Mina Hofstetter - Peter Moser - E-Book

Mina Hofstetter E-Book

Peter Moser

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Beschreibung

Bäuerinnen schreiben keine Texte und hinterlassen deshalb kaum schriftliche Quellen – das ist eine auch unter Historiker:innen weit verbreitete Vorstellung. Das heißt aber nicht, dass Bäuerinnen und andere in der Landwirtschaft tätige Frauen keine Quellen produzierten, die erhalten blieben. Ein Beispiel dafür ist die Bäuerin Mina Hofstetter, die ihre Ernährung in den frühen 1920er-Jahren auf Rohkost umstellte, ihren Betrieb am Greifensee deshalb viehlos bewirtschaftete und ein großes Engagement für den Biolandbau an den Tag legte. Viel von dem, was wir heute über Mina Hofstetters Tätigkeiten, Wahrnehmungen und Deutungen wissen, basiert auf ihren Texten. In den 1930er-Jahren baute sie den Hof ihrer Familie am Greifensee in der Schweiz zu einer Lehrstätte für biologischen Landbau aus und empfing bis Anfang der 1950er-Jahre Gäste aus aller Welt, die sich für ihre Bewirtschaftungsform interessierten und teils auf dem Hof mitwirkten. Zudem hielt Mina Hofstetter Vorträge in vielen europäischen Ländern, korrespondierte mit Behörden, Naturwissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen. Die Veröffentlichung ihrer Texte soll eine Grundlage für eine reflektierte(re) Auseinandersetzung mit dieser eigensinnigen, gut vernetzten Bäuerin und den ihr wichtigen Themen schaffen und an ihrem Beispiel zeigen, welchen Veränderungsprozessen die bäuerliche Bevölkerung zu ihrer Zeit ausgesetzt war.

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Seitenzahl: 588

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Peter Moser

Mina Hofstetter

Eine ökofeministische Pionierin des biologischen Landbaus. Texte und Korrespondenz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2024 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München +49 89 544184 – 200

www.oekom.de

Layout und Satz: oekom verlag

Umschlaggestaltung: Laura Denke, oekom verlag

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783987263927

DOI: //doi.org/10.14512/9783987263019

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Cover

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Inhaltsverzeichnis

Hauptteil

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Rekonstruktion und Kontextualisierung eines »virtuellen« Nachlasses

Teil 1:

»Das muss ein Leben werden!«: Eine biografische Skizze

Kindheit, Familiengründung und Erwerb des Hofes Stuhlen

Betriebsleiterin auf dem Hof Stuhlen 1915–1950

Ernährungsreform und viehloser Biolandbau

Lehrstätte für biologischen Landbau

Stuhlen als Versuchsbetrieb

Ökofeministin avant la lettre – Hofstetters Engagement in der Öffentlichkeit

Zum Potential von Mina Hofstetter für die Geschichtsschreibung und Geschlechterforschung

Teil 2:

Korrespondenz, Manuskripte und publizierte Texte von Mina Hofstetter 1923–1952

Unveröffentlichte Texte

Publizierte Texte

Anhang

Editorische Richtlinien

Presseberichte zu Mina Hofstetter 1923–1967

Quellen und Literatur

Bibliografie

Personenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Index

Anmerkungen

Vorwort

Frauen sind für das Funktionieren bäuerlicher Betriebe unentbehrlich.1 Insbesondere Bäuerinnen waren, anders als die staatlich‐verbandlichen Agrarstatistiken suggerieren, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Dreh‐ und Angelpunkte der Arbeit auf den Höfen. Das wird nicht zuletzt anhand der schriftlichen, fotografischen und audiovisuellen Dokumente ersichtlich, die das Archiv für Agrargeschichte (AfA) in den letzten zwei Jahrzehnten eruiert, erschlossen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Um das Potential dieser Quellen für die Geschichtsschreibung und die Geschlechterforschung bekannter zu machen, publizieren wir eine Auswahl von Texten, die Bäuerinnen aus drei unterschiedlichen Sprachräumen von den 1920er bis in die 1960er Jahre verfasst haben, in schriftlicher und elektronischer Form. Der erste Band2 enthält Texte von Augusta Gillabert‐Randin (1869–1940), die als Gründerin der Association des Productrices de Moudon und als Vorkämpferin für das Stimm‐ und Wahlrecht der Frauen in der Schweiz in der Zwischenkriegszeit weit über die Romandie hinaus bekannt wurde. Die vorliegende Edition umfasst Texte von Mina Hofstetter‐Lehner (1883–1967). Vervollständigt wird die Trilogie mit der geplanten Publikation der Texte und Korrespondenz von Elizabeth Bobbet (1897–1971), einer Bäuerin, die von den 1920er bis in die 1960er Jahre in der irischen Grafschaft Wicklow einen Hof bewirtschaftete und als Generalsekretärin der Irish Farmers’ Federation während drei Jahrzehnten auch in der Öffentlichkeit wirkte. Zudem veröffentlichen wir in unseren Online‐Portalen (www.agrararchiv.ch) laufend neu erschlossene filmische und fotografische Quellen zu den Aktivitäten von Bäuerinnen.

Mina Hofstetter‐Lehner war eine Pionierin des biologischen Landbaus, die in den frühen 1920er Jahren ihre Ernährung auf Rohkost ausrichtete und danach ihren Betrieb auf eine viehlose Bewirtschaftung umstellte. In den 1930er Jahren machte sie aus ihrem Hof am Greifensee eine „Lehrstätte für biologischen Landbau“, die Menschen aus allen Kontinenten besuchten. Zudem spielte die Bäuerin in der international tätigen Women‘s Organisation for World Order (WOWO) eine wichtige Rolle.3 Von Mina Hofstetter gibt es zwar keinen eigentlichen Nachlass, aber Quellen, die ihr Wirken dokumentieren und ihre Überlegungen nachvollziehbar machen, finden sich in Archivbeständen von Institutionen und Personen, die in Archiven und Bibliotheken in Kanada, England, Schweden, Österreich und der Schweiz aufbewahrt werden.

Die Eruierung, Erschliessung und Publikation von Quellen, die in so unterschiedlichen Institutionen an so vielen Orten aufbewahrt werden wie diejenigen von Mina Hofstetter, ist nicht nur eine langwierige, sondern auch eine kollektive Angelegenheit. Am Zustandekommen der vorliegenden Edition waren denn auch viele beteiligt, deren Interesse und Hilfe zu verdanken sind. An der Suche, Identifikation oder Transkription von Mina Hofstetters Texten und Manuskripten beteiligt waren Rachel Agnetti, Juri Auderset, Olivier Felber, Roselyne Marbacher, Clara Müller, Annette Schär, Otto Schmid, Claudia Schreiber, Ira Spieker, Ursi Trüb und Andreas Wigger. Hilfreich waren auch die Nachkommen von Mina Hofstetter, Elisabeth Schär‐Hofstetter, Werner Hofstetter, Rosmarie Kappenthuler, Ursi Piantone und Evi Notz. Ein grosser Dank gebührt zudem den Archiven und Bibliotheken, die Unterlagen von Mina Hofstetter aufbewahren und die Einwilligung zu deren Publikation in dieser Edition erteilt haben: Die Women’s Library der London School of Economics, das ETH‐Archiv, das Schweizerische Sozialarchiv, das Staatsarchiv Zürich, das Gosteli‐Archiv, das Schweizerische Bundesarchiv, das Schweizerische Literaturarchiv, die österreichische Nationalbibliothek und das Vancouver Holocaust Memorial Centre. Besonders hilfreich war Sanna Hellgren von der KvinnSam, Gothenburg University Library, wo der Nachlass der ökofeministischen Schriftstellerin Elin Wägner – und damit auch ein Teil der Korrespondenz von Mina Hofstetter – aufbewahrt wird. Judith Aebli, Max Baumann, Jennifer Roosma und Ernst Grabovski haben freundlicherweise Abbildungen zur Verfügung gestellt.

Einleitung

Seit dem 19. Jahrhundert wird das bäuerliche Leben sowohl von lokalen Eigenheiten als auch von Einflüssen geprägt, die von außerhalb der Betriebe kommen. Die Arbeit und das Leben auf den Höfen hängen seither ebenso von den je ganz spezifischen Formen des Bodens, des Klimas, der Topographie wie auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen, transnationalen Handelsbeziehungen und wachstumsorientierten Interventionen von Staaten ab. Das gilt auch für das Leben von Mina Hofstetter, der Autorin der in dieser Edition erstmals publizierten Texte. Aber sie versuchte auch selbst, das bäuerliche Leben zu beeinflussen. Und zwar sowohl auf ihrem Betrieb am Greifensee als auch durch die Publikation von Texten und das Halten von Vorträgen im In‐ und Ausland. Mina Hofstetter war deshalb nicht nur ein Kind ihrer Zeit und der Verhältnisse auf ihrem Hof Stuhlen, sondern prägte und veränderte diese auch immer wieder. Das macht sie nicht nur zu einer interessanten Bäuerin, sondern auch einer für die Geschichtsschreibung relevanten Akteurin.

Rekonstruktion und Kontextualisierung eines »virtuellen« Nachlasses

Bäuerinnen schreiben keine Texte und hinterlassen deshalb kaum schriftliche Quellen. Das ist eine auch unter Historiker:innen weit verbreitete Vorstellung. Damit wird auch erklärt, weshalb sich die Geschichtsschreibung in der Regel schwertut mit der Thematisierung von Akteurinnen, die sich weder als Haus‐ noch als Geschäftsfrauen verstanden, aber beides zugleich waren.

Bäuerinnen hinterließen in der Tat kaum je schriftliche Nachlässe wie das bei Angehörigen des Bildungsbürgertums oder des Adels zuweilen der Fall war. Das heißt aber nicht, dass Bäuerinnen und andere in der Landwirtschaft tätige Frauen keine Quellen produzierten, die erhalten blieben. Ein Beispiel dafür ist die Bäuerin Mina Hofstetter, die ihre Ernährung in den frühen 1920er‐Jahren auf Rohkost umstellte und deshalb ihren Betrieb am Greifensee viehlos zu bewirtschaften begann. Zwar hinterließ auch Mina Hofstetter keinen eigentlichen Nachlass. Trotzdem wissen wir aufgrund von schriftlichen Quellen, die sie produzierte, einiges über ihre Wahrnehmung der Welt und ihre vielfältigen Aktivitäten. Diese Quellen werden aber nicht, wie die Nachlässe von Personen aus dem Adel und dem Bürgertum, in spezialisierten staatlichen Institutionen als in sich geschlossener Archivbestand oder in einem privaten Familienarchiv aufbewahrt. Als wir uns Mitte der 1990er‐Jahre erstmals für das Wirken von Mina Hofstetter zu interessieren begannen, waren im Haushalt ihres Sohnes Werner, der den Betrieb von seiner Mutter übernommen hatte, lediglich noch ein paar Postkarten und Fotografien, eine kurze Filmsequenz sowie das Manuskript eines unveröffentlichten Textes vorhanden.4 Und Bioterra, die Organisation, die 1947 auf Hofstetters Hof gegründet worden war, bewahrte außer einigen Fotos überhaupt keine Unterlagen auf, die Mina Hofstetters Engagement dokumentierten.

