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»MISS VEE ist mein Lieblingsbuch des Jahres! Vee und Noel sind echte Originale, und ihre gemeinsame Reise brachte mich zum Lachen und zum Weinen.« Jojo Moyes Nichts im Leben von Vera Sedge verläuft nach Plan. Die 36-Jährige schlittert kopflos von einer hausgemachten Krise in die nächste. Vee ist notorisch pleite, und es ist ihr inzwischen egal, wenn sie auch mal krumme Wege geht. Dann stolpert der zehnjährige Noel in ihr Leben. Er ist mit der Kinderlandverschickung ins kleine St. Albans gekommen. Er ist hochbegabt, altklug und ganz anders als alle Menschen, die Vee bisher kennengelernt hat. Noels kühler Kopf und sein großes Herz bringen sie auf eine Idee und beiden einen unverhofften Geldsegen. Auf sich allein gestellt, ist Vee eine Katastrophe. Zusammen mit Noel ist sie ein geniales Team. Ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Noel in London von einem Fliegeralarm überrascht wird. Vee macht sich auf, ihn zu suchen. Mit kühlem Kopf, großem Herz und einer guten Idee schlagen sie sich durch die schwierigen Zeiten. »Menschlich, zärtlich, lustig, tröstlich und sehr berührend. Ich habe das Buch verschlungen.« Marian Keyes »Die angenehm unkonventionelle Vee ist eine Heldin, die man ins Herz schließen muss. Und der Roman ist bei allem Anspruch unglaublich charmant.« The Sunday Mirror »Ein witziger Roman, aber erheblich tiefgründiger als ein solches Etikett vermuten lässt. Großartig!« The Times »Lissa Evans hat sich ihren ganz eigenen Platz in der Literatur erobert.« Nick Hornby
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Das Buch
Nichts im Leben von Vera Sedge verläuft nach Plan. Die 36-Jährige schlittert kopflos von einer haus-gemachten Krise in die nächste. Vee ist notorisch pleite, und es ist ihr inzwischen egal, wenn sie auch mal krumme Wege geht. Dann stolpert der zehnjährige Noel in ihr Leben. Er ist mit der Kinderlandverschickung ins kleine St. Albans gekommen. Er ist hochbegabt, altklug und ganz anders als alle Menschen, die Vee bisher kennengelernt hat. Noels kühler Kopf und sein großes Herz bringen sie auf eine Idee und beiden einen unverhofften Geld-segen. Auf sich allein gestellt, ist Vee eine Katastrophe. Zusammen mit Noel ist sie ein geniales Team. Ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Noel in London von einem Fliegeralarm überrascht wird. Vee macht sich auf, ihn zu suchen.
Die Autorin
LISSA EVANS hat den Arztberuf an den Nagel gehängt, um als Stand-up-Comedien noch mehr Freude zu verbreiten. Dann fing sie an, für die BBC Comedy-Programme zu produzieren, zuerst im Radio, dann im Fernsehen, wofür sie mit einem BAFTA ausgezeichnet wurde. Als Schriftstellerin hat sie bereits fünf Romane, darunter drei Kinderbücher, veröffentlicht. Sie wurde für den Orange Prize, den Whitbread Prize und den Costa Award nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in London.
Lissa Evans
MISS VEE
oder
wie man die Welt buchstabiert
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Roth
List
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Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel Crooked Heartbei Doubleday, London
Die Arbeit der Übersetzerin an diesem Buch wurde durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.
ISBN 978-3-8437-1055-8
© 2014 by Lissa Evans© der deutschsprachigen Ausgabe2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, München
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für Kate Anthony und Gaby Chiappe
Ihr kamen Wörter abhanden. Zu Beginn war das lustig. »Die Schachtel mit den Dingern«, sagte Mattie in der Küche etwa und ruderte mit den blaugeäderten Händen. »Diesen Dingern, um damit … um damit … hör mal, Noel, das reimt sich:
Um damit Kerzen anzustecken,
ich komm nicht drauf, nicht ums Verrecken!«
Oder: »Die Kirche da« – wenn sie auf dem Parliament Hill standen und hinüberblickten zu der bläulich grauen Kritzellinie namens London. »Die mit der Kuppel, hilf mir kurz auf die Sprünge.«
»St Paul’s Cathedral.«
»Wer sagt’s denn. Der Architekt hat einen Vogelnamen. Wiedehopf … Kondor …«
»Wren.« Zaunkönig.
»Recht hast du, junger Mann, obwohl ich doch sagen muss, gegen ›Sir Christopher Kondor‹ klingt das reichlich piepsig.«
Nach einer Weile war es dann nicht mehr so lustig. »Wo ist mein … mein …« Seine Taufpatin tappte durch den Salon, die Füße in den Pantoffeln nicht ganz gleichauf mit dem schweren Körper. »Wo ist dieses verflixte Ding, das blaue, zum Umhängen, dieses blaue Ding …«
Manche Wörter kehrten nach einigen Tagen an die Oberfläche zurück, andere versanken für immer. Noel brachte Aufschriften an: STOLA, RADIO, GASMASKE, BESTECKSCHUBLADE.
»Tüchtiger kleiner Bursche«, sagte Mattie und bückte sich, um ihn auf die Stirn zu küssen. »Aber dass du sie ja wegpackst, bevor Geoffrey seinen nächsten Kontrollbesuch macht«, fügte sie hinzu, plötzlich wieder ganz auf Draht.
Onkel Geoffrey und Tante Margery wohnten eine Meile entfernt in Kentish Town. Einmal im Monat kam Onkel Geoffrey sonntags zum Tee, und zu jedem von Matties Geburtstagen brachte er ihr ein Geschenk, das er oder Tante Margery selbst gebastelt hatten.
»Es gibt Zeiten«, bemerkte Mattie, während sie den x-ten bestickten Sesselschoner begutachtete, »da ist ein offener Kamin Gold wert. Was ist die eine Sache, die mehr zählt als alles Geld, Noel?«
»Geschmack.«
»Und Geschmack wird für Geoffrey und …«, sie stockte, »… Hängebusen …«
»Margery.«
»… immer ein Fremdwort sein.«
Bei seinem allmonatlichen Sonntagsbesuch lächelte Onkel Geoffrey ohne Pause und redete von seiner Arbeit als Steuereinnehmer, von den Intarsienbilderrahmen, die er in seiner Freizeit verfertigte, und Tante Margerys schwacher Gesundheit, die sie dauerhaft ans Haus fesselte. Seine Zähne waren ebenmäßig und standen auseinander wie Zinnen. Noel stellte sich gern vor, dass zwischen ihnen winzige Soldaten hervorsprangen, um Pfeile quer durchs Zimmer zu schießen oder Kübel mit geschmolzenem Blei über Onkel Geoffreys Kinn zu schütten.
