Missgriffe der Einheitsübersetzung der Bibel von 2016 - Johann Huber - E-Book

Missgriffe der Einheitsübersetzung der Bibel von 2016 E-Book

Johann Huber

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Beschreibung

Bibelübersetzungen und Exegese, Bedeutung des Todes Jesu

Das E-Book Missgriffe der Einheitsübersetzung der Bibel von 2016 wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Bibel, Exegese, Bibelübersetzung, Soteriologie, Dogmatik

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Inhaltsverzeichnis

Glossar

Vorwort

1. Textkritik und Interferenz

2. Kanon und Methoden der Schriftauslegung

3. Überlieferung und Bedeutung der vier Evangelien

4. Die Erzählungen über Jesu Kindheit

5. Die Jungfräulichkeit Mariens – wahr oder falsch?

6. Jesus und die Frauen

7. Satan, Dämonen und der Teufel

8. Wunder in der Bibel

9. Kirchliche Morallehre und die Botschaft Jesu

10. Jesu Tempelreinigung

11. Jesu Abendmahlsworte

12. Das Opfer Jesu und das Messopfer der Kirche

13. Sühne

14. Der Gottesknecht

15. Das Blut des Pessachlammes

16. Der Zweck des Todes Jesu

17. Hymnus auf Christus im Philipperbrief (Phil 2,6-11)

18. Prolog des Evangeliums nach Johannes (Joh 1,1-18)

19. Die Taufformeln

I. Primärliteratur

II. Sekundärliteratur

III. Tertiärliteratur

Zum Cover des Buches

Vorwort

Mit dieser Studie möchte ich vor allem Fehlübersetzungen in der neuen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift von 2016 (EÜ 2016) aufzeigen und Alternativen dazu bieten.

Papst Benedikt XVI. (+2022) stellte in seinen Schriften die Methode der sogenannten kanonischen Bibelauslegung an die oberste Stelle. Damit meinte er, dass biblische Texte immer im Sinn der kirchlichen Tradition auszulegen sind. Das macht insofern Sinn, als es ja die Kirche war, die diese Texte von Anfang an im Gottesdienst verwendete und so weitergab. Dabei besteht aber die Gefahr, dass das oberste Lehramt der Kirche mit seiner Bibelauslegung eine Deutungshoheit beansprucht, die der Bibel ihre kritische Funktion nimmt und eine bestimmte Deutung für immer festschreibt.

Das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) hatte nämlich erklärt, dass das Lehramt der Kirche unter der Heiligen Schrift und nicht über ihr steht, das heißt, dass die Kirche auf Gottes Wort in Menschenwort zu hören hat (vgl. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung II, 10). Daraus folgt, dass die Bibel ein bleibendes Korrektiv für die Lehre der Kirche sein muss.

Damit die Hl. Schrift diese Aufgabe erfüllen kann, ist es notwendig, dass die Exegeten (= Ausleger) der Bibel alle ernsthaften Methoden der Auslegung anwenden. Das Fazit hat dann das Lehramt zu ziehen. Schwierig wird es dann, wenn die Auslegungen sehr differieren oder sogar der bisherigen Lehre widersprechen. Papst Pius XII. (1939-1958) soll einmal gesagt haben: „Was die Kirche beschlossen hat, kann die Kirche auch wieder ändern.“

Schon im Jahr 1943 hatte Papst Pius XII. verlangt, dass alle Methoden der Philologie bei der Auslegung der Bibel anzuwenden sind. Damit waren vor allem die Sprach- und Literaturwissenschaften und als Hilfe die Geschichtskunde und die Theologie gemeint.

Bei meiner Bibelarbeit mit jungen Leuten fiel mir immer wieder auf, wie schwer verständlich, ja sogar missverständlich, viele zentrale Bibelstellen in den verschiedenen deutschen, aber auch in anderssprachigen Übersetzungen sind.

