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In diesem Sammelband finden Sie Geschichten und Zeichnungen, die aus einer Laune heraus oder für bestimmte Projekte entstanden sind. Es gibt Autobiografisches, allgemein Realistisches, Märchenhaftes und manchmal vermischen sich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit ganz unbemerkt. So sind die Geschichten auch nicht streng nach Rubriken geordnet. Und dann sind da noch die Ultra-Kurz-Geschichten, die mit wenigen Worten eine Menge sagen. Ob nun 500 Zeichen oder die Länge einer SMS, in der Kürze liegt die Würze.
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Seitenzahl: 209
Vorwort
Miriam, lass dein rotes Haar herunter
Falsch verbunden
Das Ekel
Der See der tausend Freuden
Dämoneneier
Glück mit Hindernissen
Die Lüge vom Glück
Busbekanntschaft
Auto-Tuning
Und sie lässt mich nicht mehr los
Das Jackenmonster
Vorwärts Genossen, wir gehen zurück! Bloß wie?
Wenn eine(r) eine (Dienst-)Reise tut
Noch einmal Kind sein
Alle Jahre wieder
Tränen der Seele
Blumen brauchen Liebe
Seelenfresser
Eine Materialfrage
Woodstock
Musikfestival
500-Zeichen-Geschichten
Frühaufsteher
milieugeschädigt
Die Garnele
Waschtaggespräch
Weinselig
Alter Falter
Oh, du Fröhliche!
Prost Mahlzeit!
160-Zeichen-Geschichten
1977 Abenteuer in St. Petersburg
Vom Winde verweht…
Präsentationszelebration der Co&Bi Ausgabe 33
Treffen des FDA Sachsen 13./14.10.2012 in Tschechien
Singapur / Malaysia 2014
Treibsand 01.08.2014
Buchmesse Frankfurt 07.-13.10.2014
Die Quasselstrippe 25.10.14
Geisterstunde mal anders 18.01.15
Prag mit viel, viel Spaß (28./29.05.15)
Störmthaler See 28.08.2015
Jahrestreffen des FDA in Mariánská / Jachymov 2015
Die Sache mit dem Bus 03.10.2015
Leerstellen in der modernen Prosa 24.10.2015
Besinnliches zur Adventszeit 01.12.15
Überraschung zum Jahreswechsel 31.12.15
Geschichten, die das Leben schreibt, Juni 2016
Flop, der Schaumeister – Ein Drama in mehreren Akten 26.07.2016
Der Specht
Rollenspiel Oktober 2016
Was, zum Teufel?
Il mio cuore batte italiano.
(
Mein Herz schlägt italienisch.)
Parkhausgeflüster und was sonst noch passiert
Co, k čertu?
In diesem Sammelband finden Sie Geschichten und Skizzen, die aus einer Laune heraus oder für bestimmte Projekte entstanden sind.
Es gibt Autobiografisches, allgemein Realistisches, Märchenhaftes und manchmal vermischen sich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit ganz unbemerkt. So sind die Geschichten auch nicht nach Rubriken geordnet.
Und dann sind da noch die Ultra-Kurz-Geschichten, die mit wenigen Worten eine Menge sagen. Ob nun 500 Zeichen oder die Länge einer SMS, in der Kürze liegt die Würze.
Deshalb sage ich auch ganz kurz: „Viel Spaß beim Lesen!“
König Gero war sicher tausend Mal auf seinen Jagdzügen an dem alten Turm vorbei geritten. Das Gemäuer stand schon seit mindestens zwei Jahrhunderten auf dem Berg, fernab von jeglicher menschlicher Behausung, und niemand kümmerte sich darum. Das schwere Eichenholztor war schon vor langer Zeit zu Staub zerfallen und irgendjemand hatte den Aufgang zum Turm zugemauert.
Der junge König würdigte das Bauwerk keines Blickes, als er tief in den Wald zur Hirschjagd zog. Seine Jagdgesellschaft hatte er schon vor mehr als zwei Stunden verloren, was ihm so ziemlich egal war. Er liebte die Einsamkeit des Waldes. Irgendwann würden die anderen schon irgendwo wieder auftauchen.
