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Als die Polizei vor ihrer Tür steht, bricht für Nas eine Welt zusammen: ihre Schwester Nushin ist tot. Autounfall, sagen die Beamten. Suizid, ist Nas überzeugt. Gemeinsam haben sie alles überstanden: die Migration nach Deutschland, den Verlust ihres Vaters, die emotionale Abwesenheit ihrer Mutter, Nushins ungeplante Mutterschaft. Obwohl ein Kind nicht in ihr Leben passt, nimmt Nas ihre Nichte auf. Selbst als sie entdeckt, dass Nushin Geheimnisse hatte, schluckt Nas den Verrat herunter, gibt alles dafür, die Geschichte ihrer Schwester zu rekonstruieren – und erkennt, dass Nushin sie niemals im Stich gelassen hätte.
»Ministerium der Träume« ist ein Roman über Wahl- und Zwangsfamilie, ein Debüt über den bedingungslosen Zusammenhalt unter Geschwistern, das auch in die dunklen Ecken deutscher Gegenwart vordringt.
»Hengameh Yaghoobifarah packt den Kopf so voll mit Bildern und das Herz mit Gefühlen, dass man es kaum aushält. Ein oft genutzter Vergleich, aber hier ist er wirklich treffend: Diese Geschichte ist so aufregend, angsteinflößend, lustig und aufrüttelnd wie eine Achterbahnfahrt.« Alice Hasters.
»Hengameh Yaghoobifaras ›Ministerium der Träume‹ ist ein Hurrikan, der um ein Angstauge kreist, eine Traumafabrik, die mitten in Deutschland steht.« Karen Köhler.
»Auch in ›Ministerium der Träume‹ sind Yaghoobifarahs Worte eine sanfte Waffe, fein und brutal. Eine Geschichte zum Schreien und Weinen, voll von eindrücklichen Bildern und poetischer Schönheit.« Giulia Becker.
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Als die Polizei vor ihrer Tür steht, bricht für Nas eine Welt zusammen: ihre Schwester Nushin ist tot. Autounfall, sagen die Beamten. Suizid, ist Nas überzeugt. Gemeinsam haben sie alles überstanden: die Migration nach Deutschland, den Verlust ihres Vaters, die emotionale Abwesenheit ihrer Mutter, Nushins ungeplante Mutterschaft. Obwohl ein Kind nicht in ihr Leben passt, nimmt Nas ihre Nichte auf. Selbst als sie entdeckt, dass Nushin Geheimnisse hatte, schluckt Nas den Verrat herunter, gibt alles dafür, die Geschichte ihrer Schwester zu rekonstruieren – und erkennt, dass Nushin sie niemals im Stich gelassen hätte.
»Ministerium der Träume« ist ein Roman über Wahl- und Zwangsfamilie, ein Debüt über den bedingungslosen Zusammenhalt unter Geschwistern, das auch in die dunklen Ecken deutscher Gegenwart vordringt.
»Hengameh Yaghoobifarah packt den Kopf so voll mit Bildern und das Herz mit Gefühlen, dass man es kaum aushält. Ein oft genutzter Vergleich, aber hier ist er wirklich treffend: Diese Geschichte ist so aufregend, angsteinflößend, lustig und aufrüttelnd wie eine Achterbahnfahrt.« Alice Hasters
»Hengameh Yaghoobifaras ›Ministerium der Träume‹ ist ein Hurrikan, der um ein Angstauge kreist, eine Traumafabrik, die mitten in Deutschland steht.« Karen Köhler
»Auch in ›Ministerium der Träume‹ sind Yaghoobifarahs Worte eine sanfte Waffe, fein und brutal. Eine Geschichte zum Schreien und Weinen, voll von eindrücklichen Bildern und poetischer Schönheit.« Giulia Becker
Über Hengameh Yaghoobifarah
Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel, studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping. Nach einem Zwischenstopp in Wien zog Hengameh Yaghoobifarah 2014 nach Berlin und arbeitet dort seitdem in der Redaktion des Missy Magazine. Außerdem schreibt Hengameh Yaghoobifarah frei für deutschsprachige Medien, seit 2016 etwa die Kolumne »Habibitus« für die taz. 2019 hat Hengameh Yaghoobifarah gemeinsam mit Fatma Aydemir die viel beachtete Anthologie »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben.
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Für meine Ride or Dies
»Sometimes I trip on how happy we could be«
PRINCE
War ja klar, dass es brennt. Der Boden ist eine riesige dunkle Fläche aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmäßig verteilten Schlaglöchern und allen Sprüchen, die mich je verletzt haben. Er will mich schlucken. Der Regen, der vor einer Stunde gegen mein Fenster prasselte, ist verdampft. Wie meine Träume, nur dass die keine schwüle Luft hinterlassen haben. Wer kann denn auch ahnen, dass es selbst abends zu stickig ist, um rauszugehen? Nicht schlecht, Deutschland.
Jeder Schritt: eine Drohung meiner schweißnassen Füße, aus den Schlappen zu rutschen. Ausgerechnet meine Sohlen sind die einzigen Körperteile, die nicht kleben. Dann Staffelfinale im Kampf zwischen Mode und Mensch: Wie in Zeitlupe falle ich aus meinen Schuhen und stolpere über eines der Schlaglöcher. Every now and then I fall apart. Dunkelrot glänzt mein Blut auf dem Boden, ein frischer Knutschfleck, den mein aufgeschlagenes Knie hinterlassen hat. Ich ignoriere die Wunde und renne weiter. Mein Puls schlägt schnell, doch meine Schritte sind schneller.
Mit dem Geschmack von Eisen im Mund nähere ich mich meinem Ziel. Vor der Telefonzelle stehen Menschen, sie bilden eine unendlich lange Schlange. Ihr Tuscheln klingt rhythmisch, es erinnert mich wie das Ticken einer Uhr daran, wie wenig Zeit mir bleibt. Stress ist auch eine Droge, nur habe ich noch nicht gelernt, sie richtig zu dosieren.
Ein junger Mann stellt sich hinter mich, liest ein Buch. Woher die Ruhe, Bruder, will ich fragen. Ich mustere ihn. Vermutlich Student. Oder Lehrer. Plötzlich fällt ihm sein Buch aus der Hand, landet vor meinen Zehen. Als ich mich bücke, um danach zu greifen, schaue ich auf die aufgeschlagene Seite. Alle paar Absätze hat jemand Löcher ins Papier geschnitten. Es fehlen Wörter, teilweise ganze Sätze. Der Mann schnappt mir das Ding aus der Hand, er zieht am Buchrücken, die Seiten öffnen sich wie ein Fächer, fast alle von ihnen sind so zerschnitten. Entsetzen will sich in mir ausbreiten, aber irgendwie auch keine Zeit dafür.
