Mord mit Schokoguss - Jutta Mehler - E-Book

Mord mit Schokoguss E-Book

Jutta Mehler

4,6

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein spektakulärer Mord im Künzinger Museum Quintana führt Thekla, Hilde und Wally auf die Spur eines römischen Legionärs. Der Fall ist eine harte Nuss für die drei gewitzten Ermittlerinnen im besten Alter. Verfolgen sie etwa ein Phantom? Beharrlich kommen sie der Antwort immer näher – geraten dabei bedauerlicherweise aber auch in Lebensgefahr.

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen – ausgenommen Alois Schraufstetter und Erwin Wurzer – sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/foodcollection/ Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-124-6 Originalausgabe   Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

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Für Künzing und die Künzinger

1

Mittwoch, der 21.Januar, in einem Café in Künzing

Alarmierend. Bedrohlich. Unheilschwanger.

Ich sollte absagen, dachte Thekla, kaltblütig absagen. Krankheit vorschützen, von der Bildfläche verschwinden, untertauchen.

Sie musste keine Hellseherin sein, um zu ahnen, was es bedeutete, dass Hilde das wöchentliche Treffen im Straubinger Café Krönner nach Künzing verlegt hatte.

»Backstuben-Bistro Riesinger mit Panoramablick in die gläserne Backstube«, murmelte Thekla und versuchte, den Schauder der Erinnerung an eine frühere Mordermittlung abzuschütteln, den das Wort »Backstube« hervorrief. »Mit Drive-in-Schalter«, fügte sie belustigt hinzu.

Drive-in. Wie mochten die Steinzeitmenschen es genannt haben, wenn sie im heutigen Künzing haltgemacht hatten, um mit den Bewohnern einer Höhle am Wegrand ein Tauschgeschäft zu machen? Denn das hatten sie definitiv. Irgendwann war sogar eine ganze Horde hier sesshaft geworden.

Vor fünftausend Jahren ungefähr, behaupteten die Archäologen und legten scharfkantige Steine als Beweis vor, die angeblich als Klingen, Hobel oder Harke gedient hatten. Ja, Künzing blickte auf eine lange, lebhafte Vergangenheit zurück und steckte voller Überbleibsel davon. Deshalb war der Ort, der aus dem römischen Kastell »Quintana« entstanden war, durchaus einen Besuch wert.

Aber Hildes Abweichung vom Gewohnten verhieß gar nichts Gutes.

Seit Jahrzehnten trafen sich Thekla, Hilde und Wally bei Krönner in Straubing zum Kaffeekränzchen, und jedes Mal, wenn Hilde etwas anderes arrangiert hatte, war es brenzlig geworden, manchmal sogar akut lebensgefährlich.

Als sie erwähnt hatte, dass Kreisbrandrat Alois Schraufstetter in Künzing mit von der Partie sein würde, gab es keinen Zweifel mehr, woher der Wind wehte und was er mitbringen würde: den Gestank von Tod und Verbrechen.

Thekla wollte nicht damit behelligt werden.

Sie wollte nie wieder in fremden Wohnungen herumschnüffeln, nie wieder Leute aushorchen und sich nie wieder in das Hirn eines Mörders versetzen müssen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was es ausgebrütet hatte.

Dem Treffen in Künzing fernzubleiben würde jedoch bedeuten, alles aufzukündigen, was sie, Hilde und Wally seit gut einem halben Jahrhundert verband. Zum einen. Zum andern würde sie als Feigling dastehen, als Drückebergerin und als Abtrünnige.

Könnte sie da Hilde und Wally je wieder in die Augen sehen? Bestimmt nicht. Wohl nicht einmal sich selbst.

Das war die eine Seite der Medaille. Die andere war viel schlimmer: Sollte Hilde tatsächlich mit einem Mordfall aufwarten, und Thekla würde bei den Ermittlungen mitmachen, dann könnte sie Heinrich nicht mehr in die Augen sehen und sich selbst dann am allerwenigsten.

So oder so, sie steckte in der Klemme. Um zu erfahren, in welcher genau und wie tief, musste sie nach Künzing fahren.

Thekla entschied, der Landstraße gegenüber der chronisch verstopften A3 den Vorzug zu geben, wofür sie allerdings doppelte Fahrzeit einplanen musste.

Trotzdem. Lieber, als von übermüdeten, unter Zeitdruck stehenden Lkw-Fahrern in die Zange genommen zu werden, wollte sie auf kurvigen Sträßchen nach Deggendorf gondeln und von dort an der Donau entlang nach Hengersberg und Winzer, wo sie den Fluss überqueren, Osterhofen passieren und wenig später in Künzing ankommen würde.

Musste man sich in Künzing Sorgen um einen Parkplatz machen? Wohl nicht.

Der Einwohnerzahl nach zu urteilen war der Ort seit der Steinzeit nicht nennenswert gewachsen. Ein friedvolles Dörfchen in der Donauwaldregion, das zwar aufgrund seiner früheren Bedeutung als römisches Kastell in der Gegend eine gewisse Berühmtheit erlangt, aber dennoch nichts von seiner Beschaulichkeit verloren hatte.

Als Thekla kurz hinter Osterhofen in die B8 einbog, war bereits abzusehen, dass sie zu spät kommen würde. In Deggendorf-Deggenau hatte es (wie so oft) Verkehrsstockungen gegeben, und auf Höhe Hengersberg hatte sie lange Zeit nicht gewagt, einen Tankwagen zu überholen.

Als Thekla das Ortsschild von Künzing erreichte, war die vereinbarte Zeit um fast eine Viertelstunde überschritten.

Zum Glück lag das Backstuben-Bistro Riesinger direkt an der Durchgangsstraße und besaß einen weitläufigen Parkplatz, sodass es sie bloß eine Minute kostete, den Wagen abzustellen und zum Eingang zu eilen.

Noch bevor der Türflügel hinter ihr zugefallen war, hatte sie das Trio an einem Ecktisch erspäht.