»Und, junger Freund, womit vertreibst du dir die Zeit?«, erkundigte sein Onkel sich dann. »Hast du Hobbys, die dir Spaß machen? Modellflugzeuge bauen? Briefmarken sammeln?«
»Hobbys sind etwas für Leute, die nicht lesen«, sagte Noel; das war einer von Matties Sprüchen.
Nach dem Tee fragte Onkel Geoffrey, ob es im Haus etwas zu richten gebe, und Mattie fielen immer ein paar Aufgaben ein, bei denen man ins Schwitzen kam oder schmutzig wurde – Möbel umstellen, eine Tür ölen. Als die Richtlinien für die Verdunklung in Kraft traten, ließ sie Onkel Geoffrey die Glasscheiben in den Türen mit Packpapier abkleben und sämtliche Fensterläden auf Dichtheit überprüfen.
»Schließlich«, sagte Mattie, »bist du unser Kriegsexperte.« Er hatte sich einen Tag nach Mr Chamberlains Rückkehr aus München als Luftschutzhelfer gemeldet. Er besaß einen Helm, eine Trillerpfeife und eine Armbinde.
»Fehlt nur noch der Luftangriff!«, sagte Mattie.
Sie glaubte nicht, dass es zum Krieg kommen würde.
Matties Haus war ein großzügig geschnittener Backsteinkasten mit einer verschnörkelten schmiedeeisernen Veranda und einem Garten voller Azaleen. »Der Sitz eines viktorianischen Gentlemans«, sagte sie. »Oder, besser noch, die Villa, in der ein viktorianischer Gentleman seine Mätresse versteckt gehalten hätte. Familie in Mayfair, Geliebte in Hampstead. Damals lag da noch eine Weltreise dazwischen.«
Der Weg führte eine kleine Böschung am Westrand von Hampstead Heath entlang und endete an einem von Kaninchen abgefressenen Stück Wiese; aus den Fenstern auf der Rückseite des Hauses sah man nichts als Bäume.
»Wer käme darauf, dass wir hier in London sind?«, sagte Mattie beinahe jeden Tag.
Es war ein heißer, träger Sommer. Frühmorgens, wenn es noch kühl war, stapften sie die Meile bis zum Parliament Hill und wieder zurück; sie traten dunkle Spuren ins nasse Gras und sangen den Lerchen Kampflieder vor:
Seit’ an Seite lasst uns kämpfen
Für den Anbruch großer Zeiten.
Wenn wir Frauen aufbegehren,
Dann, weil wir für alle streiten.
Nicht mehr Reichtum für den Einen
Und für hundert nur Almosen,
Nein, für alle Glanz und Fülle:
Brot und Rosen!
Brot und Rosen!
Menschenleben sollen mehr sein
Als nur Frondienst für die Großen.
Auch die Seelen können hungern:
Gebt uns Brot UND gebt uns Rosen!
Den letzten Refrain summte und pfiff Mattie gleichzeitig.
»Eine seltene und schwer unterschätzte Kunst«, bemerkte sie dann, »die mir schändlicherweise nie den Ruhm eingebracht hat, den sie verdient gehabt hätte.«
Die Nachmittagshitze verdöste sie in einem Liegestuhl, während Noel im Gras lag und Detektivgeschichten las, einen Stift in der Hand, mit dem er sich mögliche Hinweise auf den Täter anstrich. Ringeltauben gurrten in den Zweigen.
»Wer käme darauf«, seufzte Mattie, »wer käme darauf, dass wir hier in … in …«
In dem Schweigen, das folgte, drehte Noel sich um und sah sie an. Ihr breites, klares Gesicht schien plötzlich unvertraut, den Ausdruck darauf hatte er nie zuvor gesehen. Dann begriff er, dass es Panik war. Im Innern schwankte sie am Rand eines Abgrunds.
»London«, sagte er, »in London.«
»Ach ja, London«, wiederholte sie und gewann millimeterweise wieder Boden unter die Füße.
An dem Tag, an dem der Bagger seine Arbeit aufnahm, waren sie in der Bibliothek. Als sie zurückkamen, ratterte schon der erste Lastwagen an ihrem Haus vorbei und hinterließ Borten aus Sand am Wegrand.
»Was unterstehen Sie sich?«, rief Mattie dem Fahrer zu, aber er beachtete sie nicht.
Sie folgten der Sandspur bis zum Ende des Weges, und da stand der große rote Bagger. Er hatte bereits fünfzig Meter Heidegras wegrasiert und fraß gierige Bissen aus dem sandigen Abhang. Ein zweiter Lastwagen wartete auf seine Ladung.
»Aufhören!«, rief Mattie.
Drei Nachbarn kamen angelaufen, schwitzend und gestikulierend, und dann ein vierter, grimmig, wichtig.
»Anordnung der Regierung«, sagte er. »Ich habe mich bei der Verwaltung erkundigt. Es ist für die Sandsäcke, sie sagen, wir werden Tausende brauchen, wenn die Bombenangriffe losgehen. Den Hyde Park graben sie auch um …«
Innerhalb einer Woche waren aus dem einen Bagger vier geworden, und ein steter Strom von Lastern rumpelte am Haus vorbei, hin und wieder zurück. Das Loch im Heideboden wuchs beständig, die Abbruchkante eine Palette von Gelbtönen: ocker, senfgelb, buttergelb, golden. Wenn der Wind wehte, glich Matties Vorgarten eher einem Strand als einem Rasen. Bei jedem Schritt, den man im Haus tat, knirschte es. Mrs Harley, die Reinemachfrau, sagte, die Mehrarbeit wachse ihr über den Kopf, und kündigte.
Ein Mann kam an die Haustür, der hundert gefüllte Sandsäcke für fünf Pfund oder leere für drei Pence das Stück verkaufte. »Dann können Sie sie selber vollmachen«, sagte er. »Sie sind fein raus, Sie sitzen an der Quelle.« Mattie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Ihre morgendliche Route änderte sich. Der Umweg, den sie nahmen, um nicht an dem Loch vorbeizumüssen, verlängerte die Strecke um eine Meile, was Noels lahmem Bein nicht guttat; er kam jedes Mal humpelnd zurück. Hinter dem Parliament Hill war eine Geschützstellung entstanden, und entlang der Wiesen am Bahndamm wurden Gräben ausgehoben. Wenn Mattie stehen blieb und auf den Horizont starrte, auf die silbernen Zeppeline, die reglos an unsichtbaren Drähten hingen, schüttelte sie ungläubig den Kopf. »Schon erstaunlich«, sagte sie, »für den Krieg ist der Staatssäckel allemal gut genug gefüllt.«
Bei seinem Augustbesuch redete Onkel Geoffrey über die internationale Situation, dann tätschelte er Noel den Kopf. »Und wo es wohl diesen kleinen Schlingel hinverschlagen wird?«, sagte er mit seinem üblichen Lächeln.
