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Der neue Roman von Hengameh Yaghoobifarah.
Freitagabend, ein Hochhaus, 15. Stock. Avas Date mit Robin läuft perfekt. Bis es klingelt und zwei unerwartete Gäste vor der Tür stehen: Delia hat das Handy in Avas Schlafzimmer liegen lassen und will es abholen kommen. Silvia möchte Ava zur Rede stellen, denn seit einer Weile wird sie geghostet. In Avas Flur begegnen sich die drei Liebhaber_innen nun zum ersten Mal. Überfordert flüchtet Ava auf das Dach des Hochhauses, die anderen laufen ihr hinterher. In der Eile bringt niemand den Schlüssel oder ein Handy mit. So wird aus einem Date zu zweit eine gemeinsame Mission zu viert. Das Ziel: runterkommen vom Dach. Doch der Weg dorthin birgt Konflikte und Enthüllungen. Robin, Delia und Silvia kämpfen auf ganz eigene Weise um Avas Nähe und Aufmerksamkeit... In »Schwindel« erzählt Hengameh Yaghoobifarah so fluide, echt und witzig über queeres Begehren, wie niemand sonst es vermag. Eine kompromisslos heutige Liebesgeschichte von radikaler Lebendigkeit und ein irres Lesevergnügen.
»Hengameh Yaghoobifarah ist eine schriftstellerische Begabung.« DIE ZEIT.
»Niemand kann so aufregend, klug und wahnsinnig witzig über »Queers« schreiben wie Hengameh Yaghoobifarah. Man inhaliert diesen Roman förmlich, lernt dabei so etwas wie eine neue Sprache und lacht sich halb tot. Jede seiner Seiten ist so deliciously prall mit Leben.« DANIEL SCHREIBER.
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Seitenzahl: 247
Freitagabend, ein Hochhaus, 15. Stock. Avas Date mit Robin läuft perfekt. Bis es klingelt und zwei unerwartete Gäste vor der Tür stehen: Delia hat das Handy in Avas Schlafzimmer liegen lassen und will es abholen kommen. Silvia möchte Ava zur Rede stellen, denn seit einer Weile wird sie geghostet. In Avas Flur begegnen sich die drei Liebhaber_innen nun zum ersten Mal. Überfordert flüchtet Ava auf das Dach des Hochhauses, die anderen laufen ihr hinterher. In der Eile bringt niemand den Schlüssel oder ein Handy mit. So wird aus einem Date zu zweit eine gemeinsame Mission zu viert. Das Ziel: runterkommen vom Dach. Doch der Weg dorthin birgt Konflikte und Enthüllungen. Robin, Delia und Silvia kämpfen auf ganz eigene Weise um Avas Nähe und Aufmerksamkeit ... In »Schwindel« erzählt Hengameh Yaghoobifarah so fluide, echt und witzig über queeres Begehren, wie niemand sonst es vermag.
Hengameh Yaghoobifarah lebt und arbeitet in Berlin. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 den viel beachteten Essayband »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben. 2021 erschien der Debütroman »Ministerium der Träume« bei Blumenbar, der ein SPIEGEL-Bestseller wurde. 2023 folgte der Kolumnen-Band »Habibitus«, der auf der Shortlist für den Kurt-Tucholsky-Preis stand. »Schwindel« ist Hengameh Yaghoobifarahs zweiter Roman.
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Hengameh Yaghoobifarah
Schwindel
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Impressum
Für die Schwindelnden und jene, die sie halten
»I want your ugly, I want your disease
I want your everything as long as it’s free«
– Lady Gaga, »Bad Romance«
»Knowing the gap between what you want and what you yearn for, can there be hope in this?«
– Mattilda Bernstein Sycamore, »The Freezer Door«
»Keep trying for you
Keep crying for you
Keep lying for you
Keep flying and I‘m falling«
– Sade, »No Ordinary Love«
Wonach schmeckt das Paradies? Ava sucht auf ihrer Zunge. Fährt mit ihr langsam durch den Mund. Blue Gelato und Pussy. Das breite Grinsen verzerrt ihr Gesicht in eine cartoonartige Grimasse. Total drüber. Wenn sie so bekifft ist, werden ihre Augen immer so winzig. Das Wasser läuft ihr lauwarm über die Hände, während sie sich im Spiegel mustert. Sieht so der glücklichste Mensch der Welt aus? Kann man Glück überhaupt sehen? Als vor ein paar Wochen in der Gym-Umkleide besorgte Blicke an ihrem mit blauen Flecken übersäten Arsch hafteten, wurde ihr klar, wie leicht man Lust und Leid miteinander verwechselt. Manchmal fällt es ihr selbst schwer, die unterschiedlichen Formen von Erregung auseinanderzuhalten. Weil Spannung durch Gleichzeitigkeit entsteht. So wie der Geschmack an ihrem Gaumen salzig, süß und erdig ist.