Ich drehe mich um und versuche zu zählen, wie viele Menschen vor mir stehen. 30? 50? 100? Nach zwei Versuchen, bei denen ich nur bis 23 komme, gebe ich auf. In dieser Scheißhektik kann ich keinen klaren Gedanken fassen, obwohl ich erst mal nur hier stehe und warte. Die Leute zappeln rum, brabbeln wirr durcheinander, die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute.
Plötzlich setzt ein schrilles Klingeln ein. Schon wieder dieses Geräusch. Es klingelt nur für mich. Ich versuche, nach vorne zu gelangen, doch man lässt mich nicht. Immer wieder versuche ich, die Dringlichkeit zu erklären. Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal. Ich renne an den Anfang der Schlange. Verzweiflung macht sich in mir breit, ich darf den Anruf nicht verpassen. Es könnte der letzte sein.
»Bitte, ich muss in die Telefonzelle«, flehe ich die Person an der Spitze an, wie so ein Opfer, das ich nie sein wollte. Ohne einen Funken Empathie wirft sie einen abfälligen Blick auf mich, sieht dabei zu, wie der Schweiß von meinem Kinn auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft. Ich öffne meinen Geldbeutel und biete der Person alles an, was drin ist. Sie willigt schließlich ein und lässt mich vorbei.
Hier drinnen ist es noch wärmer und stickiger als draußen. Der Gestank von abgestandenem Zigarettenqualm dringt in meine Nase. Meine Augen tränen. Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife.
»Hallo?«, frage ich hastig. Stille. Komm schon. Durch die Glasscheibe erkenne ich meine Schwester und Mâmân in der Ferne. Endlich. Ich winke ihnen zu.
»Hallo, Nasrin«, tönt es durch die Leitung.
Erleichtert atme ich auf. »Bâbâ«, flüstere ich. Er klingt erschöpft, seine Stimme etwas kratziger als in meiner Erinnerung. Ich schaue in den Himmel, wo sich die Telefonleitungen als schwarze Linien parallel zueinander entlangstrecken. Auf ihnen sitzen Vögel, so viele von ihnen, dass sie aggressiv um ihren Platz drängeln müssen. Warum gucken Krähen eigentlich immer so brutal?
»Mâmân und Nushin sind gleich hier«, sage ich, aber erstarre, als die beiden Figuren, denen ich eben noch zugewinkt habe, jetzt vor der Tür stehen. Aus ein paar Metern Abstand war ich mir so sicher gewesen, dass es sich um meine Mutter und meine Schwester handelt. Jetzt bete ich mit jeder Zelle meines Gehirns dafür, dass das eine Sinnestäuschung war. Die beiden Gestalten sind am gesamten Körper mit Brandnarben übersät, die ihre Haut wie geschmolzenes Plastik wirken lassen. Ihre Augen sind leer, bluten. Uff, in was für eine Freak-Show bin ich hier reingeschlittert? Doch dann höre ich Nushins Stimme. »Ist Bâbâ am Telefon?«, fragt die kleinere der beiden Personen.
Meine Panik ist ein geplatztes Rohr, sie bricht über mich herein, erst fällt sie mir auf den Kopf, dann stehe ich mit dem ganzen Körper im Abwasser, umgeben von Ratten.
»Nasrin, mach die Tür nicht auf«, befiehlt Bâbâ in einem strengen Ton. Es raschelt bei ihm, auf einmal höre ich Mâmân durch die Leitung sprechen. »Es ist eine Falle.«
Ich verstehe überhaupt nichts mehr. »Mâmân? Warum bist du bei Bâbâ? Wo ist Nushin?«
»Sie ist bei uns«, antwortet sie.
In diesem Moment klopft es an der Scheibe. Die Person, die ich für Nushin gehalten habe, hört nicht auf, mit ihrer geballten Faust dagegenzuhämmern. »Lass uns endlich rein«, fordert sie und rüttelt an der Tür. Mit meiner freien Hand umklammere ich den Griff, obwohl ich unsicher bin, wem ich glauben soll.
»Du darfst niemanden in die Zelle lassen, aber du darfst auch nicht rausgehen«, höre ich Nush durch das Telefon sprechen. Um mich herum wird es immer wärmer. Erst halte ich es für einen Kopffick, einen Nebeneffekt der Anstrengung, doch plötzlich ist der Telefonhörer so heiß, dass ich es nicht mehr aushalte und ihn fallen lasse. »Scheiße«, rufe ich und bemühe mich, ihn wieder zu greifen. Auf einmal scheint es grell durch die Glasscheibe. Welcher Hund versucht, mich mit seinem Scheinwerfer zu blenden? Ich drehe mich in die Richtung des Lichts und erschrecke beim Anblick der Flammen, die das Draußen so hell aufleuchten lassen.
Hastig ziehe ich mein T-Shirt aus, wickle es um meine Hand und schnappe mir den Hörer. Die Temperatur wird mit jeder Sekunde unerträglicher. Die Tränen platzen aus mir heraus. Immerhin sind es nicht die Glasscheiben, die explodieren. Noch nicht. »Was passiert hier?«
»Nas, hör für einen Moment auf, so naiv zu sein. Was denkst du, was hier gerade passiert?« Verwirrt schaue ich mich um. Im glänzenden Metall der Telefonzelle suche ich nach meiner Spiegelung und finde nichts als Leere.
»There’s this empty space you left behind Now you’re not here with me I keep digging through our waste of time But the picture’s incomplete«
ROBYN
Eigentlich heule ich nicht laut, ich habe es in dem Moment verlernt, als Mâmân meinem siebenjährigen Ich in einem spöttischen Ton erklärte, dass laut heulende – oder überhaupt heulende – Mädchen hässlich seien, und welches Kind will das schon: dick, ausländisch, schwach und hässlich sein? Aber in diesem Augenblick ist alles vergessen, alle Regeln, jede Sprache, mein eigenes Gesicht. Tränen, Regen, das Ende der Welt, alles prasselt eimerweise auf meine haarigen Zehen. Sie hat immer gesagt, ein Ende ist immer auch ein Anfang, manchmal ist es halt der Anfang von etwas Beschissenem.
Ein hupendes Auto reißt mich zurück. Seine Scheinwerfer blenden mich, mit einem Reifen steht es auf dem Gehsteig, ich stelle fest, dass es eine Einfahrt ist, die ich mit meinem mächtigen Körper blockiere. Der Fahrer macht hektische Handzeichen.
»Bist du schwer von Begriff, oder was?«, ruft er durch sein heruntergekurbeltes Fenster, ich schaue ihn schweigend an und frage mich, ob es ihm das wert war, die Scheibe herunterzulassen und seinen Regenschutz aufzugeben, nur um einen Spruch zu drücken, was für ein dummer Wichser, hält sich wohl für besonders geil, weil er das Gesetz der Straße durchboxt. Überfahr mich doch, du Hundesohn, will ich brüllen, aber ich sage nichts und gehe weiter.