Ein erster Dissens im Bibelverständnis mit dem Judentum entstand nach der Zeit Jesu schon dadurch, dass die Autoren des Neuen Testaments (NT) und in Folge auch die Theologen der Kirche ihre Zitate fast durchwegs aus der Septuaginta (LXX) entnahmen. Das sind altgriechische Übersetzungen des Tanach und zusätzliche Schriften wie das 'Buch der Weisheit'.

Die LXX weicht des öfteren vom Tanach ab. Bis heute besteht deshalb die Frage, welcher Version man jeweils den Vorzug geben soll. Möglicherweise sind manche Versionen der LXX älter als die hebräischen Versionen, die wir heute haben.

Bereits ab dem 2. Jahrhundert n. C. argumentierten christliche Theologen mit der Septuaginta gegen die hebräische und aramäische Überlieferung des Tanach. Und noch heute ist es so, dass die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel manchmal der Septuaginta oder sogar der Vulgata, der lateinischen Übersetzung des hl. Hieronymus (+420), den Vorzug gibt, weil diese Übersetzungen manchmal angeblich besser zur Tradition der katholischen Kirche passen als die hebräische Bibel, wie sie uns heute vorliegt.

Die Septuaginta war ab dem 3. Jahrhundert v. C. in Palästinaund in Alexandrien, einer großen jüdischen Diaspora, entstanden, wo sich mit der Eroberung durch Alexander den Großen seit dem 4. Jahrhundert v. C. die 'Koine', die damalige Verkehrssprache der Griechen, verbreitete. Die Juden verlernten dort die hebräische Sprache. Aber es kamen auch aus den Gojim, den Nichtjuden, Proselyten, sogenannte Gottesfürchtige, hinzu, die des Hebräischen nicht mächtig waren. Deshalb war eine Übersetzung des Tanach notwendig geworden.

Mit der Verwendung der Koine fanden auch Begriffe der griechischen Philosophie und Mythologie Eingang in die Septuaginta. In der altgriechischen Sprache haben zum Beispiel Begriffe wie 'Seele', 'Sohn Gottes', 'Teufel' usw. einen anderen Bedeutungsumfang als in der hebräischen Sprache, was bis heute zu Missverständnissen führt. Auch darum geht es in diesem Buch.

Ein eigenes Kapitel dieses Buches behandelt die Frage, ob die deutschen Begriffe 'sühnen' bzw. 'Sühne' den Sinn treffen, den die damit übersetzten Begriffe der Ausgangssprachen haben. Der Untertitel dieses Buches lässt erraten, dass dies verneint werden muss.

Zu diesem semantischen Unterschied der Begriffe kommt hinzu, dass die junge Kirche bereits wenige Jahre nach Jesu Tod durch die Aufhebung der Beschneidung und durch die Vernachlässigung der kultischen Reinheits- und Speisevorschriften der Juden für Christi Jünger, die aus der hellenistischen Umwelt gewonnen wurden, in Frontstellung zum pharisäischen und nach dem Jahr 70 n. C. zum rabbinischen Judentum geriet. Von da an wollten die christlichen Theologen nicht mehr anerkennen, wie die Juden ihre heilige Schrift auslegten. Deshalb versuchte das Lehramt der Kirche im Lauf der Jahrhunderte immer wieder, den Juden den Talmud, ihre Bibelerklärungen, zu verbieten oder ihn zu vernichten, um sie zu zwingen, die christliche Lesart des Tanach zu übernehmen.

Ein Wort in eigener Sache: Gerade weil mir an der Kirche viel liegt, versuche ich, unklare, ungenaue oder unrichtige Übersetzungen von Textstellen der Bibel aufzuzeigen und sie richtig zu stellen. Durch bessere Argumente lasse ich mich gern eines Besseren belehren.

Vielleicht kann mancher Pfarrer in seiner Predigt, mancher Student der Theologie in seinem Studium und mancher interessierte Laie in seinem Glauben von meinen Studien profitieren.

1. Textkritik und Interferenz

1. A Überlieferung des Textes

Die Textkritik gehört der Editionsphilologie an. Sie versucht, den Originaltext wieder herzustellen. Weil wir kein Original oder Autograph von der Bibel haben, kann sich dieses Fachgebiet nur mit Abschriften der Bibel befassen. Diese wurden früher per Hand angefertigt. Deshalb nennt man sie auch 'Manuskripte' oder 'Handschriften'.