Thekla blieb stehen und tat, als würde sie sich suchend umsehen, weil sie ein wenig Zeit benötigte, um das Bild zu verdauen, das sich ihr bot.

Ali – hatte er schon wieder an Gewicht zugelegt? – saß, eingeklemmt wie eine schöne Scheibe Leberkäs in zwei Semmelhälften, zwischen Hilde und Wally, die ihm dermaßen auf den Pelz gerückt waren, dass ihm ganz schön heiß geworden zu sein schien. Die Wangen brannten, die Nasenspitze glühte, die Stirn glänzte fiebrig.

Man sollte die Feuerwehr rufen, dachte Thekla amüsiert.

Keiner der drei hatte ihre Ankunft bemerkt, was nicht verwunderte, denn Hilde und Wally wetteiferten um Alis Aufmerksamkeit.

Thekla trat hinter einen Garderobenständer und schälte sich in Zeitlupe aus ihrer Jacke, wobei sie den Tisch im Auge behielt.

Wally, die in ihrer Ehe unter einem Defizit an Nähe litt (Sepp Maibier knauserte zwar nicht mit finanziellen Zuwendungen, aber rigoros mit Herzenswärme), hatte sich bei Ali eingehakt, sodass es ihm unmöglich war, nach seiner Kaffeetasse zu greifen. Sie klimperte mit den Augenlidern wie Daisy Duck und schmiegte von Zeit zu Zeit den Kopf an seine Schulter. Früher wäre Wally auch ausstaffiert gewesen wie Daisy Duck, aber seit sie sich eine Stilberaterin leistete, war sie mit dezenter Eleganz gekleidet und trug ein Make-up, das nachgerade Wunder wirkte. Thekla fragte sich, wie weit Alis Resistenz gegen den Reiz des Weiblichen reichte.

Auch Hilde, zwar knochig und hager wie eh und je, hatte im vergangenen Jahr ihren Modestil gründlich geändert. Die strengen erdfarbenen Kostüme und Hosenanzüge waren kessen Blusen und flotten Jacken gewichen. An diesem Nachmittag trug sie Mohnrot, eine Farbe, die ihr fraglos schmeichelte.

Das neue Outfit machte sie jünger und lebendiger. Das – und Alis Gesellschaft.

Hilde hielt sein Handgelenk umklammert und redete hingebungsvoll auf ihn ein.

Aber es ist nicht, wonach es aussieht, dachte Thekla.

Hilde – das wusste sie todsicher – war nicht im Mindesten an dem durchaus stattlichen Kreisbrandrat als Mann interessiert. Wenn Ali ein Ameisenbär gewesen wäre, hätte sie ihn ebenso umschmeichelt, vorausgesetzt, dieser Ameisenbär hätte, wie Ali es tat, seine außergewöhnliche Nase dazu verwendet, unerkannte Verbrechen aufzuspüren.

Damit verging Thekla das Witzeln.

Alis Anwesenheit bei dem heutigen Kaffeekränzchen bedeutete ohne Frage, dass eine Mordermittlung in der Luft lag.

Sie tat einen Seufzer. Die Aussicht auf das, was bevorstand, deprimierte sie. Auf einmal fühlte sie sich matt.

Mit schleppenden Schritten trat sie an den Tisch.

Ali machte Anstalten, zur Begrüßung aufzustehen, aber Wally hing wie ein Zentnersack an ihm, sodass er nur drei Zentimeter hochkam, bevor er wieder auf den Sitz zurückfiel.

Dass Hilde ihn losließ, erlaubte ihm wenigstens, die Hand auszustrecken. Es war ihm jedoch sichtlich peinlich, sitzen zu bleiben, als Thekla sie ergriff.

Wally bedachte ihn mit einem schmalzig-teilnahmsvollen Augenaufschlag, während sie zu Thekla sagte: »Alis Jugendliebe ist ermordet worden. Ist das nicht entsetzlich, Thekla? Der arme, arme Ali.«

Es war also tatsächlich wahr. Sie sollte erneut mit Mord und Totschlag konfrontiert werden. Und Ali war auch noch äußerst persönlich involviert. Thekla sah ihn prüfend an. Ali ging straff auf die sechzig zu und war – dem Alter seiner Kinder nach zu urteilen – seit annähernd vierzig Jahren verheiratet; glücklich, wie man reden hörte. Die Zeit seiner Jugendliebe musste demnach etliche Jahrzehnte zurückliegen.

»An ihrem siebzigsten Geburtstag. Ist das nicht entsetzlich?«, sagte Wally.

Thekla kapitulierte. Man würde ihr eine plausible Erklärung für all das geben müssen.

Sie musste nicht lange warten. Hilde nahm die Sache in die Hand.

Sie wies auf den unbesetzten vierten Stuhl am Tisch. »Hock dich endlich hin und hör zu.«

Als Thekla der Aufforderung gerade nachkommen wollte, zog Hilde ihr unversehens den Stuhl unterm Hintern weg. »Bevor du dich setzt, musst du dich noch mit Kaffee und Kuchen versorgen. Selbstbedienung.«

Wally machte kugelrunde Krötenaugen. »Speerspitzen, Thekla. Du musst eine von den Speerspitzen probieren. Sie sind …«

… entsetzlich?

»… vorzüglich. Mürbeteig mit Zitronencreme und Schokoguss. Und aussehen tun die leckeren Teilchen wie das vordere Ende von einem Speer der römischen Legion.«

Speerspitzen. Aus Mürbeteig. Aha.

Thekla stiefelte zur Theke. Da ihr Lieblingsgebäck, »Agnes-Bernauer-Torte«, nicht zu haben sein würde, weil Krönner in Straubing das Rezept dafür so geheim hielt wie die Nato ihre Verteidigungspläne, konnte sie ebenso gut eine Speerspitze aus Mürbeteig essen.