Abbildung 1 Mina Hofstetter mit Weizen, den sie dünn gesät, von Hand versetzt und gehäufelt hatte.

Aber im Fall von Mina Hofstetter zeigte sich, wie in so vielen anderen auch, dass sehr wohl noch schriftliche Unterlagen vorhanden sind. Doch diese befinden sich räumlich‐institutionell weit zerstreut in Archivbeständen und Publikationen von Personen und Institutionen, mit denen sie in Kontakt stand. Die seit den späten 1990er‐Jahren dauernde Suche nach Quellen von und über Mina Hofstetter hat denn auch eine Vielfalt an Unterlagen zutage gefördert. Der historischen Forschung zugänglich sind diese Quellen mittlerweile in so unterschiedlichen, öffentlich zugänglichen Institutionen wie beispielsweise der Universitätsbibliothek in Göteborg, dem ETH‐Archiv in Zürich, dem Gosteli‐Archiv in Worblaufen, dem Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, der österreichischen Nationalbibliothek in Wien, dem Vancouver Holocaust Memorial Centre in Vancouver oder dem Archiv für Agrargeschichte in Bern. Die in der vorliegenden Edition erstmals veröffentlichten Briefe und Manuskripte sowie die reproduzierten Artikel und Broschüren, die Mina Hofstetter veröffentlicht hatte, bilden einen wichtigen Bestandteil ihres geografisch weit verzweigt existierenden virtuellen Nachlasses, dessen Vielfalt und Umfang im Moment noch gar nicht verlässlich abgeschätzt werden kann. Dass Unterlagen von und zu Mina Hofstetter nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen europäischen Ländern und in Nordamerika in Bibliotheken, Archivinstitutionen und bei Privaten aufbewahrt werden, ist eine Folge ihrer umfangreichen, transnational ausgerichteten Aktivitäten und Kontakte, die vielfältige, zuweilen aber schwierig zu findende und oft schwer zugängliche Spuren hinterlassen haben.

Das Ziel der Publikation der uns im Moment bekannten und zugänglichen Artikel, Manuskripte und Briefe von Mina Hofstetter ist ein doppeltes: Erstens wollen wir mit ihrer Veröffentlichung eine Grundlage für eine reflektierte(re) Auseinandersetzung mit dieser eigensinnigen, gut vernetzten Bäuerin und den ihr wichtigen Themen schaffen. Und zweitens hoffen wir, mit der Publikation dieser Quellen das Wirken von Mina Hofstetter bekannter zu machen, sodass weitere Quellen von ihr und über sie zu Tage gefördert werden. Denn wie fast immer bei der Archivierung von Quellen und der historischen Forschung handelt es sich auch beim vorliegenden Projekt lediglich um ein vorläufiges Resultat, das einen Prozess in Gang setzen und ausweiten, nicht abschließen soll.

Die in dieser Edition versammelten Texte schrieb Mina Hofstetter innerhalb von drei Jahrzehnten. Der erste stammt aus dem Jahr 1923, als die damals 40‐Jährige ihr siebtes und letztes Kind zur Welt brachte, der letzte entstand 1952, zwei Jahre nachdem sie den Hof ihrem Sohn und dessen Familie übergeben hatte. Die Texte sind in vier Gruppen eingeteilt und dort jeweils chronologisch strukturiert: 1. unveröffentlichte Briefe, 2. Manuskripte, 3. Artikel, 4. Broschüren. Über die konkreten Bedingungen, unter denen diese Briefe, Artikel und Broschüren entstanden sind, ist wenig bekannt. Was wir jedoch wissen ist, dass Mina Hofstetters Tage – wie diejenigen der meisten Bäuerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts5 – lang und arbeitsreich waren. Zudem gehörte das Schreiben auch für sie nicht zu denjenigen Aktivitäten, die einen unmittelbaren Beitrag zur Bestreitung ihres oft prekären Lebensunterhalts beitrugen. Den bestritt Mina Hofstetter mit der Bewirtschaftung des Hofes Stuhlen, auf dem sie nicht nur sieben Kinder großzog, sondern während drei Jahrzehnten auch Kurse zu Ernährungsfragen, der Freiwirtschaftslehre und dem viehlosen biologischen Landbau leitete. Ab Mitte der 1930er‐Jahre beherbergte sie zusammen mit ihrer jüngsten Tochter Elisabeth im »Erholungsheim Seeblick« zudem Gäste, die bei ihren Kuraufenthalten auf Stuhlen nicht nur Licht‐ und Luftbäder genossen, sondern sich auch mit Rohkost ernährten.

Aus den Einträgen im Gästebuch, das auf Stuhlen geführt wurde, wird deutlich, dass die Neugierigen, Wissensdurstigen und Erholungssuchenden aus Zürich, der übrigen Schweiz und ganz Europa sowie aus Afrika, Nordamerika und Asien stammten.6 Auf dem Hof lebten auch ihr Mann Ernst, die sieben Kinder, zwei Schwiegertöchter, zeitweilig auch ein Schwiegersohn sowie Schüler:innen, Praktikant:innen und Angestellte, die alle in den drei Hofstetter’schen Haushalten verpflegt wurden. Ernst Hofstetter, mit dem zusammen Mina 1915 den Hof in Ebmatingen erworben hatte, zog sich in der zweiten Hälfte der 1920er‐Jahre aus dem Landwirtschaftsbetrieb zurück. Gemeinsam mit dem ältesten Sohn Karl, der mit seiner Familie auch auf dem Hof wohnte, wirkte er fortan als Schreiner wieder in dem Beruf, den er ursprünglich erlernt und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ausgeübt hatte. Die Schreinerwerkstatt richteten Vater und Sohn im ehemaligen Stall des Hofes ein, der mit dem Übergang zu einer viehlosen Bewirtschaftung für die landwirtschaftlichen Tätigkeiten obsolet geworden war. Mitte der 1920er‐Jahre errichteten Hofstetters auf Stuhlen zudem ein einfaches, »Lichtwärts« genanntes Holzhaus, um den Kursteilnehmer:innen Möglichkeiten zum Luft‑, Licht‐ und Sonnenbaden zu schaffen. Und zehn Jahre später bauten Ernst und Karl Hofstetter oberhalb des Bauernhauses das »Erholungsheim Seeblick«, das von 1936 bis in die frühen 1950er‐Jahre als Unterkunft für die Teilnehmenden an den Kursen und die Feriengäste diente und danach von Mina und Ernst Hofstetter bis zu ihrem Tod 1967 bewohnt wurde.

Geschrieben hat Mina Hofstetter ihre Texte nach eigenen Angaben bei Regenwetter, im Winter, wenn der Boden brach lag, spät am Abend oder früh am Morgen, wenn die Kinder noch schliefen. »Am Tag räumen wir unsern Herbstsegen ein und am Abend mache [ich] Correspondenz und anderes und am Morgen von 3 Uhr an schreibe ich noch Schöpferisches«, teilte sie 1938 der schwedischen Schriftstellerin Elin Wägner mit.7 Hin und wieder konnte sie bei ihren Schreibarbeiten auf Unterstützung durch ihren Schwiegersohn, den ausgebildeten Primarlehrer Ernst Hadorn oder durch Praktikantinnen wie Jeanne Wuhrmann oder Julie Metzl zählen. Diese erledigten zeitweise einen Teil ihrer umfangreichen, heute aber weitgehend unbekannten Korrespondenz. Schriftlich formuliert habe sie ihre Überlegungen nicht um »Geld oder Gunst« zu erwerben, sondern um »mit Herzblut Errungenes, durch 30‐jährigen Existenzkampf, in unaussprechlichen körperlichen und seelischen Leiden erworbenes Wissen und Können« anderen mitzuteilen.8

Ökonomisch relevant war ihre Textproduktion für den Hofstetter’schen Betrieb insofern, als sie in Artikeln, die in Publikationsorganen der Lebensreform‐ und der Freiwirtschaftsbewegung erschienen, auch darauf hinweisen konnte, dass auf ihrem Hof Lebensmittel zu kaufen waren, Kurse stattfanden und später auch Urlaub gemacht werden konnte.9 Die von ihr verfassten Publikationen machten sie und ihren Hof in den Milieus, in denen ihre Texte Verbreitung fanden, bekannt und hatten zur Folge, dass sie eingeladen wurde, an Kongressen, Tagungen und Ausstellungen teilzunehmen, Referate zu halten und Kurse zu leiten. Die Überlegungen, die Mina Hofstetter bei solchen Gelegenheiten vortrug, verschriftlichte sie teilweise und publizierte sie in Periodika der Lebensreformbewegung oder eigenständigen Publikationen. Die 1928, 1942 und 1946/48 als Broschüren veröffentlichten längeren Texte enthalten deshalb auch viele Überlegungen und Argumente, die sie in Artikeln schon vorher teilweise wortwörtlich publiziert hatte. Auch Artikel, die sie in den 1920/30er‐Jahren in unterschiedlichen Periodika veröffentlichte, enthielten zuweilen Wiederholungen oder gar identische Textpassagen.