Unter jeder noch so durchlässigen Überdachung stehen Menschen auf der Sonnenallee dicht aneinandergedrängt, obwohl der Wind sicherstellt, die Nässe trotzdem von allen Seiten in ihre Richtung zu wehen. Ich laufe an ihnen vorbei, sie sind mir egal, genau wie die vorbeirasenden Autos, die mich im Minutentakt mit dem dreckigen Wasser aus den Pfützen am Seitenrand vollspritzen. Alles schwimmt an mir vorbei. Nur der hellbraune Fleck auf meiner Brust nicht. Wer hätte gedacht, dass Erdnusssoße so sturmresistent ist? In diesem Moment ist dieser Fleck das Relikt einer Zeit, auf die ich nun keinen Zugriff mehr habe. Dabei ist er nur einige Stunden alt, er manifestierte sich auf meinem Shirt, als ich nach meiner Schicht auf dem Bordstein vor dem sudanesischen Imbiss saß und die nächtliche Anonymität genoss, in der ich ungestört mit meinem Sandwich rummachen konnte. Der Inhalt landete überwiegend in meinem Mund, doch dieser große Klecks löste sich vom restlichen Sandwich und wurde im Fallen von meiner Brust abgefangen. Ich blickte mich um, niemand war in der Nähe, also zog ich mein Shirt zu meinem Mund hoch und leckte die Soße ab, bis nur noch ein dünner Film von ihr übrig blieb. Zu Hause angekommen war ich so erschöpft, dass ich mich auf die Matratze legte und die Augen schloss. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich träumte, ich weiß nur, dass ich irritiert war, als die Türklingel mich weckte. Vor meinem Fenster zitterten die Äste, dahinter grauer Himmel, der Wind schlug sie gegen meine Scheibe wie eine Vorwarnung.
Beim zweiten Klingeln verließ ich das Bett und zwang mich in den Flur. »Ja, hallo?«, krächzte ich in den Hörer der Türsprechanlage und spürte mein Herz rasen, als sich am anderen Ende der Leitung die Polizei ankündigte. Überfordert drückte ich ihnen die Eingangstür auf. Während die Beamten sich in den dritten Stock zu mir schleppten, kontrollierte ich alle offenen Flächen im Wohnzimmer auf Graskrümel, Pillen und weiße Pulverklümpchen. Im Spiegel bemerkte ich, dass ich immer noch mein dreckiges T-Shirt trug, und zog mir wenigstens eine Hose an. Eine Faust schlug forsch gegen meine Wohnungstür. Ich atmete tief aus und drückte die Türklinke herunter. Vor mir standen zwei Typen, einer von ihnen mit beschlagener Brille, der andere mit vom Regen tropfendem Schnauzbart.
»Guten Tag, sind Sie Nasrin Behzadi?«, grüßte mich der mit dem Bart. Ich nickte.
»Wir würden gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen.«
Ich sagte nichts, blieb vor ihnen stehen und blockierte die Sicht ins Innere meiner Wohnung.
»Könnten Sie vielleicht …?«, begann einer von ihnen, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
»Wenn es um die Familie aus dem vierten Stock geht, kann ich Ihnen versichern, dass es sich wirklich nicht um einen kriminellen Clan handelt«, schoss es aus mir heraus. In den letzten Monaten waren schon einige Beamte wegen dubioser Befragungen in unserem Haus gewesen.
Verblüfft wechselten die beiden wieder einen Blick, einer schüttelte nur den Kopf und zog seine grauen Brauen hoch.
»Vielleicht lassen Sie uns einfach mal kurz reinkommen?«
Etwas widerwillig machte ich einen großen Schritt nach hinten. Bestimmt traten die beiden in meine Wohnung, ich nickte in Richtung meiner Küche und dachte darüber nach, später unbedingt jeden Zentimeter meiner Bude mit dem Salbei auszuräuchern, den meine Kollegin Gigi mir neulich geschenkt hatte. Oder nach Wanzen abzutasten. Die matschigen Spuren ihrer Stiefelsohlen würden mich sicher zwei Stunden und eine halbe Flasche Putzmittel kosten.
»Haben wir Sie geweckt?«, fragte mich der mit der Brille und vergewisserte sich mit einem Blinzeln auf seine Uhr, dass es tatsächlich schon Nachmittag war.
»Nein, nein«, log ich und ärgerte mich über die Frage, deren Antwort so offensichtlich war, während ich eine Karaffe mit Leitungswasser füllte. Etwas ungeschickt knallte ich sie neben drei Gläsern auf den Tisch. Eigentlich war ich noch viel zu verballert, um Gastgeberin zu spielen. Doch in meinem Kopf schob ich die ersten Filme: Wer würde überhaupt mitbekommen, wenn sie mich in meiner eigenen Wohnung abknallten? Bis jemand checken würde, dass ich tot bin und nicht am Ghosten oder Schlafen, könnten ein, zwei Tage verstreichen. Bis dahin würden die Cops sich bestimmt irgendwelche Anhaltspunkte aus dem Arsch ziehen, weswegen sie sich gegen mich wehren mussten. Türsteherin kommt bei Hausbesuch in Neukölln ums Leben, würde die BZ sensationsgeil titeln, wobei das schon eine verdammt lange Überschrift für ihre Verhältnisse wäre. Wahrscheinlich eher so was wie: Razzia: Türsteherin stirbt.
Während ich ein paar Mandeln in ein Schälchen schüttete, warfen die beiden sich merkwürdige Blicke zu. Vielleicht waren sie eine solche Gastfreundschaft nicht gewohnt, witzelte ich noch mit mir selbst und dachte genüsslich daran, später Nush davon zu erzählen. Überfordert wegen Wasser und Nüssen!
Schließlich setzte auch ich mich an den Tisch und schaute die Männer erwartungsvoll an, bis der erste sich räusperte.
»Frau Behzadi, wir sind heute hier, weil wir verpflichtet sind, Sie über etwas zu informieren«, setzte der mit dem Bart an. »Leider gehört es auch zu unseren Aufgaben, manchmal unangenehme Nachrichten zu übermitteln.«
Stutzig schenkte ich ihnen Wasser ein und bemerkte, dass meine Hände nicht mehr ganz so ruhig waren.
Der mit der Brille – hatten sie sich eigentlich vorgestellt? – holte tief Luft und sprach einen Satz, der mich erschütterte wie ein Hammer, der gegen eine Glasscheibe klirrte.
