Wolfsmilch - Jutta Mehler - E-Book

Wolfsmilch E-Book

Jutta Mehler

4,4

Beschreibung

Fanni Rot zieht sich nach Birkenweiler zurück, um in Ruhe und Abgeschiedenheit über ihre Zukunft nachzudenken, doch daraus wird nichts: Wieder einmal stolpert sie über eine Leiche, diesmal in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Wer hat den Naturschützer Ole auf dem Gewissen, warum ist sein Körper mit Wolfsmilch eingerieben und vor allem: Weshalb musste er sterben? Mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit beginnt Fanni zu ermitteln - und gerät dabei einmal mehr in Lebensgefahr.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 286

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
3
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.www.jutta-mehler.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Florian Werner/LOOK-foto, iStockphoto.com/wholden Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-791-8 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Vergib deinen Feinden, aber vergiss niemals ihre Namen.

J.F.Kennedy

1

»Namaste«, rief Fanni zum dritten Mal. »Istari, Namaste.«

Wieder wartete sie vergeblich auf Antwort.

Die Eingangstür des Hauses, in dem Ole und Istari seit gut drei Jahren wohnten, stand wie immer, wenn jemand zu Hause war, weit offen. Doch irgendetwas schien heute anders zu sein als sonst. Obwohl Fanni nicht hätte sagen können, warum, fühlte sie sich auf eigenartige Weise am Eintreten gehindert.

Sie schaute sich um, als wolle sie denjenigen ausfindig machen, der sie hier auf der Türschwelle festzunageln versuchte.

Aber da war niemand. Nirgends. Davon abgesehen wirkte Ole Jespers Haus völlig unverändert. Es hockte – wie vermutlich seit hundert Jahren schon– in einer flachen Mulde am Rande von Birkenweiler, präsentierte dem Betrachter graue Feldsteine und Sprossenfenster im Parterre, dunkle Holzverkleidung und kleine Fensterluken im Dachgeschoss. Das Aroma von Räucherwerk – Sandelholz, Istaris Lieblingsduft– lag in der Luft, und der Klang der Sadhana-Musik drang bis in den Vorgarten.

Nun geh schon! Istari antwortet doch nur deshalb nicht, weil sie sich in eine ihrer Yogastellungen verrenkt hat – Reiher, Taube, Schildkröte und wie diese Asanas alle heißen– und den Atemfluss nicht unterbrechen darf!

Zögernd begann Fanni einen Fuß vor den andern zu setzen, doch bevor sie auch nur einen einzigen Schritt getan hatte, zuckte sie zurück und stand wieder still.

Ihr umherirrender Blick fiel auf den Briefkasten, aus dem die zusammengefaltete Zeitung ragte. Warum hatten Istari und Ole das Tagblatt noch nicht ins Haus geholt? Mechanisch griff sie danach und wollte es herausziehen, was ihr nicht auf Anhieb gelang. Der Klappdeckel des Briefkastens hatte sich irgendwie verkeilt und klemmte. Fanni bekam ihn mit einem kräftigen Ruck auf und zerrte mit der anderen Hand die Zeitung heraus.

Sie wollte den Deckel eben wieder loslassen, da bemerkte sie den Zettel. Er lag zerknüllt am Boden des Briefkastens. Fanni schätzte, dass er sich schon eine ganze Weile dort befand, von der übrigen Post immer mehr eingestampft und deshalb übersehen worden war. Sie legte die Zeitung auf die Hausbank, schob die flache Hand in den Briefkasten, bekam den Zettel zwischen zwei Fingern zu fassen und zog auch ihn heraus. Automatisch begann sie, ihn zu glätten, während sie sich fragte, was da für ein sonderbar metallischer Geruch in der Luft lag, der den des Sandelholzes überlagerte und nicht hierhergehörte.

Wieso sollte er denn nicht hierhergehören? In Oles Werkstatt liegen doch haufenweise Metallspäne von den Rohlingen, aus denen er seine Klangschalen herstellt.

Fanni schob den Zettel in die Jackentasche und rieb sich mit den Fingerkuppen beider Hände über die Stirn, um die Gedankenstimme zum Verstummen zu bringen. Vergeblich.

Du wirst dich langsam mal entscheiden müssen! In Oles Haus hineingehen oder zurück in dein eigenes– Lenis, besser gesagt!

Fanni blickte zu dem Anwesen hinüber, das Sprudel vor Jahren ihrer ältesten Tochter übereignet hatte, die es zurzeit ihr zur Verfügung stellte.

Sollte sie wieder heimgehen, den Besuch auf später verschieben? Nur weil sie einen komischen Geruch in der Nase hatte?

Mach dich nicht lächerlich, Fanni, sagte sie sich. Oles Haus ist ein liebenswerter Ort. Du bist dort stets freundlich aufgenommen worden.

Immer wenn sie zu einem ihrer ausgedehnten Spaziergänge aufbrach und den Weg in Richtung der bewaldeten Hügel einschlug, führte er sie zwangsläufig an Oles Anwesen vorbei, von dem eine spürbar andere Ausstrahlung ausging als von allen übrigen Häusern im Dorf. Anfangs hatte sie das nur neugierig gemacht. Erst später war dann die Frostigkeit, mit der sie den Dorfbewohnern begegnete, Ole und Istari gegenüber aufgetaut.

Was wohl hauptsächlich an Istaris Haferplätzchen lag.

Istari hieß mit richtigem Namen Annemarie Linsenlocher und stammte aus einem Gehöft, das etwas weiter nördlich am Birkenbach lag, der die Gemeinde Birkenweiler umfloss.

