9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Milly Kissinger – A star is born!
Um Milly, elf Jahre, elf Monate und elf Tage, ist das Kussfieber ausgebrochen: Ihre beste Freundin küsst Leon, ihre ärgste Feindin küsst, was ihr in den Weg kommt, ihre Mutter küsst den Falschen und ihr Hund küsst sowieso jeden. Milly hat echt genug. Bald ist sie zwölf und immer noch ungeküsst – das geht doch nicht! Ein Kuss muss her. Fragt sich nur, wie, wo, wann und vor allem von wem. Bücher, Zeitschriften, Fernsehen und ein unsagbar peinliches Gespräch mit ihrem Vater bringen sie nicht weiter. Also fasst Milly einen Plan. Unter dem Decknamen Miss Kiss gibt sie eine Anzeige im Szenemagazin der Stadt auf. Aber was dann passiert, stürzt Milly in die größte Katastrophe ihres Lebens.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 188
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Für meine Luzi.
1. Auflage 2017
© 2017 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München,unter Verwendung eines Motivs von shutterstock (photomaster, Curly Pat)
kk · Herstellung: RN
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-19924-1V001www.cbj-verlag.de
Du findest uns auch auf Instagram @hey_reader
… in dem ich einen Brief küsse und in einem Briefkasten feststecke
Ich steckte fest. Mit der Hand in einem Briefkasten. So was konnte echt nur mir, Milly Anne Kissinger, passieren. Nicht umsonst nennt mein großer Bruder Ole mich gern Milly Panne Kissinger.
Jetzt fragt ihr euch bestimmt, wie die Hand da hingekommen ist. Angefangen hat alles mit dem Brief. Es war die letzte Sommerferienwoche, als er kam. Eigentlich liiiiiebe ich Ferien. Vor allem die Sommerferien, denn das ist die große Freiheit. Aber wenn in den Ferien ein Brief von der Schule kommt, an meine Eltern adressiert, dann ist eher große Mulmigkeit angesagt.
Mein erster Gedanke war: Jetzt ist es doch rausgekommen. Irgendwie haben die nachträglich spitzgekriegt, dass ich den letzten Mathetest fast komplett von Luzi abgeschrieben habe. Und dann haben sie mir statt der rettenden Zwei eine Sechs verpasst und ich bin sitzen geblieben.
Oh nein, dann müsste ich die fünfte Klasse wiederholen. Ohne Luzi. Dabei mache ich nie was ohne Luzi. Wir sind alleroberbeste Freundinnen. Schon immer. Seit Tanja mir im Kindergarten drei Tage hintereinander eine Schaufel Sand über die Haare geschüttet hat, wenn die Erzieher gerade nicht hingesehen haben. Am dritten Tag hat Luzi sie gepackt (nicht die Schaufel; auch nicht die Erzieher, sondern Tanja) und sie mit dem Kopf in den Sand gesteckt. Ab da waren wir unzertrennlich, wie Zwillinge, und bald schon nannten uns die anderen Hansi und Nansi, weil sie das irgendwie noch lustiger fanden als Hanni und Nanni.
Ich legte den Brief auf den Küchentisch und starrte ihn an, als könnte ich durch extrem intensives Hingucken durch den Umschlag lesen, was darin stand. Es fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand mein Herz packen und feste zudrücken.
Mama war gerade einkaufen, und den Brief allein aufzumachen, traute ich mich nicht. Stattdessen rief ich Luzi an, aber sie ging nicht ran. Kein Wunder, sie war ja auch im Urlaub. Echt voll fies, dass ihre Eltern immer sechs Wochen mit ihr zum »Zelten ohne alles« gehen: ohne Strom, ohne fließendes Wasser und ohne Handy. Natur pur und Erholung total nennen sie das. Ich nenne das Grausamkeit pur und Folter total. Ich meine, sechs Wochen ohne Handy und ohne mich! So hocken sie dann auf irgendeinem Campingplatz in der polnischen Pampa. Da schwören sie drauf. Luzi pfeift natürlich drauf. Aber sie pfeifen wiederum drauf, dass ihre Tochter drauf pfeift, und ich bin ihnen anscheinend auch völlig egal.