Integral in diese Edition aufgenommen haben wir alle Texte, die uns zugänglich waren, d. h. also, dass hier auch diejenigen Passagen unverändert und unkommentiert veröffentlicht werden, die Mina Hofstetter selbst, ohne Änderungen kenntlich zu machen, mehrfach publiziert hatte. Kommentarlos reproduziert haben wir diese Texte, weil sie nicht nur die Kontinuität und Entwicklung ihres Denkens und Argumentierens deutlich machen, sondern auch Hinweise darauf geben, was ihr besonders wichtig war. Die Wiederholungen in ihren Texten erinnern zudem an ihr Ringen um Anerkennung und ihre zeitweiligen Hoffnungen, auch außerhalb der Milieus der Lebensreformbewegung ernst genommen zu werden. Zudem ging Mina Hofstetter selbst davon aus, dass Texte keine endgültigen Gewissheiten darstellen, sondern bestenfalls den jeweiligen, sich immer wieder ändernden Wissensstand abbilden. So hat sie beispielsweise 1933, als die deutsche Auflage ihrer erstmals 1928 veröffentlichten Broschüre »Brot« vergriffen war, die Anregung abgelehnt, eine Neuauflage drucken zu lassen, weil sie in der Zwischenzeit in wichtigen Punkten »weitergekommen« sei.10 Gleichzeitig insistierte Hofstetter aber auch darauf, dass es Einsichten gebe, die ihren Wert nicht verlieren und es deshalb verdienen würden, in unterschiedlichen Kontexten immer wieder gedruckt zu werden. Aus diesem Grund drängte sie 1942 bei der Publikation der Broschüre »Neues Bauerntum« die Herausgeber, zwei Kapitel zu reproduzieren, die dem Verlag »etwas veraltet« erschienen. So wie der Verlag schließlich dem »eisernen Bauernschädel«11 nachgab, so respektieren auch wir Mina Hofstetters Textproduktion, indem wir sie integral reproduzieren.12

Mit der Veröffentlichung von Artikeln angefangen hat Mina Hofstetter 1923, nachdem sie sich in den drei Jahren zuvor aufgrund gesundheitlicher Probleme intensiv mit Ernährungsfragen auseinanderzusetzen begonnen hatte. Dabei lernte sie Werner Zimmermann kennen, der sie zur Publikation von Artikeln in der von ihm herausgegebenen Monatszeitschrift TAO ermunterte, in der in den 1920er‐Jahren vorübergehend eine eigenständige, »neue ortografi« praktiziert wurde. Bis 1948 veröffentlichte Mina Hofstetter 32 Artikel in Periodika wie der »Vegetarischen Presse«, dem »Wendepunkt« oder der »Volksgesundheit« sowie drei umfangreiche Broschüren als eigenständige Publikationen.

Dass alle drei Broschüren in Verlagen erschienen, die im Dienst der Lebensreform‐ und der Freiwirtschaftsbewegung standen, war folgerichtig. Denn hier erreichte sie das Publikum, bei dem sie bekannt war. Das zeigt sich auch daran, dass die Erstauflagen von allen ihren Broschüren restlos verkauft wurden. Weniger bekannt und kaum besprochen wurden ihre Schriften außerhalb der Lebensreform‐ und Freiwirtschaftskreise.13 Ob sie überhaupt versuchte, Artikel in der bäuerlichen Presse, Zeitungen der Arbeiterschaft oder des Bürgertums zu veröffentlichen oder Kontakte zu Verlagshäusern suchte, die außerhalb der Lebensreformbewegung standen, ist bislang nicht bekannt. Mina Hofstetter sei nichts daran gelegen, ein Buch zu schreiben, meinte Georgette Klein 1942, als sie im Schweizer Frauenblatt »Neues Bauerntum, altes Bauernwissen« rezensierte. Die Bäuerin habe diese Form nur gewählt, »um ihre Erfahrungen auch denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie mündlich nicht erreichen« könne. Darum habe Hofstetter in ihrer Darstellung die Inkohärenz der Spontaneität belassen, sodass in der Broschüre Praktisches, Theoretisches und chinesische Philosophie unverbunden nebeneinanderstehe.14

In der Tat, viele der von Mina Hofstetter verfassten Texte zeichnen sich durch eine eigenwillige »Inkohärenz der Spontaneität« aus. Sie verfasste aber auch in sich ausgesprochen konsistente, logisch aufgebaute, differenziert argumentierende und sprachlich präzise Textstellen. So beispielsweise auch in den 1942 und 1946 erschienenen Broschüren »Neues Bauerntum, altes Bauernwissen« und »Naturgesetzlicher Landbau«, in denen sie beispielweise schrieb: »Der Boden, die Grundlage der menschlichen Existenz, ist auch der Standort der Pflanze, ihre Nahrungsquelle. Es ist deshalb von Bedeutung, zu wissen, wie ein Boden beschaffen ist und sein soll. Wichtig ist das Wissen um das Leben im Boden, denn dieses gibt uns die Richtlinien und Anhaltspunkte für die Bodenbearbeitung. Der Boden ist nicht etwas Totes, zufällig Daliegendes, ist nicht Dreck. Jeder Kulturboden ist im Gegenteil voller Leben und dieses Leben ist von ganz bestimmten Gesetzen abhängig, denen wir gerecht werden müssen. Der Boden ist im Laufe der Zeiten entstanden durch die Arbeit der Natur: Verwitterung, Eiszeiten, Abtragung und Anschwemmung, Frost, Hitze, Wasser, Steinschläge, Moränenablagerung, Tätigkeit der Urpflanzen. Die geschilderten Vorgänge geben noch kein fertiges Bild von der Entstehung des Bodens. Eine Ackererde besteht aus einem Gemenge von mineralischen und organischen Bestandteilen sowie Wasser, Luft, Bakterien und mikroskopischen Pflanzen. Der Boden ist ein feiner, lebendiger Organismus. Im Boden ist grandioses, mannigfaltiges Leben.«15

An ein wesentlich heterogeneres Publikum als ihre Artikel und Broschüren richtete Mina Hofstetter ihre Korrespondenz. Der Kreis der uns im Moment bekannten Adressat:innen reicht von Direktoren staatlicher Forschungsanstalten und landwirtschaftlicher Schulen über Exponent:innen der Lebensreform‐ und der Freiwirtschaftsbewegung bis hin zu kantonalen Regierungsstellen, Direktoren von landwirtschaftlichen Verbänden und Ökofeministinnen in Europa und Nordamerika.

Die in dieser Edition publizierten Briefe, Manuskripte und Texte sind damit in etwa vergleichbar mit den Quellen von zwei anderen Bäuerinnen, die ungefähr im gleichen Zeitraum selbständig einen Hof führten: Augusta Gillabert‐Randin (1869–1940) in der Westschweiz und Elizabeth Bobbett (1897–1971) in der irischen Grafschaft Wicklow.16 Wie für Augusta Gillabert‐Randin, die Initiatorin der 1918 gegründeten »Association des Productrices de Moudon« (APM), bildete die Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) im Sommer 1928 in Bern auch für Mina Hofstetter eine wichtige Plattform. Beide nutzten die Ausstellung, um für ihre Anliegen zu werben. Die auch in der Abstinenzbewegung aktive Augusta Gillabert‐Randin präsentierte an der SAFFA den Film »La paysanne au travail«, den sie zusammen mit der Weinbäuerin Françoise Fonjallaz und der Pfarrfrau Priscille Couvreu de Budé im Hinblick auf die Ausstellung beim Filmemacher Arthur Porchet in Auftrag gegeben hatte.17 Und Mina Hofstetter stellte in Bern nicht nur Getreidepflanzen aus, die sie in einem eigenständigen Verfahren angebaut hatte, sondern präsentierte und verkaufte dort auch ihre im gleichen Jahr unter dem Pseudonym Gertrud Stauffacher veröffentlichte Schrift »Brot«.18 Für viele Bäuerinnen, die den Anspruch hatten, das Bild, das von ihnen in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde, selbst zu beeinflussen, war die SAFFA von großer Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass in den Jahren nach der Ausstellung zahlreiche Bäuerinnen‐ und Landfrauenorganisationen gegründet wurden, die sich zuerst auf der kantonalen, 1932 auch auf der nationalen Ebene zusammenschlossen.19

Wie Augusta Gillabert‐Randin und Elizabeth Bobbett hat Mina Hofstetter nicht nur mit Schreiben versucht, sich Gehör zu verschaffen, sondern auch mit Reden. Sie unterrichtete und diskutierte mit den Besucher:innen und Kursteilnehmer:innen auf ihrem Hof, die den rund zwei Stunden dauernden Weg von Zürich nach Stuhlen oft zu Fuß zurücklegten. Außerdem hielt sie unzählige Vorträge bei Veranstaltungen und Einführungskursen in den biologischen Landbau, die nicht auf ihrem Hof durchgeführt wurden. So referierte sie u. a. in Österreich, der Tschechoslowakei, Deutschland, Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen. Zudem war sie immer wieder mit einem Stand bei Ausstellungen präsent, an dem sie nicht nur ihre Schriften verkaufte, sondern auch über die Praktiken und Resultate ihrer Anbauversuche orientierte. Neben der SAFFA 1928 in Bern war sie im gleichen Jahr auch an der kantonalen landwirtschaftlichen Ausstellung in Siders sowie 1931 an der Hyspa, der ersten Schweizerischen Ausstellung für Gesundheitspflege und Sport in Bern präsent. Hier stellte sie »biologisch gezüchtetes Gemüse« aus, wie die Schweizer Hotel‐Revue schrieb – und zugleich verwundert festhielt: »Die REFORMER begnügen sich, wie man sieht, nicht einfach mit ›Gemüse‹, sondern es muss biologisch gezüchtet sein und angepflanzt werden, mit Ausschaffung aller tierischen und künstlichen Dünger (Mist, Jauche, Kali usw.).«20

Noch wichtiger als das Reden und Schreiben über die Ernährungsreform und den viehlosen Biolandbau waren Mina Hofstetter die praktischen Anleitungen dazu, die sie während mehr als einem Vierteljahrhundert durchführte. Für sie als Bäuerin seien nicht »leere Worte«, sondern »Taten wesentlich«, schrieb sie 1938.21 Nicht Lesen und Hören führten zur Menschwerdung, sondern die praktischen Tätigkeiten des Siedelns und der Kultivierung von Pflanzen. »Denn Siedler werden, Bauer werden heisst: ein ganzer Mensch werden«.22 Ihre Versuche, durch praktische Tätigkeiten ein ganzer Mensch zu werden, sind auch durch Fotografien und den kurzen Film »Der lange Acker« dokumentiert.23 Der Film und die Fotos bilden eine wichtige Quellengrundlage des Videoessays »Das muss ein Leben werden«, den wir als Ergänzung zur vorliegenden Edition produziert haben.24

Wenn sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bäuerinnen in der Öffentlichkeit engagierten, dann taten sie dies oft im Namen von bäuerlichen Organisationen, in denen sie aktiv waren. Bei Mina Hofstetter war das anders. Sie hatte zwar Kontakt zu Vertreterinnen von Bäuerinnenorganisationen wie Emma Tappolet‐Brühlmann, der Geschäftsführerin des Schaffhauser Landfrauenverbandes. Aber selbst war sie in der Landfrauenbewegung nicht aktiv, obwohl sie, wie Emma Tappolet, in der Öffentlichkeit immer wieder in der Tracht auftrat, einem Merkmal vieler organisierter Bäuerinnen.25