Das Neue Testament ist uns nur in altgriechischer Sprache überliefert. Man verwendete in den alten Handschriften nur Majuskeln (= Großbuchstaben), die ohne Wortabstand und ohne jedes Satzzeichen nahtlos aneinandergefügt wurden. (1) Deshalb kann man in diesen Abschriften hin und wieder nur schwer erkennen, wo ein Wort aufhört oder welche Wörter zu einem bestimmten Satzteil gehören.

Bei falscher Abtrennung der Wörter oder einzelner Satzteile kann ein völlig anderer Sinn zustande kommen als der ursprünglich gemeinte. Die modernen Herausgeber des altgriechischen Textes schreiben die einzelnen Wörter mit dem entsprechenden Abstand zum nächsten Wort und fügen Satzzeichen ein. Bevor sie das tun, müssen sie entscheiden, welche Satzteile zusammengehören. Damit entscheiden sie auch über den Sinn des Textes. Das möge folgendes Beispiel zeigen:

Als ich zu einer mündlichen Prüfung in Exegese (= Auslegung) des Neuen Testaments antrat, ließ mich der Prüfer Röm 9,5 übersetzen. Entsprechend der Wortzuordnung der altgriechischen Ausgabe von 1960 (2), ergab der Text folgende Übersetzung:

„Sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen“. (3)

Vergeblich erklärte ich dem Prüfer, dass hier die Wörter des Textes falsch abgetrennt worden sein müssen, weil an keiner Stelle sonst der Apostel Paulus Jesus Christus als Gott bezeichne und weil diese Aussage seinen sonstigen Aussagen über Jesus Christus widerspreche. Der Prüfer antwortete erzürnt: „Dann haben wir eben hier eine solche Stelle.“ Vor allem diese Stelle des Neuen Testaments wurde immer wieder als wichtiger Beleg für die spätere Lehre der Kirche betrachtet, dass Jesus Christus wahrer Mensch und auch wahrer Gott sei.

Daniela Riel, katholische Exegetin für Neues Testament, bezeichnet das Argument, das ich damals vorbrachte, zwar als schwach, aber wer die altgriechische Textausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland von 2015 (4) aufschlägt, wird feststellen, dass in Röm 9,5 die Wörter jetzt anders voneinander abgetrennt sind und die Einheitsübersetzung von 2016 Röm 9,5 dementsprechend anders wiedergibt:

„Ihnen gehören die Väter, und ihnen entstammt der Christus dem Fleisch nach. Gott, der über allem ist, ER sei gepriesen. Amen.“ (5) (Hervorhebung durch den Verfasser)

Hier wird also nicht mehr Jesus Christus als Gott gepriesen, sondern Gottvater. Das gibt im Nachhinein mir recht.

Die hebräische Bibel ist in der sogenannten 'Quadratschrift', das heißt in aramäischen Schriftzeichen, geschrieben. Außer Aleph und Ajin wurden viele Jahrhunderte hindurch keine Vokale geschrieben. Die anderen Vokale waren geistig zu ergänzen. Je nachdem, welche Vokale man ergänzte, konnten die Wörter und Sätze eine andere Bedeutung annehmen.

Ungefähr zwischen den Jahren 700 bis 1000 fügten die Masoreten, jüdische Schriftgelehrte des Mittelalters, zur leichteren Lesbarkeit des Textes Vokalzeichen hinzu, legten damit aber auch den Sinn der Wörter und Sätze fest. Dieser Text wird masoretisch genannt. Das kommt von hebr. 'M´SORAH' (= Befestigung) oder aram. 'MIS´RA' (= Grenze). Im modernen Hebräisch, dem Ivrit, lässt man die Vokalzeichen wieder weg.