»Wie, wo es ihn hinverschlagen wird?«, fragte Mattie scharf.
Das Lächeln verrutschte leicht. »Du hast ihn doch sicher für die Evakuierung angemeldet.«
»Nein, warum sollte ich?«
Geoffrey machte ein unglückliches Gesicht. »Ich wollte dich nicht verärgern, liebe Mattie« – er streckte eine Hand aus, wie um die von Mattie zu tätscheln, zog sie aber klugerweise wieder zurück –, »es ist nur, dass die Regierung …« Mit einer Kraftanstrengung hievte er das Lächeln zurück auf sein Gesicht. »… Die Regierung ist der Ansicht, bei einem Krieg sollten Kinder besser nicht an Orten sein, wo Bombardements zu erwarten sind.«
»Es ist kein Krieg.«
»Noch nicht vielleicht, aber ich halte die Wahrscheinlichkeit für …«
»Und wann hätte ich je etwas darauf gegeben, was die Regierung sagt?«, fragte Mattie.
Dem ließ sich nichts entgegenhalten. Sie hatte im Kampf für das Frauenwahlrecht fünfmal im Gefängnis gesessen; die Narben von den Handschellen waren bis heute zu sehen.
»Oder willst du evakuiert werden?«, fragte Mattie Noel hinterher.
»Nein«, sagte er.
»Roberta würde dich bestimmt jederzeit bei sich in … wo lebt Roberta gleich wieder? Ipswich? Das dürfte ja wohl sicher genug sein.«
»Ich will nirgends hin«, sagte er. Ein bisschen Angst machte ihm der Gedanke an die Bomben schon. Weit größere Angst allerdings machte ihm die Tatsache, dass Mattie anscheinend vergessen hatte, dass ihre beste Freundin Roberta tot war. Die Beerdigung lag jetzt anderthalb Jahre zurück. Mattie hatte ihre Schärpe von damals getragen und dazu eine Rosette in Weiß, Grün und Lila.
Die Deutschen marschierten in Polen ein, und die Sommerferien waren fast um. Am Samstag vor Schulbeginn ging Noel in die Bibliothek. Er hatte sich durch sämtliche vorrätigen Lord-Peter-Wimsey- und Albert-Campion-Bände gelesen. Die große Bibliothekarin mit dem Damenbart empfahl ihm, es anstatt mit einem Kriminalroman einmal mit einem Thriller zu versuchen. »Eric Ambler müsste dir gefallen«, sagte sie. Noel versuchte sich gerade für einen der Titel zu entscheiden, als ihn jemand zwischen die Schulterblätter puffte.
»He, Henkelohr«, sagte Peter Wills sehr vernehmlich.
Noel nickte ihm zu, höflich, aber abschätzig. Peter ging wie er nach St Cyprian, aber in die Klasse unter ihm, und war eben erst neun geworden, während Noel schon bald zehn wurde; trotzdem gab er sich gern herablassend, weil sein Vater Reserveoffizier war. Und weil er überhaupt einen Vater hatte.
»Na, abmarschbereit?«, fragte Peter. »Meine Mutter hat Cleggo getroffen, und der sagte, wenn’s ganz dumm läuft, kommen wir nach Wales. Aber nicht weit weg vom Meer, meint er.«
»Ich fahre nicht mit«, sagte Noel. »Ich habe beschlossen, in London zu bleiben.«
»Hast du’s gut.« Peter schaute neidisch. »Und wir verpassen alles.«
»Sie können sich denken, wie schwer mir diese Entscheidung fällt …«, sagte der Premierminister gerade, als Mattie auf den »Aus«-Knopf drosch. »Verdammt«, sagte sie. »Verdammt, verdammt, verdammt! Diese Drecks-Männer. Aufeinander schießen, eine andere Lösung haben sie nicht. Peng, peng, du bist … du bist …« Sie stand auf und lief durchs Esszimmer, wühlte in ihren Haaren, bis sie ihr als wilde Krone vom Kopf wegstanden. »Wie konnte es so weit kommen?«, wollte sie von Noel wissen.
Onkel Geoffrey, der sonst nie anrief, griff zum Hörer, um zu melden, dass Krieg sei, und um seine Hilfe bei der Verdunklung anzubieten. »Danke, wir kommen allein zurecht«, sagte Mattie. Sie brauchten eine Stunde dafür, und als sie fertig waren, dämmerte es schon.
»Räume ohne Fenster sind mir unsympathisch«, sagte Mattie, die abends selten auch nur die Vorhänge zuzog. »Stickig. Erinnern mich an diese … diese … du weißt schon, mit den Gitterstäben …«
In der Nacht wurde Noel plötzlich wach. Er lag in der drückenden Dunkelheit und hörte Mattie von Zimmer zu Zimmer gehen und die Fensterläden aufreißen.
Am Tag darauf verschwanden sämtliche Kinder, als hätte London mit den Schultern gezuckt und all die kleinen Menschen abgeschüttelt. Als Noel Besorgungen machte, drehten sich die Leute nach ihm um. Der Bäcker wollte wissen, warum er nicht mit den anderen gegangen war. »Ich denke, Sie werden feststellen, dass die Verschickung nicht verpflichtend ist«, erwiderte Noel hochtrabend. Das hatte er Mattie einem neugierigen Nachbarn antworten hören.
Er stieg den Hügel hinauf zu seiner Schule und stand vor dem mit Kette und Schloss versperrten Tor. Bis auf weiteres geschlossen verkündete ein Schild. Damit hatte er nicht gerechnet; in seiner Vorstellung hatte er allein in der Klasse gesessen und Privatunterricht erhalten. Die staatliche Schule an der Fletcher Road war ebenfalls geschlossen, die Fenster mit Brettern vernagelt.
Noel saß eine Zeitlang auf einer Mauer, bevor er heimging; Mattie hielt sehr wenig von der Regierung, aber umso mehr von Schulbildung.
Zwei Wochen lang verließ er morgens um acht das Haus, in der Schuluniform, mit Ranzen und Gasmaske. Erst schaute er in der Bibliothek vorbei, dann nahm er den Bus hoch nach Hampstead Heath und ging zum Kletterbaum. Der Kletterbaum war eine Eiche, die ein Blitz vor drei Jahren gefällt hatte und die seitdem quer über einer Lichtung lag. Normalerweise wimmelte es hier von Kindern, aber jetzt hatte er den mächtigen Baum für sich allein und las in einer Astbeuge sitzend erst den kompletten Eric Ambler und dann den kompletten Sherlock Holmes. Am Anfang der dritten Woche sah er auf, und vor ihm stand Mattie.
