatte es schon aufgegessen. Sie wirkte so zerknirscht, dass Hilde sich wegen ihrer Schroffheit von vorhin tatsächlich Vorwürfe machte.
Lang hielten ihre Gewissensbisse jedoch nicht an, sondern wurden durch Überlegungen darüber verdrängt, was das wohl für ein Geschäft gewesen war, das Ion und der Lange miteinander getätigt hatten. Koscher konnte es auf keinen Fall gewesen sein, sonst wäre es nicht hastig und verstohlen an einer abgelegenen Tankstelle abgewickelt worden.
Was zum Teufel enthielten die Kisten? Es musste sich um etwas von Wert handeln, denn das Bündel Geldscheine, das den Besitzer gewechselt hatte, schien ganz ansehnlich gewesen zu sein.
Ion hatte sich mittlerweile mit Kaffee und einem Käsebrötchen versorgt und saß nun an einem kleinen Ecktisch weit weg von den Fenstern, die ihm einen Blick in die Parkbucht gewährt hätten.
Hilde gedachte das auszunutzen und einen Blick in den Kofferraum des Transporters zu werfen. Es interessierte sie brennend, was Ion da eingeladen hatte.
Sie sagte zu Wally, dass sie einen Augenblick an die Luft müsse, aber gleich wieder zurückkommen wolle, und eilte davon.
Falls Ion den Kofferraum versperrt hatte, würde die Aktion umsonst sein, aber Hilde glaubte, nichts dergleichen beobachtet zu haben. Ion hatte nur die Klappe zugeschlagen.
Tatsächlich ließ sich der Kofferraum anstandslos öffnen. Ordentlich aufgestapelt warteten rote und blaue Boxen auf ihren Weitertransport. Sie wiesen weder eine Beschriftung noch irgendeine sonstige Kennzeichnung auf.
Hilde fehlte die Zeit für lange Betrachtungen. Um zu erfahren, was die Boxen enthielten, musste sie zumindest bei einer unter den Deckel schauen, was sie auf der Stelle tun wollte, falls der nicht verschweißt, versiegelt oder anderweitig fixiert war.
Als sie die Box, die zuoberst und zuvorderst stand, näher in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass der Deckel links und rechts von je einem Bügel gehalten wurde, der in einer Vertiefung eingehakt war.
Kinderleicht zu öffnen.
Ohne sich um etwaige Zuschauer zu kümmern, griff sie nach den beiden Bügeln und klappte sie hoch.