Manchmal kann sogar der Ausfall nur eines einzigen Buchstabens den Sinn eines Satzes ändern. Ein Beispiel dafür ist eine Stelle im auf Altgriechisch verfassten Markusevangelium, wo ein Aussätziger vor Jesus auf die Knie fiel und ihn um Heilung bat (vgl. Mk 1,40-45). Es gibt nun eine unter vielen Abschriften, in der der altgriechische Text fortfährt, Jesus sei zornig geworden. In allen anderen Abschriften heißt es aber, Jesus habe Mitleid mit dem Kranken gehabt, was ja auch näher liegt.

Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man ihn auf einen Hör- oder Schreibfehler zurückführt, der schon in der hebräischen Vorlage gewesen sein muss. 'B´CHEMAH' heißt auf Hebräisch im Zorn und 'B´CHEMLAH' aus Mitleid. Der Ausfall eines einzigen Buchstabens änderte hier den Sinn. (6)

Weil es im Altgriechischen diesen Hör- oder Schreibfehler nicht hätte geben können, ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Überlieferungen über Jesu Taten, seien sie mündlich oder schriftlich gewesen, auf Hebräisch und nicht auf Aramäisch, weitergegeben wurden. Das gilt auch für Jesu Lehre, aber aus einem anderen Grund, wie wir noch sehen werden.

Manche Bibelkritiker behaupten, dass zum Beispiel im auf Altgriechisch geschriebenen Prolog (= Einleitung) des Johannesevangeliums, wo es heißt "Und das Wort war Gott" (Joh 1,1), ein Jota ausgefallen sein müsse, sodass aus altgriech. 'theios' (= gottähnlich, übermenschlich, himmlisch etc.) 'theos' (= Gott) wurde. Näheres dazu in Kapitel 18.

1. B Interferenzen

Mit dem Begriff 'Interferenz' bezeichnet man in der Linguistik (= Sprachwissenschaft), etwas vereinfacht ausgedrückt, die Übertragung von Grammatikstrukturen und der Semantik (= Wortbedeutung) einer Sprache auf die andere. Zum Beispiel sollen Deutsche nach dem Krieg die USA um Korn (Getreide, Roggen) zum Backen von Brot gebeten haben, die Amerikaner lieferten aber Mais (vgl. engl. corn).

Hebr. 'NEFESCH' (= Atem, Leben, Lebewesen) zum Beispiel wurde in der LXX mit altgriech. 'psyche' (= Lebenskraft, Seele, Person) übersetzt. Das wird im Deutschen meist mit 'Seele' wiedergegeben. Das führt bis heute zu Missverständnissen.

Im Tanach ist 'Satan' ein guter Engel am himmlischen Hofstaat. Die LXX nennt ihn aber fast nur altgriech. 'diabolos' (= Durcheinanderbringer, Teufel). Mit diesem war auch der gefallene Engel Semjasa in der altgriechischen Version des 1. Buches Henoch, einer ursprünglich wahrscheinlich auf Aramäisch verfassten Mythologie aus dem 3. Jahrhundert v. C., in Verbindung gebracht worden. Die LXX meint mit dem Begriff 'diabolos' aber nur Satan. In den Abschriften des Neuen Testaments begegnen dann beide Begriffe, wobei der Begriff 'diabolos' einen viel größeren Bedeutungsumfang bekam.

Von der LXX lagen den Autoren des NT unterschiedliche Ausgaben vor. Von manchmal recht freier Wiedergabe, also Interpretation, der Ausgangstexte ging die Tendenz im Allgemeinen zu eher wörtlicher Wiedergabe. Wenn man den uns überlieferten Text der LXX mit dem uns heute vorliegenden Text des Tanach vergleicht, gibt es deshalb manchmal starke Abweichungen, wie wir noch sehen werden, wobei man nicht immer mit Sicherheit sagen kann, wie schon erwähnt, welche Version die ursprünglichere ist.

Das bekannteste Beispiel hierfür ist Jesaja 7,14, wo es im Tanach heißt: „Die junge Frau ist schwanger und gebiert.“ Die LXX überliefert aber: „Die Jungfrau wird empfangen und gebären.“ Matthäus zitierte hier vor allem deshalb nach der LXX, weil die Version des Tanach, wenn sie denn ursprünglich so lautete, für seine Zwecke nicht geeignet gewesen wäre, wie in Kapitel 5 dargelegt wird.