Annemaries Eltern waren vom ganz alten Bayerwäldler-Schlag. Sie hatten einen Haufen Kinder in die Welt gesetzt, gingen jeden Sonntag zur Kirche und glaubten aufs Wort, was der Pfarrer von der Kanzel herunterpredigte. Annemarie war ihr jüngstes Kind, eine Nachzüglerin. Bei ihr hatten die Eltern offenbar nicht mehr genügend Energie gehabt, sie Mores zu lehren, denn kaum war Annemarie halbwegs erwachsen, fügte sie sich nicht mehr in Konventionen, hing mit fragwürdigen Figuren herum, warf eines Tages ihren Job als Verkäuferin hin und reiste nach Indien, wo sie Hatha Yoga kennenlernte– und Ole Jespers.

Willst du hier auf der Türschwelle Wurzeln schlagen?

Fanni gab sich einen Ruck und betrat den mit Fotografien aus Indien dekorierten Flur.

Sämtliche Türen, die zu beiden Seiten abgingen, waren geschlossen, nur diejenige ganz am Ende, die, wie Fanni wusste, ins Wohnzimmer führte, stand offen. Ein Sonnenstrahl fiel aus dem dahinterliegenden Raum in den Flur und deutete wie ein Finger auf Fanni.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging sie langsam darauf zu.

Ein paar Staubkörner tanzten im Licht und legten sich dann auf Oles blank geputzte Schuhe, die hier im Flur auf ihn warteten.

Die stellt er doch immer hier ab, bevor er das Wohnzimmer betritt. Wetten, er ist drin! Aber warum meldet er sich nicht?

Fanni verharrte und fragte sich, was Ole derart in Anspruch nahm, dass er ihr Rufen überhört hatte.

»Ole«, versuchte sie es erneut. »Bist du da? Sag doch was.«

Aus der offenen Tür kam die Sadhana-Musik.

Er muss da sein, dachte Fanni und stellte sich den hageren blondschopfigen jungen Mann vor, wie er auf einem der bunten Bodenkissen saß und über EU-Studien zum Donauausbau brütete.

Ole Jespers kam aus Dänemark, wo seine Eltern etliche sehr moderne Müllverbrennungsanlagen gebaut hatten. Von Haus aus vermögend(Oles Mutter stammte aus einer schwerreichen deutschen Industriellenfamilie), hatten sie es in die Welt der Großfinanz geschafft.

Nach seinem Studium war Ole nach Indien gereist, um sich im Land der Yogis, Gurus und sonstigen spirituellen Lehrmeister darüber klar zu werden, was er mit dem Geld, das ihm aus Kapitalerträgen zufloss, und mit dem Bachelor für Umweltinformatik, den er durch sein Studium erworben hatte, anfangen sollte. In den Backwaters von Kerala lief er Annemarie Linsenlocher über den Weg, die sich inzwischen Istari nannte.

Ungewollt und ohne überhaupt zu merken, was sie damit ins Rollen brachte, zeigte sie ihm den Weg, nach dem er gesucht hatte.

Ole und Istari kehrten nach Europa zurück, besuchten Birkenweiler, und Ole wusste plötzlich: »Jawohl, das ist es.« Er kaufte das Birkengrund-Anwesen, ließ sich mit Istari dort nieder und machte sich sogleich gegen den Bau des Donaukanals in der Mühlhammer Schleife stark. Nebenbei stellte er Klangschalen aus den Rohlingen her, die er in einem Schrankkoffer aus Indien mitgebracht hatte.

Istari hatte sich dem Hatha Yoga verschrieben, dem Räucherwerk, der Naturkosmetik und diversen Sorten von Haferplätzchen. Ihr Körper war geschmeidig wie der einer Schlange. Ihre Backkünste waren unvergleichlich. Ihr Verstand allerdings schien auf Sparflamme zu kochen.

Fanni hielt Annemarie Linsenlocher für etwas beschränkt, OlesIQ dagegen schätzte sie auf mindestens hundertdreißig.

Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht!

Fanni schnappte nach Luft, als der Gedanke sie traf.

Noch ganz bei Yoga, Haferplätzchen und Intelligenzquotienten, hatte sie verdrängt, dass der metallische Geruch eine süßliche Komponente angenommen und sich intensiviert hatte. Der Schwall, den sie einatmete, ließ sie würgen.

Sie stolperte in Oles und Istaris Wohnzimmer und sah dort als Erstes das blutverschmierte Küchenmesser. Es lag quer über Istaris nackten Füßen, die im klassischen Lotussitz auf den Oberschenkeln ruhten.

So reglos wie Istari auf ihrem Schaffell hockte, hätte sie eine Statue sein können.

Auch Fanni erstarrte zu einem Standbild, nachdem sie drei Schritte in den Raum hineingetaumelt war. Lediglich ihre Augen bewegten sich. Sie suchten Istaris Blick, aber der schien sich, unbehindert durch Mauern oder sonstige Barrieren, in der Ferne zu verlieren.

Fannis Blick war bemüht, ihm zu folgen, irrte jedoch ab, als er Ole streifte, und kehrte zu Istari zurück.

Sie hatte sich nicht bewegt. Aber als Fanni ihr erneut ins Gesicht sah, glaubte sie, einen Ton zu vernehmen, der aus Istaris Mund kam und das »Hara Hala Me Almasta« aus dem CD-Player bisweilen überlagerte. Sie konzentrierte sich auf diesen Ton, und letztendlich erkannte sie das Wort, das Istari hervorbrachte: »Om.«

Fanni schluckte, dann stammelte sie: »Namaste, Istari.«

Bist du plemplem? Meinst du, angesichts der vorliegenden Situation ist es noch nötig, diesen Mumpitz zu betreiben?