Im Regen wird es immer kälter. Meine Erinnerung hat längst begonnen, sich wie eine Tablette in einer Pfütze aufzulösen. An diesem Punkt bin ich schon mal gewesen. Mein Kopf ist ein Gully, und jeder Gedanke, der hineinkullert, verschwindet für immer. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in diesem Wald gelandet bin. In der Ferne höre ich den Kanal rauschen. Eben waren da noch Menschen und Läden und Autos und Straßen, jetzt sehe ich nur noch nackte Bäume und Matsch. Die Dämmerung bricht langsam an, das merke ich an den Grautönen über mir, die immer dunkler werden. Ich schließe die Augen, stelle mir vor, die Dunkelheit könnte mich vollständig verschlingen.
Ich höre ein lautes Schluchzen, es löst das Unwetter ab, das sich bereits zu einem sanften Nieseln abgeregt hat. Die Stimme klingt zittrig, sie bricht mir das Herz, o Gott, wer ist diese arme Maus, doch erst, als ich mich nach ihr umschauen will, fällt mir auf: Die arme Maus bin ich. Ich stehe wie angewurzelt im Wald und weine. Mir ist schlecht vor Hunger, ich fühle mich unterzuckert, meine Beine sind durchtränkte Löffelbiskuits in einem schlecht zubereiteten Tiramisu. Zum ersten Mal seit Stunden registriere ich, überhaupt einen Körper zu haben. Was für eine Belastung. Resigniert lasse ich ihn zu Boden sinken. Wenn mir der kalte Matsch eine Blasenentzündung verpasst, dann ist es mir auch egal, es haben schon schlimmere Personen unangenehmere Geschlechtskrankheiten auf mich übertragen. Wie schlimm kann es schon sein im Vergleich zu allem anderen?
Ich lehne den Kopf nach hinten gegen den rauen Baumstamm und schließe erneut die Augen. Bilder schießen mir ins Gesicht. Nicht wie Ohrfeigen, sondern wie ein Lastwagen, der mit 250 km/h auf mich zubrettert. Es ist richtig scary, aber birgt auch das Versprechen einer Erlösung, auf die man insgeheim hofft. Ob Nushin wohl in ihrem letzten Augenblick dieselbe Hoffnung hatte?
»Wir konnten trotz der fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leiche Ihre Schwester identifizieren«, hatte einer der Polizisten zu mir gesagt.
»Das war aber auch eine ganz schöne Schrottkiste, mit der sie unterwegs war«, fügte der andere hinzu. »Fatal, was für einen Unfall so ein paar lockere Schrauben verursachen können …«
Ein Leben lang vom eigenen Tod besessen und dann plötzlich bei einem Unfall gestorben? Nushin ist – nein, war – viel zu penibel, um ausgerechnet ihren Abgang dem Zufall zu überlassen. Wenn sich ihr Trotz mit ihrer zerstörerischen Energie vermengte, war Nush immer unaufhaltsam gewesen. Da traue ich ihr alles zu – auch, ihre eigenen Reifen zu manipulieren und sich in ihrem Auto gegen einen Baum zu rammen, bis das Teil in Flammen steht. Wie oft hatte sie laut herumphantasiert, auf welche brutalen Arten sie ihr Leben beenden wollte? Und wie oft probiert? Niemand außer mir weiß, wie dreckig es Nushin ihr Leben lang ging. Vor Mâmân und Parvin hat sie ihren Leidensdruck verheimlicht. Hat sie sich vielleicht deshalb für einen Tod entschieden, den sie zwar selbst eingeleitet hat, der aber nach einem Unfall aussieht?
Parvin. Ob die Polizei schon bei ihr war? Und bei Mâmân? Die Schuldgefühle kicken. Vielleicht wissen die beiden noch nichts von dem Elend. Muss ich die beiden informieren? Wie lang könnte ich es vor ihnen geheim halten, nur um der Aussprache dieses Satzes aus dem Weg zu gehen? Denn wenn ich ihn gesagt habe, kann ich ihn nicht mehr zurücknehmen. Die andere Option ist, dass sie schon Bescheid wissen und sich jetzt auch noch um mich sorgen, weil ich einfach so verschwunden bin, ohne Handy, ohne Orientierung, nur mit einem Schlüssel um den Hals. »Erst mal brauchen Sie sich um nichts zu kümmern«, hatten die Polizisten beim Abschied gesagt, und dass sie sich noch mal melden würden.
In meiner Nähe raschelt es, ich höre Schritte. Ich blicke mich um und erkenne einen eingekerbten Satz am gegenüberstehenden Baumstamm. It’s not a threat, it’s a warning. Nushin hat mir diesen Wald schon mal gezeigt. Ihr geheimer Wald. Versteckt sie sich hier etwa doch?
»Hallo?«, rufe ich.
»Ist da wer?« Aus welcher Richtung die Stimme kommt, fällt mir schwer zu sagen, doch sie klingt etwas ängstlich.
»Hallo«, rufe ich erneut. »Ich bin hier. Hilfe!«
Die Strahlen einer Taschenlampe leuchten auf, ich blinzle in das Licht. »Bitte haben Sie keine Angst vor mir. Ich habe mich verlaufen«, sage ich mit erhobenen Händen.
Eine Frau mit grauen, dicken Haaren steht vor mir. In ihrer linken Hand hält sie eine Leine, die zu einem schwer atmenden Rottweiler führt, mit der anderen hält sie ihre Lampe. Obwohl zwischen uns einige Meter sind, weht mir der Geruch ihres nassen Hundes entgegen und schlägt mir direkt auf den Magen.
»Ist bei Ihnen alles okay?«, fragt sie mich, und ich wundere mich, wie jemand nachts eine durchnässte, verheulte, mit Dreck beschmierte Person im Wald auffinden und es trotzdem für eine Möglichkeit halten kann, bei ihr sei auch nur irgendetwas in Ordnung.
Bitch, sehe ich so aus?, würde ich an jedem anderen Abend zischen, aber: heute leider nicht.
Ich schüttele den Kopf und merke, wie mein Hals zu schmerzen beginnt, weil ich ein erneutes Schluchzen herunterzuschlucken versuche.
»Können Sie mich von hier wegbringen?«
Zwischen halb geschlossenen Augen schaue ich dabei zu, wie die warmen Duschstrahlen den Matsch und die Kälte von mir herunterspülen. Mindestens seit einer halben Stunde stehe ich schon in der Badewanne und lasse das Wasser auf mich herabfallen, selbst während ich mich einseife oder meine Haare wasche. Ich habe nicht aufs Handy geguckt, als ich zurück in die Wohnung gekommen bin, nur kurz in den Spiegel, um zu verstehen, warum diese Frau so eine Angst vor mir gehabt zu haben schien, während sie mich mit zwei Metern Abstand aus dem Unterholz führte. Ich wollte mich vergewissern, dass ich wirklich besonders angsteinflößend ausgesehen habe und nicht wie sonst, wo Leute einfach so von mir und meiner brown masculinity eingeschüchtert sind. Als ich sie nach dem Weg zu mir nach Hause fragte, streckte sie nur den Arm aus und zeigte in eine Richtung, teilte mir so wortlos mit, dass sie keinen einzigen Schritt mehr an meiner Seite gehen wolle. Als ob ich die stinkende Person wäre und nicht sie mit ihrem bärengroßen Hund. Nicht schlimm, ich habe den Rest alleine geschafft. Von dort aus war es nicht schwer, nur weit und kalt.