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und starrte abwechselnd auf den Brief und auf die Küchenuhr an der Wand, deren Zeiger sich extrem lahmarschig bewegten. Dazu kaute ich ein wenig auf einer Haarsträhne und zog an meinen Fingern, bis sie knackten.
Habt ihr eine Ahnung, wie lang so ein paar Minuten sein können? Die können sich dehnen wie ein Riesenkaugummi, eine Feinstrumpfhose, eins von Mamas Sport-Therabändern und schlimmer als eine Mathestunde, in der ich mal wieder keinen Schimmer habe.
Dann hörte ich es. Oder ihn. Oder sie. Oder so. Das Türschloss nämlich und den Hausschlüssel und Mama. Schwer bepackt kam sie in die Küche und ihr dunkelbrauner Haarschopf lugte nur knapp hinter zwei braunen Papiertüten hervor. Sie ließ die Tüten auf den Küchentisch plumpsen, genau auf den Brief drauf.
Ich zog ihn unter den Tüten heraus. »Da ist Post für Paps und dich gekommen«, krächzte ich und hielt ihn ihr hin. »Von der Schule.«
»Von der Schule?« Sie nahm mir den Umschlag aus der Hand. »Na, so was. Sollen Rainer und ich wohl noch mal die Schulbank drücken?« Kichernd holte sie ein Messer aus der Schublade und begann, den Umschlag gemächlich aufzuritschratschen.
Ich kaute hektischer auf meiner Haarsträhne. Krxxx, war sie ab und ich hatte lauter Haarfitzel auf der Zunge. Das war voll das eklige Gefühl im Mund.
Mama faltete den Brief auseinander und las. Ihre Augen verengten sich und mein Hals verengte sich auch.
Dann schüttelte sie den Kopf. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie, den Blick noch immer auf den Brief geheftet. »So was hab ich ja noch nie gehört.«
»Es tut mir so leid. Das war echt saublöd von mir«, sagte ich. »Aber Fabian hat auch abgeschrieben. Und Pauline und Paulina. Das machen ganz viele. Echt!« Die waren nur nicht so doof und ließen sich erwischen. Und dann auch noch nachträglich …
»Du musst auf eine andere Schule.« Endlich sah sie mich an.
Ich sog erschrocken die Luft ein und verschluckte mich an meinen abgebissenen Haaren. Hust. Röchel. Würg.
Das war ja noch viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ich musste auf eine andere Schule? Eine Art Strafanstalt für Abschreiber? Gab es so was? Warum hatte mich niemand gewarnt? So etwas muss einem doch gesagt werden! Die hatten mich einfach in mein Unglück rennen lassen.
»Ich … ich will nicht ins Schülergefängnis«, stammelte ich. »Bitte, Mama, das darfst du nicht zulassen!« Ich warf mich mit den Knien auf den Küchenboden mitten zwischen die klebrigen Überreste von Brunos Frühstücksmüsli und umklammerte ihre Beine.
Mama sah mich an, als käme ich vom Mars. »Steh auf, Milly«, sagte sie, »mach nicht immer so ein Drama.« Kopfschüttelnd strubbelte sie mir durch die Haare. »Du kommst auf ein anderes Gymnasium in der Stadt. Eure alte Schule schließt aufgrund der stark gesunkenen Schülerzahlen, steht hier.«
»Was?«, schrie ich und vor Erleichterung plumpste ein ganzer Felsbrocken von meinem Herzen auf den Fußboden runter. Ich sprang auf, riss Mama den Brief aus der Hand und küsste ihn.
»Es heißt wie bitte«, sagte Mama.
