Miniaturen - Joanna Liechti - E-Book

Miniaturen E-Book

Joanna Liechti

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Beschreibung

Die Sammlung "Miniaturen" gibt Einblick in ein 80-jähriges Leben zwischen Ost und West. Die persönlichen Erlebnisse und Ansichten von Joanna Liechti-Smolinska in Form von heiteren Kurzgeschichten lesen sich leicht, sind aber auch Zeitzeugnisse aus dem Alltag des Kalten Krieges. Illustriert wurde das Werk mit Bildern ihrer drei Enkelinnen.

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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

BASIA

PLAISIR DE FAIRE

ILLEGALER AUSFLUG IN MOSKAU

DIE AMERIKANERIN

DIE ARDEZER

DIE DACHRINNE

DIE FRAU AUF DEM BILD (EINES UNBEKANNTEN MALERS)

IM ZÜRCHER TRAM ZWISCHEN KREUZ- UND KLUSPLATZ

DER STADELHOFENPLATZ IN ZÜRICH

SCHRÄGE VÖGEL

NÄCHSTENLIEBE

DIE ZIGEUNER

LAVENDELDUFT

DER SCHLAUE FUCHS

SONNTAGSZOPF

PUKI

DAS DAMOKLESSCHWERT

DER FLÖTENCHOR (EINE AUTOBIOGRAFIE)

OST-WEST-BEZIEHUNG – TOD

VORWORT

Eigentlich wollte meine Mutter Puppenspielerin werden mit selbst gemachten Marionetten. Doch ihr Vater fand das keinen geeigneten Beruf. So wurde Joanna Liechti-Smolińska Übersetzerin für Polnisch-Deutsch, transkribierte juristische Texte, führte polnische Geschäftsmänner durch schweizerische Industrieanlagen und übersetzte auch einige noch unbekannte polnische Märchen ins Deutsche.

Ihre grosse Leidenschaft galt aber der Literatur und den Geschichten. Unzählige Bücher wurden verschlungen. So erarbeitete sich Joanna einen guten Ruf als erste Vorkösterin und Bücherwählerin der Bibliothek Maur. Im Alter begann Joanna Kurzgeschichten zu verfassen und diese der Familie an Weihnachten vorzutragen.

So entstand diese Sammlung mit verschiedenen Farbtupfern, Erlebnissen und Ansichten aus einem 80-jährigen Leben in zwei Kulturen. Illustriert wurde das Werk mit Bildern ihrer drei Enkelinnen Lieva, Valeria und Polina.

Allen Mitwirkenden möchte ich herzlich für ihr Engagement danken. Tobias Liechti, der jüngere Sohn der Autorin.

BASIA

Zakopane in Südpolen ist mein Geburtsort, und dort lebten wir 6 Jahre lang während des Zweiten Weltkriegs. Zakopane war ein Kurort für Lungenkranke und naturliebende Künstler. Unser Ferienhaus war schon vor dem Krieg rege von der Familie benutzt. Es war aus Holz gebaut im Tatrachalet-Stil. Heute steht es unter Heimatschutz.

Niemand dachte, dass der Krieg sechs Jahre lang dauern wird und eine kleine Dachwohnung in dem Haus der Familie Schutz bieten würde. Früh entdeckten die Nazis die Reize des Ortes, und eine grosse Kavallerie-Truppe okkupierte Zakopane. Die Wanderwege wurden durch Deutsche gut bewacht. Für Menschenschmuggel durch die Berge wurde öffentlich die Todesstrafe bekannt gegeben. Trotzdem bildeten die Goralen (Bergstamm seit Jahrhunderten dort ansässig mit eigenem Dialekt) versteckte Résistance-Gruppen, um wichtige polnische Persönlichkeiten wie Politiker, Piloten, Offiziere und Juden über die grüne Grenze in die Slowakei nach Westen zu schmuggeln. Der Führer dieser Gruppe war ein Gorale mit den besten Kenntnissen der Gegend und der geheimen Wege. Mein Vater, Chemiker und Tatra-Liebhaber, wurde Mitglied einer solchen Gruppe. Viele Tage und Wochen war er unterwegs. Die Familie hatte grosse Angst um ihn.

Eines Tages brachte der Vater uns zwei Kindern ein kleines schwarzes Eichhörnchen mit gebrochenem Bein von seiner «Bergexkursion» zurück. Meine Mutter, ausgebildete Krankenschwester, behandelte das Bein und machte eine Schiene aus Karton. Wir Kinder schauten zu. Meine Mutter wurde vom Eichhörnchen gekratzt und gebissen bei der Rettungsaktion. Auch eine Art Hülle bekam das Tier, eine aus Schafwolle mit Watte gefüllte Socke.

Wir nannten unsere neue Bewohnerin Basia (Kosename von Barbara). Sie fand Gefallen am neuen Heim und zusammengerollt schlief sie dort gern. Nüsse waren rar und unauffindbar. Harte Brotrinde, Zwieback oder Hartkäse waren vorhanden. Basia ass davon alles, auch den Sauerrahm, den dicken Twarog (polnischen Quark), von uns gefundene Eicheln liebte sie. Alle Kinder, auch die aus der Nachbarschaft, hatten eine willkommene Abwechslung in der düsteren und traumatisierten Zeit.