»So, jetzt kann es losgehen«, sagte Hilde, als Thekla mit ihrem Milchkaffee und dem Kuchenteller an den Tisch zurückkam. Sie rammte ihr den Stuhl in die Kniekehlen, sodass Thekla recht unsanft auf der Sitzfläche landete, der Kaffee überschwappte und die Speerspitze fast vom Teller rutschte. Ungerührt fuhr Hilde fort: »Das Opfer heißt Anne Ungerer, war wie gesagt siebzig Jahre alt, pensionierte Lehrerin, verwitwet. Vor etwa fünfundvierzig Jahren war Ali unsterblich in sie verliebt.«

»Nicht nur ich«, warf Ali ein. »Alle Burschen im Sommerlager.«

Hilde schien ihm die Zwischenbemerkung zu verargen, denn ihre Stimme klang deutlich ungehalten, als sie erläuterte: »Anne Ungerer gehörte zum Betreuungsteam eines Ferienlagers, an dem Ali seinerzeit teilgenommen hat.«

»Die Geschichte ist sooo romantisch«, seufzte Wally.

Hilde schoss einen ärgerlichen Blick auf sie ab. »Und schnell erzählt. Alis unsterbliche Liebe zur hübschen Betreuerin überlebte, wie man sich denken kann, nicht einmal den Herbst. Aus den Augen, aus dem Sinn, wie es so schön heißt. Jeder ging seines Weges, und irgendwann – viele Jahre später – war Anne Ungerer mit einem Börsenmakler verheiratet und Ali mit seiner Sieglinde.«

»Aber eines Tages sind sie unvermutet wieder zusammengetroffen«, rief Wally aus. »Ist das nicht …«

… entsetzlich?

»… wunderbar, Thekla?«

Thekla schob eine Gabel voll Zitronencreme in den Mund und nickte gleichgültig. Wen interessierte schon Alis jugendliche Schwärmerei für eine Erzieherin von vor über vierzig Jahren? Dass sich die beiden über kurz oder lang wieder einmal begegnen würden, war vorhersehbar gewesen, sofern sie in der Region geblieben waren.

»Ali und Anne«, sagte Hilde in strengem Ton, »sind wieder zusammengetroffen, als Alis Tochter eingeschult wurde –« Erbost stieß sie einen Luftschwall aus, weil sie erneut unterbrochen wurde.

»Anne ist an der Grundschule die beliebteste Lehrerin gewesen«, glaubte Ali einfügen zu müssen.

Hilde wartete einen Moment lang ab, ob er noch etwas hinzusetzen würde, als aber nichts mehr kam, fuhr sie fort: »Alis Tochter bekam Anne als Klassenlehrerin, und Ali wurde Elternbeiratsvorsitzender. Damit war der Kontakt wieder hergestellt.«

»Und ist seither nicht mehr abgerissen«, übernahm Ali. »Obwohl Anne später nach Vilshofen gezogen ist, hat sie sich noch regelmäßig bei uns im Salon die Haare machen lassen.« Er interpretierte Theklas Augenverdrehen richtig. »Nicht wegen mir. Anne und Sieglinde haben sich sehr gut verstanden. Als Annes Mann vor ein paar Jahren gestorben ist, hätte sich Sieglinde gern mehr um Anne gekümmert. Aber ihr könnt euch ja denken, dass das wegen der vielen Arbeit im Salon nicht ging. Nur ein einziges Mal haben sie zusammen was unternommen. Eine Theaterfahrt nach Pilsen. ›Gräfin Mariza‹.«

»Gräfin Mariza«, hauchte Wally hingerissen.

»Und jetzt ist Anne tot«, sagte Ali.

Thekla hatte ihre Speerspitze aufgegessen. Sie trank einen Schluck Kaffee, dann stellte sie die Frage, die endlich klären sollte, warum sie alle hier am Tisch saßen. Auch wenn sie es im Grunde bereits wusste, sie musste völlige Gewissheit haben. »Und du glaubst, sie ist ermordet worden?«

Ali nickte.

Thekla zog eine Augenbraue hoch. »Das scheint aber außer dir niemandem in den Sinn gekommen zu sein, sehe ich das richtig?«

Ali hatte sich im Laufe des Gesprächs aus Wallys Umklammerung befreien können. Nun griff er nach seiner Tasse und trank sie in einem Zug aus, als befürchtete er, gleich wieder an Wallys Busen genagelt zu werden. Nachdem er die Tasse abgesetzt hatte, sagte er: »Glaub mir, Thekla. Ich habe mir die Sache immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Drei Wochen lang. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und mich entschlossen, euch um Hilfe zu bitten.« Er sah sie verständnisheischend an, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zuzunicken.

Hörbar erleichtert sprach er weiter: »Das letzte Mal, als Anne bei uns zu Besuch gewesen ist, war sie so komisch.« Als wäre das Antwort genug, verstummte er wieder.

Thekla sah sich gezwungen, nachzuhaken. »Wie komisch?«

Ali schien unschlüssig. »Bedrückt, verängstigt, schockiert. Irgendwas in der Richtung. Natürlich haben wir sie gefragt, was los ist, haben aber nicht wirklich etwas aus ihr herausbekommen. Nur Andeutungen wie ›Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich mich so furchtbar täuschen konnte‹ und ›Ich hätte mir das alles gründlicher überlegen sollen‹.«

»Was kann sie damit bloß gemeint haben?«, fragte Hilde.

Ali trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte und sagte im Rhythmus der Anschläge: »Ich – weiß – es – nicht.« Er ließ seine Finger wieder zur Ruhe kommen. »Wenn ich nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, was passieren würde, hätte ich jede Einzelheit aus ihr herausgequetscht. Notfalls mit Gewalt.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Thekla.

Alis Blick wurde starr, als hätte er eine Vision. »Der Vilshofener Seniorenclub hat vor drei Wochen einen Ausflug unter dem Motto ›Die Römer in Künzing‹ organisiert – Rundgang auf dem Themenweg, Mittagessen im Römerhof, Führung im Museum. In einem der Ausstellungsräume ist Anne zusammengebrochen. Sie hat sich über eine Vitrine mit Gewandfibeln gebeugt, weil sie sich den Schmuck genau anschauen wollte, und auf einmal ist ihr Kopf auf der Glasplatte aufgeschlagen. Die neben ihr haben gemeint, dass sie sich gleich wieder aufrichtet. Aber Anne ist in die Knie gesunken und dann ganz zusammengesackt.«

Ali sah in die Runde, als rechnete er mit Zwischenfragen, begegnete jedoch nur erwartungsvollen Blicken.