»Das Gymnasium heißt Wie bitte? Was für ein selten bescheuerter Name!«, kicherte ich. »Hi, ich gehe aufs Wie bitte, und du?«
Mama seufzte. »Nein, die Schule heißt Wolfram-von-Eschenbach-Gymnasium. Ihr werdet alle auf verschiedene Schulen in der Stadt verteilt. Jede nimmt ein paar Kinder auf: das Wolfram-von-Eschenbach, das Goethe, das Neue Gymnasium und das Wilhelm-Hauff. Da werdet ihr in Zukunft einen ganz schön weiten Weg haben.«
»Auf verschiedene Schulen …«, flüsterte ich. Und da erhob sich der Felsbrocken vom Küchenfußboden und senkte sich wieder auf mein Herz. Denn wer sagte mir, dass Luzi auch auf dieses Wolfram-von-Eschenbach-Gymnasium kam?
Am Nachmittag hatte ich eine Erleuchtung: Bestimmt hatte Luzi auch so einen Brief gekriegt, den sie wegen ihrer beknackten Natur-pur-Eltern nur nicht lesen konnte. Aber ich schon!
Ich nahm meinen Tretroller und flitzte los. Zum Glück wohnen wir nicht weit auseinander. Schon von Weitem leuchtete mir ihr großer knallroter Briefkasten entgegen, als wolle er sagen: Hier! Zu mir! Ich helfe dir!
Erst überlegte ich, ihn aufzubrechen. Doch das Ding sah sehr stabil aus. Also musste ich mit etwas mehr Feingefühl vorgehen.
Wie ein Schwerverbrecher sah ich mich um. Die Luft war rein. Schnell steckte ich meine Hand in den Briefkastenschlitz und tastete. Fand nichts. Tastete weiter. Als ich kurz eine Papierecke berührte, schob ich die Hand noch tiefer hinein. »Gleich hab ich dich«, murmelte ich. Noch ein bisschen, dann würde ich den Umschlag zu fassen bekommen – oder auch nicht, denn der Brief rutschte ganz nach unten. Ich versuchte, meinen Arm weiter in den Schlitz zu quetschen, doch vergeblich. Keinen Millimeter ging es mehr vorwärts. Und rückwärts auch nicht.
Da stand ich nun. Und steckte fest.
Ich rüttelte und schüttelte und zerrte und plärrte. Aber meine Hand saß fest. Und jetzt bog auch noch die neugierige Frau Rauschmann um die Ecke und näherte sich zwar gemächlich, aber unaufhaltsam. Hinter sich her zog sie an der Leine Bingo, den kleinen Kläffer.
Mein erster Gedanke war: wegrennen. Ging nur schlecht. Mein zweiter: mich komplett in den Briefkasten quetschen. Aber genauso wenig, wie meine Hand rausging, ging mein Arm weiter hinein.
Ich war geliefert! In diesem Moment verfluchte ich, dass wir in einem Dorf wohnen, wo jeder jeden kennt. Wenn die Rauschmann das mit der Hand im Briefkasten merkte, dann wusste es morgen das ganze Kuhkaff. Ich hörte schon den Klatsch: »Stellt euch vor, die kleine Kissinger klaut die Post direkt aus dem Briefkasten.« Dabei würde sie vermutlich selbst am liebsten die Post von den anderen Leuten lesen, so neugierig, wie sie war.
Hektisch riss ich mit der linken Hand an meiner Strickjacke, die ich mir umgebunden hatte, breitete sie im letzten Moment über den Briefkasten und tat, als würde ich ihn umarmen. Sollten sie lieber sagen: »Die kleine Kissinger hat einen an der Klatsche.«
»Sieh an, sieh an, die kleine Kissinger«, sagte Frau Rauschmann und blieb direkt neben mir stehen. »Du weißt aber schon, dass Luzi noch im Urlaub ist? Sechs Wochen sind sie mal wieder weg, die Schneiders.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Diese Lehrer … na ja, wem’s gefällt. Ich sage immer, daheim ist es am schönsten.«
»Finde ich auch«, log ich, obwohl ich mich gerade auf die andere Seite der Weltkugel wünschte. »Ich vermisse Luzi nur so, und da dachte ich, ich schaue trotzdem mal bei ihr vorbei.« Mit der linken Hand streichelte ich den feuerroten Briefkasten und grinste ein bisschen irre dazu.