»Da halte ich nach einem Großen Buntspecht Ausschau«, sagte sie, »und finde stattdessen einen kleinen Schulschwänzer.«
»Die Schule ist geschlossen.«
»Dann hast du ab jetzt daheim Schule.«
Drei Tage lang erteilte sie ihm richtigen Unterricht (bedeutende Frauen der Weltgeschichte, die Hintergründe der Französischen Revolution) und ließ ihn Aufsätze schreiben (»Wärst du lieber blind oder taub?«, »Was ist Freiheit?«, »Sollten die Menschen Schoßtiere halten?«, »›Alles ist schwer, bevor es leicht ist‹: Erörtere die Implikationen von Thomas Fullers Aphorismus«), die sie dann mit roter Tinte und vollmundigen Bemerkungen kommentierte: »Im Ansatz glänzend, aber gib deinem Vokabular noch etwas mehr Schmiss!« Am Morgen des vierten Tages klopfte es an der Tür. Draußen stand ein kurzgewachsener Mann mit Overall und weißem Helm – von der Luftschutzbehörde East Hampstead, wie er sagte. Es seien Verstöße gegen die Verdunklungsverordnung gemeldet worden.
»Gemeldet von wem?« Das letzte Wort sprach Mattie mit so dröhnender Stimme, dass es wie ein Gong klang.
»Nachbarn«, sagte der Luftschutzwart. »Fensterläden offen, Fensterläden wieder zu, Licht an, Licht aus. Es hätte wie ein Signal ausgesehen, meinten sie. Was es ja sicher nicht war«, fügte er hastig hinzu, als er Matties Gesichtsausdruck sah, »aber ein bisschen Überängstlichkeit kann man den Leuten im Augenblick nicht verdenken, oder, Madam?«
»Miss«, verbesserte ihn Mattie. »Ich bin schließlich keine Bordellwirtin.«
»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass der nächste Schritt eine Vorladung wäre«, sagte der Luftschutzwart.
»Hörst du das?«, fragte Mattie Noel. »Dieser kleine Mann droht mir mit gerichtlichen Folgen.«
Der Mann lief rot an. »Kein Grund, ausfällig zu werden«, sagte er. »Ich setze nur die Anordnungen der Regierung durch. Und da ich schon einmal hier bin, würde ich mich gern von der Einhaltung folgender Vorschriften überzeugen: Abkleben der Fenster. Bereitstellen von Eimern mit Sand und Wasser. Abdichtung eines Raums als Zufluchtsort im Falle eines Gasangriffs.«
»Ist das ebenfalls gerichtlich durchsetzbar?«, fragte Mattie.
Der Luftschutzwart schüttelte den Kopf.
»Dann nein«, sagte Mattie. »Gehen Sie weg, kleiner Mann, und schnüffeln Sie anderswo.«
»Ihnen ist klar«, sagte der Luftschutzwart mit merklich härterer Stimme, »dass die Gerichte Verstöße gegen die Verdunklungsverordnung sehr ernst nehmen. Wir sprechen hier nicht nur von einem Bußgeld, wir sprechen von einer Gefängnisstrafe.«
Und knirschend ging er den sandigen Plattenweg zurück zum Gartentor. Mattie stieß einen erstickten Laut aus, und Noel sah zu ihr hoch. Ihr Gesicht wirkte irgendwie dick und schief, als wäre der letzte Satz des Mannes ein Boxhieb gewesen. »Diese … Gitterstäbe …«, sagte sie und packte Noels Hand. »Nie wieder.«
In den darauffolgenden Wochen kehrten Noels Gedanken immer wieder zu Dr. Long zurück, seinem Algebra- und Physiklehrer in St Cyprian, der seinen Schülern jeden neuen Lehrsatz präsentierte wie ein Juwel, das er aus seiner Schatulle holte. Dr. Long erwartete Interesse, er forderte Staunen ein, anders als Mr Clegg, dessen Geographiestunden eine einzige Strafe waren. Dreißig Tatzen, verabreicht mit den wichtigsten Ausfuhrgütern der malayischen Halbinsel.
»Stellt ihn euch vor«, hatte Dr. Long vor den Ferien zu Noels Klasse gesagt, »stellt ihn euch vor, den Hebel des Archimedes, wie er von Stern zu Stern reicht. Sein eines Ende liegt unter unserem Planeten, in der Mitte ruht er auf einem titanischen Angelpunkt, und am anderen Ende, auf einer Wolke aus galaktischem Staub, steht ein kleiner Mann in einer Toga. Er streckt die Hand aus, er legt einen Finger auf das Ende des Bretts, er drückt … und unsere Erde schießt quer durchs Universum.«
Ein Stupser, und die Welt war verändert. Der Besuch des Luftschutzwarts hatte die gleiche Wirkung. Mattie war aus ihrer Umlaufbahn geschnippt worden und trudelte jetzt quer durchs All.
Sie erstellte eine Liste von Nachbarn, die als Denunzianten in Frage kamen. Ganz oben stand Mr Arnott, der im Nebenhaus wohnte, aber dann ergänzte sie einen Namen nach dem anderen, bis alle darauf standen. »Ab jetzt schauen wir durch sie hindurch«, sagte sie zu Noel. »Noch lieber«, fügte sie hinzu, »würde ich sie allerdings gar nicht sehen.«
Wenn sie nun zu ihrem Morgengang aufbrachen, musste Noel zum Tor vorlaufen und sich vergewissern, dass die Luft rein war, bevor Mattie aus dem Haus trat. Wobei der Ausdruck »Morgengang« nicht mehr ganz zutraf; Mattie schlief schlecht und stand spät auf, und so war es, wenn sie den Parliament Hill erklommen, fast Mittag. Statt Unterrichtsstunden gab es willkürliche Stichproben: 35 mal 15, die römische Invasion, der Lebenszyklus der Honigbiene. Einmal weckte Mattie ihn bei Tagesanbruch und wollte drei britische Naturwissenschaftler genannt bekommen. »Newton, Boyle, Darwin«, sagte er gähnend, während in dem Efeu vor dem Fenster ein Zaunkönig krakeelte.
Die Tage gerieten aus dem Lot. Mahlzeiten verschoben sich oder verschwanden ganz aus dem Blick. Noel ernährte sich drei Tage lang fast nur von Keksen und suchte dann ein Kochbuch heraus. Die Rezepte hatten etwas ungeheuer Befriedigendes, so als löste man eine Gleichung, bei der das Ergebnis essbar war.
»Ganz vorzüglich«, lobte Mattie seinen Brombeerkuchen mit Beeren von der Heide, aber sie aß höchstens zwei Bissen davon. Die Mattie, die er all die Jahre gekannt hatte, war eine stattliche Erscheinung gewesen, breit und kompakt wie ein Baumstumpf, jetzt aber schwand sie dahin. Ihre Strümpfe rutschten. Sie habe keine Zeit zum Essen, sagte sie; sie müsse so viel erledigen.