Sie zieht ihre Lippen auseinander und untersucht ihre Zähne. Alles sauber. Das dicke Haar, das sie an der Zungenspitze so penetrant gepikst hat, ist verschwunden. Unauffällig ausgespuckt. Kam gut. Sie mag es messy. Die verkrusteten Überreste wischt sie sich mit einem angefeuchteten Stück Klopapier vom Kinn. Ihre nassen Hände richten ihre Mähne. Sie hat ihr Date lang genug warten lassen. Abtrocknen, raus.
Robin kramt in ihrer Tasche nach dem Neroli‑Öl-Roller. Sie fährt die Kugel über ihren Hals und verteilt den Duft mit ihrem Handgelenk. Beim Zurückpacken greift sie nach ihrem Handy. Drei Nachrichten von Ivo. Sie öffnet den Chat und überfliegt die grauen Sprechblasen. So richtig auseinandersetzen kann sie sich in diesem Zustand nicht mit den Anliegen ihres Freundes. Zeit für eine kurze Inventur.
Ihr Kopf: benebelt. Ihre Beine: zittrig. Ihr Glas: in einem Zug leer. Das Wasser: aus ihrem Mundwinkel tropfend. Ihr weißes Top: nass. Ihre Langzeitbeziehung: ein Problem für später.
Sie begutachtet sich in dem Spiegel über Avas Couchtisch. Macht ein Selfie vor dem großen Fenster, in der Ferne glänzt die Spitze des Eisenfachwerkturms. Das stählerne A einer Metropole, die all jene anzieht, die lieber ihre eigenen Geschichten erzählen, als sich in bereits existierende einzugliedern. Menschen wie sie. Robin fotografiert sich noch einmal, diesmal mit dem Gesicht hin zum Licht der Golden Hour. Ihr gefällt, was sie sieht. Die Lippen leicht angeschwollen, die Wangen rosig, der Vokuhila zottelig. Ihr Oberteil hat sie noch am Nachmittag angefertigt, aus zwei verschiedenen Unterhemden, mit großem Schlitz und durchgefädelter Schnur. Ein Stofffetzen, mächtig genug, um den Hot Dyke Summer einzuleiten. Selbst mit diesen zwei Flecken: einem schwarzen, weil sie beim Rummachen noch den Joint in der Hand gehalten und auf ihre eigene Brust geascht hat, und jetzt dieser Wasserklecks.
Für den lesbian gaze legt Robin sich gerne ins Zeug. Die geiernden Typen sind das lästige Nebenprodukt. Zumal sie ihr nach der Rückweisung meistens irgendwas hinterherrufen, von dem sie glauben, es würde sie treffen, von wegen, ihre Brüste seien zu klein für ihren dicken Bauch oder sie hätte ohnehin das Gesicht eines Gnoms. Als ob sie nicht schon zum Zeitpunkt des verzweifelten Baggerns so ausgesehen hätte. Sie ist gekleidet, um gefickt zu werden, jedoch nur von den richtigen, nicht von irgendwelchen hässlichen Männern oder dem Leben.
Manchmal verflucht sie das Schicksal dafür, sie mit so einem ausgeprägten Scharfsinn ausgestattet zu haben. Einfach auf dem Sofa entspannen, bis Ava zurückkommt, ist ausgeschlossen. Ihr Blick schweift durch den Raum, bis er etwas findet, woran er sich festhalten kann – in diesem Fall eine üppige Wollmaus am Fuße der Stehlampe gegenüber von ihr. Wobei bei der Masse an Staubflocken und Haaren nicht die Rede von einer einzelnen Maus sein kann. Hier lungert eine ganze Community. Reich angefüttert und bereit, Robins Kopf zu ficken. Sie schließt die Augen. Binnen Sekunden fällt ihr der Dreck in Avas Waschbecken ein. Ehe sie dort ihre Zahn- und Hautpflegeroutine durchführen könnte, müsste sie sich wieder die Nitrilhandschuhe überziehen, allerdings um eine Grundreinigung durchzuführen. Eigentlich schade. Ava hat ihre Wohnung geschmackvoll und gemütlich eingerichtet, doch das sorgfältige Putzen gehört nicht zu ihren Stärken. Was zu dem Chaos ihrer Person wiederum ziemlich gut passt. Deshalb kann man hier nur kurz verweilen, am besten berauscht, sonst fällt einem die mit Spinnweben übersäte Decke auf den Kopf. Robin seufzt.
Wenn ihre Gedankenspiralen Zweifel und Stress durch ihren Kopf schleudern, muss sie sich daran erinnern: Sie ist nicht nur Tochter, Schwester und Freundin, sondern auch die Summe der Lust, die sie empfindet. Sie mag neurotisch, manchmal rigide sein, aber sie ist auch das Stöhnen, das ihr entweicht, wenn ihre Zungenspitze eine andere berührt. Sie ist der Tropfen, der über die Innenseite ihres Oberschenkels fließt, wenn sie dem Druck eines anderen Körpers ausgesetzt ist. Und sie ist der Moment, in dem Avas Kinnlade herunterkippt, wenn sie realisiert, dass Robin ihr slutty Outfit extra für sie ausgewählt hat. Sie füllt ihr Glas wieder auf und trinkt es langsam aus.