Frau Rauschmann schlenkerte aufgeregt ihre Riesenhandtasche hin und her, und es kam mir so vor, als würden sich ihre ohnehin großen Nasenlöcher ein wenig aufblähen, während Bingo ganz ungeniert an meinem Bein schnüffelte. Keine Frage, sie hätte am liebsten an meinem Arm geschnuppert, denn sie roch den Braten. Mit ihren kleinen, faltenumkränzten Augen sah sie mich an und wartete auf mehr.
Aber ich drehte den Spieß einfach um. »Und was haben Sie Schönes vor, Frau Rauschmann?«, fragte ich scheinheilig. Also außer mir hinterherzuspionieren?
Sie rückte ihre lilagraue Dauerwelle zurecht. »Zum Frisör«, erklärte sie, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.
»Na, dann«, meinte ich und winkte ihr zu. »Sie haben sicher einen Termin.«
Frau Rauschmann schlenkerte noch ein paarmal mit ihrem Handtaschenmonstrum, stieg von einem Fuß auf den anderen und sagte Dinge wie »tja-ja«, »nun gut« und »sieh an, sieh an«.
Dann blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Bingo abzuziehen – natürlich nicht, ohne sich noch ein paarmal nach mir umzudrehen.
Erleichtert atmete ich auf. Doch kaum war Frau Rauschmann außer Sichtweite, nahte schon die nächste Katastrophe und jemand kam um die Ecke geflattert.
Ja, ihr habt richtig gelesen: geflattert. Das machen ja eigentlich nur Vögel. Und Tanja. Mit winzig kleinen Tippelschritten sauste sie um die Kurve und tat, als würde sie schlittern. Die Arme hatte sie dabei angewinkelt, sodass sich die Hände fast auf Höhe der Schultern befanden, wo sie kleine Flügelschlagbewegungen vollführten.
Oh nein. Die hatte ich seit dem Kindergarten nicht mehr gesehen, als sie mit fünf in die Stadt gezogen war. Was machte sie hier? Wie ein hypnotisiertes Kaninchen blickte ich ihr entgegen, während sie näher und näher kam. Eigentlich sah sie aus wie früher, nur dass sie schwarz getuschte Wimpern hatte und einen halben Meter größer war.
Plötzlich fühlte ich mich wieder ganz klein. Wie damals im Kindergarten, als Mama mir immer Ringelshirts verpasst hat und die alten Latzhosen von Ole mit den abgeschabten Knien.
In Tanjas Augen blitzte es, als sie meine Situation erfasste. Zugegeben: Sie hatte sehr hübsche grüne Augen. Aber das gemeine Lächeln, das sich nun auf ihr Gesicht stahl, verlieh ihr etwas Krokodilhaftes.
Sie sah sich um. Überlegte sie gerade, wo sie eine Ladung Sand herbekam, jetzt, wo ich hilflos vor ihr stand?
Doch dann bogen ihre Eltern um die Ecke und Tanja begnügte sich mit einer bissigen Bemerkung – die erwachsene Version von Sandwerfen.
»Na, zu blöd zum Briefeklauen?«, fragte sie.
»Na, immer noch zu blöd zum Laufen?«, gab ich zurück. Und das war noch die nette Variante, denn vor meinem inneren Auge lief gerade ein ganz anderer Film ab, in dem ich total cool und total stark und total super war und den Briefkasten aus dem Fundament riss, um ihn Tanja um die Ohren zu hauen.
»Ach, ist das nicht die Milly?«, rief Tanjas Vater mir entgegen.
»Die Milly aus dem Kindergarten, Tanja! Wie nett, dass ihr euch mal wieder trefft. Wir waren schon so lange nicht mehr in der Gegend«, meinte ihre Mutter. »Wohnst du immer noch hier?«, fragte sie an mich gewandt. Es klang mitleidig. »Hier hat sich ja wirklich gar nichts verändert in all den Jahren.«
»Stimmt«, warf Tanja ein, »alles sieht genauso aus wie früher. So ist das eben auf dem platten Land.«
Bildete ich mir das nur ein oder hatte sie dabei auf meine Brust geguckt?