»Daraufhin hat man natürlich versucht, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, hat auf sie eingeredet … bis jemand von der Museumsleitung endlich die Rettung alarmiert hat.« Ali rieb sich über die Augen. »Da war Anne vermutlich schon tot. Der Notarzt, der irgendwann kam, hat anscheinend gar nicht mehr versucht, sie zu reanimieren.«

Als Ali in Schweigen verfiel, legte ihm Hilde die Hand auf den Arm. »Was hast du von Annes Bekannten aus dem Seniorenclub noch erfahren? Bei denen hast du dich erkundigt, oder?«

Ali nickte. »Der Notarzt hat Annes Tod bescheinigt und anscheinend jemanden vom Bestattungsunternehmen bestellt. Die Museumsleitung hat dafür gesorgt, dass Anne in einem Nebenraum aufgebahrt wurde …«

Erneut verstummte er, woraufhin Hilde wieder helfend eingriff. »Für die amtliche Totenschau hat man vermutlich einen Arzt aus der Umgebung kommen lassen, der …« Sie machte eine Pause und sah Ali ermunternd an. Er gab sich einen Ruck.

»Der hat festgestellt, dass Anne an akutem Herzversagen gestorben ist.«

»Was ihm keiner abgenommen hat«, sagte Hilde.

Ali wirkte auf einmal müde. »Ein paar von den Teilnehmern haben ihn später darauf hingewiesen, dass Anne nie über Herzbeschwerden geklagt habe. Aber er hat ihnen erklärt, akutes Herzversagen könne ohne Vorwarnung auftreten. Er hat ihnen Udo Jürgens als Beispiel genannt. Plötzlicher Herztod. Noch Minuten zuvor nicht das kleinste Anzeichen für eine Krankheit.«

»Und bei Anne Ungerer war das genauso?«, fragte Thekla.

Ali bejahte. »Allerdings hat sie der alten Dame, die neben ihr im Bus saß, wohl erzählt, dass sie irgendwie alles mit einem gelben Schimmer überzogen sehen würde. Kündigt sich so ein plötzlicher Herztod an?«

Darauf wusste Thekla keine Antwort.

Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Woran soll Anne Ungerer eurer Meinung nach denn gestorben sein? Meint ihr, sie hatte eine Speerspitze im Rücken, die sowohl der Notarzt als auch der andere Doktor übersehen haben?«

Hilde funkelte sie wütend an. »Ali hätte uns nicht hergebeten, wenn er nicht gute Gründe dafür hätte.« Sie wandte sich ihm zu und fuhr in begütigendem Ton fort: »Thekla meint es nicht so, sie war immer schon gern schnippisch. Sag, Ali, warum glaubst du nicht, dass Anne an Herzversagen gestorben ist?«

Ali straffte sich. »Weil sie ganz sicher kein schwaches Herz hatte. Dafür war sie viel zu gut in Form. Von Bodenmais auf den Großen Arber in gerade mal zwei Stunden. So fit ist man nicht, wenn das Herz Sperenzchen macht. Außerdem hat Anne sich mustergültig gesundheitsbewusst ernährt.«

»Trotzdem kann –«, wollte Thekla einwenden, aber Ali fiel ihr ins Wort.

»Sicher. Es ist aber nicht nur Annes hervorragende körperliche Verfassung, die gegen einen natürlichen Tod spricht.«

»Denkt an die Besorgnis, die Anne neuerdings an den Tag gelegt hat«, meinte Hilde erläutern zu müssen.

»Das und die Tatsache, dass Anne einen Haufen Geld hinterlässt«, sagte Ali.

»Womit wir beim Motiv gelandet wären«, konstatierte Thekla mäßig interessiert.

Aber wie, fragte sie sich dann doch, kann eine einfache Grundschullehrerin einen Haufen Geld hinterlassen? Hatte sie eine Erbschaft gemacht? War Alis Jugendliebe mit jemandem wie Bill Gates oder Warren Buffett verheiratet gewesen?

Als hätte Ali ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Annes Mann Wolfgang Ungerer hat als Broker an der Börse ein ansehnliches Vermögen gemacht.«

»Also Mord aus Habgier«, folgerte Hilde, als bräuchte es keine weiteren Erkenntnisse, um unanfechtbar zu diesem Resultat zu gelangen.

Wally hielt sich die Hand vor den Mund, wie um einen Aufschrei zu unterdrücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen und traten hervor wie kleine Bälle aus Glas.

Wenn sie dieses Krötengesicht macht, sieht sie wieder genauso aus wie vor ihrer Verwandlung zum Model, dachte Thekla.

Wally ließ die Hand sinken und gab ein Keuchen von sich. »Oh Ali, das ist ja entsetzlich.«

Thekla achtete nicht weiter auf sie, weil sich in ihrem Kopf gerade irgendetwas Gehör verschaffen wollte. Sie blendete die Geräusche um sich herum aus und konzentrierte sich darauf, den Gedanken einzufangen, der da rumorte.

Anne Ungerer war mit einem Broker verheiratet gewesen. Einem Wolfgang Ungerer. W-olfgang U-ngerer. W.U. Wu.

Unbewusst sagte sie es laut. »Wu. Annes Mann war Wu.«

»Ein Chinese?«, fragte Wally.

Thekla hob die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Heinrichs Studienfreund.« Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass Wallys Frage damit nicht beantwortet war.