Dem Reflex, beim Warten ihre E‑Mails zu checken, widersteht sie erfolgreich – zugegebenermaßen aber vor allem, weil die Meldung über den niedrigen Batteriestand ihr zuvorkommt. Sie steckt Avas Ladekabel in ihr Telefon, lässt den Saft fließen, bis sie in ein paar Stunden wieder los muss. Zu Ivo. Zur Arbeit. Zum Alltag. Bis dahin will sie sich aber noch mal so richtig gehen lassen. Vielleicht noch eine Tüte? Vorbauen schadet ja nicht. Solange sie schön high ist, dringt die Realität nicht so leicht zu ihr durch. Im Sitzen grindet sie das Gras und ihren Hintern zum langsamen Takt der Musik.
Der Rauch und faded way too long, baby, I can’t even see schlagen Ava auf dem Weg ins Wohnzimmer entgegen. Dort liegt Robin auf der Récamière und baut einen weiteren Blunt. Als sie die Klebefläche des Blättchens leckt, schaut sie Ava an. Dieser billige Trick zieht jedes Mal bei ihr, damals auf Tumblr-GIFs wie heute. Avas Blick fällt auf Robins Brust. Ein großer Fleck lässt das silberne Metall ihres Piercings durchblitzen. Ach so. Sobald der Joint verschlossen ist, gleitet Ava auf Robins Schoß und nähert sich ihrem Gesicht, bis die Sommersprossen wie kleine Pixel aussehen. Sie imitiert die Zungenchoreografie, nur dass Robins Unterlippe der Klebestreifen ist. Die dünne Haut vibriert beim Ausatmen. Für Robin wird Ava Honig. Sie zerfließt auf ihr und haftet an ihrem Körper.
»So schön«, haucht Ava und meint damit eigentlich alles: Robins Lippen, ihr Outfit, ihre Oberschenkel um Robins Hüfte, die tausend Sommersprossen, die Musik. Sie ist ganz weich. Robin nickt und zieht Avas Kinn zwischen zwei Fingern an ihr eigenes Gesicht. Würde sie es wie eine blühende Rose zerdrücken, langsam und genüsslich, aber nicht weniger destruktiv, könnte Ava nicht anders, als ihren Zerfall bereitwillig hinzunehmen. And help me lose my mind.
Ob der Vibe nur auf ihrer Seite so intensiv ist, oder ob Robin es auch spürt, was auch immer »es« ist? Jetzt kein Tunnel, denkt Ava und fokussiert sich wieder auf ihre Hände statt auf ihren Kopf. Seit sie weiß, dass Robin Reden im sexuellen Rahmen cringe findet, verkneift Ava sich Komplimente und alles andere, was auch nur ansatzweise nach Dirty Talk klingt. Das hier, gerade, ist besser als alles, was Ava sich je erträumt hat. Sie ist froh, sich damals mit 14 nicht umgebracht zu haben. Dann hätte sie wirklich nur den deprimierendsten Abschnitt ihres Lebens erlebt. Das Beste kommt doch erst jetzt. In diesem Augenblick sitzt sie auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Den schrillen Ton, der durch ihre Wohnung schallt, nimmt sie dabei gar nicht wahr.
delia muss drei mal klingeln, bis avas stimme aus der gegensprechanlage ertönt.
»hallo?«
»ich bin’s. delia. lässt du mich kurz rein?«
»alles okay?«
»ja, schon. ich hab nur mein handy bei dir vergessen. kann ich es kurz holen kommen?«
»ah ja. klar.«
bzzzzzzzzzz. mit viel kraft lässt sich die schwere eingangstür öffnen. vielleicht ist ava stoned eingenickt, denkt delia beim warten auf den aufzug. die türklingel ist krass penetrant, ihr sound hat delia schon an zu vielen morgenden zu früh geweckt, aber man weiß ja nie. immerhin ist sie zuhause. ohne das handy ist delia sonst aufgeschmissen. als dey am späten nachmittag nach hause gekommen war, war es nirgendwo zu finden gewesen. in keiner tasche, in der eigenen wohnung sowieso nicht, und auf dem radweg zur arbeit hatte dey es nicht angerührt, dey war ohnehin schon spät dran gewesen und hatte andere sorgen, als eine passende playlist für unterwegs rauszusuchen. während der schicht war es zu stressig, um auf dem display nachrichten zu checken. delias chef hat demm eh auf dem kieker wegen unpünktlichkeit, verträumtheit, tollpatschigkeit und allgemeiner unzuverlässigkeit. spaß macht der job nicht, aber welcher tut das schon? er ist nur einer von dreien und delia braucht jeden davon. außerdem hat sich der selbst ziemlich unorganisierte chef keinen gefallen damit getan, sein lokal ausgerechnet auf dem platz an der unüberschaubarsten straßenkreuzung der stadt zu eröffnen, wo delia unter den riesigen leuchtreklamen, den scharen an tourist_innen und dem verkehrslärm bereits völlig reizüberflutet die schicht antritt.