Eines Morgens stand er in der Küche und fand seine ganzen hilfreichen Beschriftungen durchgestrichen. Er stand mit BESTECKSCHUBLADE in der Hand da, als Mattie hereinkam.
»Irgendwer bricht hier ein und verteilt überall Nachrichten«, sagte sie. »Wir brauchen ein neues Schloss an der … der … dem Ding zum Aufmachen.«
Als am Sonntag darauf Onkel Geoffrey klingelte, blieb Mattie sitzen, den Finger ins Buch gelegt. Noel stand auf, und sie schüttelte den Kopf.
Die Glocke schlug noch zweimal, dann hörten sie das Tor quietschen.
»Na bitte«, sagte Mattie zufrieden.
»Ich muss nur kurz auf die Toilette«, sagte Noel und lief nach oben. Er sah durch das runde Guckfenster auf dem Treppenabsatz, und da stand Onkel Geoffrey auf dem Sandweg vor dem Tor und schaute unglücklich zum Haus herüber. Noel duckte sich, zählte bis hundert und sah wieder hin. Geoffrey war verschwunden.
»Warum haben wir ihn nicht hereingelassen?«, fragte er Mattie am Abend.
»Wen?«
»Onkel Geoffrey.«
»Die kennen sich alle untereinander«, sagte sie. »Diese Luftschutzhelfer. Alle Behörden stecken unter einer Decke, Angus, so funktioniert die Welt nun mal. Unsere einzige Chance ist die Unabhängigkeit. Versprich mir eins.«
»Was?«
»Dass von dir niemand etwas erfährt.«
»Ist gut«, sagte er. »Du hast mich Angus genannt«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Ganz sicher nicht.« Sie sprach im Brustton der Überzeugung.
Das war das erste Mal, dass ihn echte Angst beschlich; schon bald trug er das Gefühl mit sich herum wie einen kalten Schal um den Hals oder einen Magen voller Kaulquappen.
Der Herbst war warm und trocken. Noel harkte Blätter zusammen und verbrannte sie, während Mattie mit anderen Dingen beschäftigt war. Womit, wusste er nicht. Sie drifteten in verschiedene Richtungen, und ihre Wege kreuzten sich nur drei-, viermal am Tag, zu den Mahlzeiten oder im Salon, wo Mattie in ihrem Sekretär herumkramte und Papiere umordnete, während Noel auf der Fensterbank saß und erst den gesamten Edgar Wallace und dann den gesamten Dashiell Hammett las. Manchmal beobachtete er auch nur die Lastwagen, die draußen den Weg entlangrumpelten.
Niemand kam mehr zu ihnen außer Lieferanten, dem Postboten und einmal einer Frau, die Spenden für das Armee-Unterstützungswerk Nordwestlondon sammelte. Noel sah vom Salonfenster aus zu, wie sie den Weg entlangfloh, verfolgt von Matties wütendem Geschimpfe. Onkel Geoffrey ließ sich nicht noch einmal blicken, ebenso wenig der örtliche Luftschutzwart. Noel umrundete jeden Abend das Haus, um sicherzustellen, dass durch keine Ritze Licht schien.
Der Winter kam sehr plötzlich. Noel wachte eines Morgens auf und sah seinen Atem. Der Kohlenkasten in der Küche war leer, darum ging er hinaus zum Kohlenbunker und schob die schwere Klappe hoch. Ein Häufchen kleiner Kohlen kullerte heraus, gefolgt von einer Papierlawine. Briefe, geöffnet und zusammengeknüllt. Ein dicker Packen Formulare, in der Mitte durchgerissen. Er kauerte sich hin und griff danach und las unter Rußtapsern seinen Namen. Also raffte er das ganze Bündel an sich und trug es zum Gartenhäuschen.
Das Gartenhäuschen stand in einer Ecke am Zaun, ein kleiner Pavillon auf einer Drehscheibe, die man mit der Sonne drehen konnte. Irgendwann war der Mechanismus eingerostet, weshalb das Häuschen dauerhaft nach Osten schaute, und dann war Efeu darübergewuchert, so dass es jetzt nur noch ein grüner Buckel war, den sie für nichts mehr benutzten. Das Holz der Brüstung war seidig vom Alter. Noel kniete sich auf die kalten Planken des Vorbaus und breitete die Blätter vor sich aus.
Ein Brief von Mr Clegg, dem Schulleiter von St Cyprian, mit der Aufforderung, Noel nach Llandeilo nachzuschicken:
… es sei denn, Sie hätten andere Vorkehrungen für seine schulische Laufbahn getroffen, in welchem Fall Sie so gut sein möchten, dem Sekretariat umgehend Bescheid zu geben und die noch ausstehenden Gebühren zu begleichen. Plätze in St Cyprian sind hochbegehrt, besonders in Anbetracht der prekären internationalen Lage, und möglicherweise werden Sie feststellen, dass der kapriziösen Einstellung Ihres Patensohns zum Lernen, gekoppelt mit seiner Abneigung gegen jegliche Art von Gruppenunternehmungen, nicht an allen Lehranstalten das gleiche Maß an Toleranz entgegengebracht wird …
Meldeformulare, die vom 7. September datierten:
… besteht eine gesetzliche Pflicht zum Ausfüllen umseitigen Fragebogens. Nachstehende Angaben sind Voraussetzung für die Ausstellung der Bezugsscheine, die Sie für den Kauf von Grundnahrungsmitteln benötigen werden, und der nationalen Kennkarte, die Sie zu jeder Zeit mit sich zu führen haben, um sie auf Verlangen vorzuweisen. Verwenden Sie bitte schwarze Tinte. Unrichtige oder vorsätzlich irreführende Angaben werden strafrechtlich verfolgt.
Zwei Briefe von Onkel Geoffrey und Tante Margery:
25. September 1939
Liebe Mattie!
Geoffrey wollte Dir am Sonntag seinen üblichen Besuch abstatten, aber Du warst nicht zu Hause. Oder vielleicht warst Du »nicht ganz auf dem Posten« und wolltest lieber niemanden empfangen. Geoffrey meint Noel gesehen zu haben, aber er könnte sich natürlich auch getäuscht haben.
Soll er es lieber nächsten Sonntag versuchen?
Herzlich
Geoffrey und Margery Overs
9. Oktober 1939
Liebe Mattie,
nur ein paar kurze Zeilen: Wir haben versucht, bei Dir anzurufen, aber offenbar stimmte etwas mit der Leitung nicht, denn Du konntest uns anscheinend nicht hören.