»Na dann, schönes Leben noch. Wir düsen jetzt mal weiter«, meinte sie mit einem zuckersüßen Lächeln und stolzierte mit hoch erhobenem Kopf und ihren Eltern davon, die mir noch freundlich zuwinkten.
Ja, düst ihr nur ab, dachte ich und sah ihnen grimmig hinterher.
Als sie endlich weg waren, fuhren noch zwei Autos und ein Traktor vorbei und mir wurde jedes Mal heiß und kalt. Wie wild rüttelte ich und zog. Das Blech des Briefkastens schnitt in meine Hand und Tränen stiegen mir in die Augen.
»Scheißkasten«, fluchte ich und schlug darauf. Aber das half natürlich auch nichts. Ich musste mich befreien. Oder vielmehr jemand musste mich befreien. Allein schaffte ich es einfach nicht.
Habt ihr schon mal probiert, mit der linken Hand das Handy aus der rechten Hosentasche zu fischen? Das ist gar nicht so einfach, kann ich euch sagen. Nach mehreren Anläufen gelang es mir schließlich. Fragte sich nur, wen ich anrufen sollte. Paps schied aus – der hätte mich mit seinen Zahnarztbohrern und Zangen vermutlich loseisen können, aber auf das Donnerwetter hinterher konnte ich verzichten. Mama war auch keine gute Idee: Da gäbe es Donnerwetter vorher, Donnerwetter mittendrin und Donnerwetter hinterher. Und mein kleiner Bruder Bruno war grundsätzlich keine große Hilfe, egal worum es ging. Blieb Ole.
Beim Gedanken an ihn verdrehte ich die Augen. Ole würde das alles hier unheimlich witzig finden und mich bis ans Ende meiner Tage damit aufziehen. Aber ich hatte keine andere Wahl.
Zum Glück ging er gleich beim zweiten Klingeln dran.
Keine fünf Minuten später kam er angebraust. Mit seinem Mofa, Papas Werkzeugkasten, rohen Ole-Kräften und einem superbreiten Grinsen. Selten hatte ich mich so gefreut, ihn zu sehen.
»Was machst du denn da?«, fragte er.
»Angeln«, sagte ich. »Oder nein: Extreme-Briefkasting. Das ist eine neue Trendsportart.«
»Extreme-dusselige-Schwester-Retting auch«, erwiderte er.
Gegen meinen Willen musste ich lachen. Manchmal war es gar nicht so schlecht, einen großen Bruder zu haben.
Wiederum fünf Minuten später hatte er mich befreit und ich rieb mir das schmerzende Handgelenk. Keine Ahnung, wie genau er das geschafft hatte, denn ich hatte die ganze Zeit über die Augen zugekniffen.
»Danke! Danke! Danke!«, rief ich und fiel ihm um den Hals.
Er löste meine Arme von sich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, packte das große Stemmeisen zurück in die Werkzeugkiste und schwang sich wieder auf sein Mofa. »Also, dann, tschüssinger«, sagte er. »Und wenn du Nansi das nächste Mal einen Liebesbrief schreibst, dann pass besser auf, dass du nicht gleich selbst in den Briefkasten fällst.«
»Ha-ha«, motzte ich ihm hinterher.
Ich hatte mich geirrt: Es war immer schlecht, einen großen Bruder zu haben.