Heute war das Glück Gero nicht hold. Nicht ein einziges jagdbares Stück Wild ließ sich sehen, als läge ein böser Zauber über dem Wald. Gero gab auf.
Unzufrieden machte er sich auf den Rückweg zum Schloss. Besorgt betrachtete er zwischen den Baumwipfel hindurch den Himmel, der sich von Minute zu Minute verfinsterte. Die ersten Sturmböen fegten heran, unter deren Wucht sich die alten Tannen bogen. Ein Heulen und Kreischen lag in der Luft, als tanzten tausende Dämonen einen bösen Reigen. Äste brachen und prasselten herab.
Das Pferd des Königs scheute ein paar Mal. Nur mit Mühe brachte er das zitternde Tier vorwärts. Am Waldrand verweigerte es endgültig seinen Dienst. Gero nahm dem Tier Sattel und Zaumzeug ab, dann ließ er es laufen, wohin es immer mochte.
Der König schaute sich um. Im strömenden Regen glaubte er, ein rötliches Leuchten gesehen zu haben. Ungläubig machte er sich auf den Weg. Mit dem Sattel schwer beladen kämpfte er gegen die Übermacht des Sturmes an. Er hatte sich nicht geirrt. Das Licht gab es tatsächlich, nur der Ort, wo es schien, verwunderte ihn sehr – das höchste Fenster des Turmes.
Er erreichte das Gemäuer, legte seinen Sattel ab, um den verborgenen Eingang zu finden. Umsonst bei der Tiefe der Finsternis. Nicht einmal das Abtasten mit den Händen brachte ein Ergebnis. Überall Mauern. Also stellte er sich unter das Fenster und schrie gegen Sturm und Donner an: „Hallo! Ist da jemand?“
Statt einer Antwort wurde ihm ein dickes Tau zugeworfen, welches aus einem seidigen Material geflochten war und anziehend duftete. Ohne zu überlegen, hangelte sich Gero empor. Er hatte nur noch einen Wunsch – raus aus Nässe und Kälte, egal wie.
Schnell erreichte er das Fenster. Kaum stand er mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Turmkammer, zog ihm der unsichtbare Retter das Seil aus den klammen Fingern. Höchst verwundert schaute sich König Gero um.
Im Kamin brannte ein wärmendes Feuer, zwei Becher mit heißem Tee standen auf einem kleinen Tisch bereit. Ein Himmelbett und eine bunte Truhe vervollständigten die Inneneinrichtung. Gero streckte seine Hände dem Feuer entgegen. Die feuchte Kleidung klebte unangenehm am Körper.
Etwas verstört schaute er sich noch einmal um. „Wo bist du?“, murmelte er.
„Ich bin hier“, flüsterte es hinter ihm. Die schmale Tür hatte er im Zwielicht glatt übersehen. Zwei große grüne Augen in einem schmalen, blassen Gesicht schauten ihn neugierig an. Ein zierliches Geschöpf mit seidigem rotem Haar, das mehrfach geflochten wie ein Umhang über seinen Rücken fiel, trat ins Zimmer.
Gero fühlte einen Stich im Herzen. „Wer bist du? Warum hast du dich versteckt?“
„Ich heiße Miriam.“ Sie trat noch einen Schritt näher. „Ich habe dir ein heißes Bad bereitet. Komm.“
Gero folgte ihr nur zu gern, alle Vorsicht vergessend. Er streifte sein Wams und sein Hemd ab. Miriam machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Unverwandt schaute sie ihm zu. „Lebst du schon lange hier?“, fragte Gero.
„Schon immer“, kam prompt die Antwort.
„Und seit wann ist dieses Immer?“, wollte er nun doch etwas genauer wissen.