Draussen spielen war gefährlich wegen den Bombardierungen, die schwereren Artillerie-Autos machten uns Angst. Spielsachen waren nicht zu kaufen, der Kindergarten zu. Essen war nur mit Lebensmittelmarken erhältlich und rationiert. Basia, unsere Tierfreundin, wurde beobachtet, gestreichelt und sehr geliebt.

Ich und meine Schwestern hatten plötzlich die Stube voller Spielkameraden. Alle wollten Basia sehen. Basia genoss die Aufmerksamkeit, sie spürte ihre Wichtigkeit für uns Kinder in der Kriegszeit. Sie sass gern zuoberst auf dem Küchengestell und beobachtete die Kochkünste meiner Mutter. Ab und zu stibitzte sie einen Leckerbissen aus der Pfanne und wir lachten.

Zu unserem Haus gehörte eine grosse bunte Blumenwiese voll mit Mohn-, Korn- und Margeritenblumen. Im Krieg vermietete unsere Grossmutter diese Wiese dem katholischen Pfarramt. Der Priester war wohlgenährt und trug vor sich einen dicken Bauch. Seine Haushälterin Janka war bekannt als ausgezeichnete Köchin. Zur Pfarrei gehörten zwei Rösser und eine Kutsche für die Gläubigen-Besuche. Man munkelte: Ein kleines Kind lebe auch beim Priester.

Somit wurde bestätigt, dass in den katholischen Priesterhaushalten in den polnischen Provinzorten «Wunder» geschehen. Jedes Jahr im Krieg, Ende August, fuhren wir Kinder auf dem Heuwagen gedrängt zur Pfarrei zum «Zvieri». Es gab immer den gleichen wunderbaren Zwetschgenkuchen und heisse Milch. Wir fuhren durch Zakopane – still, auf unerwartete Gefahren vorbereitet.

In dieser Zeit war Basia allein in der Wohnung. Als wir zurückkamen lag sie tot an einem eisernen Gitter in dem sie sich bei ihren Sprüngen verfing. Niemand war anwesend, um sie zu retten. An einem Tag war so viel Freude und Trauer zu viel für die Kinder zu bewältigen. Wir waren sehr traurig.

Das Haus grenzte an einen Friedhof, und jeden Tag zogen Leichenwagen vor unseren Fenstern vorbei. Wir wollten Basia würdig begraben in unserem Gärtchen. Eine Schachtel diente als Sarg, die Kinder dekorierten ihr Grab mit kleinen Steinen. Auf einem Stück Holz schrieb meine Mutter:

Basia, Mai-August 1944

Jedes Kind setzte eine Lieblingsblume ein.

In den polnischen Parks und Grünanlagen rufen die Kinder die Eichhörnchen mit dem Kosenamen Basia. Sie kommen die Nüsse holen.

In Arosa reagieren die Tiere nicht auf den Kosenamen. Es scheint, dass die Kosenamen an jeweilige Sprache und Kultur gebunden seien. Noch nicht global.

PLAISIR DE FAIRE

Als ich noch Schülerin war und zugleich zwei Schulen bewältigen sollte – am Vormittag die obligatorische Volksschule, am Nachmittag die Musikschule – hatte ich gerne die farbigen Bonbons in den Taschen zum Naschen. Gegen den Schulstress. Heute, bei Müdigkeit, esse ich eine Praline statt Bonbons.

Nach dem Krieg gab es in Polen keine Schoggi, Bonbons aber schon. Die farbigen Zeltli waren in vielen kleinen Lebensmittelläden zu kaufen und waren sehr billig. Aufbewahrt wurden sie in grossen, mit Korkzapfen verschlossenen Gläsern, gut sichtbar bei der Kasse. Noch heute liegen die Süssigkeiten aufgestellt bei der Kasse, wegen des Diebstahls – zum Ärger der Mütter.

Die Bonbons wurden in Heimarbeit, in kleinen Bäckereien oder bei «Wedel» produziert.

Die Fabrik «Wedel» war der grösste Produzent der Süssigkeiten. Bonbons mit Konfitürefüllung waren die besten, aber viel teurer als andere. Trotz Krieg und Kommunisten-Herrschaft hat der Inhaber Wedel seine Spezialitäten ans Volk gebracht.

Über 100 Jahre. Schweizer Schoggi war ein höchster Luxus, reserviert für Parteibonzen und Reiche, verkauft im eleganten Delikatessenladen im Zentrum von Krakau. Herr Wedel war aus Wien gekommen, aus der Donaumonarchie, welche Galizien und Krakau besetzt hat.

Damals haben viele Deutsche, Österreicher und Franzosen in der aufkommenden Industrialisierung in Polen investiert und die heutige globale Ära vorbereitet.