Seit Annemarie Linsenlocher aus Indien zurückgekommen war, sich Istari nannte, zweiunddreißig Asanas beherrschte und knapp hundert CDs mit Yogamusik besaß, bediente sie sich dieser alten hinduistischen Grußformel.

»Namaste« war sozusagen die Parole, die den Weg frei machte– sowohl zu den Schaffellen und Meditationskissen in Istaris Wohnzimmer als auch zu ihrer Herzlichkeit.

Doch diesmal verfehlte das Losungswort seine Wirkung. Fanni erntete nichts anderes als ein tief tönendes »Om«, das die Malas und Yantras, die den Raum dekorierten, zum Vibrieren brachte.

Erwartungsvoll fixierte sie Istaris Mund, als rechne sie damit, das »Om« würde Gestalt annehmen und schleunigst aus der Welt schaffen, was ihr Gemüt in Aufruhr versetzte. Denn obwohl Fannis Augen ebenso pflichtgemäß wie urteilsfrei längst weitergemeldet hatten, welchen Anblick Ole bot, weigerte sich ihr Hirn, die Botschaft wirksam zu bearbeiten.

Ein neuerliches »Om« schwebte von Istaris Lippen und mischte sich in die Sadhana-Musik.

Fanni stand da, lauschte dem Klang nach und betrachtete Istari.

Wie immer trug die junge Frau eine leichte Hose mit Knöchelbündchen, wie Fanni sie aus den Siebzigern in Erinnerung hatte, als die Fernsehserie »Bezaubernde Jeannie« zum Quotenrenner wurde. Das Oberteil schien allerdings eine Neuerung zu sein. Hatte der Postbote nicht erst kürzlich ein Paket von »Yogishop« gebracht?

Aber ja, erinnerte sich Fanni. Er hatte es abgeliefert, als sie gerade den Heimweg antrat, nachdem Istari ihr bei einer Tasse Jasmintee das Mantra »Om mani padme hum« in »Oh, du Kleinod in der Lotusblüte« übersetzt hatte.

Istaris neues Shirt schillerte indigoblau. Es hatte Trompetenärmel und war über der Brust mit Goldfäden bestickt.

»Lakshmi«, flüsterte Fanni, als ihr einfiel, wie Istari ihr erzählt hatte, sie habe sich ein Oberteil mit dem Bild der Göttin Lakshmi bestellt, die für Schönheit, Glück und Liebe stand.

Im Birkengrund schienen Glück und Liebe jedoch dahingegangen zu sein, und Schönheit hatte Istari noch nie viel besessen.

Die eng stehenden Augen und die Hakennase ließen ihr Gesicht wie das eines Raubvogels wirken; ein Eindruck, dem auch mit Kajal und Lidschatten nicht beizukommen war. Die viel zu schmalen Lippen hatte sie wie immer mit reichlich Farbe und mäßigem Erfolg so zu schminken versucht, dass sie voller wirkten. Die Fülle und der Glanz ihrer hellblonden Haare allerdings entsprachen ganz dem gängigen Schönheitsideal. Wie Istaris Gesicht offenbarte auch ihr Körper, dass sie eher zum mageren Typ gehörte, aber bei der Figur stimmten die Proportionen.

Ole dagegen sieht aus wie James Dean, ging es Fanni durch den Kopf.

Er sah vielleicht aus wie James Dean. Aber sicher ist: Er ist genauso tot! Wie lange soll es denn eigentlich noch dauern, bis das zu Miss Marple durchgesickert ist? Es wird nämlich langsam Zeit, etwas zu unternehmen!

Widerstrebend, äußerst widerstrebend glitt Fannis Blick zu dem Futon hinüber, wo Oles Leiche in einer Blutlache lag.

Blut war auf die weißen Schaffelle getropft, die Oles Liegestatt umgaben. Blut war an die Wand daneben gespritzt, und blutige Schmierspuren durchzogen den Raum. Blut tränkte Oles Sweatshirt und Blut– halt!

Fanni näherte sich Ole Jesper und schaute auf ihn hinunter. Was auf Gesicht und Händen hellrot glänzte, waren keine Blutspritzer.

Eine Art Ausschlag, sagte sie sich nach genauem Hinsehen. Rötungen, Blasen, kleine Geschwulste.

Mit einem Klicken schaltete sich der CD-Player ab. Istaris »Om« tönte tief und laut in die plötzliche Stille.

In Fanni kam Leben. Sie eilte in den Flur, wo sich auf einem Tischchen aus Schmiedeeisen ein altertümlicher Telefonapparat befand, und wählte112.

2

»Seit wann waren Sie mit Ole Jesper und Annemarie Linsenlocher befreundet? – Gab es des Öfteren Streit zwischen den beiden?– Haben Sie in letzter Zeit Veränderungen bemerkt? – Verhielt sich einer der beiden anders als sonst?– Was könnte Frau Linsenlocher dazu gebracht haben, ihrem Freund fünf Messerstiche in die Brust zu versetzen?«

So ging es nun schon seit fast einer Stunde.

Aber sosehr ihr der Polizeibeamte auch zusetzte, Fanni wusste nichts wirklich Erhellendes zu berichten.

Sie kannte die beiden seit etwa drei Monaten, war ihnen fast täglich begegnet, hatte jedoch weder gestern noch in all den Wochen zuvor etwas bemerkt, das auf Spannungen oder dergleichen zwischen ihnen hätte schließen lassen können. Im Gegenteil, die beiden schienen sich gut zu verstehen und sich hervorragend zu ergänzen(ihr gemeinsamerIQ belief sich auf einen Wert ein schönes Stück über dem Mittelmaß) und kamen sich wegen ihrer grundverschiedenen Fachgebiete so gut wie nie in die Quere.