Miriam hob hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war noch zu klein, als man mich hierher brachte, um mich daran erinnern zu können.“
Gero hatte inzwischen Stiefel und Hose ausgezogen. Nur mit einer knappen Unterhose bekleidet wartete er eigentlich darauf, dass sie gehen würde. „Gut, fragen wir anders: Wie alt bist du jetzt?“
„Zwanzig.“ Sie schaute ihn wieder mit einem jener Blicke an, die ihm wohlige Schauer über den Rücken jagten. ‚Sie ist sicher alt genug, um nicht in Ohnmacht zu fallen, wenn sie einen nackten Mann sieht’, dachte er sich, als er seine Unterhose ablegte.
Miriam machte eine überraschte Bewegung. Dann hob sie seine nasse Kleidung auf, um sie zum Trocknen vor den Kamin zu hängen. Gero schloss die Augen. Das Bad tat ihm eindeutig gut. Er seufzte und hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken.
„Du bist sicher sehr müde“, hörte er Miriams Stimme an seinem Ohr. Er hatte nicht bemerkt, dass sie wieder hereingekommen war. Gero nickte. „Dann werde ich mein Bett mit dir teilen“, sagte Miriam.
Geros Herz machte einen Sprung. Dabei war er mittlerweile ziemlich überzeugt, dass ihr niemand die Sache mit den Blümchen und Bienchen erklärt hatte. Es war nicht einmal klar, ob sie vorher gewusst hatte, dass es gewisse Unterschiede zwischen Männern und Frauen gab. Ihr erstaunter Blick war ziemlich eindeutig gewesen. Egal, er sehnte sich einfach danach, diese Frau in seinen Armen zu halten. Und ganz sicher gab es keinen besseren Ort dafür, als ein Bett.
Draußen tobte noch immer das Unwetter, Blitze zuckten und das Donnergrollen erschütterte den ganzen Turm. Gero hatte Mühe seine offensichtliche Vorfreude unter dem Handtuch zu verbergen, welches er sich um die Hüfte schlang.
Kaum im Bett, war er derjenige, der große Augen machte. Was unter Miriams langem Kleid zum Vorschein kam, machte Appetit auf mehr. Knallrote Spitzendessous und Seidenstrümpfe. Mit schnell wachsender Begeisterung beobachtete der König die Frau seiner Begierde, die so herrlich unschuldig und völlig arglos war. Bevor sie BH und Slip ablegen konnte, zog er sie ins Bett.
Die Decke, nur für eine Person gedacht, veranlasste Miriam, sich eng in Geros Arme zu schmiegen. Gero atmete den Duft ihres Haares und begriff, auf welche Weise sie ihn zu sich geholt hatte. Er begann sanft ihren heißen Körper zu streicheln, brachte es aber nicht über das Herz, mehr zu verlangen. Wie ein Schuft hätte er sich gefühlt, hätte er ihre völlige Ahnungslosigkeit ausgenutzt.
„Ich muss dich wiedersehen“, flüsterte er.
„Dann komm morgen Nacht zu mir. Ich werde dich erwarten“, entgegnete sie leise, bevor ihr ein schier endloser Kuss den Atem nahm. In seinen Armen schlief sie ein. Noch vor dem Morgengrauen weckte sie ihn. „Du musst gehen“, bat sie ihn, wobei sie immer wieder nervös zum Fenster spähte.
„Was ist passiert?“
„Meine Stiefmutter wird gleich hier sein. Sie darf dich nicht finden. Bitte geh jetzt und komm heute Nacht wieder.“ Miriam löste ihr wundervolles rotes Haar, knotete es einmal um das Fensterkreuz, dann warf sie den Zopf in die Tiefe.
Gero drückte sie noch einmal liebevoll an sich, dann glitt er rasch an ihrem Haar an der Mauer hinunter. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, war der Zopf wieder verschwunden und der Turm sah aus wie eh und je.
Gero griff seinen Sattel, dann beeilte er sich, möglichst weit vom Turm wegzukommen, ehe die Sonne aufging. Miriam schien wahnsinnige Angst vor ihrer Stiefmutter zu haben. Sie hatte nicht einmal nach seinem Namen gefragt, um ihn nicht zufällig zu gefährden.