die silbernen türen des aufzugs gehen endlich auf. heraus tritt eine vierköpfige familie, bestehend aus einer mutter und drei kindern, die ihre neugierde für delias erscheinungsbild nicht kaschieren können. die unterhaltung dringt nicht zu demm durch, schon längst genießt dey den schutz der circa zwei quadratmeter großen kabine. dey atmet durch und inhaliert die geruchsmelange: zigaretten, ausgelaufener senf, waschmittel, sperma, nasser hund, take-away-food und chloë-parfüm. direkt sodbrennen.
delia steigt im vierzehnten stock aus, weiter fährt der fahrstuhl nicht, und nimmt die treppen zur letzten etage. delia würde gern behaupten, dieses treppenhaus wäre das unbehaglichste, das dey je betreten hat, doch das wäre gelogen. außerdem wartet am oberen ende des gebäudes eine ordentliche belohnung, und so könnte es auch der schlimmste aufgang der welt sein, delia würde ihn trotzdem so oft wie möglich durchschreiten. selbst jetzt jagt demm der anblick einer im türrahmen lehnenden ava eine handvoll böller durch die magengrube.
»sorry«, sagt delia zur begrüßung. »ich weiß halt nicht, wann ich morgen arbeiten muss. und ohne das ding kann ich meine chefin nicht anrufen und sie fragen. oder mir einen wecker stellen, um nicht zu verschlafen.«
»ist schon okay«, murmelt ava. einen begrüßungskuss gibt es nicht immer. daran hat delia sich schon gewöhnt. ein bisschen mehr freude über die spontane begegnung hätte trotzdem keinem wehgetan. »ich hab dein handy nur nirgendwo gefunden. bist du sicher, dass es hier liegt?«
delia nickt heftig. »auf jeden.«
ava rückt keinen millimeter zurück in die wohnung. »ich hab halt besuch.«
»oh, sor
r
r
r
ry. ich will auch gar nicht lang stören, ich schau einfach schnell alles durch, ich bin gut darin, kleine gegenstände in nullkommanichts zu finden.« das ist gelogen. delia ist extrem schlecht darin.
ava seufzt und lässt delia endlich rein. »schau vielleicht mal im schlafzimmer, ja? ich bin dann drüben.«
delia folgt ihr in die wohnung. auf dem nachttisch liegt kein handy, auf der kommode auch nicht. wäre es irgendwo zwischen den laken, hätte ava es sicher gefunden, denn es sind andere als noch am morgen, beim beziehen hätte sie das handy nicht übersehen. »hoffentlich habe ich es nicht auf dem fahrrad verloren«, murmelt delia, aber kann sich wirklich nicht daran erinnern, es überhaupt eingesteckt zu haben. delia weiß genau, dass dey es zuletzt nach dem aufstehen genutzt hatte, der chef hatte geschrieben, weil eine kollegin wegen eines arzttermins ausgefallen ist und dey zwei stunden früher einspringen musste.
»ich hab schon versucht, dich anzurufen, aber dein handy ist bestimmt auf lautlos«, sagt ava. delia dreht sich erschrocken zu ihr um, sie scheint demm die ganze zeit beobachtet zu haben.
»ich glaube, der akku ist leer«, erwidert delia und tastet auf den knien den teppich ab.
»also in den anderen zimmern ist es nicht, das hätte ich beim aufräumen gesehen.«
kurz bevor delia aufgeben will, erkennt dey das glänzende, zersplitterte display unter dem bett. »ha!«, ruft delia, holt das handy hervor und streckt es wie eine trophäe in die luft.
»okay, cool. das ging doch echt schnell«, sagt ava, ihre stimme ist gesenkt, als müsste sie delias anwesenheit geheimhalten. unterbricht delia gerade einen kidnapping-vorfall oder so?
»bist du okay?«, raunt dey. »wenn du in gefahr bist, blinzle zwei mal, wenn du sicher bist, dann«-
»in gefahr? warum sollte ich in gefahr sein? bist du high?«
»weiß nicht. also, ich meine, nein! ich bin nicht high.«
»ich will nur keine unhöfliche gastgeberin sein, weißt du.«
»eine höfliche gastgeberin hätte mir zumindest ein glas wasser angeboten«, spricht delia nicht aus und nickt stattdessen fake-verständnisvoll. groß nachfragen, ob man das handy noch kurz laden kann für den heimweg, traut sich dey auch nicht zu fragen.