Manchmal wird auf Grund einer 'détresse linguistique', eines sprachlichen Unvermögens, bei der Übersetzung der Wortsinn eines Ausdrucks nicht ganz getroffen. So heißt es zum Beispiel in einer der beiden Schöpfungserzählungen der Bibel, dass Gott hebr. 'N´SCHAMAH' (= Lebenskraft) in die Nase Adams hauchte, und zwar nur ihm und nicht den übrigen Lebewesen (vgl. Genesis bzw. 1. Buch Mose 2,4-25). Auf diese Weise wurde Adam zu einem hebr. 'NEFESCH HAJA', schreibt der Tanach. Die EÜ 2016 gibt diese Stelle folgendermaßen wieder:

„So wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen“ (Gen 2,7). (Hervorhebung durch den Verfasser)

Die EÜ meinte wohl Lebewesen. Nachdem der Hauch Gottes den Menschen von Tieren und Pflanzen unterscheidet, müsste sinngemäß übersetzt werden:

„So wurde der Mensch zu einer Person.“

Jehovas Zeugen schreiben hier, dass der Mensch zu einer "lebenden Seele" (7) wurde, wohl weil die LXX hebr. 'NEFESCH' mit altgriech. 'psyche' wiedergegeben hatte. Diese Übersetzung ergibt im Deutschen aber keinen Sinn. Was wäre eine 'tote Seele'? Jehovas Zeugen übersehen hier, dass 'psyche' nicht nur 'Seele', sondern je nach Kontext auch 'Person' bedeutet.

Nicht gemeint war damit jedenfalls, dass der Mensch einen Seelenteil habe, der von Haus aus unsterblich sei, wie Platon gelehrt hatte. Dem widerspricht auch nicht das Wort Jesu, das uns nur in der altgriechischen Version nach Matthäus 10,28 überliefert ist:

"Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können […]!"

Hier geht es nicht um einen unsterblichen Teil am Menschen, sondern um seine Person, im Besonderen um seine Beziehung zu Gott.

Der altgriechische Begriff 'psyche' führte zu weiteren Spekulationen, als im 2. Jahrhundert n. C. Theologen darüber nachdachten, wo die verstorbenen 'Gerechten', sprich Bewährten, bis zu ihrer Auferweckung am Jüngsten Tag verweilen. Sie kamen auf den Begriff 'Seele' in der Septuaginta zurück. Justin der Märtyrer (+165) zum Beispiel schrieb, die menschliche Seele sei durch Gottes Willen unsterblich und nicht von Natur aus oder von ihrem Wesen her, wie das Platon gelehrt hatte.

Nach Tertullian (+220) kommen die Seelen der 'Gerechten' an einen Erfrischungsort, an dem sie schlafend auf ihre Auferstehung warten, ohne dabei Qualen erleiden zu müssen. Seit Origenes (+254) (miss)verstand man das Wort des Apostels Paulus vom reinigenden Feuer (vgl. 1 Kor 3,13) als Fegefeuer nach dem Tod, als Besserungsstrafe für die Seele.

Im 6. Jahrhundert führte Papst Gregor der Große (590-604) dann in die offizielle Lehre der Kirche die Vorstellung von einem Fegefeuer der Seele für jene ein, die nicht im Ruf der Heiligkeit sterben. Dabei wurde die Vorstellung Platons übernommen, dass das Wesen des Menschen allein in seiner Seele bestehe.

Beim Apostel Paulus war noch offen geblieben, wann und wo der sündige Mensch von Gott gereinigt oder gebessert wird. Paulus schrieb jedenfalls nicht, dass nach dem Tod die Seele des Menschen allein weiterlebe. Vielmehr wird nach seiner Vorstellung ein "geistiger Leib" auferweckt, was die Einheitsübersetzung ungenau mit "überirdischer Leib" wiedergibt (vgl. 1 Kor 15,44).