Jetzt kühlt das Wasser etwas ab. Die alten Leitungen packen es nicht, länger als eine Dreiviertelstunde am Stück warmes Wasser auszuspucken. Xalâs, reicht jetzt auch yani. Ich drehe den Hahn zu und wringe mein Haar aus. Mein Körper tropft, Bewegungen entstehen auf der Oberfläche des Wassers, das sich zu meinen Füßen gesammelt hat und noch eine Weile brauchen wird, um endlich abzufließen. Mit meinen runzeligen Fingern, die mich von der Textur her an das Gesicht meiner ständig die Bullen rufenden Nachbarin Birgit »Gitti« Meyer erinnern, ziehe ich den Duschvorhang beiseite, lasse den Austausch zwischen dem heißen Dampf und der kühleren Luft des restlichen Raumes zu und greife nach meinem Bademantel. Das Wasser steht zu hoch, als dass ich ihn einfach in der Wanne anziehen könnte, also trete ich hinaus und schlüpfe dann hinein. Noch ist der Spiegel zu sehr beschlagen. Ich reiße das Fenster auf, lasse den Dampf immer dünner werden und sich in kleine Tröpfchen verwandeln, die nun an den Wandfliesen herunterperlen. Peu à peu kristallisiert sich mein Gesicht im Spiegel heraus. Schade, da bin ich wieder. Für immer kann ich mich nicht in meiner feuchten Höhle verstecken, irgendwann muss ich zurück an die Oberfläche tauchen.
Mit schweren Schritten begebe ich mich ins Wohnzimmer, spüre im Vorbeigehen die Vitrine im Flur vibrieren. Da liegt es, mein Handy, ruhig auf der Sofalehne und wahrscheinlich an den Grenzen seiner Akkuleistung. Ich tippe auf das Display und stelle fest, dass es sich bereits ausgeschaltet hat. Ich hebe das Ding auf und stecke es an sein Netzteil. Sechs verpasste Anrufe von Mâmân, zwei von Parvin. Mit wem möchte ich zuerst sprechen, mit der Mutter, die ihr Kind verloren hat, oder dem Kind, das plötzlich keine Mutter mehr hat? Es klingelt nur kurz, dann höre ich meine Nichte sprechen.
»Tante Nas, ey, wo warst du denn?« Sie klingt genervt, aber auch erleichtert.
»Hey, Parvin«, murmele ich in den Hörer. »Sorry, ich musste erst mal raus. Ich … weiß auch nicht.« Unbeholfen fahre ich mit meinem Finger über den Frottee des Bademantels.
»Dann weißt du’s eh.«
Ich schlucke.
»Wo bist du?«, frage ich leise. »Wollen wir uns sehen?« Ich will niemanden sehen. Alleine sein will ich aber genauso wenig.
»Zu Hause. Oma ist auf dem Weg hierher. Sie müsste eigentlich schon am Hauptbahnhof sein.« Schweigend stelle ich mir vor, wie Mâmân, die sich selten aus ihrem Wohnviertel hinausbewegt, mit ihrem Hund Sultan in diesem emotionalen Zustand einfach in den Zug gestiegen ist. Dabei, so hieß es, wurde Nushins Leiche näher an ihrem als an unserem Zuhause gefunden.
»Hallo, bist du noch dran?«, höre ich Parvin fragen.
»Äh, sorry, ja.«
»Und, kommst du auch?«
Was war zuerst da gewesen, der Tod oder die Trauer? Nushin hat bereits mit sechs Jahren auf einem Zeichenblock ihr Desinteresse am Leben signalisiert, man hätte es kommen sehen können, und doch sitzen wir erschlagen auf ihrer Couch, Mâmân mit Sultan auf ihrem Schoß, Parvin und ich, und starren an die Wand. Wie oft hat Nushin morgens nach dem Duschen in ihr Handtuch gewickelt hier gesessen, von ihrer eigenen Apathie zu sehr gelähmt, um sich anzuziehen, und ihr leerer Blick hat sich immer zur selben Stelle der Tapete verirrt?
Das Absurdeste an diesem Moment ist Mâmâns Hund. Niemals hätte ich früher gedacht, dass sie ein Tier in ihr Haus lassen würde. Aber das war, bevor sie über den Telegram-Familienchat erfahren hat, dass alle reichen Frauen in Teheran einen Schoßhund besitzen. Sie ist zwar weder eine reiche Frau, noch lebt sie in Teheran, aber Sultan ist auch kein klassischer Hund. Das sagt man zwar immer über gut erzogene und vor allem gut riechende Köter, aber in Sultans Fall stimmt es wirklich. Diese kleine Diva könnte eine mehrfach geschiedene Frau Ü50 sein, die ausschließlich langstielige, parfümierte Zigaretten raucht und ihren Lippenstift etwas zu weit über den Lippenrand aufträgt. Mâmân und Sultan, sie viben einfach. Sultan ist die Busenfreundin, die sie nie hatte. Nur ohne Busen. Dafür mit einem pinken Louis-Vuitton-Halsband, das ich ihr vor zwei Jahren aus China bestellt habe.
Es ist schon weit nach Mitternacht, und der Verkehrslärm, der tagsüber von der Hauptstraße so laut durch die Fenster dröhnt, ist zum Hintergrundgeräusch verkommen. Seitdem ich hier bin, haben wir nicht viele Worte gewechselt, nicht einmal für die kurze Radstrecke hatte meine Kraft ausgereicht. Stattdessen hatte ich auf der Rückbank des Taxis den Rock-Balladen im Radio Paradiso gelauscht, während die Fahrerin ihren Unmut über Apps wie Uber rausließ. Ich hörte nur mit einem Ohr zu. Hatte Nush ihre Wohnung so hinterlassen, dass Mâmân einfach zu Besuch kommen konnte, oder musste ich bei meiner Ankunft noch irgendwas verschwinden lassen?
In einem Raum mit Mâmân zu sitzen und keiner spricht, erscheint mir wie eine Seltenheit, besonders, weil weder der Fernseher läuft noch ihr Smartphone irgendwelche Videos abspielt, die ihr Verwandte geschickt haben. Der Lärm in ihrem Kopf muss für sie schon Reizüberflutung genug sein, so wie es sonst ihre Stimme für mich ist.
Als hätte Parvin meine Gedanken gelesen, schlägt sie vor, einen Film zu schauen.