Zu lesen begonnen hat Mina Hofstetter, die in einem Haushalt aufwuchs, in dem es kaum Bücher gab, als Jugendliche, als sie Zugriff auf die Gemeindebibliothek erhielt.26 Eine geradezu kathartische Wirkung hatte ihre Begegnung mit den Büchern »Moderne Rosenkreuzer«, »Weltvagant« und »Lichtwärts«.27 Die Lektüre dieser Schriften von Surya und Werner Zimmermann veranlasste sie nicht nur zu einer radikalen Umstellung ihrer Ernährung, sondern machte sie zugleich zu einer dezidierten Anhängerin der Freiwirtschaftsbewegung. Von vergleichbarer Bedeutung war für sie 1925 die Lektüre des Textes »Fiehloser Ackerbau – natürliche Bodenbearbeitung«, den Ewald Könemann im TAO veröffentlicht hatte.28 Dass sie Maximilian Bircher‐Benners Schriften »viel zu verdanken« habe, wie sie immer wieder betonte, ist nachvollziehbar. Sie empfahl »jeder Schweizerfrau«, sich diese anzuschaffen.29 Das 1927 von Berta Brupbacher‐Bircher veröffentlichte Kochbuch »Rohkost« hielt sie gar für »unübertroffen«.30 In den 1930/40er‐Jahren orientierte Mina Hofstetter ihre Leser:innen wiederholt über Bücher, die sie im Zusammenhang mit Fragen der Ernährungsreform und des Biolandbaus gelesen hatte. »Da ich schon seit 1923 auf meinem 20 Jucharten grossen Bauerngut versuche, eine einwandfreie biologische Düngung durchzuführen, sei es mir gestattet, ein paar Worte zur bis heute erschienenen Literatur zu sagen«, schrieb Mina Hofstetter 1932. Und fügte an: »Ich kenne zum grössten Teil alle jene Bücher und auch teilweise die Menschen, die sie geschrieben, persönlich, oder doch kenne ich teilweise ihre Erfolge.«31 In den 1950er‐Jahren las sie dann in erster Linie Belletristik, die ihre Enkelin Rosmarie Kappenthuler in der Zentralbibliothek, dem Jelmoli‐Buchclub und in der Buchhandlung Oprecht in Zürich für sie besorgte respektive nach der Lektüre wieder zurückbrachte.32 Den Verleger und Buchhändler Emil Oprecht, der ab 1934 auch mit der jüdischen Emigrantin Anna Helene Askanasy‐Mahler engen Kontakt pflegte, kannte sie spätestens seit den 1930er‐Jahren.33

Viel von dem, was wir heute über Mina Hofstetters Tätigkeiten, Wahrnehmungen und Deutungen wissen, basiert auf ihren Texten. Aber auch diese informieren uns nicht einfach darüber, was sie wann, weshalb und wie machte. Wie alle Quellen sind auch diese vom Kontext ihrer Entstehung und den Intentionen ihrer Verfasserin geprägt. In ihren ersten Texten geht es fast immer um die Benennung eines als eindeutig, problematisch und zuweilen auch dramatisch wahrgenommenen Sachverhalts (bspw. ihre Kindheit, ihre Ernährung, die Tierhaltung oder die Art, wie sie den Boden kultivierte und Getreide säte) und die Erläuterung und Propagierung eindeutiger, klarer Lösungen: Rohkost, Licht‐ und Luftbäder, die Freiwirtschaftslehre und der viehlose Ackerbau. Verstärkt wird das zuweilen schablonenhafte Argumentieren in den 1920er‐Jahren noch durch die Sprache: Die in der sogenannten »neuen ortografi« verfassten Artikel in der Zeitschrift TAO vermitteln schon optisch den Eindruck einer Rigidität der Argumentation, die von den Leser:innen fast nur zustimmend oder ablehnend zur Kenntnis genommen werden kann. Das beginnt sich Ende der 1920er‐Jahre ansatzweise zu ändern. Jetzt werden in den Texten Probleme nicht mehr nur stipuliert, sondern auch erläutert und kontextualisiert. Zugleich entwickelt und propagiert Mina Hofstetter jetzt auch eigenständige, pragmatische Lösungen. Sie argumentiert in ihren Texten differenzierter, spricht neue Themen an und lässt sich auf Menschen ein, die sie bisher kaum zur Kenntnis genommen hatte. Das alles passiert aber immer noch innerhalb der Gewissheiten, die sie im Jahrzehnt zuvor entwickelt hatte. Die »alten« Gewissheiten wurden nicht verdrängt, aber zunehmend von neuen Erfahrungen und Einsichten überlagert. Damit schuf sich die Bäuerin eine Sicherheit, die es ihr ermöglichte, auch bisherige Autoritäten radikal zu hinterfragen und damit einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung des viehlosen Biolandbaus zu leisten. »Ewald Könemann kenne ich persönlich«, schrieb sie beispielsweise 1932, er sei »ein grosser Theoretiker«, habe aber »bis heute in keiner Weise praktisch bewiesen«, dass seine Theorie stimme. »Seine Zeitschrift ist für uns fast wertlos geworden, weil sie in jeder Hinsicht zu viel Kompromisse macht.«34

In den 1930/40er‐Jahren bestand das Leben auf Stuhlen ganz offensichtlich aus mehr als Problemen und fixen Lösungen, die die Zeit von Mina Hofstetters Kindheit bis zum Verkauf des Viehs in ihren Rückblicken bestimmten. Ihre Texte handeln ab den späten 1920er‐Jahren zunehmend von konkreten Fragen und Lösungen, die sie im Alltag auf Stuhlen mit ihrer Familie, den Praktikant:innen, den Kursteilnehmer:innen, den Erholungssuchenden und ihrem enormen Netzwerk an Geschäftspartner:innen und Anhänger:innen der Rohkost, des Vegetarismus sowie der Freiwirtschaftslehre umzusetzen versuchte. Aus einer »Übersetzerin« von fixen Weltdeutungen wurde eine Aktivistin, deren Interpretationen sowohl auf ihren praktischen Alltagserfahrungen als auch auf der Lektüre von Texten und persönlichen Kontakten beruhte. Das machte Mina Hofstetter unabhängiger – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in ihren Bestrebungen, die Welt zu verändern. Ohne diese in der ersten Hälfte der 1930er‐Jahre sich konsolidierende Haltung wäre es ihr wohl kaum gelungen, sich auf ökofeministische Friedensaktivistinnen wie Elin Wägner, Flory Gate und Anna Helene Askanasy‐Mahler einzulassen, mit ihnen zusammen die Women’s Organisation for World Order (WOWO) zu etablieren und gleichzeitig den Bauernbetrieb und die Lehrstätte für biologischen Landbau auf Stuhlen nicht zu vernachlässigen.35 Hofstetters Texte machen nun deutlich, wie eng verwoben in ihrem Leben Praktisches und Theoretisches war – und wie kontingent dieses verlief.

Teil 1»Das muss ein Leben werden!«:36 Eine biografische Skizze

Kindheit, Familiengründung und Erwerb des Hofes Stuhlen

Geboren wurde Mina Lehner am 22. März 1883 in Stilli, einer Nachbargemeinde von Brugg im Kanton Aargau. Ihr Vater war als Fischer, Flößer und Küfer tätig.37 Wie viele Einwohner des an der Aare gelegenen Dorfes betrieben auch Lehners eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Die Familie verfügte über »ungefähr so viel Feld«, dass sie »ihre Kartoffeln und das Gemüse und teilweise das Brot« selbst anbauen konnten.38 »Grossmutter und Mutter haben immer selbst gebacken«, erinnerte sich Mina Hofstetter‐Lehner 1942. Aber: »So sehr ich sie darum beneidete, nie durfte ich mithelfen. Doch erlaubten sie mir zuzusehen und etwa dies und das herbeizutragen. Mit regstem Interesse folgte ich allen ihren Zubereitungen und Handgriffen.«39

Immerhin führte die Großmutter sie in die landwirtschaftlichen Arbeiten ein, die sie schon als Kind liebte. »Meine schönsten Stunden«, schrieb Mina Hofstetter rückblickend, in denen »ich mich am wohlsten fühlte, waren auf dem Feld. Von Grossmutter lernte ich alle Feldarbeiten«.40 Von ihren Eltern hingegen zeichnete die als Älteste geborene ein eher distanziertes Bild. »Als Kind hätte ich immer so gerne gesät, aber Mutter sagte immer: Das kannst du nicht«, schrieb Hofstetter 1931, und fügte an, dass sie sich mit drei Jahren geweigert habe, Fleischsuppe zu essen, weil ihr der Geschmack Übelkeit verursacht habe. Dafür habe sie Prügel erhalten und die Suppe erst noch essen müssen. 41

Überhaupt hingen Mina Hofstetters Erinnerungen an die Kindheit oft »irgendwie mit Leiden und Krankheit zusammen«. Bis »zum 13. Jahr hatte ich Lungenentzündung, Masern, Diphterie, Scharlach, Typhus, dazu beständig bei der kleinsten Aufregung oder Anstrengung starkes Nasenbluten«.42 Als Zwölfjährige verlor sie ihre zwei liebsten Schulfreundinnen, die beide an Diphterie starben. »Ich selbst hatte damals viele Wochen an den Folgen dieser Krankheit zu leiden«, erinnerte sie sich fast drei Jahrzehnte später. »In schlaflosen Nächten schrie ich zu Gott: Warum Krankheit, warum? Noch viele andere Fragen tauchten auf, niemand gab mir Antwort. Als ich mit 15 Jahren konfirmiert wurde, stellte ich dem Schicksal drei Fragen und flehte es an, mir in meinem Leben Antwort darauf zu geben: 1. Warum sind wir krank? 2. Warum müssen die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang arbeiten und bleiben arm? 3. Warum ist zwischen Mann und Weib ein Unaussprechliches, das in den Schmutz gezogen wird?«43

Abbildung 2 Die Großeltern von Mina Hofstetter‐Lehner: Anna Lehner‐Hirt und Kaspar Lehner.