Ist mit Dir und dem kleinen Noel alles in Ordnung? Soll Geoffrey an seinem üblichen Sonntag vorbeikommen? Wir könnten uns vorstellen, dass es die eine oder andere Kleinigkeit in Deinem Haus gibt, um die man sich kümmern sollte, und Geoffrey hilft, wie Du weißt, immer gern.
Herzlich
Geoffrey und Margery Overs
Geoffrey und Margery sagten bei allem »wir«, als wären sie zusammengewachsen wie Chang und Eng. Er stellte sich vor, wie sie gemeinsam das Ohr an den Hörer pressten. Den Anruf hatte er mitbekommen, wurde ihm klar – Mattie hatte einige Sekunden ins Telefon geschwiegen und dann aufgelegt.
Seine Hände waren schwarz. Er füllte den Eimer und schleppte ihn in die Küche, und als er das Feuer in Gang gebracht hatte, verbrannte er die Papiere eins nach dem anderen, nur den Brief von der Meldestelle behielt er. Er würde schreiben und die Formulare neu beantragen, beschloss er, und wenn sie kamen, würde er sie selbst ausfüllen.
Er wusch sich die Hände und kochte Porridge. Mattie war wach, er hörte sie Selbstgespräche führen. Das machte sie jetzt schon seit Tagen immer wieder – seltsame abgehackte Bemerkungen ohne erkennbaren Zusammenhang, als würde sie einen Zeitungsartikel kommentieren, den sie las. »Mit keiner Silbe um Erlaubnis gefragt«, hörte er sie auf der Treppe murren, »einfach vorgeprescht. Nicht sonderlich helle, wenn du mich fragst.« Ihre Pantoffeln schlappten noch drei Stufen hinunter und hielten dann inne. »Ich sag doch, da beißt du auf Granit«, sagte sie. Das Schlurfen setzte erneut ein, jetzt aber wieder in die andere Richtung, zurück in ihr Schlafzimmer.
Noel starrte den Löffel voll Porridge an, den er hielt. Der Löffel wackelte, und Noel begriff, dass seine Hand zitterte. Er legte den Löffel weg und verschränkte die Finger ineinander. Es musste bitterkalt sein, dachte er, dass er derart schlotterte.
Im Windfang fand er Fäustlinge und einen Schal, und weil es ihm albern vorkam, so dick angezogen im Haus zu bleiben, ging er ins Freie. Etwas trieb ihn vom Haus fort, so weit fort wie nur möglich, und so stieg er in den 136er Bus, der die Pond Street hinunterfuhr, und blieb sitzen, bis der Nordrand des Regent’s Park in Sicht kam. Kaum war er ausgestiegen, hörte er die Gibbons heulen.
Er war mindestens ein halbes Jahr nicht hier gewesen, und der Zoo, in den er nun kam, war eine geschrumpfte, zahnlose Ausgabe seiner selbst. Die Pandas und die Elefanten waren aus London weggebracht worden, die Aquarien geschlossen, aus dem Reptilienhaus waren sämtliche Giftschlangen verschwunden. Er fragte einen Wärter, was mit ihnen passiert sei, und der Mann – so ein selbsternannter Witzbold – nahm ein Taschentuch, drückte es sich auf Mund und Nase und röchelte wild. »Ging nicht anders«, sagte der Mann. »Wenn Hitler erst mal loslegt, reicht eine einzige Bombe, und auf der Camden High Street tummeln sich die Klapperschlangen.«
Im Insektenhaus gab es fast nur noch Ameisen und Käfer. Noel stand vor der Vitrine, die einmal die Schwarzen Witwen beherbergt hatte. »Das Ebenbild meiner Tutorin am Somerville College«, so Mattie, als sie im Vorfrühling da gewesen waren. »Spindeldürre Arme und Beine, und dazu dieser fette, runde Leib. Hat ihren Mann direkt nach der Hochzeit verdrückt, fürchte ich.«
Er ging ins Café, aß dort ein Rosinenbrötchen und folgte dann eine Viertelstunde einer Gruppe kanadischer Flieger, so fasziniert von ihrem Dauergefluche, dass er nach einer Weile begann, die Fluchdichte pro Minute zu veranschlagen (dreiundzwanzig).
»Verpiss dich, du kleiner Scheißer«, sagte schließlich einer von ihnen, »oder du pennst heute Nacht bei den Affen. Die Ohren dazu hast du ja schon.«
Kein Bus weit und breit. Er ging zu Fuß über den Primrose Hill und bereute es auf der Stelle. Im Zoo waren nur Kleinkinder mit ihren Kindermädchen unterwegs gewesen, aber hier draußen waren Horden von Jungen, die an Ästen schaukelten, Fußball spielten, den Frauen in ihren Schrebergärten am Südhang freche Bemerkungen zuriefen. Eine Gruppe hielt einen Spuckwettbewerb ab, als Zielscheibe das Hinterteil einer ihr Beet umgrabenden Frau. Als Noel vorbeiging, löste einer der Spucker sich aus dem Pulk und fiel in Gleichschritt mit ihm.
»Hallo«, sagte der Junge. Er hatte Schorf auf der Lippe; es war kein freundlicher Gruß. »Wo willst du hin?«
»Nach Hause«, sagte Noel.
»Und wo ist das?«
»Relativ nah«, sagte Noel. Wenn er schneller zu gehen versuchte, würde er zu hinken beginnen. Er bemühte sich um einen stetigen Schritt.
»Warum bist du nicht evakuiert?«, fragte der Junge.
»Warum bist du nicht evakuiert?«, fragte Noel tapfer zurück.
»War ich. Bin abgehauen«, sagte der Junge lakonisch. »Auf dem Land stinkt’s. Kein Kino, keine Fritten, und kacken tun die da in ein Erdloch. Drück ’nen Shilling ab, oder ich mach dich kalt.«
»Nein«, sagte Noel.
»Sixpence.«
»Nein. Ich hab kein Geld dabei.«
»Lügner.« Mit einer lässigen Bewegung stellte ihm der Junge ein Bein. »Jetzt sind’s schon zwei Shilling, fürs Lügen.«
Noel fischte in seiner Tasche und fand drei Sixpence-Stücke. »Da«, sagte er, warf sie über die Schulter und rappelte sich auf, so schnell es ging. Der Junge trat ihm mit dem Turnschuh auf die Hand, bevor er hinüberschlenderte und das Geld aufhob. Er inspizierte die Münzen sorgfältig. »Zisch ab«, sagte er dann mit einem flüchtigen Blick zu Noel hin, »lauf heim zu Mami.«
In seiner anderen Tasche waren noch drei Halfpennys – genug für den Bus –, aber irgendwie landete Noel im Woolworth in Camden Town, wo er eine Tüte Karamellbonbons und Lakritzschlangen kaufte. Er stopfte sich eine ganze Lakritzschlange und zwei Bonbons auf einmal in den Mund und zerkaute alles zu einer süßen Klebemasse.