Irgendwann gabelte ihn ein Suchtrupp auf, der schon die ganze Nacht die Wälder durchkämmt hatte, nachdem sein Pferd ohne Reiter und Zaumzeug zum Schloss zurückgekehrt war.
„Wo warst du denn?“, fragte sein Berater und Freund Tamik.
„Uninteressant“, winkte Gero ab. „Kümmere dich lieber, wo und warum in den letzten zwanzig Jahren plötzlich ein kleines rothaariges Mädchen verschwunden ist. Na mach schon!“, herrschte er ihn an, als Tamik vor Staunen der Mund offenblieb.
Den großen Rest des Tages war er nicht zu sprechen. Gero träumte. Von Miriam, ihrem fast zerbrechlich wirkenden schlanken Körper, an dem ansprechende Rundungen trotzdem an genau den richtigen Stellen saßen und von dem, was er unter aufreizend roter Spitze im Verborgenen gelassen hatte.
Mit dem Sonnenuntergang ritt er auf einem schwarzen Pferd vom Hof, eingehüllt in einen ebenfalls schwarzen Umhang. Kaum lag das Tor hinter ihm, trieb er das Tier im Galopp die Wege entlang. Er band es vor dem Turm mit langem Zügel an einen Strauch.
„Miriam! Miriam!“, rief er mit Herzklopfen.
Einen Augenblick später stieg er schon an ihrem Zopf hinauf in ihr Zimmer. Miriams Augen leuchteten wie zwei smaragdgrüne Sterne, als sie sich in seine Arme warf.
Bevor Gero einen klaren Gedanken fassen konnte, ließ sie schon ihr Kleid von den Schultern gleiten. „Rot ist meine Lieblingsfarbe“, hauchte sie, als er seinen Blick über ihren Körper huschen ließ.
„Ich glaube, meine auch.“ Er streifte ihr sacht den letzten schützenden Stoff vom Körper. In dieser Nacht nahm Gero alles, was sie ihm gab. Von nun an kam er Nacht für Nacht zu ihrem Turm. Bis er eines Abends vergeblich ihren Namen rief.
Miriam war verschwunden. Gero ließ den vermauerten Zugang zum Turmzimmer abreißen. Kaum hatten sich die Staubwolken verzogen, eilte er die Wendeltreppe hinauf. Das Turmzimmer war leer, als hätte Miriam nie existiert. Kein Kamin, keine Möbel, nichts.
„Was suchst du hier eigentlich?“, fragte Tamik.
„Antworten“, entgegnete Gero voller Sorge. Wohin mochte die alte Hexe ihre Stieftochter wohl gebracht haben? Nicht einmal seine besten Spione konnten herausfinden, wer oder wo die rothaarige Schönheit war. In seinem ganzen Reich hatten sie vergeblich geforscht. Genau so wenig konnten ihm jemand sagen, was nun mit ihr geschehen war. Miriam war und blieb verschwunden.
Fünf Monate voller Sorge. Gero stürzte sich geradezu verbissen in die Staatsgeschäfte, aber auch das ließ ihn seine geheimnisvolle Liebe in Rot nicht vergessen.
Heute war wieder einer jener Tage, an denen er Recht sprach. Im Hof drängten sich die Menschen. Tumult drang herauf.
„Was ist da unten für ein Auflauf?“, fragte Gero, während er sich aus dem Fenster beugte.
„Man hat eine Bettlerin in der Stadt aufgegriffen.“
Gero runzelte die Stirn. „Betteln ist doch kein Verbrechen.“
Tamik nickte. „Betteln nicht. Diebstahl schon. Sie hatte diesen Ring bei sich, den ihr angeblich jemand geschenkt haben will.“ Er öffnete seine Hand.
Gero zuckte zusammen. „Welche Farbe hat ihr Haar?“
„Brandrot. Warum fragst du?“ Tamik kam nicht mehr dazu, sich zu wundern.
Gero riss ihm den Ring aus der Hand, stürzte zum Balkon. „Hände weg von dieser Frau!“, schrie er. Dann sprang er vom Balkon von Sims zu Sims, bis er fast vor ihren Füßen auf dem Pflaster des Hofes landete. Ehrfürchtig machte man ihm Platz. „Miriam.“
Die Frau gab einen erstickten Laut von sich, als sie ihn erkannte, dann brach sie zusammen.