Istari widmete ihre Tage ausschließlich dem Yoga, dem Backen und der Herstellung von Cremes aus Jojobaöl, Sheabutter und Lanolin, die sie mit pflanzlichen Tinkturen modifizierte. Die Kräuter für ihre Naturkosmetik zog sie in einem verglasten Anbau an der Ostseite des Anwesens, der durch das Wohnzimmer zugänglich war.

In diesem Wintergarten – abgetrennt durch ein brusthohes Geflecht aus Bambus– gediehen auch Oles Gewächse, die allerdings mehr experimentellen Zwecken dienten und weniger Pflege genossen, denn primär hatte sich Ole ja(abgesehen von den Klangschalen) dem Kampf gegen den Donauausbau verschrieben.

Ihren Lebensunterhalt, den sie bescheiden hielten, bestritten Ole und Istari hauptsächlich aus Oles Vermögen. Istari trug allerdings das, was sie durch den Verkauf ihrer Produkte auf Wochenmärkten, Dult und Kirmes verdiente, dazu bei.

»Für mich sah es immer so aus, als wären die beiden nicht nur ein glückliches Paar, sondern auch ein gut funktionierendes Team«, antwortete Fanni auf eine neuerliche Frage des Kriminalbeamten und verstummte dann. Aber als der Beamte zum Reden ansetzen wollte, kam sie ihm zuvor. »Vielleicht hat Istari ja gar nicht zugestochen. Vielleicht hat sie Ole gefunden– auf dem Futon liegend mit dem Messer in der Brust. Sie könnte es unwillkürlich herausgezogen haben, bevor ihr zu Bewusstsein kam, was sie da tat. Dass Ole ermordet worden ist, könnte sie erst danach begriffen haben, was sie dann in den Schockzustand versetzte, in dem ich sie fand.«

Der Beamte fixierte sie. »Und wer, meinen Sie, hat zugestochen?« Seine Frage klang lauernd.

Du solltest vorsichtig sein mit dem, was du sagst! Am Ende bringst du dich noch selbst in die Bredouille!

Meist achtete Fanni nicht besonders auf ihre Gedankenstimme, die sich, willkommen oder nicht, stets in alles einmischte. In diesem Fall jedoch beschloss sie, die Mahnung zu beherzigen, und antwortete besonnen: »Ole ist ein geradezu militanter Naturschützer gewesen. Dabei hat er sich womöglich mehr Feinde als Freunde gemacht.«

»Dann hätte ich gern ein paar Namen«, forderte der Kriminalbeamte.

»Habe ich nicht zu bieten«, erwiderte Fanni. »Da müssen Sie schon Istari fragen. Wo haben Sie sie denn hingebracht? Hat sie schon irgendetwas gesagt?«

Der Kriminalbeamte verzog den Mund. »Außer ›Om‹? Nicht, dass ich wüsste.«

In diesem Augenblick läutete sein Handy. Er schaute auf das Display, erhob sich und verließ den Raum. Als er zurückkam, warf er Fanni einen abwägenden Blick zu, bevor er sagte: »Annemarie Linsenlocher bestreitet, ihren Freund erstochen zu haben.«

Fanni nickte. »Das passt ins Bild.«

»In Ihr Naturschützer-machen-sich-gern-Feinde-Bild?«

Fanni schwieg.

Der Beamte schnaubte ärgerlich und begann aufzuzählen: »Abgesehen davon, dass Annemarie Linsenlocher unter Schock stand und die Tatwaffe in ihrem Schoß lag – was man meinetwegen so oder so interpretieren kann–, hatte sie Blut an der Kleidung, an den Händen und im Gesicht. Das haben Sie ja wohl selbst gesehen. Blutspuren führten vom Fundort der Leiche zu der Stelle, wo Frau Linsenlocher hockte. Und Sie wollen mir erzählen, es passt ins Bild, dass sie nicht die Täterin ist. Da bin ich aber ganz anderer A…« Abermals klingelte sein Handy. Nach einem neuerlichen Blick aufs Display sagte er streng: »Wir machen Schluss für heute. Aber halten Sie sich zur Verfügung.«

Falls damit gemeint war, Fanni müsse daheim sitzen und auf Anrufe oder Besuche der Polizei warten, versäumte sie es, sich an diese Anordnung zu halten. Sie ging zwar nach Hause, jedoch nur, um sich umzuziehen und eine Kleinigkeit zu essen. Dann machte sie sich auf in die Birkenweiler Hügel.

Sie brauchte frische Luft und Bewegung, um darüber nachdenken zu können, warum Ole ermordet worden war– und von wem.

Fanni lief gut zwei Stunden lang von einer Anhöhe zur nächsten, bis sie bei Metten am Rande des Donautals anlangte. Erst da kehrte sie um.

Der Marsch hatte sie wieder einigermaßen ins Gleichgewicht gebracht und sie diesen und jenen Entschluss treffen lassen.

Ole war tot. Schlimm, entsetzlich, tieftraurig. Aber nichts konnte ihn jetzt noch retten. Nichts und niemand konnte ihm mehr helfen. Istari allerdings würde Hilfe nötig haben. Und Fanni wollte ihr beistehen. Sie würde nicht zulassen, dass man die junge Frau aufgrund vordergründiger Indizien – Blutspuren hin oder her– als Mörderin brandmarkte.

Als Fanni beim Dunkelwerden nach Hause kam, fand sie Leni und Marco im Wohnzimmer vor.