Auf dem Heimweg kam er durch die Mafeking Road, wo Onkel Geoffrey und Tante Margery wohnten, im Souterrain der Nummer 23. Er war nur zwei-, dreimal dort gewesen. »Ein Karnickelstall«, so Matties Kommentar nach einem ihrer Besuche, »und dann auch noch alles so ordentlich! Man braucht große, helle Räume mit einer gemütlichen Unordnung. Merk dir das, Noel.« Durch den Gitterzaun spähte er hinunter auf die weiß gescheuerte Türstufe und den Porzellanhasen daneben.
Sie waren nicht wirklich sein Onkel und seine Tante; Geoffrey war Matties nächster Angehöriger, ein Cousin zweiten Grades, und mit Noel war er überhaupt nicht verwandt. »In einer kürzlich veröffentlichten literarischen Analogie«, hatte Mattie vor nicht allzu langer Zeit bemerkt, »wurde die Familie mit einem Kraken verglichen – einem lieben Kraken, dessen Fangarmen man niemals ganz entkommt, aber mich erinnern Geoffrey und Margery mehr an ein paar Entenmuscheln, die sich am Rumpf eines alten Schiffs festgesetzt haben. Wohingegen du, Noel, mein Kabinensteward bist und mich eines Tages als Kapitän ablösen wirst.« Das Bild gefiel ihm über die Maßen: Mattie und Noel in einem Boot wie der Santa Maria, einer geschnitzten Nussschale, rund und reichverziert, wie sie mit flatternden Wimpeln übers Meer segelten. Auch wenn sie bei einer so kleinen Crew auf gutes Wetter hoffen mussten.
Er blieb am Zaun stehen, bis alle Süßigkeiten aufgegessen waren – legte den Kopf zurück und ließ sich die restlichen Lakritzschlangen in den Mund baumeln wie Spaghetti. Dann zerknüllte er die Tüte und warf sie die Stufen hinunter, die daraufhin nicht mehr ganz so ordentlich aussahen. Er brauchte fast eine Stunde bis nach Hause.
Das Haus war eiskalt, auf dem Weg davor ratterten und brummten die Laster. Matties Zimmertür war zu, aber als er das Ohr an das Holz drückte, meinte er ein Schnarchen zu hören.
Er ging wieder nach unten und kniete sich hin, um die Herdklappe aufzuziehen; die tiefstehende Sonne schien zum Küchenfenster herein. Jeder Gegenstand war plötzlich in orangegelbem Licht gebadet, und ihm war, als sähe er den Raum seit Wochen zum ersten Mal: das verkrustete Geschirr in der Spüle und auf dem Abtropfbrett, die Berge von Plunder auf Tisch, Stühlen, Anrichte, Sideboard und Fensterbank, die Haufen von Schuhen und Büchern, ungewaschenen Strümpfen, Apfelbutzen, Haarklammern, angekohlten Streichhölzern und zerknitterten Zeitungen auf einem Boden, der so sandig war wie der Strand in Broadstairs. Und durch die offene Tür ergoss sich die Flut von Unrat weiter in den Salon, wo ebenfalls nichts an seinem Platz war oder überhaupt einen Platz hatte – eine Unordnung, die nicht mehr gemütlich war, sondern erdrückend.
»Meine Idee«, sagte Matties Stimme auf der Treppe. Sie trug noch immer ihren gestreiften Morgenmantel, aber dazu Galoschen, und in der Hand hielt sie eine Taschenlampe. »Und wo war’s? Im Schrank in dem Zimmer!«, sagte sie. »Sie hatten es natürlich versteckt. Das Brot ist eine Zumutung, sie setzen wahrscheinlich dieses Mehl zu, Sägemehl, ich sag noch zu dem Jungen, das haben sie im letzten Krieg auch gemacht, aber ich hatte den Eindruck, er glaubt mir nicht. Wie war dein Tag?«
»Ach«, sagte Noel, der verspätet merkte, dass die Frage ihm galt. »Ich war im Zoo.«
»Bestens. Toast, würde ich doch sagen.«
Sie schnitt zwei Scheiben von dem Laib ab, der am Nachmittag geliefert worden war, nur um gleich darauf das Interesse daran zu verlieren und sie ungebuttert auf dem Schneidebrett liegen zu lassen. »Düster ist das hier«, sagte sie. »Wohl tausend Augen hat die Nacht … aber hier drin sollte man das nicht meinen.«
»Ich kümmer mich besser mal um die Verdunklung«, sagte Noel.
Als er wieder nach unten kam, war sie fort. Die Haustür stand weit offen und schwang leise im Wind hin und her.
Er lief hinaus und sah den Weg auf und ab. Alles Licht war aus dem Himmel gewichen, nur am westlichen Horizont schimmerte noch ein Streifen Grau. Ein einsamer Laster, der letzte des Tages, rumpelte hinunter Richtung Hampstead, der schaukelnde Lichtkreis seiner abgedunkelten Scheinwerfer kaum auszumachen auf dem furchigen Untergrund. Noel wartete, bis das Brummen in der Dämmerung verklang, dann rief er Matties Namen. Keine Antwort. Angst überzog seine Haut wie ein dünner Eisfilm.
Er war wohl hundert Meter gegangen, als er über einen bläulichen Schatten stolperte, einen Buckel, der sich als Schlagloch ausgab, und sich das Knie aufschlug. Er humpelte zum Haus zurück und wühlte eine Viertelstunde in Schubladen voll Krimskrams und toten Motten nach einer zweiten Taschenlampe, bis er sich schließlich mit der alten Gartenlaterne und einem Kerzenstummel behalf. Vermutlich verstieß das gegen die Regeln, aber er zündete sie trotzdem an. Als er wieder loszog, war es draußen stockfinster.
Außerhalb des Kerzenscheins sah er nicht die Hand vor Augen. London hätte ebenso gut weggehext sein können. Er tappte vorsichtig, schwenkte die Laterne, fast hoffend, jemand würde herbeigestürzt kommen und ihn ausschimpfen, aber der Klang seiner Schritte war das einzige Geräusch weit und breit. Einmal sah er einen Fuchs, reglos im hohen Gras; als er das nächste Mal hinleuchtete, war er weg.
Da, wo der Weg in die asphaltierte Straße nach Hampstead mündete, blieb er stehen. Ein Automobil tuckerte an ihm vorbei, kaum sichtbar. Das Laternenlicht begann zu flackern; nicht lange, und die Kerze würde heruntergebrannt sein. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Die Polizei rufen? Mattie hasste die Polizei, sie würde ihm nie verzeihen. Oder zu einem der Nachbarn gehen? Aber dann würde dieser Nachbar mit ihm mitkommen und sehen, in welchem Zustand das Haus war, und dann wäre es aus mit ihrem Leben zu zweit; er wusste, dass man nicht so hauste wie er und Mattie seit dem Sommer, es würde Schriftverkehr geben, Beschlüsse.