Gero fing sie auf. „Holt meinen Leibarzt! Aber plötzlich!“ Er trug sie in die Halle seines Schlosses. Dabei entging ihm nicht die verräterische Wölbung unter ihrem Kleid. Vorsichtig legte er sie auf eine der Polsterbänke. Als der Doktor endlich erschien, schlug sie gerade wieder die Augen auf.
Geros Leibarzt fühlte ihren Puls, schaute ihr tief in die Augen und kam zu dem Schluss: „Majestät, sie ist kerngesund und unübersehbar schwanger.“
„Majestät?“, hauchte Miriam verstört, während sie mit großen Augen Gero anschaute.
Er zog sie in seine Arme. „Du hast mich nie gefragt. Ich bin wirklich Gero und das, was der Doktor so treffend als unübersehbar schwanger klassifizierte, dürfte ein kleines Königskind sein.“ Er streifte ihr noch einmal den Ring über den Finger, den er ihr als Pfand seiner Liebe vor fast fünf Monaten geschenkt hatte.
„Was geschieht nun mit mir?“, fragte sie mit flehendem Blick.
Gero küsste ihre Stirn. „Das, was ich die ganze Zeit schon machen wollte. Ich heirate dich.“ Er kniete vor ihr nieder. „Willst du meine Frau werden?“
„Ich will! Ich will!“ Miriam lachte und weinte zugleich.
„Eine Bedingung habe ich“, warf Gero ein.
Miriam erschrak. „Wenn ich sie erfüllen kann“, murmelte sie verunsichert.
Gero drückte sie zärtlich an sich: „Dein Brautkleid soll knallrot sein, na, du weißt schon wie.“
Dina hatte es nicht leicht mit ihrem Vater, dem Gastwirt zum „Roten Hahn“. Jedes Mal, wenn der einen über den Durst getrunken hatte, begann er mit Ausdauer Unsinn zu reden. Dann wurde die nahe Mühle zu einem Ungeheuer oder in ihr passierten seltsame Dinge.
Diesmal saß der ganze Schankraum voller fremder Männer. Dina eilte mit ihren Krügen flink von Tisch zu Tisch, um alle bestmöglich zufriedenzustellen. Denn die Kleidung der Herren ließ vermuten, dass sie eher im Schloss, als auf dem Marktplatz zu Hause waren. Hin und wieder spendierte einer dem Wirt einen Krug Bier oder ein Glas Branntwein.
Und dann passierte wieder genau das, was Dina schon zitternd erwartete – ihr Vater fing an, seine Lügengeschichten zu erfinden. Die Bauern aus der Nachbarschaft suchten eilends das Weite, denn irgendwie roch es nach Ärger. Dina wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Eigentlich war es nur ihrer Schönheit und Anmut zu verdanken, dass überhaupt noch einer der jungen Männer aus dem Dorf in den „Roten Hahn“ kam.
Zuerst lachten die Fremden über die verrückten Geschichten des Wirtes, doch bald hörten sie ihm aufmerksam zu, denn hinter jeder Lüge steckte irgendwo ein Körnchen Wahrheit. Dina kam aus dem Keller, woher sie soeben einen Krug Rotwein geholt hatte.
„Natürlich kann sie das. Ich schwöre“, hörte sie ihren Vater mit trunkener Stimme lallen. „Sie kann es, ich sage Euch, sie kann es.“
Dina nahm ihn am Arm. „Vater bitte, du redest dich noch um Kopf und Kragen“, flüsterte sie. „Hör bitte auf.“
Der Wirt riss sich los. „Kann doch jeder wissen, dass du aus Stroh mohnrote Seidenfäden spinnen kannst.“ Dann fiel er auf einen Stuhl und schlief ein.
Es war still geworden. Aller Augen waren auf das blonde Mädchen gerichtet, das völlig verzweifelt die Hände rang.