Dass Mina Lehner nach der obligatorischen Schulzeit in die Romandie zog, um als Dienstmädchen zu arbeiten und das Führen eines Haushaltes zu lernen, war für junge Frauen aus ihrem Milieu nicht ungewöhnlich. In Genf hatte sie es gut bei der Familie, bei der sie diente. Bei »der Frau, die ich am meisten verehrte«, durfte sie auch »säen, und ich glaube, dass ich deswegen so viel Liebe zu ihr hatte, weil sie mir so grosses Zutrauen schenkte«.44 Über ihre Erlebnisse in Genf und insbesondere Berlin, wohin sie nach dem Jahr in der Rhonestadt ging, berichtete sie später kaum. Auch über die Zeit nach ihrer Rückkehr aus Deutschland bis zum Erwerb des Hofes 1915 in Ebmatingen ist nur wenig bekannt. In ihrem zweiten, 1924 in der Zeitschrift TAO veröffentlichten Text schreibt sie bloß, dass sie »nach einer kindheit, deren stunden und tage und jahre sich vollgesogen hatten mit ekel vor den eltern und ihrer art, ihrer anshauung, die trotz – oder wegen?! – ihres ›christentums‹ voll niedrigkeit war«, dank der Lektüre von Werner Zimmermanns »Lichtwärts« in »die Jugendbewegung« kam – da war sie aber schon 38‐jährig, vierzehn Jahre mit Ernst Hofstetter verheiratet und sechsfache Mutter.45

Kennengelernt haben sich Mina Lehner und Ernst Hofstetter kurz nach der Jahrhundertwende in Stilli, wo der vier Jahre ältere Schreiner aus Oberburg bei Burgdorf während seinen Wanderjahren in der Nachbarschaft von Lehners bei einem Meister tätig war.46 Von 1903 an arbeitete er im aargauischen Kölliken. In den ersten sieben Jahren der 1907 geschlossenen Ehe kamen fünf Kinder zur Welt.47 Bis 1914 lebte die junge Familie, die immer Land pachtete, um ihren Bedarf an Gemüse selbst decken zu können, in Kölliken. Weil Ernst, der nun als Vorarbeiter in einer Schreinerei des Dorfes arbeitete, keine Lohnerhöhung erhielt, wechselte er 1914 die Stelle und die Familie zog nach Niedergösgen im benachbarten Kanton Solothurn. Im Jahr darauf erwarben Hofstetters den Hof Stuhlen in Ebmatingen am Greifensee, in der Gemeinde Maur im Kanton Zürich.48

Zwei Gründe haben Mina und Ernst Hofstetter zu diesem für alle Familienmitglieder folgenreichen Schritt bewogen: Auf der einen Seite ging es beim Erwerb des Hofes um eine Art Vorsorgepolitik, bedeutete der Aktivdienst in der Armee für lohnabhängige Wehrmänner doch einen kaum zu kompensierenden Lohnausfall und nicht selten auch den Verlust des Arbeitsplatzes. Das konnte kinderreiche Familien schnell in Armut stürzen. Gleichzeitig wollte Mina Hofstetter stärker landwirtschaftlich tätig werden, wie sie 1931 rückblickend schrieb.49 Der Umzug nach Ebmatingen erfolgte im Oktober 1915. Beim Hof Stuhlen, den sie käuflich erwerben konnten, handelte es sich um einen typischen Milchwirtschaftsbetrieb. Für den Umzug erhielt Ernst Hofstetter, der Aktivdienst leistete, zwei Tage Urlaub. So musste er unmittelbar nach dem Abladen des Hausrats gleich wieder einrücken. »Da stand ich nun mit fünf kleinen Kindern, wovon das älteste noch nicht 8, das jüngste 1½ Jahre alt war; alle hatten den Keuchhusten. Im Stall brüllten 10 Stück Vieh. Es war Ende Oktober, auf dem Feld waren noch die Runkeln zu ernten, 20 Fuder Mist zu zetteln und noch viel anderes zu tun.«50

Offenbar übernahmen Hofstetters beim Kauf des Betriebs sowohl das lebende als auch das tote Inventar ihrer Vorgänger. Für Mina am schwierigsten waren die Arbeiten im Stall. »Ich hatte eine Höllenangst vor den Kühen, und bis ich mich getraute, eine Kuh zu melken, zu striegeln und zu füttern, habe ich fast Blut geschwitzt.« Das Melken, Misten und Füttern lernte sie mit Hilfe ihrer Nachbarn. Allein der »Selbsterhaltungstrieb und die Sorge um die Kinder« hätten verhindert, dass sie davongelaufen sei, schrieb sie später.51 Weil Ernst Hofstetter auch in den folgenden drei Jahren immer wieder Aktivdienst leisten musste, änderte sich an dieser Überforderung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wenig.

Abbildung 3 Familie Lehner in Stilli (um 1900, vlnr): Hans Heinrich Lehner (Vater), Mina Lehner, Barbara Lehner‐Wey (Mutter), Jakob Lehner (Cousin), Luise Bircher (Cousine), Sophie Lehner (Schwester), Hans Jakob Lehner (Onkel), Erminio Lehner (Cousin), Fritz Lehner (Bruder).

Abbildung 4 Familie Hofstetter‐Lehner.

Betriebsleiterin auf dem Hof Stuhlen 1915–1950

»Am stillen Greifensee, umhegt von Hochwald, mit freiem Blick auf die Berge, liegt mit seinen Äckern und Matten und Obstbäumen ein Weiler: Stuhlen bei Ebmatingen.«52 Hier, in der Gemeinde Maur, lebte Mina Hofstetter von 1915 bis 1967, also mehr als ein halbes Jahrhundert lang, auf dem Hof, der gut sieben Hektaren Land umfasste. Der Kaufpreis im Herbst 1915 betrug 37.000 Franken, für den sich Hofstetters hypothekarisch verschuldeten. Der Bruder der Frau, bei der Mina Hofstetter als Dienstmädchen in Genf gearbeitet hatte, gewährte ihnen eine Bürgschaft für den Kredit, den sie bei der Bank zusätzlich zur Hypothek aufnehmen mussten.53 Waren die Kriegsjahre vor allem wegen der Arbeitsbelastung eine schwierige Zeit für Mina Hofstetter und die Kinder, so wurden die 1920er‐Jahre wirtschaftlich prekär. Denn die Krise, von der die Landwirtschaft insgesamt erfasst wurde, wirkte sich auf Stuhlen aufgrund der radikalen Umstellung auf eine viehlose Bewirtschaftung noch schlimmer aus. Nicht nur fielen die Einnahmen aus dem Verkauf der Kuhmilch weg, auch die Erträge aus dem Pflanzenbau verringerten sich stark, weil in den ersten Jahren noch kaum Kompost als Ersatz für den Hofdünger vorhanden war. Hinzu kamen neue Ausgaben für die Verrichtung von Zugarbeiten, die bisher durch betriebseigene Kühe quasi unentgeltlich geleistet worden waren. Insbesondere der Wegfall des vorher monatlich anfallenden Milchgeldes führte dazu, dass der Haushalt auf Stuhlen oft »ohne eigenes Bargeld« war. »Das Fehljahr 1930 und die Weltkrise dazu haben uns fast umgebracht«,54 teilte Mina Hofstetter ihren Leser:innen 1931 mit, als es ihr wirtschaftlich erstmals etwas besser ging. Zwei Jahre zuvor hatte sie der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion geschrieben, dass sie im Leben »viel Kummer und Not erlebt« habe, »besonders in den letzten 13 Jahren als Schuldenbäuerin«.55 Die durch die Betriebsumstellung verschärften materiellen Sorgen führten auch zu »argen Familienunstimmigkeiten«, wie sie Mitte der 1930er‐Jahre Anna Helene Askanasy‐Mahler anvertraute.56

In den 1930er‐Jahren verbesserte sich die finanzielle Lage auf Stuhlen etwas, weil die nach wie vor prekären Einnahmen aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit jetzt mit Erträgen aus den Schreinerarbeiten von Ernst Hofstetter sowie dem Ausbau des Kurswesens ergänzt werden konnten. Wichtig war auch, dass Mina Hofstetter den Betrieb nun mit Hilfe ihres Sohnes Werner und ihrer Töchter Gertrud und zunehmend auch Elisabeth ganz nach ihren Vorstellungen bewirtschaften konnte. Die Klagen aus den 1920er‐Jahren wurden von einer zuversichtlicheren Grundstimmung überlagert, die Ende der 1930er‐Jahre zuweilen sogar in euphorische Begeisterung für Projekte kippte, die sie mit neuen Bekannten zu realisieren hoffte. Schon in den 1920er‐Jahren war sie Teil eines weit verzweigten Netzwerkes von Ernährungsreformer:innen, die untereinander auch geschäftlich verkehrten. Ihr Gemüse lieferten Hofstetters in das Sanatorium von Maximilian Bircher‐Benner nach Zürich oder auf Bestellung per Postversand an Private. Und auf dem Wochenmarkt in Zürich unterhielten sie auf dem Bürkliplatz zweimal pro Woche einen Verkaufsstand.57 Das »sonnendurchglühte Korn« für das von Mina Hofstetter (fast) ohne Hefe und Salz gebackene Brot ließen sie in Basel bei der Mühle Sackmann mahlen und die »Teigwarenfabrik der Geschwister Meyer in Lenzburg« machte aus diesem Mehl »nährwerthaltige Teigwaren«, die das Essen für die Gäste und Kursteilnehmer:innen auf Stuhlen reichhaltiger gestalteten. Das Vollkornbrot bezog man in der Grahambäckerei Zürrer in Zürich und das »wasserfreie und monatelang haltbare schwedische Knäckebrot« bei Albert Bauer in Bern. Den Hafer wiederum ließen Hofstetters in der Hafermühle Lützelflüh schälen und die Nüsse bei Johann und Alwine Kläsi in Rapperswil (SG) zu Nussa verarbeiten.58 Alwine Kläsi hatte, wie Mina Hofstetter, die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1928 zur Propagierung ihrer Broschüre mit 120 Rohkost‐ und Halbrohkost‐Speisen genutzt, zu der Maximilian Bircher‐Benner ein Vorwort beigesteuert hatte.59

Ab Ende der 1930er‐Jahre bestand der Hof Stuhlen aus zwei Haushalten, einem Landwirtschaftsbetrieb, einer Schreinerei und einer Lehrstätte für biologischen Landbau. Hinzu kamen viele Gäste und Erholungssuchende. Da war es nicht erstaunlich, dass es, wie schon in der zweiten Hälfte der 1920er‐Jahre zwischen Ernst und Mina wegen ihrer Bestrebungen zur Umstellung auf eine viehlose Landwirtschaft, immer wieder zu Spannungen kam. 1938, bei ihrem Besuch auf Stuhlen, nahm Elin Wägner die Stimmung in der Familie Hofstetter folgendermaßen wahr: »Die Familie um den Tisch im gemütlichen alten Wohnzimmer sass beklemmend still vor ihren Riesenportionen. Die beiden Schreiner, Vater und Sohn, kamen aus der Werkstatt und hüllten sich in ein gekränktes Schweigen, es schwieg der Sohn, der die Erde bearbeitete. Und das jüngste Mädchen, das Glückskind, versuchte durch Schweigen, von zu Hause wegzukommen, um Näherin zu werden. (…) Das Schlimmste war ein Landhaus in Schweizer Bauweise, das höher am Hang lag, wo es den Horizont zerstörte (…) Es hiess Seeblick, (…), sie nannte es Sorgenhaus und das zu Recht, denn es war eine Fehlspekulation. (…) Darüber hinaus war sie einem schlechten Architekten zum Opfer gefallen und mutmasslich auch einem Vertreter für teure elektrische Apparate, die ihr angeblich die Arbeit erleichtern sollten. Das Schlimmste war aber, dass Gertrud Schulden gemacht und sich in das vorherrschende wirtschaftliche System verstrickt hatte. Die Drohung, sie müsse den Hof verkaufen, lag ständig über ihr wie ein Alptraum.«60