»Heinrichs Studienfreund«, wiederholte Hilde. »Bist du sicher?«

»Wolfgang Ungerer, Börsenmakler, aufgewachsen im Landkreis Rosenheim, später wohnhaft in München, irgendwann nach Niederbayern gezogen«, betete Thekla herunter. »Heinrich hat oft von ihm gesprochen. Von gemeinsamen Bergtouren, von gemeinsamen Besäufnissen und von Wus sagenhaftem Talent, Geld zu vermehren, wovon auch Heinrich profitiert hat. Nicht alle Börsengeschäfte haben satten Gewinn eingefahren, die meisten aber schon.«

»Er ist es«, sagte Ali. »Anne hat mal erwähnt, dass ihr Mann aus Oberbayern stammt.«

Natürlich ist er es, dachte Thekla. Es wird ihn wohl kaum doppelt geben – gegeben haben, genau gesagt.

»Hat Heinrich auch Anne gekannt?«, fragte Hilde.

»Gekannt schon«, erklärte Thekla. »Aber er sagt, nach Wus Heirat haben sie sich immer seltener getroffen, und irgendwann ist der Kontakt ganz abgerissen. Nicht, dass er Wus Frau nicht sympathisch gefunden hätte, aber es war halt alles nicht mehr so wie zuvor.«

Sie fragte sich, ob Heinrich wusste, dass Wu seit Jahren tot war. Und was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass Ali Schraufstetter glaubte, Wus Frau sei ermordet worden? Würde er der Sache nachgehen wollen? Würde auch er einen Mord aus Habgier in Betracht ziehen?

Dieser Gedankengang gab ihr die nächste Frage ein. »Wer erbt denn das Ungerer’sche Vermögen? Die Kinder?«

»Sie hatten keine«, antwortete Ali. »Aber Anne hat hin und wieder einen Neffen erwähnt. Könnte sein, dass der alles erbt.«

»Wie heißt er? Wo wohnt er? Ist er der einzige Verwandte?« Hildes Stimme klang nach Gefangenenappell und Kasernenhof.

»Das müssen wir alles herausfinden«, sagte Ali sanft.

Und noch viel mehr, dachte Thekla. Nur weil einer ein Vermögen erbt, muss er nicht zum Mörder geworden sein.

»Da wäre allerdings noch was«, sagte Ali. »Werner Obermeier, einer der Senioren, mit denen ich mich unterhalten habe, hat mir erzählt, dass er neulich mit seiner Tochter in einem Einrichtungshaus gewesen ist, um sich Stockbetten für seine beiden Enkel anzuschauen. Und wie er einen der Mitarbeiter was fragen will, sieht er Anne an einem der Beratungstische sitzen. Während er wartet, dass er drankommt, kriegt er mit, dass sie etwas bestellt.« Ali schüttelte den Kopf, als wollte er das nun Folgende im Vorhinein für unglaubwürdig erklären. »Und zwar angeblich ein komplettes Kinderzimmer.«

»Kann es sein, dass dein Jugendschwarm im Oberstübchen nicht mehr ganz richtig war?«, fragte Hilde.

Ali warf ihr einen strengen Blick zu. »Anne war völlig klar im Kopf. Das kannst du mir glauben.«

»Und dieser Obermeier?«, hakte Hilde nach.

»Hat nicht den Eindruck gemacht, als würde er was zusammenphantasieren«, antwortete Ali. »Getäuscht kann er sich auch nicht haben, weil seine Tochter ebenfalls mitgekriegt hat, dass Anne Ungerer eine Kinderzimmereinrichtung für gut achttausend Euro bestellt hat.«

»Dafür kriegt man was Hübsches«, grummelte Hilde.

»Ja«, stimmte ihr Ali zu. »Obermeiers Tochter hat sich allerdings ein wenig anders ausgedrückt. Anscheinend ist sie regelrecht ausgeflippt, weil sie sich selbst nur ein einfaches Etagenbett leisten kann.«

»Anne Ungerer hat also ein Kinderzimmer bestellt«, sagte Thekla, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren. »Ein Geschenk?«

»Für achttausend Euro?« Hildes Tonfall war skeptisch. »Für wen denn?«

»Das ist es ja gerade«, antwortete Ali. »Sie hat nie ein Kind erwähnt.«

»Du glaubst aber, das hätte sie getan?«

»Ich bin mir sicher, es wäre mal zur Sprache gekommen, wenn sie in der Verwandtschaft oder im Bekanntenkreis jemanden gehabt hätte, dem sie so ein ungewöhnliches Geschenk hätte machen wollen.«

»Hast du nicht gesagt, dass es einen Neffen gibt?«, erkundigte sich Thekla.

Ali nickte. »Anne hat ihn immer wohlwollend erwähnt. Aber warum sollte sie ihm ein Kinderzimmer schenken? Mir kam es nicht so vor, als hätte er Familie.«

Thekla bemerkte, wie Hilde sich aufrichtete, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Meint ihr, wir sollten den Neffen gleich mal unter die Lupe nehmen?«

Sie kann es kaum erwarten, dachte Thekla. Endlich wieder eine Mordermittlung, endlich wieder auf Spurensuche gehen, herumschnüffeln, auskundschaften.

Annes und Wus Umfeld würde in allen Einzelheiten durchleuchtet werden.

Erneut fragte sich Thekla, was Heinrich dazu sagen würde. Würde er die Ermittlungen gutheißen? Würde er selbst mitmachen wollen? Nein, das konnte er wohl schlecht. Dazu war er viel zu sehr mit dem Hausbau beschäftigt.

»Thekla? Hörst du überhaupt zu?« Hildes Stimme klang scharf.

»Ali schlägt vor, dass wir uns zuerst einmal das Museum anschauen sollen«, sagte Wally, bevor Hilde ihrem Groll über Theklas Unaufmerksamkeit Luft machen konnte. »Damit wir uns ein Bild machen können von …« Sie stockte und setzte dann neu an. »Ali meint, wir sollten die Angestellten ein bisschen ausfragen. Ob ihnen was aufgefallen ist, ob Anne Ungerer irgendwie …« Wieder wusste sie nicht weiter.

Hilde sprang ein. »Es kann ja nicht schaden, etwas für unsere Bildung zu tun. Das Quintana-Museum ist zwar nicht gerade weltberühmt, aber es hat eine sehr ansprechende Abteilung für Fundstücke aus den Glanzzeiten des Imperium Romanum. Bewacht werden sie von einem Centurio in Lebensgröße. Der wird dir – vor allem aber Wally – gefallen.«

Thekla fragte sich, woher Hilde das alles wusste. Sie musste sich im Internet schlaugemacht haben.