»alles gut hier drüben?« eine neue stimme. schritte im flur und schon erscheint eine kleine person neben ava im türrahmen. mit ihrem schwarzen vokuhila, blond gebleichten augenbrauen und extrem vielen sommersprossen lächelt sie delia an. wüsste dey es nicht besser, etwa wegen der eigenen nüchternheit, wäre dey sicher, die menschliche version des instagram-elfen-filters anzutreffen.
»ja, ja, alles gut«, sagt ava der freundlichen elfe. »hat sich ja jetzt alles geklärt.«
die elfe lächelt weiterhin. »ich bin übrigens robin«, sagt die elfe, die offensichtlich robin heißt.
delia winkt robin etwas unbeholfen zu. »ich bin delia.«
»delia wollte eh gerade gehen«, sagt ava. »von daher …«
»genau«, will delia gerade sagen, doch dey kommt nicht dazu, denn das läuten der türklingel kommt demm zuvor.
Für Silvia ist das Timing perfekt. Eine Lieferbotin lässt sie eine Sekunde, nachdem sie den Klingelknopf gedrückt hat, ins Treppenhaus. Der Fahrstuhl wartet bereits mit offenen Türen auf sie. Heute hat sie ein schnelles Tempo drauf. Flott ist sie grundsätzlich, sie scherzt manchmal darüber, auch ohne Uniabschluss den Master of Arts in Ungeduld absolviert zu haben, doch nun überbietet sie sich selbst. Ihre Schritte sind forsch. Die Wut treibt sie an. Dreizehn Tage lang hat sie beharrlich auf Ava gewartet. Irgendwann ist auch mal gut. Länger möchte sie sich nicht hinhalten lassen. Jetzt ist es an der Zeit, ihre Liebhaberin zur Rede zu stellen. Sie sprintet die letzten Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Ob sie wirklich zu Hause ist, weiß Silvia noch nicht, sie hatte es unten ja so eilig, dass sie direkt reingestürmt ist. Als sie Avas Kopf aus der Haustür ragen sieht, atmet sie erleichtert auf. Dass Ava ihr nicht leidenschaftlich in den Arm fallen wird, damit hat Silvia schon gerechnet. Doch ein höflicherer Empfang als »Was willst du denn hier?« hätte drin sein können.
»Ich will mit dir reden«, sagt Silvia und stellt sich mit hüftbreit parallel zueinander stehenden Beinen auf Avas Türmatte.
»Jetzt nicht. Ich hab Besuch.«
»Du, Ava, das ist mir egal, du bist mir zumindest eine Antwort schuldig.«
Ava verdreht die Augen. »Wie stellst du dir das vor?«
Ohne groß nachzudenken, drängelt Silvia sich an Ava vorbei in die Wohnung. Sie lässt sich nicht einfach so abwimmeln, wo sie sie endlich mal in die Finger gekriegt hat.
»Hast du sie noch alle?«, ruft Ava ihr hinterher. »Raus mit dir!«
Silvia läuft einfach weiter durch den Flur. Zwei junge Gesichter starren sie an. Die beiden Personen stehen ein bisschen baff vor Avas Schlafzimmer. So, so. Mademoiselle vergnügt sich fröhlich mit anderen und hält es nicht mal für nötig, mit einem einzigen Satz auf die Dutzend Nachrichten zu antworten, die Silvia im Laufe der letzten zwei Wochen verschickt hat. Sie rümpft die Nase und mustert Avas Gesellschaft kritisch.
»Und wer seid ihr?«, fragt sie kühl.
Die beiden Fremden sagen ihre Namen gleichzeitig. Silvia versteht keinen davon.
»Ich hab kein Wort verstanden«, sagt sie.
»Robin«, sagt Robin.
»Delia«, sagt Delia, etwas schüchterner.
»Ah ja.«
»Und du bist …?« Robins fragender Blick irritiert Silvia zutiefst.
»Ich? Ich bin Silvia.« So selbstbewusst hat Silvia sich lange nicht mehr vorgestellt. Als Silvia sich zu Ava umdrehen und sie konfrontieren will, hört sie nur noch das Poltern auf der Wendeltreppe, dann ein lautes Knallen.
Ava nimmt drei Stufen auf einmal. Sie muss weg, einfach weg. Das Seitenstechen ignoriert sie. Der Geschmack von Eisen breitet sich in ihrem Mund aus. Als müsste sie gleich Blut spucken. Langsam nähert sie sich dem Himmel. Die erste Wolke gerät in ihr Sichtfeld. Gleich ist sie da.