Im Herbst 1938 spitzte sich der Konflikt zwischen Mina und ihrem Sohn Werner, der als Mitarbeiter auf dem Hof tätig war, zu. Das Zerwürfnis war offenbar so gravierend, dass Mina Hofstetter Ende November Anna Helene Askanasy‐Mahler mitteilte, sie müsse den Hof verlassen.61 Im Dezember entschieden sich Hofstetters dann aber anders. Jedenfalls teilte Mina Ende des Jahres Flory Gate mit, dass nun ihr Sohn Werner, nicht sie selbst, Stuhlen verlassen werde: »Ich bleibe auf meinem Gut! Mein Sohn geht fort.«62 Gemäß den Angaben von Werner verließ er 1939 den Betrieb dann tatsächlich vorübergehend.63 In den 1940er‐Jahren war er wieder auf Stuhlen tätig und gründete eine eigene Familie, mit der zusammen er 1950 den Hof von Mina übernahm.64

Im turbulenten Spätherbst 1938, als Mina Hofstetter in Wien referierte, den Aufbau einer von Julie Metzl zu leitenden Siedlung in Südfrankreich plante und zugleich eine (temporäre) Emigration nach Kanada in Erwägung zog,65 bereitete sie auch noch eine Vortragsreise nach Skandinavien vor, wie aus dem »Reiseplan« ersichtlich wird, den sie im November 1938 Flory Gate und Elin Wägner zustellte. Die für 1939 vorgesehenen Vorträge in Schweden und Norwegen sollten »möglichst gediegen werden«, schrieb Hofstetter darin, weil sie »alles was ich will und kann« repräsentieren sollen. Sie werde deshalb auch einen Schüler mitnehmen, »der in über 130 Bildern als Lichtbilder zeigen« könne, »was hier werden wird und schon ist«. So könne man es wagen, wenn man Werbung in Zeitungen mache, »grosse Säle zu mieten und damit die Spesen herausschlagen«.66 Die Reise nach Skandinavien kam dann allerdings erst zehn Jahre später zustande. Und die Gründung der Siedlung in Südfrankreich scheiterte, weil Julie Metzl und ihr Mann nach Kanada emigrierten, wo sie zur Gruppe von Anna Helene Askanasy‐Mahler stießen. Mina Hofstetter blieb auf Stuhlen, wo die Kurstätigkeit während des Zweiten Weltkrieges zwar etwas eingeschränkt wurde, aber grundsätzlich weitergeführt werden konnte. Sie nutzte die nachlassende Hektik auf dem Betrieb zur Verfassung des Textes, den sie 1942 unter dem Titel »Neues Bauerntum. Altes Bauernwissen« veröffentlichte.67

Abbildung 5 Magdalena, Ernst, Gertrud, Mina und Rosa Hofstetter, 1960er‐Jahre.

Mit ihren Freundinnen in Schweden blieb Mina Hofstetter auch während des Krieges in brieflichem Kontakt. Im Herbst 1944 orientierte sie Elin Wägner über ihre Nachkriegspläne: »Weisst Du, meine Gedanken sind so viel bei Dir und allen jenen mit denen wir damals versuchten, den Krieg zu verhüten. 1,5 Jahre lang war ich der Verzweiflung nahe, dass wir so wenig fertig gebracht haben, aber dann kam wieder neuer Mut in mich und nun fühle ich viel aufgespeicherte Kraft wieder neu zu beginnen.« Konkret hatte sie vor, auf Stuhlen »einen Mittelpunkt« zu gründen, »wo alle jene sich Kraft und Gedanken holen können für die wahre Verbrüderung und den Völkerfrieden. Das soll die eigentliche Aufgabe des Hauses Seeblick sein und der Gartenbau nur quasi der ›Grund‹ der Ernährung und gesundheitliche Notwendigkeit.«68

Als Mina Hofstetter im Herbst 1949 zu ihrer gut zehn Jahre zuvor geplanten Vortragsreise nach Skandinavien aufbrach, lebte Elin Wägner nicht mehr. Nach ihrer Rückkehr übergab die mittlerweile 67‐Jährige den Hof ihrem Sohn Werner und dessen Familie. Sie selbst lebte die nächsten 17 Jahre mit Ernst, der sich aus dem Schreinereibetrieb von Karl zurückzog, als Rentnerin im Seeblick. Die pessimistische Stimmung, die sie schon 1949 in Norwegen erfasst hatte, war auch charakteristisch für die Zeit der frühen 1950er‐Jahre.69 Seit »vielen Nächten« liege sie schlaflos im Bett, teilte sie Ende 1952 dem Geologen Arnold Heim mit, den sie schon lange aus der Lebensreformbewegung kannte. »Unser ganzes Lebenswerk« droht unterzugehen, weil Werner wegen starken Rückenschmerzen, die er sich vor Jahren beim Sturz von einem Baum zugezogen habe, »nicht mehr im Stande« sei, den Hof weiterzuführen. Sie selbst sei machtlos: Wir »haben gar keine Ersparnisse, weil alles, was wir sparten, immer in den Betrieb ging, mein Mann und ich können nichts mehr für den Betrieb tun, und haben selbst, weil zu alt, nicht mal eine Rente«. Das ärgste sei, dass durch die drohende Aufgabe des Betriebs »unsere seit Jahrzehnten treue Kundschaft enttäuscht« werde.70 Soweit kam es dann aber nicht. Werner Hofstetter und seine Frau Elisabetha Egli führten den Hof mehr als drei Jahrzehnten weiter; auch den Stand auf dem Markt in Zürich betrieben sie bis in die 1970er‐Jahre. In den 1980er‐Jahren verpachteten sie das Land und 1988 den ganzen Betrieb an Judith Aebli und Daniel Liechti, die Gemüse anbauten und Schafe hielten. 2002 konnten die Pächterin und der Pächter den Hof Stuhlen käuflich erwerben.

Mina Hofstetter lebte nach der Übergabe des Betriebs gemäß den Erinnerungen ihrer Nachkommen »wie ein Murmeltier«, d. h. sie verbrachte die Tage oft lesend und strickend im Bett.71 Sie starb am 21. Dezember 1967, zehn Monate nach Ernst Hofstetter, mit dem sie 60 Jahre verheiratet gewesen war.

Abbildung 6 Mina und Ernst Hofstetter, 1960er‐Jahre.

Ernährungsreform und viehloser Biolandbau

Als Mina Hofstetter 1918 zum sechsten Mal schwanger war, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand. Nach schweren Grippeanfällen erlitt sie einen Nervenzusammenbruch und musste sich in der Folge zwei Operationen unterziehen, die schwere Eiterungen nach sich zogen. Gut zehn Jahre danach erinnerte sie sich: »Kein Arzt konnte mir helfen. Von Schmerzen gepeinigt rannte ich oft des Nachts wie ein wildes Tier im Käfig die Stube auf und ab. Und ich glaube, dass es in einer solchen Nacht war, dass mir die Erleuchtung kam. Ich wollte ›etwas Gutes‹ tun, vielleicht dass dann Gott mir half.«72 Konkret begann sie, Ferienkinder aus Deutschland aufzunehmen, die nach dem Krieg von der Winterthurerin Julie Bikle zur Erholung an Familien in der Schweiz vermittelt wurden.73

»Eines Novembertages« habe sie in Zürich drei Ferienkinder von der Bahn geholt, schrieb Mina Hofstetter 1931. »Am Abend, als wir beim Essen sassen, klopfte es, und draussen stand ein feines Fräulein in Samt und Seide, aber elend und Krankheit in den Augen. Ich fragte sie, was sie wolle. Sie sagte, auf dem deutschen Hilfsverein in Zürich hätte man ihr gesagt, eine reiche Bauernfrau vom Greifensee hätte heute drei Kinder geholt, und wo die Platz fänden, wäre wohl auch noch für einen Vierten Platz.« Die junge Frau blieb dann sechs Wochen auf dem Hof und ließ beim Abschied das Buch »Moderne Rosenkreuzer« zurück, das Mina Hofstetter zu lesen begann. Die Lektüre der Schrift von Demeter Georgievitz‐Weitzer, besser bekannt unter dem Pseudonym Surya (Sanskrit für Sonne), hatte zur Folge, dass sie aufhörte, Schweinefleisch zu essen. Danach kamen ihr die Broschüren »Weltvagant« und »Lichtwärts« von Werner Zimmermann in die Hände, die sie veranlassten, »sofort von Rohkost zu leben«. Die radikale Umstellung der Ernährung habe zur Folge gehabt, dass sie in drei Monaten »von einem geschlagenen armen, leidenden Krüppel zu einem gesunden Menschen« geworden sei. Gleichzeitig sei sie von einem »Lebensmut beseelt« worden, wie noch nie in ihrem Leben zuvor.74

So berauschend Mina Hofstetter die Auswirkungen der Umstellung ihrer Ernährung im Nachhinein empfand, so schwierig wurde für sie die Arbeit mit den Tieren auf dem Hof. Wie konnte sie sich von Rohkost ernähren, gleichzeitig aber Milch und Fleisch produzieren und die Kühe im Ackerbau zur Arbeit einsetzen, fragte sie sich selbst – und wurde immer wieder auch von anderen gefragt. Auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma wurde sie 1925 fündig, als in der Zeitschrift TAO der Artikel »Fiehloser Ackerbau – natürliche Bodenbearbeitung« von Ewald Könemann erschien.75 Der Text wurde für Mina Hofstetter zu einer zweiten Offenbarung, zeigte ihr Könemann doch einen gangbaren Weg auf, wie sie ihre tiefgreifenden Umstellungen in der Ernährung mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit als Bäuerin in Einklang bringen konnte.