»Gegen einen Museumsbesuch wird dein Heinrich wohl nichts einzuwenden haben«, fügte Hilde mokant hinzu.

Heinrich. Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Die Erinnerung daran, dass er bei der Mörderjagd im Dogafall am meisten zu leiden gehabt hatte, zog wie eine frostige Brise durch Theklas Gemüt.

Sie fuhr sich unwillig über die Stirn, als dahinter der Gedanke keimte, Heinrich über alles im Dunkeln zu lassen. Doch diese Eingebung ließ sich nicht mit einer bloßen Geste vertreiben. Im Gegenteil, sie flüsterte, dass Heinrich im Moment genug um die Ohren habe; dass er gar nicht merken würde, wenn seine Frau dieser oder jener Spur nachging, um ihren Teil zur Klärung des Falles beizutragen. Dieses Falles, der womöglich gar keiner war. Oder doch? Ali hatte ja früher schon bewiesen, dass er einen Riecher für unentdeckte Verbrechen hatte.

»Ist Heinrich zurzeit nicht vollauf mit eurem Bauprojekt beschäftigt?«, fragte Hilde, als hätte sie Theklas Gedanken lesen können. »Da müssten sich die Zügel doch gelockert haben.« Sie grinste anzüglich.

Thekla schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Wozu sich zanken? Hilde würde sich nie ändern. Thekla fiel spontan eine ganze Reihe von Adjektiven ein, die man ihr mit Fug und Recht zuordnen konnte: hämisch, verletzend, boshaft, gehässig …

Ihr Schweigen schien beredt genug zu sein, denn Wally sagte zartfühlend: »Ist der Bauplan für euer neues Häuschen schon fertig?«

Thekla nickte. »Fast.«

Die Ereignisse der vergangenen Wochen hatten sie derart überrollt, dass ihr zeitweilig gar nicht richtig bewusst gewesen war, was vor sich ging.

Sie und Heinrich hatten erst wenige Monate zusammen in seinem Haus in Moosbach am Weidenweg gewohnt, als bekannt wurde, dass der Acker nebenan als Gewerbegebiet ausgewiesen werden sollte. Thekla hatte Heinrich noch nie so zornig erlebt.

»Wir verkaufen und bauen anderswo neu«, hatte er gerufen. »Oder möchtest du die nächsten zwei Jahre eine Riesenbaustelle vor der Terrasse haben und dann für den Rest deines Lebens in der Nachbarschaft eines Betriebs wohnen? Einer Geflügelfarm womöglich? Weißt du, wie eine Geflügelfarm stinkt? Und wie viel Fliegenschwärme sie jede Minute entlässt?«

Ja, Thekla wusste es; und nein, neben einer Geflügelfarm, wie man sie aus Tabertshausen oder Mariaposching kannte, wollte sie nicht wohnen. Sie glaubte zwar nicht, dass derart nahe am Ort Moosbach so eine Anlage genehmigt werden würde, aber auch ein Sägewerk oder eine Autolackiererei in nächster Nähe fand sie wenig wünschenswert. Deshalb hatte sie Heinrichs spontaner Entscheidung bedenkenlos zugestimmt.

Ab dann ging alles Schlag auf Schlag.

Innerhalb von zwei Wochen war das Häuschen am Weidenweg verkauft und ein neues Baugrundstück erworben.

Bei der Wahl der neuen Heimat hatten sie nicht lange grübeln müssen. Obwohl Italien und Spanien mit Wärme und viel Sonnenschein lockten, wollten sie einen solchen Schritt nicht wagen und lieber im vertrauten Niederbayern bleiben. Thekla hatte als neues Zuhause Eging am See vorgeschlagen, einen kleinen Marktflecken am Rand der Bayerwaldberge, der alles bot, was zwei Pensionäre benötigten: Apotheke, Arzt, Zahnarzt, Supermarkt und sogar eine Therme. Der See mit Badestrand und einem etliche Kilometer langen Rundweg machte den Ort in Theklas Augen zusätzlich attraktiv.

Heinrich hatte ihr beigepflichtet und war umgehend aktiv geworden. Inzwischen gehörte ihnen ein Grundstück im Fasanenfeld. Ein Architekt war mit der Planung des Häuschens beschäftigt.

Heinrich kümmerte sich um die Finanzierung und um all die Dinge, um die man sich eben kümmern musste, selbst wenn man sich für ein Haus aus Fertigbauteilen entschieden hatte. Heinrich hatte tatsächlich eine Menge zu tun.

»Du kommst gar nicht mit ins Museum?« Wallys Stimme klang so enttäuscht, als hätte die Hasenfamilie aus Keramik, die seit Jahren ihren Vorgarten zierte, das Weite gesucht.

Ali schüttelte den Kopf. »Ich bin sowieso zu spät dran.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Meine Güte, ich muss wirklich schleunigst zurück nach Deggendorf. Die Sitzung im Rathaus wird schon ohne mich angefangen haben.«

»Keilst du dich heute wieder mit dem Oberbürgermeister?«, fragte Hilde mit einem Zucken um die Mundwinkel.

Auch Thekla musste schmunzeln. Ali sah sich im Stadtrat und allen anderen kommunalen Gremien als Sprachrohr der Bürger, als Botschafter, der sich von niemandem den Mund verbieten ließ.

Thekla hegte keinen Zweifel, dass er dank dieser Renitenz in Hildes Wertschätzung weiter und weiter stieg. Sie musste großen Gefallen an Alis politischen Auftritten finden.