Sie erinnert sich genau an den Moment, an dem sie sich zum ersten Mal dafür geschämt hat, mit Silvia zu schlafen. Vor ein paar Wochen war Avas Mutter Jaleh zu Besuch. An einem Tag im Juni, dem sonnigen Abschluss eines eher grauen, schwülen und migränelastigen Frühlings, bummelten sie zusammen über den Markt nahe Avas Wohnung. Der charismatische Kontrast zum überdachten Basar, unter dessen Steinkuppeln sie einige Stunden zuvor vom hektischen Treiben der eifrigen Händler_innen und neugierigen Tourist_innen mitgezogen wurden. Ein Ort, von dem sich Ava für gewöhnlich fernhält. Zurück in ihrem Kiez fand sie ihre Orientierung wieder. Sie kauften sich in dem Café, das mit seinen Schokoladenspezialitäten einen überregionalen Bekanntheitsgrad erlangt hat, jeweils einen Kaffee auf Eis und schlenderten durch die engen Gassen. Avas Mutter kaufte sich ein paar orange Handschuhe am Lederwarenstand, sie besorgten für ihr Abendessen 300 Gramm glutenfreie frische Gnocchi – Avas Mutter hat in diesem Jahr ihre Ernährung umgestellt und es wirkt Wunder für ihre Gelenke – und blieben vor dem Blumenstand stehen. Ava beschloss, die frische Annäherung zwischen ihrer Mutter und sich mit einem üppigen Bouquet zu feiern, das sie selbst zusammenstellte. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie besuchte, obwohl sie schon seit zehn Jahren nicht mehr zusammenlebten. Gewöhnlich fuhr sie zu ihrer Mutter. Die wenigen Wochenenden, an denen sie versprochen hatte rüberzufahren, hatte Jaleh immer kurzfristig abgesagt, mal wegen eines neuen Arbeitsauftrags, mal wegen eines Krankheitsschubs.
Ihre Mutter beobachtete Ava dabei, wie sie zielstrebig auf die exotischsten Blumenarten zeigte. Ein Ensemble an morbiden Alien-Zweigen, so sahen alle Sträuße aus, die Ava verschenkte. Während die Blumenhändlerin Avas Auswahl mit etwas Eukalyptus zusammenband und auf eine einheitliche Länge schnitt, ließ Ava ihren Blick über den Markt schweifen. Er blieb in Silvias Augen hängen. Mist, mit ihr hatte Ava nicht gerechnet. Sie hatten nur wenige Tage zuvor ihr letztes Date gehabt. Bis spät in die Nacht klebten sie aneinander, Silvia bestellte Ava schließlich ein Taxi. Der Fahrer schimpfte mit Ava, weil sie ihn fast fünf Minuten warten gelassen hatte – dreißig Sekunden länger und er hätte die Fahrt storniert, sagte er. Ava war das Zuspätkommen unangenehm, sie entschuldigte sich drei Mal, doch der endlose Zungenkuss in Silvias Türrahmen war es ihr wert gewesen. Manchmal, wenn Ava besonders dicht ist, fühlt sich Silvias muskulöser Körper um ihren wie Tentakel an, glitschig, stark, umschlingend. Die Arme und Beine mit Saugnäpfen versehen, die auf der Haut einen leichten Druck aufbauen und es unmöglich machen, ihrem Verlangen zu entkommen. Ava verliert sich leicht in Silvias Umklammerung.
Und nun, auf diesem Markt, mit ihrer Mutter, hatte sie keinen Zugriff mehr auf die Gefühle, die sie für Silvia empfand. Sie schauten sich lange an, Silvia lief auf sie zu, sie ging ohnehin die Gasse entlang, und Ava schielte unauffällig in Richtung ihrer Mutter, die ganz eindeutig als ihre Erzeugerin und nicht ihr Date zu erkennen war – sie haben die gleiche Nase und Stirn. Silvia nickte kurz. Ava war erleichtert, ihr wäre es unangenehm gewesen, ihrer Mutter ihre Affäre vorzustellen, zumal sie der gleiche Jahrgang waren. Und doch konnte Silvia sich das leise »Hallo« nicht verkneifen, als sie unmittelbar nebeneinanderstanden. Ava erwiderte die Begrüßung, aber sie verzichtete auf den Augenkontakt oder das Lächeln, welches der Situation die nötige Wärme verliehen hätte, die Silvia gegenüber zumindest respektvoll und wertschätzend gewesen wäre.
»Wer war das?«, fragte Jaleh.