Er kehrte um. Vielleicht konnte er unten ein bisschen aufräumen, an den Stellen, die ein Besucher am ehesten sehen würde. Aber selbst wenn er Hilfe herbeiholte, wie sollte irgendwer nach Mattie suchen, wenn man eine Taschenlampe nur in zwei Lagen Seidenpapier gewickelt benutzen und den Strahl auf nichts anderes richten durfte als auf die eigenen Füße? Vielleicht konnte ein Hund sie aufspüren, ein Bluthund. Allerdings war er sich nicht sicher, ob es in London überhaupt noch Hunde gab. Er hatte seit Wochen keinen mehr gesehen; die Heide wimmelte nur so von Kaninchen, das struppige Gras war kurz gefressen wie ein Minigolfrasen. Und wo konnte Mattie hingegangen sein?
Sein Körper fühlte sich schlackrig an, lose, als hätte die Angst die Bänder durchtrennt, die alles zusammenhielten. Seit er vier war, hatte er keinen Abend ohne Mattie verbracht. Er erinnerte sich noch an seinen allerersten Tag hier. »Ich habe kein einziges Spielzeug im Haus, kannst du dir das vorstellen?«, hatte sie gesagt und ihm einen Ammoniten in die Hand gedrückt. Der Ammonit war ihm wie ein großer grauer Kiesel erschienen, ein Krapfen aus Stein, und dann hatte er die obere Hälfte abgehoben wie einen Deckel und darunter die glänzende, gerillte Schneckenform aus der Urzeit erblickt, hundert Millionen Jahre alt.
Die Kerze hielt durch bis zum Gartentor; von dort tastete er sich mit ausgestreckten Armen zur Haustür, wie ein Kind, das Blinde Kuh spielt. Er hatte gehofft, Mattie wäre vielleicht zurückgekommen, aber das war sie nicht.
Ihr Biberpelzmantel hing über dem Treppengeländer, und er zog ihn an und setzte sich damit unter das Fenster auf dem Treppenabsatz. Von hier aus hatte er die Haustür im Blick und konnte alle Geräusche von der Rückseite hören. Nach einer Weile stand er auf und holte sich den Ammoniten aus seinem Zimmer. Anfangs fühlte sich der Stein wie Eis an, aber er nahm ihn zu sich unter den Pelz, und als er aufwachte, war er ganz warm.
Der Hals war ihm steif geworden, und durch die Läden sickerte blassgelbes Licht. Er schlich die Treppe hinunter wie ein alter Mann. Mattie war immer noch nicht zurück, und er öffnete die Haustür und ging sie suchen.
Hitler machte quer über den Ärmelkanal eine lange Nase, und London evakuierte wieder einmal seine Kinder, die Zurückgekehrten ebenso wie die, die nie fortgewesen waren. Diesmal fuhr Noel mit ihnen; gefragt hatte ihn auch diesmal niemand. Margery hatte seinen Koffer gepackt, und Geoffrey hatte ihn zur Rhyll Street Junior School eskortiert wie einen Strafgefangenen. Nicht dass er auf Flucht aus gewesen wäre; mit einer Klasse voller Kinder, die er hasste, aufs Land verschickt zu werden war allemal besser als das Leben in der Mafeking Road 23.
Der Schaffner auf dem Bahnsteig in St Pancras pfiff zur Abfahrt, Noel sah seine Gestalt rückwärts davongleiten. Dann rollten sie unter dem verdunkelten Glasdach heraus, und Sonnenschein traf ihn mitten ins Gesicht. Er schrieb: Ich sitze neben Harvey Madeley. Sein Hintern ist so fett, dass er Hosen von seinem Vater trägt, bei denen die Beine abgeschnitten sind.
»Da wären wir«, sagte Mr Waring, der gerade in das Abteil trat. »Die Fünfte Kolonne der Rhyll Street. Und unser Freund Noel mit Papier und Stift. Wenigstens ein Kind unter euch, das mitschreibt.«
»Wohin fahren wir, Sir?«, fragte jemand.
»Alles hochgeheim«, sagte Mr Waring. »Ich bin in den Ratschluss nicht eingeweiht.«
»Fahren wir nach Wales?«
»Das will ich nicht hoffen.«
»Die können kein Englisch in Wales«, steuerte eine von den Ferris-Zwillingen bei.
Der einzige erkennbare Unterschied zwischen den Ferris-Zwillingen, schrieb Noel, ist, dass die andere noch kretinoider ist als die eine.
»Die essen Eichhörnchen in Wales«, sagte der andere Ferris-Zwilling.
»Ich geh nirgends hin, wo Kühe sind«, erklärte Alice Beddows. »In Dorset hat man aus jedem Fenster eine Kuh gesehen. Und reingestunken haben sie auch zu jedem Fenster.«
»Die können nicht mal Englisch in Wales«, meldete der erste Ferris-Zwilling erneut.
»Corned Beef«, stellte Roy Pursey mit einem Blick in die braune Papiertüte fest, die die Frau vom Hilfsdienst verteilt hatte.
»Die Tüten noch nicht aufmachen«, ordnete Mr Waring an. Alle außer Noel öffneten augenblicklich ihre Tüten.
»Der Inhalt dieser Tüten ist für eure Pflegemütter bestimmt, nicht zum Verzehr während der Fahrt«, sagte Mr Waring, aber Roy Pursey hatte schon den kleinen Dosenöffner an der Cornedbeefdose in die Lasche gefädelt. Noel konnte zuschauen, wie sich oben am Deckel eine dünne rosa Wunde auftat.
»Kekse!«, rief Harvey Madeley.
»Wenn wir um Mitternacht im Schritttempo die Nordwestküste Schottlands entlangkriechen«, sagte Mr Waring, »werdet ihr eure jetzige Gier noch bedauern.« Er lehnte sich zurück und schlug sein Buch auf.
Draußen kroch vorerst London vorbei. Hauptsächlich sah man Hintergärten und Wäscheleinen, aber wenn Noel die Wange ganz dicht an die Scheibe presste, wurde der Streifen Himmel gerade breit genug für einen gelegentlichen Blick auf einen Sperrballon.
»Ich muss mal«, sagte Shirley Green.
»In Dorset«, sagte ein Ferris-Zwilling, »gab es als einziges nur ein Plumpsklo. Wir haben unserer Mama geschrieben, und sie ist gekommen und hat uns geholt. Wir würden Typhus kriegen, wenn wir dableiben, hat sie gesagt. Mr Waring?«
»Hmmm?«
»Wir dürfen nur zu Leuten, die ein Innenklo haben. Unsere Mama hat gesagt, wir …«