»Alles, was du willst«, antwortet Mâmân wie aus der Pistole geschossen, dabei verzieht sie ihr Gesicht kein bisschen. Es ist schwer, ihre Gefühle zu lesen, doch so ist es immer schon gewesen, auch als ihr Gesicht noch nicht durch das Botox zu Beton versteinert war. Ich will am liebsten widersprechen, ich weiß nicht einmal wieso, ich glaube, es kommt mir einfach falsch vor, mich von meinem Schmerz abzulenken. Die Welt darf sich doch nicht einfach weiterdrehen. Das wäre irgendwie respektlos.
Parvin schaltet den Fernseher ein und zappt durch das Programm. Ich habe schon lange nicht mehr gesehen, was nachts so läuft. Zu diesen Zeiten bin ich entweder auf der Arbeit, im Club oder beim Sex. Die Stimmen aus dem flimmernden Bildschirm bringen meine Schläfen zum Kribbeln.
»Ich schnappe kurz etwas frische Luft«, sage ich und gehe auf den Balkon. Aus meiner Hosentasche hole ich die Kippenschachtel hervor. »Das Rauchen aufgeben – für Ihre Lieben weiterleben« steht auf der Verpackung, darüber das Bild eines Kindes vor einem Grabstein. Ich stecke sie wieder ein. Mein Blick fällt auf das Feuerzeug auf dem kleinen Holztisch, Nushins Lieblingsfeuerzeug, ein kleines pinkes Teil von Bic. Reflexartig greife ich danach, dann zögere ich doch. Irgendwas in mir will es aufheben und nie wieder benutzen, damit es nie leer geht und ich einen Teil von Nush konservieren kann. Aber dieser Teil schlummert ja nicht in dem Feuerzeug, Nush ist kein Flaschengeist, denke ich, und zünde die Zigarette schließlich an.
»Auf dich, Nush«, murmele ich und muss wieder weinen. Zynisch irgendwie, ihr mit einer Flamme zuzuprosten. Die Zigarette schmeckt scheiße, ich rauche sie trotzdem und stelle mir vor, wie sie mein Inneres verteert und verklebt.
Auf der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes prangen krumme Buchstaben, die jemand vor Kurzem gesprayt haben muss. TRAUMAFABRIK steht da in schwarzer Farbe, wobei das zweite A nachträglich zwischen das M und das F gequetscht worden scheint. Letzte Woche, als ich hier war, war es noch nicht da gewesen. Ob Nush dieses Graffito gesehen hat, bevor sie für immer verschwand?
Obwohl der Wind in meine nassen Haare weht, zünde ich gleich noch eine zweite und dann noch eine dritte Zigarette an. Ich möchte für immer auf diesem Balkon bleiben, hier kann ich mir vorstellen, dass Nush schon in ihrem Bett liegt und ich noch schnell rauchen gegangen bin, ich kann so lange in diesem Gefühl schweben, bis ich selbst eins mit der Nacht werde.
Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über die eingeritzten Worte, die Nushin vor vielen Jahren auf dem Holztisch hinterlassen hat, man kann es kaum noch entziffern, wenn man nicht weiß, was da eigentlich steht: If you live through this with me I swear that I would die for you. Ich schließe dabei die Augen, erinnere mich an die Nacht, in der diese Kerben entstanden sind, als Nushin mit dem Messer auf den Tisch gehauen und diesen Satz geschnitzt hat. Ich weiß noch, wie verängstigt ich von ihrem Ausbruch war und nicht einschätzen konnte, ob sie das Messer nicht gleich in ihren oder meinen Körper rammen würde. Wenn es ihr schlecht ging, wurde sie unberechenbar.
Ich erschrecke mich, als die Balkontür plötzlich aufgeht und Parvin im Rahmen steht. »Ich wollte nur Gute Nacht sagen«, sagt sie leise.
Ich mustere sie. Ihre sonst großen, dunklen Augen erscheinen mir so gerötet und angeschwollen plötzlich, ganz glasig und klein, als würden sie gleich hinter ihren runden Wangen auf unbestimmte Zeit verschwinden wie eine sinkende Sonne hinter einem bergigen Horizont. Ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen, welligen Haars schauen unter der Kapuze eines übergroßen, ausgewaschenen Nike-Pullis hervor. An ihren Beinen, die sie für gewöhnlich in weite, gerade geschnittene Dickies-Hosen steckt, stehen die Haare von der kühlen Luft ab. Auch an den Füßen ist sie nackt.
»Du willst schon schlafen?«
Sie nickt müde. »Ist schon spät. Morgen ist Schule.«
Bevor ich noch irgendwas erwidern kann, dreht sie sich um und verschwindet in der Dunkelheit der Wohnung. »Gute Nacht«, rufe ich noch leise hinterher und beschließe, ihr in die Wärme zu folgen.
Ohne Parvin fühlt sich der erdrückende Griff des Raumes noch fester an. Sultan kauert immer noch auf dem Schoß meiner Mutter, sie schaut mit gesenktem Blick auf den Teppich, ganz so, als versuche sie, sich sein Muster gut einzuprägen. Es ist diese Geisterhaus-Energy, in Mâmâns Nähe verscheucht eine innere Einsamkeit meinen gesunden Verstand, ich muss dringend abhauen.
»Leg dich in Nushins Bett, Mâmân«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich werde zu Hause schlafen.«
Sie zieht ihre Augenbrauen zu einem Stirnrunzeln eng zusammen und fährt mit ihrem Blick senkrecht über meinen Körper.
»Hast du noch was vor, oder was?«
Ungläubig schüttele ich den Kopf. »Was redest du? Ich will einfach in meinem eigenen Bett schlafen.«
»Du denkst, ich kann mich einfach so auf das Kissen meines verstorbenen Kindes legen? Und wovon soll ich dann träumen?« Ob ihre Stimme wütend oder beleidigt klingt, kann ich nicht deuten, meistens trifft bei ihr beides zu. Ihre Augen sind vom Weinen rot unterlaufen und glasig. Sie stiert mich an, guckt, als hätte ich schon wieder etwas ausgefressen.
»Na gut«, murmele ich. »Ich mache dir die Couch fertig.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, gehe ich in den Flur und hole aus dem Wandschrank ein frisches Laken, einen Bettbezug und die Gästedecke hervor. Insgeheim erleichtert es mich, dass sie nicht in Nushins Zimmer schläft, ich wünsche mir, dass niemand es betritt, niemand außer mir und irgendwann vielleicht Parvin. Mit dem Kissen fallen ein paar getrocknete Blumen aus dem Schrank, die Nush in ihre Schubladen und Fächer gelegt hat, um dem muffigen Geruch der Textillagerung entgegenzuwirken. Sie hat sich oft über Pinterest-Mütter lustig gemacht, insgeheim hat sie sich von denen aber ein paar Tricks abgeguckt.
Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, verzieht sich Mâmân ins Bad. Sobald sie über die Türschwelle ist, stoße ich erleichtert etwas Luft aus und klappe das Sofa zu einem Gästebett auf. Sultan springt fröhlich auf das Polster, ich hebe sie sofort wieder auf den Boden und knurre sie an. Wenn ich knurre, bekommt selbst sie Angst. Knurrenden Lesben gehört das Universum.
Im Schlafanzug und mit ihrer Seidenhaube auf dem Kopf kommt Mâmân nach einer Weile zurück. »Danke«, haucht sie mit minzigem Atem und nickt in die Richtung des frisch bezogenen Betts.
Ihre langsamen Bewegungen lassen sie träge wirken. Sie setzt sich auf ihr Bett und hält ihre angeschwollenen Füße in die Luft. In ihren einst schmalen Fesseln hat sich in den letzten Jahren viel Wasser angesammelt, die Spuren des Alters kann sie nicht an jeder ihrer Körperstellen verwischen. Ich beobachte, wie sie sich hinlegt und die Decke über sich zieht.
»Mach das Licht aus, wenn du gehst«, befiehlt sie leise, und ich befolge ihre Anweisung.
Sobald meine Finger sich vom Schalter gelöst haben, höre ich sie meinen Namen sagen.
»Ja?«, frage ich in den dunklen Raum, dessen Umrisse in der Straßenbeleuchtung nur noch zu erahnen sind.
»Du warst ihre große Schwester. Ich habe dich so oft gebeten, auf sie aufzupassen. Es hätte nicht so weit kommen müssen.«
Mein Herz rast, doch ehe eine Antwort zwischen meinen Lippen hervorschießen kann, verlasse ich wortlos Nushins Wohnung, hinaus in die kühle Nacht, wo mich die Erinnerungen fluten und wie eine Eisscholle davonreißen.
1981
Hasserfüllt starrte ich in dieses dunkle Loch, aus dem ein Brüllen herausquoll. Wie eine Alarmanlage schob dieser Klang meine Panik und Abneigung gleichermaßen an. Ich stellte mir vor, einen geballten Stofffetzen in diese Öffnung zu drücken, so tief, dass nie wieder ein Pieps herausdringen konnte. Dann wäre er für immer verschlossen, dieser Tunnel zwischen Nushins Lippen und Stimmbändern. Mir fiel nicht ein einziger Augenblick ein, in dem ihr Schreien in mir keine Mordlust ausgelöst hatte. Schon als Bâbâ mich bei Mâmâns Bruder, Dâyi Mazyâr, abgeholt hatte und mit mir zum Krankenhaus gefahren war, wo Nushin wie ein Berg rohes Hackfleisch in Mâmâns Arm lag, hatte ihre Existenz in mir zu Aversionen geführt. Die Art, wie sie an der Brust hing und gierig dieselbe Milch trank, die einst nur für mich vorgesehen war, oder zu heulen begann, sobald sie für ein paar Sekunden keine Aufmerksamkeit bekam, erschwerte es mir, irgendein positives Gefühl für sie zu entwickeln.
So auch jetzt, wo wir gemeinsam auf dem Teppich in unserem Kinderzimmer saßen und sie laut zu heulen begann. »Nasrin ist schuld«, brüllte sie. Ein Satz, der zum Katalysator für Mâmâns Aggression geworden war. Wie ein »Sesam, öffne dich«, aber hinter der Tür verbarg sich kein Raum voller Schätze, sondern Fight Club Teheran, unser privater Prügelsalon.
»Nushin hat angefangen«, rief ich in der Illusion, noch irgendetwas retten zu können. Hatte natürlich noch nie funktioniert. Nushin funkelte mich wütend an und setzte ein herzzerreißendes Schluchzen auf. Mir reichte es. Ich griff in ihre Locken und zog an ihnen, so fest, als erwartete mich an ihren Enden eine Überraschung, sollte ich es schaffen, sie komplett herauszuziehen. Meine Fingerkuppen kribbelten vor Zerstörungslust. Wenn ich am hungrigsten war, aß ich mit der Hand, ich griff einfach in meinen Reis hinein und führte ihn zwischen meinen kleinen Fingern in den Mund, bis Mâmân mich ermahnte, mir erst mal die dreckigen Pfoten zu waschen. Sie musste mich jedes Mal daran erinnern, weil ich es vor lauter Ungeduld immer vergaß und mich sofort auf das Essen stürzte. Dâyi Mazyâr nannte mich deshalb manchmal Pishi, weil er fand, dass ich wie die wilden Straßenkatzen zwischen den Mülltüten Teherans wirkte, aggressiv und gierig. Und mit denselben Krallen, mit denen ich mir vor allen anderen die Reiskörner in den Mund stopfte, zog ich jetzt an den Haaren meiner Schwester. Ich hatte alles um mich herum vergessen.
Nushin schrie so laut, dass sie das Klacken von Mâmâns Hausschuhen auf dem Steinboden und das Öffnen der Tür übertönte. Erst als Mâmân mit ihren starken Armen, die sie in ihre Hüfte gestemmt hatte, und ihrem Blick aus Lava im Türrahmen stand und mich genau beobachtete, kehrte ich zurück in den Raum und realisierte, dass ich gerade dabei war, mir mein eigenes Grab zu schaufeln.
Hätte der Iran-Irak-Krieg in unserer Wohnung stattgefunden, wäre er in diesem Moment beendet gewesen und man hätte sich die weiteren sieben Jahre sparen können.
»Du kleines Miststück«, bellte sie und ging auf mich los. »Ich hab genau gesehen, was du gerade gemacht hast. Wie oft muss ich dir noch beibringen, dass du deine kleine Schwester nicht anzurühren hast, hm?«
An dieser Stelle der Kassette landeten wir immer wieder, eigentlich kannte ich den Verlauf der Geschichte. Doch ich war noch ein Kind, ich hatte noch Hoffnung, also setzte ich zu meiner Verteidigung an. Ehe ich meinen Satz vervollständigen konnte, landete ihr Hausschuh in meinem Gesicht. Der Wortfluss stockte, meine Zunge vergaß das Sprechen. Meine Stimme änderte ihren Aggregatzustand, sie war nicht mehr fest, sondern flüssig, und drang nicht mehr aus meinem Mund, sondern aus den Augen. Mein Gesicht brannte. Nushin schaute weg.
»Erspar mir deine Tränen. Ich kann dich gar nicht anschauen! Versuch noch einmal, die Tatsachen zu verdrehen, und wir wissen beide, was passiert«, drohte Mâmân weiter. Sie hob den zerbrochenen Plastik-Godzilla vom Boden auf und hielt ihn vor mein Gesicht. Das olle Ding starrte mich an. Ich starrte zurück. Wenige Minuten zuvor hatte dieses Spielzeug mir so viel bedeutet, ich hatte es beim Schlafen immer neben mein Kissen gestellt und beim Duschen mitgenommen, plötzlich fühlte ich nichts mehr bei seinem Anblick. Am liebsten hätte ich ihn nie besessen.