Anscheinend gab es auch derzeit wieder Querelen. Thekla interessierte sich zwar nicht sonderlich für die Angelegenheiten der Stadt Deggendorf, hatte jedoch einigen Zeitungsberichten entnommen, dass die Wellen wegen eines Bauprojekts namens »Karl-Turm« ziemlich hochschlugen. Verschandelte das Gebäude Deggendorfs Silhouette, ja oder nein? Thekla wusste nicht einmal, wo es hingebaut werden sollte. Hilde hatte wohl nicht ganz unrecht, wenn sie behauptete, Thekla zeige sich gesellschaftspolitisch so unbeteiligt wie ein Teebeutel.

2

Am selben Tag im Museum Quintana

Das Museum Quintana befand sich in einem modernen, recht funktionellen zweistöckigen Gebäude. Thekla war überrascht, wie zweckmäßig und nüchtern die Eingangshalle wirkte. Museen stellte sie sich immer bejahrt, verstaubt, pompös vor.

Aus der oberen Etage, in die eine freitragende Treppe führte, konnte man Kinderstimmen sowie das Tippeln von zahllosen Füßen hören. Unten in der Halle waren die Garderobenhaken mit Kinderanoraks und Rucksäcken zugepflastert.

»Eine Schulklasse«, sagte die Dame an der Kasse entschuldigend. »Aber die ist in ein paar Minuten weg. Frau Dr. Bosch-Salman ist mit ihrer Führung fast durch. Dann wird es wieder still bei uns.« Als sie von Thekla einen fragenden Blick auffing, fügte sie hinzu: »Frau Dr. Bosch-Salman ist unsere Museumsleiterin.«

Thekla sah sich nach dem Centurio um, den Hilde erwähnt hatte, und entdeckte ihn oben am Ende der Treppe. Er wirkte tatsächlich lebensecht und ließ sie an Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett denken, das sie in London einmal besucht hatte. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, damals dort römische Legionäre gesehen zu haben.

Der Geräuschpegel senkte sich plötzlich, sodass die Erklärungen der Museumsleiterin auf einmal recht gut zu verstehen waren: »… dem ihr hier gegenübersteht, war ein römischer Offizier. Er hat eine Truppe von achtzig bis hundert Soldaten befehligt. In Künzing sind insgesamt rund fünfhundert von ihnen stationiert gewesen. Hundert Reiter und vierhundert Infanteristen. Was sind Infanteristen? – Richtig, Fußsoldaten. Es handelte sich hauptsächlich um Hilfstruppen, die aus der hiesigen Gegend, aus Spanien oder Bulgarien oder aus sonst einem eroberten Gebiet der Römer stammten. Wie ihr sehen könnt, ist ein Centurio …«

Wally eilte bereits die Treppe hinauf. »Und wenn er echt ist?«

Hilde stieß ein Prusten aus.

Wally ließ sich nicht beirren. »Man könnte ihn für echt halten.« Sie seufzte leise. »Ein stattlicher Kerl.« Aus dem Seufzer wurde ein verlegenes Kichern. »Ein Herzensbrecher.«

Thekla musste ihr recht geben. Die Figur stand respekteinflößend und doch mit einer gewissen Lässigkeit da.

James Bond im römischen Militärdienst, dachte sie und hätte beinahe selbst gekichert.

Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte, befand sich die Figur ihr direkt gegenüber, und Thekla erfasste erst jetzt, wie groß und eindrucksvoll sie tatsächlich war.

Der Centurio trug einen silberfarbenen Helm mit einem gewaltigen Helmbusch. Der gehämmerte Wangenschutz verdeckte die untere Hälfte des Gesichts fast vollständig, gab ihm einen hoheitsvollen, respekteinflößenden Ausdruck.

Während Thekla die Figur musterte, drang eine Kinderstimme an ihr Ohr: »Er hat ein Halstuch um!«

»Und zwar sowohl im Winter als auch im Sommer«, sagte die Museumsleiterin. »Warum im Sommer?«

Die Schüler begannen durcheinanderzurufen.

Thekla trat ein paar Schritte zur Seite, weil immer mehr Kinder herandrängten und wie Springmäuse um den Centurio herumhopsten. Sie fragte sich, von welcher Schule und aus welcher Klasse sie wohl kamen. Es war jedoch aussichtslos, über den Jahrgang zu spekulieren, denn manche Jungen wirkten wie Siebenjährige, während ein paar Mädchen bereits in der Pubertät zu sein schienen.

»Im Sommer fängt das Halstuch den Schweiß auf«, sagte die Museumsleiterin. Thekla konnte nur braune Locken mit ein paar grauen Strähnen darin von ihr sehen, weil so viele Kinder sie umringten.

»Warum hat er kein Kettenhemd an?«, wollte einer der Jungen wissen.

»Unser Centurio trägt einen Schuppenpanzer«, antwortete die Museumsleiterin geduldig. »Schuppenpanzer und Kettenhemd waren in der römischen Legion gleichermaßen …«

Thekla spürte, wie sie am Ärmel gezupft wurde, sah auf und bemerkte, dass Hilde ihr Zeichen machte, in den angrenzenden Raum zu gehen.

Sie nickte Hilde zwar zu, hob aber gleichzeitig die Hand, um zu signalisieren, dass sie noch einen Augenblick verweilen wolle.

»Und was trägt er unter der Rüstung?«, fragte die Museumsleiterin.

»Ein Kleid.«

»Ein langes T-Shirt.«

»Ein Nachthemd.« Die Antwort wurde von einem Schwall Gelächter begleitet.

»Ein Untergewand, die Tunica«, berichtigte Frau Dr. Bosch-Salman. »Und über der linken Schulter unseres Centurios hängt sein roter Militärmantel, der ihm als Regen- und Kälteschutz, in der Nacht aber auch als Unterlage oder Zudecke dient. Der Mantel ist aus einem ungesäumten Stück Stoff und wird am Hals mit einer Fibel festgehalten.«

»Warum ist der Schuppenpanzer so kurz?«, fragte ein Mädchen, das aussah wie vierzehn, und begleitet von Gekicher fügte es hinzu: »Die empfindlichste Stelle ist überhaupt nicht geschützt.«

Mit stoischer Ruhe antwortete die Museumsleiterin: »Lederstreifen schützen den Unterleib, lederne Hosen die Beine. Zudem trägt der Centurio noch metallene Beinschienen. Seine Lederschuhe sind mit zweiundsiebzig Nägeln beschlagen …«

»Ist er nicht wunderbar?«

Thekla schaute sich um und entdeckte Wally neben sich.