In dieser Nacht träumte ich, ich wäre Briefkasten-Girl. Briefkasten-Girl war genauso super drauf wie Superman und hatte statt der rechten Hand einen riesigen blutroten Briefkasten an ihrem Arm, mit dem sie im Kampf gegen das Böse gnadenlos reindreschen konnte. Mit einem einzigen hammerharten Schwung gelang es ihr, ihre grunzgemeine Gegenspielerin, die Fiese Flatter, auf den Mond zu schießen. Das Letzte, was man von der Fiesen Flatter sah, war, wie sie mit hektischen Handbewegungen versuchte, einem Meteoriten auszuweichen. Vergeblich, versteht sich. Und Briefkasten-Girl winkte ihr mit der anderen, normalen Hand lächelnd hinterher und rief: »Guten Flug!«
Das war ein Supertraum.
Aber ab da ging er irgendwie schief, und Briefkasten-Girl kam mutter- und luziseelenallein in eine neue Schule und musste mit links schreiben und nasebohren und simsen lernen, weil ihre rechte Hand ja noch immer in einem Briefkasten steckte, den sie überall mit sich rumschleppte. Und der Traum war überhaupt nicht super.
… in dem ich vor versammelter Mannschaft fast-geküsst werde und es eine Ohrfeige setzt
Am ersten Schultag wurde extrem viel geschrien.
Ich schrie.
Ole schrie.
Und zuletzt schrie auch noch Mama.
Aber nicht, dass ihr glaubt, ich schrie, weil ich luziseelenallein in die neue Schule gemusst hätte. Nein, das Schicksal – oder das Schulamt – hatte es gut mit uns gemeint, und ich schwebte im siebten Himmel, seit ich wusste, wo Luzi demnächst den Vormittag verbringen würde: nämlich auf einer Schulbank neben mir!
Als sie vor zwei Tagen endlich aus dem Urlaub zurückgekehrt war und sich herausgestellt hatte, dass sie an dieselbe Schule kam wie ich, waren wir uns erst mal um den Hals gefallen und auf und ab gesprungen. Dabei fiel mir auf, dass Luzi plötzlich ein paar Zentimeter größer war als ich. Insgesamt wirkte sie irgendwie verändert: Sie war bräuner, ihre Zähne wirkten weißer und sie hatte ganz helle Strähnen in den blonden Haaren. Und richtige kleine Brüste hatte sie auch bekommen. Schön sah das aus. Ich nahm mir vor, mir bei Gelegenheit auch welche wachsen zu lassen. Immerhin wurde ich bald zwölf. Da hat man doch ein Recht auf einen Busen.
Aber darum würde ich mich wann anders kümmern, denn das mit der neuen Schule war jetzt erst mal wichtiger.
»OOOOLE«, brüllte ich und hämmerte an die Badtür.
Ich war extra früh aufgestanden. Am ersten Tag in der neuen Schule wollte ich einen perfekten Eindruck machen und mir mit Mamas Mascara die Wimpern tuschen. Luzi und ich experimentierten erst seit eineinhalb Tagen damit, und ich brauchte ziemlich lang, bis es anständig aussah.
Für die Pappnasen in meiner alten Schule wäre ich keine Sekunde früher aufgestanden. Die kannte ich alle schon ewig. Die meisten waren seit der ersten Klasse mit mir zusammen und ein paar sogar seit dem Kindergarten. Deshalb wussten sie auch über all meine Peinlichkeiten und Pannen Bescheid. Zum Beispiel wie Luzi und ich im Kindergarten versucht hatten, unsere Popel zu verkaufen mit dem Slogan: süß und saftig, ein Euro achtzig. Oder als mir in der ersten Klasse nach dem Klogehen mal der Saum von meinem Rock hinten in der Unterhose steckte. Und dass ich im Karneval und an Halloween immer zusammen mit Luzi als Pferd verkleidet war – und ich war natürlich das Hinterteil.
Aber nun begann mein neues Leben in einer neuen Klasse einer neuen Schule mit lauter nagelneuen Mädchen und nigelnagelneuen Jungs. Da konnte ich ganz groß rauskommen. Da konnte ich eine coole Nummer sein und nicht mehr Hansi oder Nansi oder die Pferdearsch-Milly. Das war meine Chance, mich neu zu erfinden.
Und die wollte ich nutzen.