Einmal klagte meine Mutter beim Hausarzt wegen meiner Bonbonnascherei, worauf dieser antwortete: «Frau Smolińska, haben Sie Geduld. Bald wird ihre Tochter Salzgurken statt Bonbons essen. Die Geschmäcker bei den Kindern ändern sich.»

Zur Zeit des Coronavirus mussten wir die Hände mit Seife waschen. Eines Tages bekam ich ein kleines Paket mit selbstgemachten Stoffmasken, aromatischem Tee und wunderschön in Cellophan verpackte kleine «Naschgeschenke».

Ich dachte mir: Die so kunstvoll verpackte Schoggi, hell und dunkel mit Nougat dekoriert, mit Masche und einem aufgeklebten Spruch «avec plaisier», wird ausgezeichnet schmecken. Ich packte die kleine, süsse französische Spezialität aus und biss kräftig ein grosses Stück ab. In meinem Mund brannte es, schäumte, die Zunge schwoll, die Zähne klapperten. Wollte mich jemand vergiften? Ich spuckte alles aus und spülte den Mund mehrmals aus. Der Nachgeschmack blieb!

Es war keine Schoggi, es war eine kleine Seife, um die Hände oft «mit plaisier» zu waschen. Ich schwor mir in Zukunft bei der Wahl der Naschobjekte vorsichtiger zu sein, denn ‹avec plaisier› kann zu ‹sans plaisir› werden.

ILLEGALER AUSFLUG IN MOSKAU

Das Jahr 1968 war auf der Welt ereignisreich. In Amerika die «nackttanzenden Blumenmädchen», in Europa die Jugend- und Studentenunruhen, in Zürich Krawalle vor dem Opernhaus. Man sprach über die schlimme LSD-Droge, deren Wirkung heute gelobt wird. Sie soll gut gegen die Volkskrankheit Depression sein. Auch im Slawischen Seminar blieb die Zeit nicht stehen.

Eines Tages hing auf der Mitteilungstafel ein Avis: «Die UNSECO» (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) lädt zukünftige Russischlehrer, Übersetzer und Dolmetscher zu einem Intensiv-Russisch-Kurs in Moskau ein. Kosten: 1000 Franken, Zeit: Zwei Wochen lang, Mitte bis Ende August 1968. Ich war sehr erstaunt über den Preis. Der Flug war auch bezahlt. Für eine Studentin ein tolles Geschenk. In der Dolmetscherschule in Zürich wurde ein Sprachaufenthalt in der dritten obligatorischen Sprache zur Pflicht.

Ich melde mich sofort an. Die grösste Gruppe war aus Frankreich. Schon damals waren sie auf der Seite der Sozialisten, ohne Kenntnisse der russischen Sprache. Es kamen auch einige Deutsche. Aus der Schweiz waren wir nur zwei. Ich und eine Maja. Sie liebte Russisch, war Primarschullehrerin und nicht aus der Ruhe zu bringen.

Als mein Vater erfuhr, dass ich nach Moskau fliege, bat er mich für einen Professor der Radiochemie in Moskau, welcher gute Erfahrung auf dem Gebiet hatte, einige wissenschaftliche Schriften mitzunehmen und den Wissenschaftler zu besuchen. Ich steckte die Schriften zuunterst in den Koffer, ohne zu wissen, dass jegliche Kontakte mit Russen privater Art streng verboten waren.

Einige Tage später sass ich im Flugzeug nach Moskau. Die französische Gruppe, zahlreich und laut, sass auch im Flugzeug. Bevor wir abflogen, drängte sich eine beleibte, stark geschminkte Frau, angeblich die Gesandte der russischen Botschaft, durch die Tür. In den Händen hielt sie einen Stapel Zettel. Es waren schriftlich gefasste Verhaltensregeln für die Zeit des Kurses in Moskau. Jeder Teilnehmer des Kurses bekam so einen Zettel, nummeriert und mit den Namen versehen.

Noch nicht in Moskau, schon waren wir registriert, damit auch kontrolliert. Das Wichtigste für mich stand schwarz auf weiss: Die westlichen Bürger dürfen nicht mit Bürgern der Sowjetrepublik private Gespräche führen oder Besuche tätigen. Gruppenmitglieder dürfen sich nicht im Alleingang bewegen und die Gruppe verlassen. Weiter konnte ich nicht lesen, denn das Flugzeug war beim Abflug unruhig. Ich dachte damals: «Oje, was habe ich mir aufgebürdet: Verbotene Schriften im Koffer, dazu ein geplanter Besuch bei einem russischen Wissenschaftler – und das im Alleingang!»

Nach der Landung führten uns die Busse ins Zentrum von Moskau in ein historisches Haus, welches als Studentenheim diente. Man hat uns zu dritt ins Zimmer einquartiert. Ein langer Gang führte zum Esssaal. Im Gang sassen drei «Babushki» – alte Frauen. Jede hatte eine Tasche mit zugeschnittenem, weichem Zeitungspapier. Man konnte es bei ihnen wegen mangelndem WC-Papier in ganz Moskau abholen, auch sonst alles, was man für Hygienezwecke brauchte.