Leni sprang auf. »Mama, es ist schon fast zehn Uhr!«

Fanni musste lächeln. »Anscheinend macht mir meine Gedächtnislücke wieder zu schaffen. Ich muss vergessen haben, dass ich spätestens dann daheim zu sein habe, wenn im Radio das Betthupferl kommt.«

»Wir haben uns halt Sorgen gemacht.«

Fanni schloss ihre Tochter in die Arme. »Wieso seid ihr unangemeldet hier?«

»Mama!«

»Wie fast überall kann man auch bei uns in Nürnberg Nachrichten empfangen«, sagte Marco.

Fannis Lächeln vertiefte sich. Ihr Schwiegersohn schien sich gemausert zu haben. Obwohl sie sich auch an ihn nur bruchstückhaft erinnerte, wusste Fanni, dass er eher als ernst und wortkarg gegolten hatte. Offensichtlich hatte Lenis lockere Art inzwischen auf ihn abgefärbt.

Im Moment war jedoch sie es, die ernst und angespannt wirkte. »Als wir mitbekommen haben, was hier passiert ist, sind wir sofort losgefahren.«

Fanni schüttelte den Kopf. »Das hättet ihr nicht tun müssen. Mir droht doch keine Gefahr.«

Marco unterdrückte ein Grinsen, erwiderte jedoch nichts.

Leni dagegen sagte: »Seit deiner Amnesie kennen wir dich besser als du dich selbst. Du wirst dich in die Ermittlungen stürzen, so viel steht fest.«

»Und wenn schon«, entgegnete Fanni leichthin. »Was kann es schaden, darüber nachzudenken, ob Istari womöglich unschuldig ist, und dort und da ein paar Fragen zu stellen.«

Leni warf Marco einen Blick zu, der unzweideutig ausdrückte: Na also, hab ich es doch gewusst.

Zu Fanni sagte sie: »Wir haben Sprudel informiert. Er nimmt morgen den ersten Flieger nach München und steigt dann in den Zug nach Plattling. Mittags kommt er an.«

Fanni tat einen tiefen Atemzug, blieb jedoch stumm.

Etliche Monate waren vergangen, seit sie die Parkklinik Hornschuh verlassen hatte, wo es nicht gelungen war, ihren partiellen Gedächtnisverlust zu revidieren. Auf Lenis Vorschlag hin(der außer von Fannis Noch-Ehemann Hans Rot und ihrer jüngeren Tochter Vera von allen begeistert aufgenommen worden war) hatte sie sich in dem kleinen Anwesen in Birkenweiler häuslich eingerichtet, das Sprudel vor Zeiten geerbt und später ihrer ältesten Tochter überschrieben hatte.

»Mami«, hatte Leni gesagt, »dir fehlen sechs Jahre deines Lebens– sehr entscheidende Jahre. Und es sieht nicht so aus, als würdest du sie je zurückbekommen. Du brauchst viel Zeit und noch mehr Ruhe, um dir darüber klar zu werden, wie es weitergehen soll.«

In Hans Rots und Veras Augen war es ein Wink des Schicksals, dass in Fannis Gedächtnis nun explizit jene Jahre fehlten, die sie mit Sprudel anfangs befreundet und später liiert gewesen war, was zur Trennung von Hans Rot geführt hatte.

»Du musst ernst nehmen, was dein Unterbewusstsein dir mitteilt«, hatte Vera ihrer Mutter ins Gewissen geredet. »Es sagt dir doch ganz deutlich: Dein Platz ist zu Hause bei Papa in Erlenweiler, so wie es immer war. Deshalb hat dein besseres Ich die vergangenen Jahre einfach gestrichen. Der Fehler, den du gemacht hast, ist somit vergeben und vergessen.«

Leni war ihrer Schwester erzürnt über den Mund gefahren. »Sollten Mamas Verstand und Mamas Wünsche da gar nicht mitreden dürfen?«

Bevor die beiden so ungleichen Schwestern sich ernstlich in die Haare bekommen konnten, hatte Fanni kundgetan, dass sie Lenis Angebot, eine Zeit lang in ihrem ohnehin leer stehenden Haus zu wohnen, gerne annehmen wolle, um dort sozusagen in Klausur zu gehen.

Daraufhin war Vera sehr geschwind und sehr vergrätzt abgezogen. Ihre bemerkenswerte Eile hatte darauf schließen lassen, dass sie Hans Rot über Fannis unwillkommene Entscheidung umgehend informieren würde.

Um im Birkenweiler Anwesen heimisch zu werden, hatte Fanni nicht mehr mitbringen müssen als ihren Koffer aus der Klinik. So gut wie die Hälfte ihrer Garderobe und ein Großteil ihrer Habseligkeiten befand sich ohnehin dort, weil sie und Sprudel immer dann hier gewohnt hatten, wenn sie sich nicht in Sprudels Haus in Ligurien aufhielten oder auf Reisen waren.

Gewiss konnte man Fannis Entschluss, sich vorerst in Sprudels ehemaligem Haus einzurichten, auch dahingehend interpretieren, dass sie sich bereits für ihn entschieden hatte.

Doch dem war nicht so. Sosehr sie sich auch zu ihm hingezogen fühlte, so gut sie beide zu harmonieren schienen– was wusste sie schon von ihm? So gut wie nichts, weil ihr der dafür entscheidende Teil ihres Gedächtnisses fehlte. Aber an nichts konnte man wenig anknüpfen. Sprudel schien sich dessen quälend bewusst zu sein, denn er hatte sich, nachdem Fanni aus der Klinik entlassen war, auf seinen Besitz in Ligurien zurückgezogen. Leni und ihr Mann Marco waren ebenfalls bald abgereist, und Vera hatte sich sowieso nicht mehr blicken lassen.