„So, so, du kannst also Stroh zu roter Seide spinnen?“, fragte einer der Männer.
„Nein, mein Herr, das kann ich nicht“, entgegnete sie leise.
Er ging langsam um sie herum, ihr hübsches Gesicht und den schlanken Körper aufmerksam betrachtend. Die Kleine gefiel ihm. Dina hatte die Augen niedergeschlagen, so entging ihr völlig das Interesse des gut aussehenden überaus reich gekleideten Edelmannes. „Dein Vater hat es aber geschworen.“
Er ging noch einmal um sie herum, wobei er leicht ihre Schulter berührte. Dina erschrak. Das Kleid, welches sie trug, war aus fast blutroter Seide genäht und auch die rot karierten Tischdecken der Wirtschaft hatten einen Rand aus ebensolchem Material.
„Egal“, sprach der Fremde, „hat dein Vater gelogen, dann wird er im Kerker verrotten, wenn nicht, dann mache ich dich zu meiner Frau.“ Er warf ihr einen Beutel Silbermünzen zu, um die Zeche zu begleichen.
Dina brachte das Geld in eine Truhe. Die Schankstube leerte sich.
„Nehmt sie mit“, befahl der edle Herr. „Alle beide.“
„Nein, so habt doch Erbarmen“, flehte das junge Mädchen – umsonst.
Einer der Reiter warf den volltrunkenen Wirt vor sich quer über das Pferd, ein anderer hob Dina auf sein Tier. Sicher hielt er sie im Arm, während sie im Galopp über die Wiesen dem Schloss entgegen ritten. „Es liegt ganz an dir, wie die Geschichte endet“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Dina schluchzte auf. Sie konnte es ja nicht einmal mit Schafwolle, wie sollte sie dann ausgerechnet Stroh zu Seide spinnen?
Auf dem Schlosshof ließ der Reiter Dina vom Pferd gleiten. An die anderen gewandt rief er: „Werft ihn in den Hungerturm, sie bringt ihr in das kleine Verlies an der Zugbrücke.“
„Sehr wohl Majestät“, antworteten die Diener und beeilten sich, seine Order zu erfüllen.
„Der König“, hauchte die Tochter des Wirtes erbleichend. „Diesmal ist Vater eindeutig zu weit gegangen und ich werde ihm nicht helfen können.“
„Damit wirst du wohl recht haben“, antwortete ihr der Kerkermeister. „Sei froh, dass du nicht das Schicksal deines Vaters teilen musst. Noch nicht.“ Er verschloss hinter ihr die schwere Eisentür.
Man brachte ihr ein Spinnrad und mehrere Bündel Stroh. Bis tief in die Nacht war das herzzerreißende Schluchzen an der Zugbrücke zu hören. Mit Glockenschlag Mitternacht raschelte es in Dinas Verlies. Sofort wurde sie still, sie lauschte.
Ein meckerndes Lachen ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren. Auf dem Schemel des Spinnrades saß ein kicherndes Männlein mit grauem Bart. „Stroh zu roter Seide, wie witzig“, brabbelte es vor sich hin, drehte sich abrupt zu Dina um, taxierte sie: „Na Süße, ein kleines Wunder gefällig?“
Ihre Antwort war eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln.
Dem Gnom traten vor Lachen die Tränen in die Augen. „Willst du deinen Vater retten oder nicht?“
„Ich will es ja, aber ich kann es nicht“, murmelte Dina.
„Vielleicht greife ich dir ja ein wenig unter die Arme. Natürlich am liebsten von hinten.“ Er leckte sich die wulstigen Lippen und kicherte widerlich.
Das zitternde Mädchen presste sich so heftig an die Wand, dass es schon an Wunder grenzte, dass sie darin keinen Abdruck hinterließ. „Was willst du dafür haben?“, fragte es scheu.
Der Zwerg sprang von seinem Sitz. Ganz langsam kam er auf sie zu, streckte die dünnen Spinnenfinger aus und zog das kleine goldene Medaillon aus ihrem Ausschnitt, welches ihr einst ihre Großmutter geschenkt hatte.