»Weißt du, wie viel wir gearbeitet haben, damit ich euch dieses Ding kaufen konnte? Wo ist deine Dankbarkeit, hm?« Ihre Stimme krachte wie eine Lawine über mir zusammen.
»Aber Mâmân«, begann ich, »weißt du, was wirklich passiert ist?«
Sie klatschte mir noch eine. »Ich will es nicht hören!«
In dem Moment fiel die Haustür ins Schloss, ich hörte Schritte. Die Geschichte auf der Kassette war dabei, ihren Verlauf zu ändern. In meinem Kiefer löste sich die Anspannung.
»Wie oft noch, Mercedeh? Wie oft willst du die armen Kinder noch so bestrafen? Sie sind Kinder!« Erleichtert stand ich auf, lief zu Bâbâ, vergrub meinen Kopf in seinen Bauch und stellte mir vor, dort einzuziehen, wie in der Geschichte von der alten Frau im Kürbis. Ich wäre gerne bis zum Vergammeln in seinen Bauch geschlüpft.
»Komm, wir gehen zum Kiosk und holen Eis, was denkst du?«
Ich nickte. Hauptsache, raus hier.
»Ich will auch«, rief Nushin. Natürlich wollte sie das.
Bevor Mâmân ihren Einwand und ich eine Ausladung äußern konnten, hörten wir die Sirenen, die daran erinnerten, dass auch das Draußen kein sicherer Ort war.
»Sofort in den Keller«, befahl Bâbâ. »Mercedeh, hol die Tasche.«
»Was ist mit dem Eis?«, fragte Nush, aber unsere Eltern hörten schon gar nicht mehr zu. Während mein Vater Nushin und mich hinter sich ins Treppenhaus zog, durchwühlte Mâmân hektisch den Wandschrank. Ich hörte, wie sie Laken, Decken und Kisten hinter sich warf, ihr Aufprallen auf dem Teppich und dem Steinboden vermengte sich mit den Sirenen zu einem Lärm, der heute noch mein Herz zum Rasen bringt.
»Ich kann diese verdammte Tasche nicht finden«, fluchte sie laut.
Unsere Nachbar:innen stürmten aus ihren Wohnungen, die alte Frau von gegenüber war die Erste, die herauseilte, in ihren Plastikschlappen und mit einem Koran in der Hand. »Xânum Karimi, können Sie die beiden Kinder mit nach unten nehmen? Ich komme sofort nach«, fragte mein Vater sie prompt.
Nushin fing zu weinen an. »Ich will mit dir kommen, Bâbâ«, schluchzte sie inmitten des Chaos und klammerte sich an seinen Arm. Er machte sich von ihrem Griff frei, schüttelte sie ab. »Sei vernünftig, Nushin, ich komme doch gleich nach.«
»Komm, meine Süße«, sagte Xânum Karimi und schnappte sich Nushins Hand. Sie zog meine Schwester hinter sich her, ich schaute noch kurz zu Bâbâ, dessen Schatten längst in der Wohnung verschwunden war, und folgte den anderen in den Keller.
Ich war froh, dass sie nicht mich anfasste. Xânum Karimi umgab immer ein seltsamer Geruch, schwer zu beschreiben. Zu erdig für Schweiß, zu säuerlich für Staub. Vielleicht war es der Geruch von Hausarbeit. Ihre Hände waren außerdem immer nass, da haftete der Duft erst mal an einem, und weil ich nicht respektlos sein wollte, wusch ich die Stelle, die sie berührt hatte, nicht vor ihren Augen ab, ich atmete stattdessen flacher. Mit diesem Geruch an mir in diesem Keller zu warten, schien mir damals eine größere Bestrafung zu sein als alle Schläge mit dem Hausschuh meiner Mutter zusammen.
Hinter uns hörte ich die Nachbarinnen aus den höheren Stockwerken darüber tratschen, dass es mal wieder bezeichnend sei, dass meine Eltern uns nicht selbst in den Keller brachten, sondern die Verantwortung auf die arme Xânum Karimi abgewälzt wurde. »Sie war auch schon neulich nicht da, als wir Marmelade für die Soldaten kochten«, raunte die eine der anderen zu. Und: »Ist dir aufgefallen, dass ihr Mann befördert wurde und sie trotzdem keine einzige Decke für die Soldaten gespendet hat?« – »Tja, das habe ich dir doch vor Monaten gesagt. Sie ist keine richtige Patriotin. Soll sie doch nach Amerika gehen, wie ihre Freundinnen. Solche Leute braucht das Land nun wirklich nicht. Nicht jetzt, wo wir uns in dieser Krise befinden!« – »Unsere Männer, Brüder und Söhne kämpfen für sie mit, ihr Mann ist fein raus, und sie zeigt sich nicht einmal dankbar! Frauen wie sie sollten wir nach Xorramshahr schicken, das würde ihr die Augen öffnen, wenn sie von ein paar irakischen Soldaten …«
Xânum Karimis Stimme übertönte den Satz, erst heute kann ich mir vorstellen, wie er geendet haben muss. »Nicht einmal, wenn Bomben auf unsere Stadt fallen, könnt ihr davon ablassen, euch die Mäuler über eure Nachbarin zu zerreißen, was?« Die liebe, zarte Xânum Karimi. Ich hatte sie noch nie so böse erlebt.
»Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten ein, alte Frau«, zischte die Schlange hinter mir nur.
Im Keller war die Stimmung nicht besser. Nush hörte erst auf zu weinen, als der Nachbar aus dem dritten Stock sie ermahnte, sich endlich zu beruhigen, während er selbst nicht aufhörte, auf die Araber zu fluchen. Er war mir schon immer unsympathisch gewesen, in diesem Moment ganz besonders. Seine Augen gingen hektisch durch den Raum, mit seinen Fingern schob er die Steine seiner Gebetskette hin und her, dabei betete er nicht, sondern schimpfte nur. Beschützend legte ich meinen Arm um Nush und drückte sie an mich. »Bâbâ und Mâmân kommen gleich«, flüsterte ich in ihr Ohr. Ihr Wimmern wurde immer leiser. In Momenten, in denen das Außen uns am schärfsten schnitt, war unser Zusammenhalt am stärksten.
Zum Beispiel einige Monate später auf dem Flughafenparkplatz. Dâyi Mazyâr lud die schweren Taschen aus dem Kofferraum und hievte sie schnaufend auf einen Gepäckwagen, während Mâmân uns aus seinem Auto holte. An diesem frühen Morgen im März war der Parkplatz des Flughafens voller Familien, die über Noruz in den Urlaub fliegen wollten oder ihre Verwandten abholten, die sie in Teheran besuchen kamen. Und wir mussten so tun, als ob es bei uns genauso sei.