»Ach, niemand. Nur so eine Bekannte.«
Ava schämt sich im Nachhinein. Nicht das Alter ihrer Liebhaberin ist ihr unangenehm, sondern die Tatsache, dass sie in den entscheidenden Momenten nicht zu ihrem Begehren stehen kann. Vor ihrer Clique damit zu prahlen, eine MILF (Silvia hat nicht einmal Kinder) am Start zu haben, das geht ihr ziemlich leicht über die Lippen, sehr häufig auch, vielleicht etwas zu häufig. Sie fragt sich oft, ob sie Silvia aufgrund ihres Alters sogar fetischisiert, dann wiederum funktioniert die Faszination mit den vielen Jahren zwischen ihnen auch andersherum. Schmücken sich nicht gerade ältere Männer mit Frauen, die dem Jahrgang nach ihre Töchter sein könnten? Sie haben noch nie darüber gesprochen, ob der Altersunterschied in ihrer Anziehung eine Rolle spielt. Wozu auch, muss man jeden Bestandteil der Sexualität auf eine theoretische Ebene zerren? Gibt es nicht immer irgendetwas Belangloses, dem man unverhältnismäßig viel Attraktivität zuspricht? Ein Muttermal, ein Akzent, kleine Ohren oder ein dunkler Oberlippenflaum? Den Altersunterschied zu Silvia findet Ava hot, keine Frage, doch sie reduziert sie nicht darauf. Ob Silvia sie interessieren würde, wenn sie gleichaltrig wären, weiß sie trotzdem nicht.
Auf dem Dach des Hochhauses schnappt Robin erst mal nach Luft. Beim Hochrennen der Treppen hat sie die Kontrolle über ihre Atmung verloren. Sie hört ein Keuchen. Dann erst bemerkt sie die anderen beiden. Keine Spur von Ava. Delia lehnt an der Tür, die Hände auf die Knie gestützt, ganz rot im Gesicht. Silvia streckt ihren langen Hals noch weiter durch, ihr Umschauen ähnelt einer Dehnübung. So grazil wie sie sich bewegt, muss sie ihren Körper täglich trainieren, denkt Robin und fragt sich, ob dieser Gedanke schon als ageism zählt.
»Avaaa!«, ruft sie, so laut sie kann. Sie stampft über das Dach. Hier oben ist es zwar flach, doch ziemlich weitläufig und verwinkelt. Der Hochhausblock erinnert sie an ein Geschwür. Hier oben erkennt sie zum ersten Mal, dass das Gebäude nicht einfach nur ein langer Balken ist, sondern sich mehrfach verzweigt – teilweise auf unterschiedlichen Höhen. Kleine Säulen, Kästen und Satellitenschüsseln unterbrechen die Fläche. Sie verwandeln sie in ein gefährliches Labyrinth. Das Dach ist ungleichmäßig beleuchtet, an manchen Stellen reflektieren die Metallelemente das Licht der sich immer weiter dem Horizont nähernden Sonne so stark, dass es in den Augen schmerzt, wenn man zu lange draufschaut. Andere Ecken sind so dunkel, dass sich nur schwer erkennen lässt, wo Schatten aufhört und Beton beginnt. Wo ein Boden ist und wo man besser nicht hintreten sollte.
»Was für eine Scheiße«, murmelt Delia.
»Das kannst du laut sagen.« Breitbeinig steht Silvia einige Meter weiter und blockiert mit verschränkten Armen den Blick auf die Sonne. Sie erinnert Robin irgendwie an ihre Sportlehrerin, die ihr in der achten Klasse Komplimente für ihre Figur machte, nachdem sie über die Sommerferien wegen einer viralen Magen-Darm-Infektion acht Kilo abgenommen hatte. Minus den Selbstbräuner vielleicht. Dafür wird Silvia zu öko sein. Robin ist bemüht, der voreiligen Aversion keine Chance zu geben. Sie muss ihren Kopf zurück ins Hier und Jetzt lenken. Sie läuft das Dach ab und brüllt weiter Avas Namen.
Mit jedem Ruf wird ihre Stimme brüchiger, ihr Hals trockener. Sie lässt sich von der Unterhaltung der beiden anderen nicht ablenken, sie will diejenige sein, die Ava findet. Erst Delias lautes Schluchzen zwingt sie zum Umdrehen. Ist dieses Geräusch eine Antwort auf die Frage, wohin Ava verschwunden ist? Hastig nähert sie sich den beiden wieder. Silvia läuft ungeduldig auf und ab, scheint nicht mit Delia, sondern mit sich selbst zu reden.
»Hast du Ava gefunden?«, will Silvia wissen. Ihr harter Blick ist mittlerweile etwas aufgeweicht, es sind nicht mehr die Bleiaugen, in die Robin vor ein paar Minuten geguckt hat.
Delia schaut auf, doch Robin schüttelt nur den Kopf, also heult dey noch lauter. Bis eben war Robin sich sicher, dass Ava niemals herunterspringen würde. Okay, sie hat echt Schwierigkeiten damit, ihr schlechtes Gewissen auszuhalten, wenn sie was verbockt hat, aber so dramatisch ist die Situation nicht. Unangenehm, ja, definitiv, aber doch kein Grund, sich umzubringen. Andererseits muss sie ganz schön high sein, so viel wie sie geraucht haben. Aber sie wird doch nicht auf dumme Ideen kommen. Oder?
»Ich such mal weiter«, murmelt sie.