„Nimm es“, flüsterte sie.
Das Männlein ließ es in seiner Tasche verschwinden, setzte sich ans Spinnrad und begann, seltsame Worte zu murmeln. Vor Dinas Augen bildete sich ein roter Strudel. Dass sie zu Boden stürzte, merkte sie nicht mehr.
Ein heftiges Rütteln an der Schulter weckte sie. Der Kopf schmerzte, ihr war übel und nur ganz langsam kam die Erinnerung wieder. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Neben ihr auf dem Boden lagen vier Spulen mit dem feinsten Seidenfaden in leuchtendem Rot. Jede Mohnblume wäre vor Neid erblasst.
Dina hatte erwartet, dass man sie und ihren Vater nun freilassen würde. Stattdessen brachte man einen Webstuhl in ihren Kerker.
„Bis übermorgen früh webst du aus der Seide einen ganzen Ballen Stoff oder dein Vater wird es büßen“, hieß der Befehl.
Dina weinte sich wieder in den Schlaf und erneut erschien pünktlich um Mitternacht der Zwerg. „Na mein Schatz, was darf ich diesmal für dich tun?“
„Nichts, denn ich kann dir nichts mehr geben“, sagte die Wirtstochter mit tonloser Stimme.
Mit gierig funkelnden Augen spazierte das Männlein vor ihr auf und ab. „Wie wäre es, wenn du als Gegenleistung deine Hochzeitsnacht mit mir verbringst?“
„Niemals!“ Dina wurde übel bei dem Gedanken, dass dann diese dürren Spinnenfinger oder gar diese wulstigen Lippen über ihren Körper wandern würden.
„Hast du eine andere Wahl?“, zischte der Kleine giftig. „Willst du nun deinen nutzlosen Alten befreien, oder nicht? Kannst du mir sagen, wie ich heiße, dann lasse ich dich in Ruhe. Ich gebe dir bis morgen Zeit für die Antwort.“ Im selben Augenblick war er verschwunden.
Stattdessen machte es vor dem vergitterten Fenster: „Pst, pst, pst.“
Dina spähte vorsichtig hinaus. Im schlammigen Wasser des breiten Grabens unter der Zugbrücke, verborgen hinter Gestrüpp, tauchte Mario, der Müller, auf. „Ich habe gehört, weshalb man euch mitgenommen hat. Ich möchte dir helfen.“
Dina klagte ihm ihr Leid und auch, was der hässliche Zwerg verlangte.
„Na verstehen kann ich ihn schon“, murmelte Mario. Eine Nacht bei der Schönen zu liegen hätte ihm auch nicht schlecht gefallen.
„Was hast du gesagt?“, fragte Dina.
„Dass ich mich sofort auf die Suche nach dem Männlein mache“, entgegnete Mario geistesgegenwärtig.
Er kletterte die Böschung hinauf und verschwand in der Nacht. „Ausgerechnet die Hochzeitsnacht mit ihr verbringen, das könnte dem Lustmolch so passen“, brummte er verstimmt. Schnurstracks suchte er die alte Kräuterfrau auf, die um diese frühe Stunde meist schon auf den Beinen war.
„Du suchst also das Zaubermännlein“, sinnierte sie. „Ja, ja, von dem hab ich schon gehört. Der soll ganz oben in den Bergen hausen. Nur seinen Namen, den kennt wohl niemand. Es heißt, dass der, der den Namen ausspricht, drei Wünsche frei hat.“
Mario bedankte sich und versprach ihr einen halben Sack vom feinsten Mehl, auch wenn er das Männlein nicht finden sollte.
Mit ein wenig Mundvorrat zog er ins Gebirge. Mittags, als die Sonne das Land unter Glut fast erstarren ließ, hörte er vor sich ein widerliches Kichern. Vorsichtig spähte er über einen Felsblock.