Seither wohnte Fanni für sich allein und abgeschieden in Birkenweiler, wo sie – wie sich bald zeigte– mehr Zeit und Ruhe hatte, als sie tatsächlich wollte, obwohl sie weiß Gott kein geselliger Typ war. Trotz dieser Isolierung konnte sie sich aber nicht dazu überwinden, Kontakte mit den Leuten aus Birkenweiler zu knüpfen, denn die waren aus demselben Holz geschnitzt wie diejenigen in Erlenweiler.

Zum Glück hatte Leni ihr einen Haufen Bücher dagelassen– in der Hauptsache Krimis, Adler-Olsen, Tom Rob Smith und so weiter–, mit denen sich Fanni ablenken konnte, nachdem sie vormittags ein wenig Hausarbeit gemacht hatte und anschließend eine Runde um oder über die Birkenweiler Hügel gewandert war. Letztendlich hatte sie ihre Tage beschaulich hingebracht, indem sie jeden Gedanken an eine Zukunft mit oder ohne Sprudel beharrlich beiseiteschob.

Die zwiespältigen Gefühle, die sie nun überschwemmten, schienen ihr deutlich anzusehen zu sein, denn Leni stand vom Sofa auf, setzte sich auf die Armlehne des Sessels, in dem Fanni saß, und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Marco und ich trauen uns nicht, dich morgen hier wieder allein zu lassen. Wenn Istari tatsächlich unschuldig ist, bringst du dich mit Ermittlungen womöglich ernsthaft in Gefahr, denn der wirkliche Mörder wird sich nicht gedulden, bis du ihm auf die Spur kommst. Wir haben Angst um dich, Mama.«

»Ich verspreche euch, kein Risiko…«, begann Fanni, unterbrach sich jedoch, als Leni sie an sich drückte.

»Wunderbar. Und Sprudel wird dafür sorgen, dass du dein Versprechen auch hältst.«

»Die Alternative zu Sprudel wäre Schutzhaft«, murmelte Marco.

»Schreckt dich denn der Gedanke, dass Sprudel hier wohnen und Tag und Nacht in deiner Nähe sein wird?«, fragte Leni.

Na, da sind wir aber gespannt, was für eine Antwort darauf kommt!

»Ich freue mich auf ihn«, sagte Fanni.

Leni gab ihr einen Kuss.

Ob Sprudel sich wohl auch freut? Oder beunruhigt es ihn, dass schon wieder Mordermittlungen anstehen, dass erneut jenes Bespitzeln und Ausspionieren anfängt, das euch beide schon so oft in Lebensgefahr gebracht hat?

Leni hatte es sich wieder auf dem Sofa bequem gemacht. »Damit du gar nicht auf die Idee kommst, selbst nachzuforschen, versorgen wir dich mit den wichtigsten Fakten. Marco hat mit seinen hiesigen Kollegen über den Fall gesprochen und sich über den Stand der Ermittlungen informiert. Bis jetzt scheint die Polizei nicht viel mehr zu wissen, als in den Nachrichten kam.« Sie sah zu Marco hinüber, der ihre stumme Aufforderung verstand und zu berichten begann:

»Dem ersten Eindruck nach ist Ole Jesper mit fünf Messerstichen ermordet worden, von denen einer offenbar direkt ins Herz ging. Auffällig ist, dass Oles Körper von einer Art Ausschlag bedeckt war. Worum es sich dabei genau handelt, wird hoffentlich die gerichtsmedizinische Untersuchung ergeben. Sämtliche Spuren deuten darauf hin, dass Istari auf ihn eingestochen hat, während er, schlafend vermutlich, auf dem Futon lag. An ihr befanden sich überall Blutspuren, und auf ihren Handflächen entdeckte man – in ganz schwacher Ausprägung allerdings– ebenfalls einen Ausschlag.«

»Das heißt, man wird Istari nicht gehen lassen?«, fragte Fanni.

Marco schüttelte den Kopf. »Nicht, solange keine eindeutigen Beweise für ihre Unschuld vorliegen.«

»Dann muss man diese Beweise eben suchen«, murmelte Fanni.

Leni fuhr hoch. »Bitte, Mama, das ist Aufgabe der Polizei! Halte dich in Gottes Namen von Oles und Istaris Anwesen fern.« Sie sah hilfesuchend zu Marco, der eindringlich hinzufügte:

»Als mutmaßlicher Tatort darf das Haus von niemandem betreten werden, die Eingangstür ist versiegelt. Das Siegel zu brechen und einzudringen wäre strafbar.«

Ersteres hatte Fanni gar nicht vor. Letzteres schon.

Es war bereits Mitternacht, als Leni und Marco die Treppe zum Obergeschoss hinaufstiegen, wo sich zwei Schlafzimmer, Dusche und Toilette befanden. Fanni hatte sich entschieden, sich nur im Parterre einzurichten, wo es außer Wintergarten, Küche und Wohnzimmer auch ein Gästezimmer und ein weiteres Badezimmer gab.

Nun gratulierte sie sich zu diesem Entschluss, denn die altertümliche Stiege aus Lärchenholz pflegte vernehmlich zu knarzen, wenn man sie hinauf- oder hinunterging.

Fanni stellte die benutzten Gläser auf den Küchentresen, bevor sie sich ins Gästezimmer im hinteren Teil des Hauses zurückzog. Dort zog sie sich aus, duschte kurz, putzte sich die Zähne und schlüpfte in ihren Pyjama.

Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zwanzig Minuten nach Mitternacht, als sie sich auf die Bettkante setzte. Sie stellte den Weckalarm auf vier Uhr früh.