Aber im Bad war Ole und steckte da so fest wie neulich meine Hand im Briefkasten – egal wie oft ich klopfte, wie laut ich schrie und wie sehr ich drohte. Und ich kann ganz schön übel klopfen, schreien und drohen.
»OOOOLE, JETZT.«
Poch.
»MACH.«
Poch.
»ENDLICH.«
Poch.
»AUF!«
Poch-poch-pooooooooch.
Im Bad jedoch herrschte Stille. Nur von unten aus der Küche brüllte Mama herauf, dass wir uns beeilen sollten.
In den letzten Wochen der Sommerferien hatte ich wohltuende Ruhe vor Mama gehabt, und das war auch gut so, denn sie ging mir zurzeit unheimlich auf die Nerven. Allein schon wie sie kaute. So kau-kau. Und dann schluckte sie auch noch so komisch laut. Zum Glück war sie in letzter Zeit oft weg. Und selbst wenn sie da war, war sie mit den Gedanken woanders. So eine Phase hatte sie schon mal. Sie kriegt dann einen ganz leeren Blick, kocht seltsame Dinge oder gar nichts, weil der Kühlschrank leer ist, und manchmal murmelt sie vor sich hin und macht mit ihrer Krickelkrakelschrift irgendwelche unleserlichen Notizen.
Aber heute, am ersten Schultag, war sie voll da, was vielleicht auch daran lag, dass Ole und ich solchen Krach machten, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als mitzuschreien.
»Ole, Milly, los jetzt«, rief sie von unten.
»Komm sofort raus, sonst verstecke ich deine Schultasche, Ole«, drohte ich oben.
Schweigen.
»Und ich werfe dein Handy aus dem Fenster.«
Aber Ole machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten. Wahrscheinlich war ihm seine Schultasche egal und sein Handy hatte er einstecken.
Jetzt hätte ich gut meine Briefkasten-Girl-Hand brauchen können. Dann läge die Badtür längst in Trümmern, Ole wäre wimmernd geflohen und ich könnte in Ruhe an meiner Schönheit feilen.
Ich sah heute ganz ungewohnt aus mit meiner Jeans-Hotpants und den Leggings darunter und den von mir eigenhändig mit Kulli bemalten Leinenturnschuhen mit den quietschgrünen Schnürsenkeln. Die größte Veränderung hatte jedoch auf meinem Kopf stattgefunden: Meine Halb-halb-Haare – halb blond und halb braun nämlich – hingen mir (trotz Schule) in die Augen. Ich mochte nicht mehr diese Zöpfe haben, die Mama mir immer machte. Ich war ja kein Korb, dass ständig alles an mir geflochten sein musste. Ich wollte eine wilde Mähne, die mir eine verwegene Aura verlieh. Auch wenn ich nichts mehr sah. Vorhang sagt Paps dazu, wenn ich die Haare so trage. Also: Vorhang auf für die neue Milly! Musste ja keiner wissen, dass sich darunter immer noch die alte Panne verbarg.
Jetzt brauchte ich nur noch das bisschen Wimperntusche, dann war ich ziemlich annehmbar – ganz im Gegensatz zu Ole. Was machte der da bloß so lang? Er sah doch sowieso doof aus. Wie ein Ole eben. »Was machst du denn so lang da drin?«, brüllte ich.
»Milly!«, schrie meine Mutter erneut von unten. »Komm jetzt, sonst ist der Bus weg!«
»Ole macht die Badtür nicht auf«, plärrte ich zurück. Petzen war immer gut.
»OOOLE!«, kreischten diesmal Mama und ich zusammen.
Im Badezimmer herrschte noch immer Schweigen. War der im Klo ertrunken oder was? Als ich durch das Schlüsselloch lugte, sah ich ihn mit Papas Rasierwasser hantieren.
»Rasierwasser hilft nichts gegen Pickel«, rief ich. »Und gegen deinGesicht hilft sowieso gar nichts!«
Mein neuer Schlachtplan lautete, ihn so zu ärgern, dass er rauskam, um mich zu verkloppen.