»Und was für ein prächtiges Schwert er hat.« Sie himmelte den Centurio sichtlich an.

Theklas Blick glitt zur Wachsfigur zurück und registrierte eine ziselierte Schwertscheide an einem Riemen.

Die Traube um den Centurio lichtete sich allmählich, und Thekla beobachtete, wie Wally sich näher an ihn heranpirschte. Sie schenkte ihm ein ausgiebiges Daisy-Duck-Wimpernklimpern, strich ihm sanft über den unbedeckten rechten Unterarm und versuchte, eine Falte im Mantel zurechtzuzupfen, was ihr nicht gelang, weil sie irgendwie festgeklebt war. Nachdem sie ihn genügend angeschmachtet hatte, ließ sie es sich nicht nehmen, einen Helm aus der neben dem Centurio stehenden Requisitenkiste aufzusetzen, doch als sie auch ein Kettenhemd überstreifen wollte, stellte sich heraus, dass es ihr zu eng war.

Thekla wandte sich taktvoll ab.

Hilde war nirgends zu entdecken.

Womöglich spuckte sie nebenan bereits Gift und Galle, weil weder Thekla noch Wally der Aufforderung, ihr zu folgen, nachgekommen waren. Auf der Suche nach ihr kam Thekla an Vitrinen mit Münzen, Gewandfibeln, Klingen und Speerspitzen vorbei, bis sie an einen schmalen Durchgang gelangte. Sie betrat ihn und fand sich in einem kleinen abgedunkelten Raum wieder.

»Das Mithrasheiligtum«, raunte eine Stimme dumpf.

Thekla zuckte zusammen.

»Mithras galt als Schöpfer des Universums. Schau.«

Theklas Augen, nun halbwegs angepasst, erkannten Hildes Umriss.

Hilde deutete an die gewölbte Decke, an der winzige Sterne leuchteten. Sie gaben dem Raum das Dämmerlicht.

»Wo seid ihr denn?« Wally hörte sich merklich furchtsam an.

Eilig trat Thekla aus dem Mithräum in den Ausstellungssaal, wo Wally einsam neben einer Vitrine mit antiken Stichwaffen stand und dreinsah, als wollte sie zum Centurio zurückrennen und sich schutzsuchend an ihn klammern.

Als sie auf Wally zuging, vernahm sie von unten neuerlich Gesprächsfetzen und Fußgetrappel. Doch diesmal handelte es sich nicht um Kinderstimmen, und die Schritte hörten sich gemessen an.

Im nächsten Augenblick kamen die neuen Besucher die Treppe herauf und verteilten sich um die Schaukästen. Vor der Vitrine mit den Münzen versammelte sich ein ganzer Pulk.

»Sesterzen«, hörte Thekla einen groß gewachsenen Herrn um die fünfzig sagen. »Unter Cäsar betrug der Jahressold für einen einfachen Legionär ungefähr neunhundert Sesterzen, das entsprach etwa zweihundert Denar. Einem Centurio ist gut das Fünffache ausgezahlt worden.«

Aha, dachte Thekla, da spricht ein Mann vom Fach. Sie fragte sich, welchem Verein die Leute wohl angehörten. Oder handelte es sich um eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, unterwegs mit Studiosus-Reisen?

»Kommt mit runter, bevor man uns hier zu Brei quetscht.« Hilde, die zu Thekla und Wally getreten war, deutete mit dem Daumen auf die Treppe. Als sie hinunterstiegen, sagte sie an Thekla gewandt: »Hast du dir die Stelle bei den Gewandfibeln angesehen, wo Anne Ungerer zusammengebrochen ist?«

»Wozu denn?«, fragte Thekla. »Der Zwischenfall ist schon drei Wochen her, was soll es da noch zu sehen geben?«

Wally machte ein tiefsinniges Krötengesicht. »Vielleicht hat Anne etwas in die Wand geritzt.«

Hilde ließ ein missbilligendes Schnauben hören. »Wir sind hier nicht in einem Edgar-Wallace-Film, Wally.«

»Richtig«, sagte Thekla trocken. »Und deshalb glaube ich auch nicht daran, dass Anne Ungerer ermordet worden ist. Wie denn? Alis Schilderung nach stand sie gemeinsam mit ein paar anderen aus der Seniorengruppe an der Vitrine, als sie ohne ersichtlichen Grund zusammengebrochen ist. Sie ist weder erschlagen noch erstochen noch erschossen worden. Der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, konnte keine andere Todesursache ausfindig machen als akutes Herzversagen. Wie hätte man ihr das denn zufügen sollen?«

Hilde war am Fuß der Treppe stehen geblieben und wandte sich Thekla mit einem scharfen Ruck zu. »Gift! Denk doch mal an Gift. Dazu müsste dir als Apothekerhilfskraft doch spontan was einfallen.«

Digitalis, dachte Thekla unwillkürlich und sprach es nach kurzem Überlegen laut aus.

»Na bitte«, sagte Hilde. »Sogar mir als Laien ist bekannt, wie das Zeug wirkt. Tödlich nämlich, wenn man zu viel davon erwischt.«

Hilde hat recht, dachte Thekla. Überdosiert eingenommen können Herzglykoside zu Kammerflimmern und damit zu Herzstillstand führen.

Das kam gar nicht so selten vor, weil diese Mittel nur in einem sehr kleinen Bereich wirksam waren. Schnell war die Dosis zu gering und fast noch schneller zu groß.

Aber auf Anne Ungerer traf die Problematik ja überhaupt nicht zu. Ali hatte gesagt, sie sei gesund gewesen, was doch bedeutete, dass sie keine Medikamente hatte einnehmen müssen, am allerwenigsten ein Herzmittel.

Darauf machte Thekla Hilde nun aufmerksam, erntete jedoch nur ein verächtliches Prusten.