Die Umsetzung der Idee einer veganen Ernährung im Haushalt und einer viehlosen Landwirtschaft auf dem Betrieb war allerdings alles andere als »blendend einfach«, wie sie im Rückblick euphemistisch schrieb.76 Aber die Aussicht, dass eine Verbindung der beiden für sie mittlerweile so zentralen Bereiche machbar war, setzte in ihr Kräfte frei, die es ihr ermöglichten, die großen Schwierigkeiten zu überwinden und gleichzeitig kreative Lösungen zu entwickeln, die den Hof Stuhlen zu einem auch international viel beachteten Kosmos machten.

Den Entscheid, viehlos zu wirtschaften, fällte Mina Hofstetter 1926, nach einem Gespräch mit einem Siedler aus der Lüneburger Heide, der sie definitiv davon überzeugte, dass die Idee in der Praxis umsetzbar war. Daraufhin habe sie ihrem Mann gesagt, dass sie nun wüsste, wie sie es »machen wolle«, schrieb sie 1933.77 Doch Ernst Hofstetter glaubte nicht daran, dass eine viehlose Landwirtschaft funktionieren würde; zudem hing er, wie die meisten Bauern und Bäuerinnen, an den Tieren, die sie nicht nur ernährten, sondern mit denen zusammen sie im Alltag auch einen wesentlichen Teil der Arbeiten erledigten.78 So musste sie »mit ein paar Gartenbeeten anfangen«; gleichzeitig habe sie begonnen, ihrem »Mann Acker um Acker abzuhandeln und nach meiner Methode zu bearbeiten«.79 Drei bis vier Jahre habe sie um jede Furche gekämpft, »bis das Schicksal und die Verhältnisse es so fügten, dass ich 20 Jucharten allein übernehmen und damit machen konnte, was ich wollte«.80 Drei Jahre nach der Lektüre von Könemanns Artikel über den viehlosen Landbau begegnete sie diesem persönlich anlässlich eines »Ferienlagers der Freunde des natürlichen Landbaus«, das von Werner Zimmermann am Brienzersee durchgeführt wurde. Nach dem Ende des Kurses im Berner Oberland fuhr Könemann zu ihr nach Ebmatingen, um dort »das Ergebnis ihrer praktischen Arbeit« kennenzulernen. Zufrieden stellte er fest, dass sich nur noch zwei Kühe auf dem Hof befanden.81

So radikal sich Mina Hofstetters Vorstellungen einer gesunden Ernährung und bäuerlichen Betriebsführung von der gängigen Praxis unterschieden, so umsichtig‐pragmatisch machte sie sich an deren Umsetzung. Bei der Ernährung begonnen hat sie praktischerweise mit ihrer jüngsten, 1923 geborenen Tochter Elisabeth, die später den Metzger Hans Schaer heiratete. »Gib dem Kind«, riet Mina Hofstetter 1924 den Leser:innen im TAO, »sobald es verlangen zeigt nach fester nahrung, früchte zum lutshen und kauen, immer mehr und immer öfter. Dann gibt es kein eigentliches entwöhnen mehr; die milch wird eines tages aufhören zu fliessen und das kind lebt von rohkost! Nur keine breie oder sonst gekochtes, sonst haben wir wieder den alten vielfrass, nein, natürliche früchte, die es recht langsam kauen muss.«82

Schwieriger umzusetzen war das neue Ernährungsregime bei den älteren Familienmitgliedern. Ihr Mann und die Kinder ernährten sich denn auch nie ausschließlich vegan. Im Haushalt von Karl, wo in den 1930/40er‐Jahren in der Regel auch Ernst Hofstetter das Mittagessen einnahm, wurde sowohl das Gemüse gekocht als auch Fleisch und Eier gegessen.83 Zudem gibt es einige Hinweise darauf, dass auch Mina Hofstetter selbst zuweilen tierische Produkte zu sich genommen hat. Zumindest empfahl sie anderen, dem Brotteig auch Eier – die sie andernorts zu den krankmachenden Nahrungsmitteln zählte84 – beizufügen. Auch sie selbst brauchte offenbar Eier und zuweilen auch Milch zum Backen von Eierkuchen.85

Wie situativ Mina Hofstetter mit dem (Selbst‑)Anspruch umging, sich vegan zu ernähren, zeigt sich auch an den Plänen, die sie 1938 für die Siedlung in Kanada entwarf, in der Frauen das Sagen haben sollten. In ihrer ersten, euphorischen Reaktion auf den Plan von Anna Helene Askanasy‐Mahler schlug Hofstetter, die nach Ansicht der Initiatorin des Projekts den Landwirtschaftsbetrieb leiten sollte,86 vor, am Anfang einen »tüchtigen Viehzüchter« einzustellen und ihm Land und Gebäude zur Verfügung zu stellen.87

Wichtiger als die Befolgung der reinen Lehre des Veganismus war Mina Hofstetter die Respektierung der Nutzungslogiken lebender Ressourcen, die es möglich machten, die zum Leben benötigten Pflanzen im Produktionsprozess zu reproduzieren. Das zeigte sich auch in Hofstetters Umgang mit den menschlichen Exkrementen, der in vegetarischen Kreisen höchst umstritten war. »Aus Verkennung der Tatsachen« würden viele städtische Reformer:innen »dungloses Gemüse« propagieren, schrieb sie 1931. Insbesondere schienen ihr »jene Vegetarier auf dem Holzweg zu sein, die menschlichen Dünger« vollständig ablehnten, »dafür aber unbedenklich Tier‐ und Kunstdünger« brauchten. »Menschliche Abfälle« seien, sofern die Menschen richtig lebten, »vollständig gesund«, war Hofstetter überzeugt. Auf jeden Fall sei es »viel besser«, die menschlichen Fäkalien würden »auf diese Art und Weise dem grossen Kreislauf eingeordnet, als in die Flüsse abgeführt«.88

Die Vielfalt der Lebens‐ und Haushaltsformen auf Stuhlen ermöglichte es den Familienmitgliedern, die Ernährungsfrage grundsätzlich und pragmatisch zugleich anzugehen. Ernst, der Fleisch aß, nahm das Mittagessen bei der Familie seines Sohnes ein. Die Praktikant:innen, Gäste und Teilnehmer:innen der Kurse hingegen wurden im Haushalt von Mina vegan verpflegt. Für die große Mehrheit entsprach das ohne Wenn und Aber ihren Wünschen, wie aus Einträgen im Gästebuch ersichtlich wird.89 Einzelne Mitarbeiter:innen hingegen taten sich schwer mit dieser Form der Ernährung. So erklärte etwa Walter Giannini, ein in Mainz in der Freiwirtschaftsbewegung engagierter Schweizerbürger, der 1934 aus Deutschland emigrieren musste und während drei Monaten auf dem Hof von Mina Hofstetter lebte und arbeitete, er habe Stuhlen Mitte der 1930er‐Jahre vor allem deshalb so rasch wieder verlassen, weil er dort »schier verhungert« sei.90

Wie andere Exponent:innen der Lebensreformbewegung begann in den 1920er‐Jahren auch Mina Hofstetter, den Einsatz von Kunstdünger zu hinterfragen. Weil der Kulturboden »mit schädlichen Stoffen durchsetzt« sei, seien auch die Körper der Menschen verseucht, schrieb sie 1929. Gleichzeitig war sie optimistisch, dass die »Reform auf dem Gebiete des Landbaues« schon sehr viel gelernt habe und dass viele »Kleingärtner und Landwirte« den neuen Landbau bereits praktizierten.91 Wer in den 1920er‐Jahren vom »neuen Landbau« sprach, meinte in der Regel den »natürlichen Landbau«.92 Der Begriff »biologischer Landbau« setzte sich auch deshalb nur langsam durch, weil jeder Landbau auf biologischen Prozessen beruht, eine Abgrenzung durch das Adverb »bio« also wenig Klarheit schuf. Der Begriff »biologische Landwirtschaft« etablierte sich erst in den 1930er‐Jahren, als er zunehmend zum Synonym für eine Landwirtschaft wurde, die auf den Einsatz von Kunstdünger verzichtete.93

Ab den frühen 1930er‐Jahren sprach auch Mina Hofstetter von der biologischen Landwirtschaft, wenn sie von der Landbewirtschaftung sprach, wie sie sie selbst praktizierte. »Die biologische Landwirtschaft« wolle sich »durch ihre Anbauweise in Einklang stellen mit den Naturgesetzen«, schrieb sie 1931. Sie wolle »den Boden in den der Pflanze angenehmsten Zustand bringen und nachher der Pflanze die ihr entsprechendsten Lebensbedingungen schaffen«. Erst durch »diese Anbauweise« könne die für »den Menschen wirklich gesunde Nahrung hervorgebracht werden«.94 An diesem Verständnis von Biolandbau hat sich bei Mina Hofstetter zeitlebens nicht mehr viel verändert. Im letzten von ihr veröffentlichten Text 1948 heißt es, der biologische Landbau sei »eine aussichtsreiche Art der Bearbeitung und Bebauung des Bodens, eine Abkehr von gewissenloser Ausbeutung der Natur zum eigenen Schaden«. Er diene »der Neuordnung unserer Beziehungen zur Mutter Erde« und fördere »die Erkenntnis einer gottgewollten, ja religiösen Einstellung und Verantwortung gegenüber Erde und Tier, auf dass sie, die Mutter Erde, uns segnen könne mit gesunden und gesunderhaltenden, gesundmachenden Früchten, anstatt uns zu strafen mit Hunger, Seuchen und Krieg«.95

Distanz hielt Mina Hofstetter zu den Praktiken der ebenfalls in den 1920er‐Jahren entstandenen bio‐dynamischen Landwirtschaft. »Biologisch‐dynamisch« nenne »sich die Landwirtschaft, die nach den Lehren Rudolf Steiners« gehe, schrieb sie 1933. »Die Grunderkenntnisse sind dieselben, die ich auch bejahe. Hingegen kann ich zwei Dinge nicht bejahen. Es sind diese: die Voraussetzung der Viehzucht und die geheimnisvollen Präparate.« Wenn man wisse, »dass Vegetarismus allein zur Gesundheit« führe, sei es »lebensgesetzlich widersinnig, Tiere in Ställe zu sperren und zu Sklaven zu machen und die Menschen wieder zu Sklaven dieser Tiere«. Die Theoretiker dieser Lehre, fuhr sie fort, seien »jedenfalls zum allerwenigsten Stallknechte und Tierbetreuer gewesen, sonst müsste ihnen ihr Feingefühl von selbst sagen, in welcher Weise sie in die Unnatur und Widersinnigkeit hineingeraten sind. Auch würden sie die unaussprechlichen Leiden der Tiere nicht zehn Jahre aushalten, ohne dass ihr Gewissen belastet würde.«96

Gleichzeitig mache sie sich Gedanken darüber, ob es nicht Zeit zu einem organisatorischen Zusammenschluss aller Biobauern und ‑bäuerinnen wäre, »um jene Untersuchungen vornehmen zu können, die dem Einzelnen nicht möglich sind, die verschiedenen Anbaubetriebe zu beobachten und alle jene, die sich der Kontrolle unterwerfen in den Reformzeitschriften bekannt zu geben«.97 Obwohl sie zum Schluss kam, dass ein »solcher Zusammenschluss […] allen zum Segen« würde, unternahm sie in der Folge nichts, um das Anliegen zu verwirklichen. Vermutlich wurde sie in dieser Frage auch deshalb nicht aktiv, weil sie wusste, dass es in der Frage der Tierhaltung keinen Kompromiss zwischen der bio‐dynamischen und der biologisch‐natürlichen Richtung des Biolandbaus gab. Auch in der Genossenschaft Biologischer Landbau (heute: Bioterra), die 1947 auf ihrem Hof Stuhlen gegründet wurde, war sie nie aktiv.