3

Fanni wachte bereits um Viertel vor vier auf und schaltete – sehr zufrieden mit ihrem inneren Timing– umgehend den Alarm ab.

Jedes Geräusch vermeidend, stieg sie aus dem Bett, schlüpfte in die dunkle Hose, die sie sich vor dem Zubettgehen zurechtgelegt hatte, streifte einen dunklen Pullover über und kletterte aus dem Fenster.

Draußen dämmerte es bereits an diesem Julimorgen.

Fanni eilte durch den rückwärtigen Garten, kraxelte über den niedrigen Zaun, der die beiden Grundstücke trennte, und stand wenige Minuten später in Istaris Küche.

Um ins Haus zu kommen, hatte sie es nicht nötig gehabt, das Siegel zu brechen. Kurz bevor Istari und Ole Ende Juni für einige Tage nach Augsburg zu einer Veranstaltung des Bundes Naturschutz gereist waren und Fanni die Pflänzchen im Wintergarten gießen sollte, war Istari gemeinsam mit Fanni zur Hintertür gegangen, die direkt in die Küche führte, und hatte ihr den unter einer Blende verborgenen Riegel gezeigt. Der musste nur zurückgeschoben werden, und schon konnte man eintreten.

In dem nordseitig gelegenen Raum war es noch dunkel, aber Fanni hatte ohnehin nicht vor, sich hier umzusehen. Ihr Ziel war der Wintergarten. Doch um dorthin zu kommen, musste sie durchs Wohnzimmer.

Fanni trat in den Flur, atmete ein, hielt die Luft an und marschierte auf das Wohnzimmer zu, in dem Ole gelegen hatte. Sie durchquerte es, ohne nach links oder rechts zu blicken, dann stieß sie die Schwingtür zum Wintergarten so energisch auf, dass sie an die Wand knallte und offen blieb. Fanni machte sich jedoch nicht die Mühe, sie zu schließen, sondern hastete in den Anbau. Dort atmete sie erleichtert aus.

Durch die nach Osten weisende Glasfront fiel das grauweiße Licht der frühen Morgendämmerung, das die Triebe der Pflanzen wie erstarrte Klauen wirken ließ, was den Raum irgendwie gespenstisch machte.

Fanni schauderte.

Aha, der Jäger wird zum Hasen! Ein kleiner Spuk, und schon scheut er zurück!

Fanni hob den Kopf und straffte sich. Geisterhaft oder nicht, die Pflanzen würden ihr nichts tun. Im Gegenteil, sie waren ihre Freunde. Fanni hatte sie gegossen und in Augenschein genommen, hatte sie berührt und manchmal sogar mit ihnen gesprochen. Nun würden sie zu ihr sprechen und ihr verraten, was sie wissen wollte.

Allmählich konnte Fanni klarer sehen. Ihre Augen hatten sich an das graue Licht gewöhnt, das ohnehin zunehmend heller wurde.

In dem verglasten Raum sah es aus wie immer. Rechter Hand erstreckte sich Istaris Reich, penibel sauber und wohlgeordnet. Die Tontöpfe mit den Kräutern, die sie für ihre Salben verwendete, standen in Reih und Glied auf Bänken direkt vor der Scheibe. Sorgfältig bestückte Borde umgaben einen Arbeitstisch, auf dem sich Döschen und Fläschchen, Messbecher, Pipetten und Rührlöffel befanden. In einem Regal direkt daneben warteten fertige Cremes auf ihre Verwendung. Die vollen Döschen waren akribisch beschriftet: »Ringelblume«, »Beinwell«, »Salbei«…

Fanni umrundete das brusthohe Bambusgeflecht, das Istaris Hemisphäre von Oles trennte.

Auch in Oles Bereich sah es aus wie immer: Kraut und Rüben. Erdkrümel und welke Blätter lagen herum, Behälter mit undefinierbarem Inhalt blockierten den Durchgang. Fanni stieg darüber hinweg und bahnte sich den Weg zu der Ecke an der Glasfront, wo Ole die Wolfsmilchgewächse züchtete.

»Wie ich es mir gedacht habe«, murmelte sie, als sie die Stoppelfelder sah.

Euphorbia peplus und Schwestern waren abgeerntet und offenbar auch gemolken worden, denn dort und da lagen zerquetschte Stängel herum.

Vor zwei Wochen, als Ole sie in ihre Aufgabe als kurzzeitige Hüterin des Wintergartens eingewiesen hatte, waren insbesondere die Wolfsmilchgewächse zur Sprache gekommen. Ole hatte ihr erzählt, dass er Selbstversuche mit der milchigen Flüssigkeit anstelle, die man aus den Stängeln gewinnen konnte.

»Der Milchsaft«, hatte er gesagt, »enthält den Giftstoff Euphorbon, der auf unserer Haut schwere Entzündungen, Ausschlag und Blasen hervorrufen kann. Innerlich angewendet verursacht er Erbrechen, Durchfall, manchmal sogar Kreislaufversagen.«

Fanni hatte ihn entsetzt angesehen, aber Ole hatte gelacht. »Wolfsmilch wird seit jeher auch als Heilmittel verwendet, denn Nutzen und Schaden liegen ja oft nahe beieinander. Wie heißt es so schön: ›Die Dosis macht’s.‹«

Er hatte die Ärmel seines Baumwollhemdes aufgekrempelt und ihr die Ekzeme auf seinen Armen gezeigt. »Seit meiner Kindheit leide ich unter solchen Ausschlägen, manchmal sogar am ganzen Körper. Und bisher hat außer Cortison nichts dagegen geholfen. Aber ich habe das Zeug und seine Nebenwirkungen endgültig über.«

Fanni hatte erfahren, dass einige von Istaris Salben – Ringelblume beispielsweise, Kamille und Aloe Vera–, die Ole versuchsweise auf seine wunde Haut aufgetragen hatte, anfangs erfolgversprechend schienen, dass ihre Wirkung jedoch nicht durchschlagend genug war. Deshalb hatte er immer wieder auf Cortison zurückgreifen müssen. Eines Tages hatte er dann in einer Zeitschrift den Bericht eines Leidensgenossen über dessen Erfahrungen mit Wolfsmilch gelesen und beschlossen, es selbst damit zu versuchen.