In einer Mulde tanzte ein Zwerg um ein Feuer und sang: „Heute back ich, morgen brau ich und übermorgen mach ich der Königsbraut ein Kind. Ach wie gut das niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“
„Mistkerl“, quetschte Mario zwischen den Zähnen hervor. „Das werde ich zu verhindern wissen.“
Noch vor Mitternacht erreichte er Dinas Verlies. Flüsternd berichtete er, was er erlebt und gehört hatte. Als er wieder ging, bat er traurig. „Vergiss mich nicht ganz, wenn du Königin bist. Lebewohl.“
Augenblicke später erschien der Gnom, gut gelaunt und kichernd wie immer. „Nuuun???“ Er dehnte die Frage genüsslich.“
Dina hob resigniert die Hände. „Ich hab doch wirklich keine Wahl. Ich werde die Nacht mit dir verbringen.“
Der Zwerg machte einen Freudensprung und begann, wie der Teufel zu weben. Bald lag ein Riesenballen roten Seidenstoffes vor ihm. „Na, wie bin ich?“
„Rumpelstilzchen, du bist der Größte“, antwortete sie leichthin.
Dem Männlein quollen fast die Augen aus dem Kopf. „Das hat dir der Satan gesagt!!!“, heulte es schrill. „Das hat dir der Satan gesagt!“
„Vielleicht.“ Dina trat auf ihn zu, fasste ihn im Genick. „Und nun zu meinen drei Wünschen.“
Rumpelstilzchen hatte vor Wut Schaum vor dem Mund. „Ich höre.“
„Erstens: Du bringst meinen Vater nach Hause. Zweitens: Du bringst mich zu Mario in die Mühle und drittens: Du gibst dem König eine Frau, die ihn von früh bis spät herumkommandiert und der er nichts recht machen kann.“
„Ich gehorche“, würgte das Männlein hervor.
Dina wurde schwarz vor Augen. Es blieb auch schwarz, als sie sie wieder öffnete.
Nur eine völlig verwunderte Stimme rief. „He, was machst du in meinem Bett?“ Dann wurde eine Kerze angezündet.
„Dina???“
„Mario? Dann haben meine drei Wünsche tatsächlich funktioniert“, jubelte die Wirtstochter überglücklich.
Mario zog sie in seine Arme. „Heißt das, dass nun ich die Hochzeitsnacht mit dir verbringen kann?“
„Gern, du musst mich vorher nur heiraten“, lachte Dina. „Lieber sieben Tage die Woche schneeweißes Mehl, als noch ein einziges Mal mohnrote Seide.“ Sie zog sich vor dem verblüfften Müller nackt aus, warf ihre Kleider in die noch glimmende Asche des Kamins, wo sie sofort Feuer fingen und restlos verbrannten. Dann kuschelte sie sich zu ihm unter die Decke. „Und denke daran, das, was Rumpelstilzchen vor hatte, gibt es wirklich erst in der Hochzeitsnacht.“
„Versprochen“, schmunzelte Mario. „Bis dahin passe ich eben auf.“
Mitten in der Nacht schreckte Bernd schweißgebadet aus dem Schlaf. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich ein paar Haare aus der Stirn. Der Albtraum war ziemlich real gewesen. In ihm hatte er den schrecklichsten aller Schrecken gesehen, nämlich, dass er mitten auf einer belebten Straße seine Arbeitsmappe mit unzähligen Spickzetteln von Kundendaten fallen ließ.
Die kleinen Blättchen hatten sich wie ein bunter Teppich auf dem Asphalt verteilt, ehe sie ein Windstoß in alle Richtungen davon wirbelte. Eine wahre Katastrophe für den erfolgreichen Makler von Amrum.
Nun atmete er ein paar Mal tief durch, schwang die Beine aus dem Bett, um die trocken gewordene Kehle mit einem Schluck Mineralwasser zu befeuchten. Als er den Kühlschrank öffnete, hatte sich sein Herzschlag schon wieder normalisiert.
„Vielleicht sollte ich ein paar Tage Urlaub machen, ausspannen, wegfahren, den Kopf frei kriegen“, murmelte er nachdenklich. „Irgendwann falle ich tot um, überarbeitet, als Sklave meiner selbst und der Karriere.“ Er stellte die