Dass Mina Hofstetter sich im Organisationswesen nie wirklich engagierte, hat dazu beigetragen, dass ihre Arbeit von den 1950er‐ bis in die 1990er‐Jahre weder von Bioterra noch in den Kreisen der bio‐dynamischen Landwirtschaft ein Thema war. Das gleiche gilt für die jungen Wissenschaftler:innen aus dem Umfeld des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL), die sich in den 1970er‐Jahren für den Biolandbau zu engagieren begannen: Auch diese bezogen sich in ihren Arbeiten nicht auf die Bäuerin aus Ebmatingen.98 Und die Exponenten des organisch‐biologischen Landbaus, die, wie Fritz Bohnenblust oder Edmund Ernst die Arbeit von Mina Hofstetter aus der Praxis kannten, weil sie in den 1930er‐Jahren Kurse auf Stuhlen besucht hatten,99 erwähnten Hofstetter in ihren Texten genauso wenig wie Hans Müller und Hans Peter Rusch, die beiden »Theoretiker« des organisch‐biologischen Landbaus. Auch Maria Müller‐Bigler, die Leiterin der Bäuerinnenschule auf dem Möschberg, die den dortigen Kochunterricht ganz in den Dienst der »neuzeitlichen Ernährungslehre« stellte, bezog sich in ihrem Plädoyer für mehr Rohkost (und weniger Fleisch) in den bäuerlichen Haushalten explizit auf Vertreter wie Maximilian Bircher‐Benner, nicht aber auf Mina Hofstetter, die sie vermutlich 1928 an der SAFFA in Bern auch persönlich kennengelernt hatte.100 Zur Marginalisierung von Mina Hofstetter in der Nachkriegszeit – in der sich der Pro‐Kopf‐Konsum von Fleisch mehr als verdoppelte101 – sicher beigetragen hat auch, dass sie nicht nur Vegetarierin war, sondern eine vegane Ernährung und viehlose Landwirtschaft propagierte. Von der Bio‐Szene (wieder‑)entdeckt wurde Mina Hofstetter in den frühen 1990er‐Jahren, als sich Otto Schmid vom FiBL und Anita Dörler, die Redakteurin des Publikationsorgans von Bioterra, im Hinblick auf das 50‐jährige Bestehen auf die Suche nach den Wurzeln der Organisation machten.102

Abbildung 7 Mit Inseraten in Periodika und Broschüren der Lebensreformbewegung machte Mina Hofstetter auf die Kurse und Erholungsmöglichkeiten auf Stuhlen aufmerksam.

Abbildung 8 Die in den frühen 1930er‐Jahren errichtete Hinweistafel auf die Lehrstätte für biologischen Landbau auf dem Hof Stuhlen.

Lehrstätte für biologischen Landbau

Allein aus den vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen, die Hofstetters in den 1920er‐Jahren pflegten, wird klar, wie solide der Betrieb in den sich oft überschneidenden Milieus der Lebensreform und der Freiwirtschaft verankert war.103 Die zuweilen auch Lehrgänge genannten, erstmals 1922 durchgeführten Kurse auf Stuhlen waren in den 1920er‐Jahren wirtschaftlich eher eine Belastung für den Betrieb. Das Sonnenbad stehe auch »diesen Sommer allen Gesinnungsgenossen« offen, schrieb Mina Hofstetter im Mai 1926, aber der »Selbsterhaltungstrieb« zwinge sie, bei den Kursen wenigstens für das Essen einen Franken zu verrechnen und für den Aufenthalt im neu erbauten »Lichtwärts« eine freiwillige Spende anzunehmen.104 Später schrieb sie: Wir haben »eine grosse Bitte an alle Rohköstler: Unterstützt uns bei der Gründung einer Schulungsstätte zur Förderung der neuzeitlichen biologischen Bodenkunde, des Gartenbaues und der Landwirtschaft. Menschen sind da, die die Erkenntnisse, den guten Willen und die Kraft haben. Aber die Mittel zur Durchführung fehlen«. Außer Geldspenden seien auch »Gebrauchsgegenstände wie landwirtschaftliche Maschinen, hauswirtschaftliche Geräte und Wäsche besonders willkommen«.105

Das nach Werner Zimmermanns Buch »Lichtwärts« benannte einfache Holzhaus hatten Hofstetters zu erstellen begonnen, um den Kursteilnehmer:innen Möglichkeiten zum Luft‑, Licht‐ und Sonnenbaden zu schaffen. Das Sonnenbad bauten Hofstetters auch, weil die insbesondere von Zimmermann propagierte, im und am Greifensee praktizierte Freikörperkultur bei den Behörden Anstoß erregt hatte. So zeigte der Dorfpolizist von Maur im August 1922 Teilnehmerinnen des ersten Kurses an, der unter der Leitung von Zimmermann und Fritz Schwarz durchgeführt wurde, weil sie im Greifensee nackt badeten. Die vier Lehrerinnen wurden vom Bezirksgericht zwar freigesprochen, aber weil die Staatsanwaltschaft den Fall vor das Zürcher Obergericht weiterzog – wo ebenfalls ein Freispruch resultierte –, erregte die Angelegenheit in der Presse viel Aufmerksamkeit.106

Anlässlich des ersten Kurses schrieb sich Mina Hofstetter im Gästebuch als eine der insgesamt 39 Teilnehmenden ein, die allesamt der Freiwirtschaftsbewegung angehörten oder dieser zumindest nahestanden. Knapp die Hälfte der Anwesenden waren Frauen, darunter bemerkenswert viele junge Primarlehrerinnen.107 Als Hofstetters 1925 mit dem Bau des Sonnenbads begannen, machte Mina Hofstetter die Leser:innen der Zeitschrift TAO immer wieder darauf aufmerksam, dass auf Stuhlen nun auch Feriengäste willkommen seien.108 Und es kamen so viele, dass Ernst und Karl Hofstetter zehn Jahre später mit dem »Seeblick« oberhalb des Hofes ein stattliches Kurs‐ und Aufenthaltsgebäude erstellen konnten, in dem in den nächsten 15 Jahren hunderte von Kursteilnehmer:innen und Erholungssuchenden untergebracht wurden. Auch Mina und Ernst Hofstetter wohnten bis zu ihrem Tod 1967 im »Seeblick«. Im Bauernhaus, in dem sich auch die Schreinerei befand, wohnten zuerst Karl und seine Familie, später zusätzlich die Familie von Werner Hofstetter.

Mina Hofstetters Rolle im Kurswesen auf Stuhlen änderte sich rasch von derjenigen einer Teilnehmerin über diejenige der Gastgeberin hin zu derjenigen einer Leiterin. In den von ihr organisierten Lehrgängen wurden lebensreformerische Anliegen wie die vegetarische Ernährung, der »viehlose, lebensgesetzliche Landbau« sowie das Sonnen‑, Licht‐ und Luftbaden propagiert und praktiziert. Geprägt wurden die Lehrgänge aber nicht nur von den Inhalten, sondern auch von den teilweise prominenten Referent:innen wie Maximilian Bircher‐Benner, Werner Zimmermann, Hedwig Eichbauer, Walter Rudolph oder Ewald Könemann, insbesondere aber von Mina Hofstetter selbst. Sie machte auf viele Besucher:innen einen derart starken Eindruck, dass diese wiederholt auf den Hof zurückkehrten.109

Waren es in den 1920er‐Jahren noch vorwiegend »Gesinnungsgenossen« aus der Freiwirtschaftsbewegung gewesen, die nach Stuhlen pilgerten, so versuchte Mina Hofstetter in den 1930er‐Jahren zunehmend ein in erster Linie an einer »gesunden« Ernährung und dem Biolandbau interessiertes Publikum aus den Städten zu erreichen.110 Das hing auch damit zusammen, dass sie Ende der 1920er‑, anfangs der 1930er‐Jahre an Ausstellungen ihre Anbauversuche vorstellen konnte und dabei auch mit einem vielfältigeren Publikum in Kontakt kam. In den 1930er‐Jahren ließ sie ein Flugblatt mit dem Titel drucken: »Warum biologisches Gemüse?«. In solchen Prospekten und Inseraten wies sie nicht nur auf ihre »Lehrstätte für biologischen Landbau« hin, sondern auch auf die Vorzüge des Konsums von Gemüse vom Hof Stuhlen: »Sie erhalten durch meine Erzeugnisse eine gesunde Nahrung. Eine Nahrung, welche wirklich die Bildekräfte des Regens und des herrlichen Sonnenscheines in harmonischer Synthese zu den Lebensenergien unserer Mutter Erde in sich birgt. Gesunden und Kranken, Erwachsenen, wie den kleinsten Kindlein geben Sie durch biologisch gezogene Gemüse‐ und Obsterzeugnisse eine scharfe Waffe gegen Krankheit und einen Quell aufbauender Gesundheit und Lebensfreude.«111

Durchgeführt wurden auf Stuhlen neben den schon in den 1920er‐Jahren mehrere Tage dauernden Kursen immer wieder auch einmalige Anlässe. Am 13. Juni 1926 beispielsweise hielt Maximilian Bircher‐Benner vor mehr als 100 Personen einen Vortrag zum Thema »Sonnenlichtnahrung«. Die anschließende Diskussion kam etwas »zu kurz«, weil es zu regnen anfing.112 Ein halbes Jahr später, im Januar 1927, referierte der aus Deutschland stammende Bildhauer August Kottonau über »Grafologie«.113