Some kind of heaven. Danach hat Ava immer gestrebt. Aus vergangenen Liebesbeziehungen hat sie wenig Positives mitgenommen. Auf Anhieb fallen ihr vier Dinge ein: Erstens die Kommunikation vor, während und nach dem Sex (ohne sich dabei komisch zu fühlen oder sich aus Höflichkeit zurückzuhalten). Zweitens ein Jil Sander-Morgenmantel (wahrscheinlich fake), drittens die Gewohnheit, einen Zungenschrubber zu nutzen (aus Kupfer) und viertens, alle sechs Monate einen STI-Test zu machen (mindestens).
Letzteres führt sie zwei Mal im Jahr in die Gemeinschaftspraxis am anderen Ende der Stadt. Der Weg dorthin bockt nicht, besonders in der Hauptverkehrszeit, wenn sich alles zehnmal so lang zieht, doch es lohnt sich. Niemand stellt ihr neugierige Fragen oder kommentiert ihren »promisken Lebensstil« (Zitat ihres ehemaligen Hausarztes) oder nennt sie »umtriebig« (wie diese andere Ärztin), die Tests kosten nichts und das Wartezimmer ist voller Queers (okay, vielleicht sind manche der Sexarbeiterinnen hetero, so genau weiß Ava das nicht). Vorrangig schwule Typen, manchmal lesbische Pärchen. Der Anblick reicht aus, um jedes Mal wieder die naheliegende Fantasie in ihrem Kopf in Gang zu setzen, die Wartezeit mit Cruising zu verkürzen. Klos gibt es dort schließlich genug, und manchmal, wenn sie in den Plastikbecher pinkelt, hört sie aus der Kabine nebenan jemanden verdächtig gedämpft ausatmen.
Da war dieser eine heiße Tag im Juli. Sie füllte ihren Pappbecher schon zum dritten Mal mit dem kalten Mineralwasser aus dem Spender im Gang, um genug Urin zu sammeln (sie hatte ihre Körperflüssigkeit überwiegend ausgeschwitzt). Gelangweilt blätterte sie durch eines dieser Lifestyle-Magazine, die in der Auslage gestapelt waren. Ein lautes PLOPP ließ Ava aufschrecken. Über den hellblauen Linoleumboden kullerte eine Metallflasche, daneben irgendwelche Kleinigkeiten, die sie gedanklich unter Müll zusammenfasste. Eine kleine Person kniete daneben und sammelte alles fluchend ein. Der Müll schien ihr zu gehören, bei genauem Hinsehen stellte er sich als eine Schere, Stoffstücke, Knöpfe, Garnrollen, aber auch Tampons und Süßigkeitenverpackungen heraus, die der Person aus der Tasche gefallen sein mussten.
Bevor Ava den Beschluss fassen konnte aufzustehen und ihr zu helfen, hatte die Person bereits ihr Zeug beisammen und nahm wieder Platz. Ava schaute sie sich genau an. Sie hatte sie noch nie gesehen, weder hier, noch sonstwo. Ihre dunklen Haare umrahmten ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht in einem abgehakten Stufenschnitt, ein Y2K-Vokuhila, der so auch von einem Avatar in Computerspielen getragen werden könnte. Ihre Kleidung wirkte mehr wie ein Kostüm als street style, Ava konnte die drapierten Stofffetzen, die den dicken Körper wie Ranken umschlangen, nur schwer beschreiben. Sie brauchte einen Moment, um das Outfit zu dechiffrieren. Wahrscheinlich von einem Designlabel, das gerade die Kunstuni abgeschlossen hatte, oder selbstgemacht, vielleicht sogar beides. Die Person schien Avas Geiern registriert zu haben, denn sie erwiderte den Blick. Ava ließ sich darauf ein, was sie selbst ein bisschen überraschte, denn meist wurde sie schüchtern, wenn eine attraktive Person zurückstarrte. Die braunen Augen waren schmal, Ava wusste nicht, ob ihr Gegenüber bekifft oder müde war oder immer so aussah, eventuell trafen alle Optionen zu, doch es ließ sie noch elfenhafter wirken. Das gefiel Ava, sie versank in dem Braun, es war wie ein trippy Waldspaziergang auf Pilzen, bei dem es für immer ein Mysterium bleiben würde, welche märchenhafte Lichtung echt und welche nur eine Halluzination war. Die Augen der Elfe wurden noch schmaler, sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, kaum bemerkbar, doch unzweifelhaft da. Ava spürte ein Kribbeln in ihrer Brust. Was musste sie tun, um ihr unauffällig zu signalisieren, sie in zwei Minuten an den Klos zu treffen? Oder war sie zu schnell? Vielleicht erst mal nach ihrer Nummer fragen? Nee, auf keinen Fall. Der Anonymität als tragende Säule des Cruisings musste sie huldigen.
Die Sprechstundenhilfe rief Ava auf, bevor sie sich eine Strategie überlegt hatte. Die Elfe würde sicher gleich noch da sein, sie selbst hatte über eine Stunde lang gewartet.