Auch wenn der Bericht so gut wie keine Informationen über die Herstellung eines Präparats enthielt und wohl eher Anlass zu Misstrauen gab, weil er vor Unstimmigkeiten nur so strotzte, war Ole inzwischen verzweifelt genug, alles auszuprobieren. Mit der nötigen Vorsicht gehandhabt könne der Milchsaft der Euphorbiaceae, die weltweit verbreitet an Wegrändern, im Ödland aber auch in Gärten wuchs, ja keinen großen Schaden anrichten.

»So wie du ausgesehen hast, Ole«, sagte Fanni leise, während sie die bis zum Erdreich zurückgestutzten Pflanzen betrachtete, »war der Schaden aber immens. Wie hat es nur dazu kommen können?«

Man könnte glatt meinen, Ole hätte in Wolfsmilch gebadet!

Was er mit Sicherheit nicht getan hat, widersprach Fanni ihrer Gedankenstimme– jedenfalls nicht freiwillig.

Aber tatsächlich wäre ein Vollbad mit reichlich Wolfsmilch als Zusatz eine Erklärung dafür, wo der Ertrag aus all diesen Gewächsen abgeblieben war.

Dann wäre das Säftchen durch den Abfluss gegurgelt und längst in der Kläranlage gelandet!

Falls es im Badewasser war, ja, dachte Fanni, entschied jedoch im gleichen Augenblick, dass es ein unsinniger Gedanke war, jemand hätte Ole, ohne dass der es merkte, eine derart hohe Dosis Wolfsmilch ins Badewasser schütten können.

Aber wo kann der Extrakt sein?, dachte sie und begann an den Glaswänden entlangzugehen.

Unter einem Hocker fand sie eine angeschlagene Porzellanschüssel, die jedoch bis auf einen weißlichen Bodensatz leer war.

Fanni zog sie hervor und schaute stirnrunzelnd hinein. »Hier drin hast du die Brühe gesammelt, Ole. Und was hast du dann damit gemacht?«

Mit einem Ruck stellte sie die Schüssel wieder zurück und stöberte weiter. Als sie auf ein Gestell zutrat, das mit allem möglichen Krimskrams vollgestopft war, knirschten kleine Glasscherben unter ihren Schuhen. Neben dem Gestell stand ein Eimer, in dem sie die Reste eines zerbrochenen Schraubglases ausmachen konnte. Auf dem unversehrten Boden des Glases befand sich ein weißer Klecks.

»Hinuntergefallen und zerschellt«, murmelte sie. »Aber das kann doch nicht alles gewesen sein.«

Tatsächlich entdeckte sie auf dem Gestell noch zwei gefüllte Schraubgläser, die offensichtlich einmal Basilikumpesto enthalten hatten und nun mit »Wolfsmilch« beschriftet waren.

Das war aber keine große Ausbeute, dachte Fanni und schaute die beiden Gefäße vorwurfsvoll an.

Dann eilte sie – einer Eingebung folgend– zurück in Istaris Bereich. Dort stellte sie sich vor das Regal mit den Cremedöschen, las jedes Etikett, fand jedoch keinen Hinweis auf eine Mixtur mit Wolfsmilch.

Suchend schaute sie sich um. Ihr Blick streifte erneut über die Töpfe mit den Kräutern, die Arbeitsgeräte, registrierte ein Wasserbecken samt Krug, Handfeger mit Schaufel, einen Klappstuhl mit einem niedrigen Tischchen daneben.

Auf dem Tischchen befand sich ein Tablett mit verschiedenen Dosen. Fanni bewegte sich darauf zu und fasste sie ins Auge. Sie waren größer als die im Regal und sahen ziemlich abgenutzt aus. Die Schrift auf den Etiketten war schon deutlich verblasst.

Fanni nahm das Gefäß mit der Aufschrift »Ringelblumensalbe« und schraubte es auf. Es war nicht einmal halb voll, schien jedoch kürzlich noch ganz gefüllt gewesen zu sein, denn die Salbenreste am Rand wirkten frisch.

Sie wollte gerade ihren Zeigefinger hineintauchen, als sie ein Geräusch hörte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und lauschte.

Da sind Schritte auf dem Flur! Es kommt jemand!

Die Schritte näherten sich, erreichten das Wohnzimmer.

Fanni duckte sich unter Istaris Arbeitstisch.

Im Wohnzimmer wurden Schubfächer geöffnet, Schranktüren aufgeklappt und mit Papier geraschelt.

Da sucht einer nach irgendwelchen Unterlagen!

Steht zu hoffen, dachte Fanni. Denn falls der Eindringling auf Schriftstücke aus ist, wird ihn seine Suche wohl kaum in den Wintergarten führen.

Wenn aber doch?

Fanni schluckte. Istaris Arbeitstisch bot so gut wie keine Deckung.

Du solltest zusehen, dass du hier wegkommst!

Als ob ich mich in Luft auflösen und aus dem Fenster schweben könnte, dachte Fanni.

Fenster wären doch eine Option! Der Wintergarten besteht ja aus fast nichts anderem!