Die Vorstellung von einer nach irdischer Zeit bemessenen Läuterung des Menschen im Jenseits kennt die Bibel nicht, noch weniger die Läuterung der Seele allein. Deshalb gibt es nach lutherischer und reformierter Lehre kein Fürbittgebet für Tote. Dieses ist zwar nicht verboten, aber überflüssig. Die protestantische Praxis am Grab erweckt, wohl in Anlehnung an die Katholiken, manchmal einen anderen Eindruck.

1. C Textänderungen und Textergänzungen

Die Aufgabe der Textkritik ist es auch, jene Stellen zu markieren, wo Abschreiber den Text geändert, ihre eigenen Kommentare oder sogar ganze Abschnitte hinzugefügt haben. Letzteres ist nach allgemein anerkannter Auffassung der Forscher mit den Erzählungen über die Erscheinungen Jesu im Markusevangelium im 2. Jahrhundert n. C. geschehen.

Die Textausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland bringt fast auf jeder Seite auch Varianten. Das sind vom Text abweichende Lesarten. Die Lesart im Text gibt den gemutmaßten Sinn des Originaltextes wieder. Dabei erhalten meist die 'lectio difficilior' (= schwierigere Lesart), die häufigere Lesart, die ältere Handschrift etc. den Vorzug.

Das genügt m. E. aber nicht. Es muss auch der Kontext beachtet werden. Dies fordert Emanuel Tov, ein weltweit anerkannter jüdischer Experte für Textkritik, jedenfalls in Bezug auf den Tanach. (8) Das müsste auch für das Neue Testament gelten.

Und das, was für das Verständnis des Originals wichtig ist, nämlich der sogenannte historische Ort oder das Umfeld, sollte auch auf die Abschriften ausgeweitet werden. Ich beziehe mich hier auf die Ergebnisse der Textkritik der 28. revidierten Auflage des altgriechischen Textes zum Neuen Testament von Nestle-Aland des Jahres 2015. (9)

__________________

(1) Näheres dazu: Josef Scharbert: Der Text der Bibel. In: Sachbuch zur Bibel, 155-186.

(2) Vgl. Eberhard Nestle u. a. (Hg.): Novum Testamentum Graece et Latine. 24. griech. Aufl. Stuttgart 1960.

(3) V. Hamp, M. Stenzel, J. Kürzinger (Übers. u. Hg.): Die heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. 8. Aufl. Aschaffenburg 1960.

(4) Institut für Neutestamentliche Textforschung (Hg.): Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece. 28. revidierte Aufl. Stuttgart 2012 / 4. korr. Druck 2015.

(5) Katholische Bibelanstalt (Übers. u. Hg.): Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. 1. Aufl. Stuttgart 2016.

(6) Vgl. Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt?, 126.

(7) Vgl. Watch Tower Bible and Tract Society (Übers. u. Hg.): Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift. Rev. New York 1986.

(8) Vgl. Siegfried Kreuzer: Der hebräische Text des Alten Testaments – Erforschung und Vermittlung, 78.

(9) Institut für Neutestamentliche Textforschung (Hg.): Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece.

2. Kanon und Methoden der Schriftauslegung

Die Schriften, die zum Alten und zum Neuen Testament zählen, lagen nicht von Anfang an fest. Altgriech. 'Kanon' (= Messlatte, Richtschnur) meint hier jene Schriften, die für die Kirche maßgebend geworden sind, zum Beispiel die vier Evangelien, die Briefe des Apostels Paulus und so weiter. Erst im Osterfestbrief des Jahres 367 des Bischofs Athanasius aus Alexandrien (+373) wurden alle bis heute von der Kirche als gültig anerkannten 27 Schriften des Neuen Testaments aufgezählt.

Die Septuaginta (LXX), das Alte Testament der Christen, ist umfangreicher als der Tanach, die hebräische Bibel. Die Rabbinen (= Mehrzahl von 'Rabbi') anerkannten bei der Kanonbildung nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. C. nur jene Bücher als zu ihrer Bibel gehörig, die ihnen damals in aramäischer oder in hebräischer Sprache vorlagen. Deshalb umfasst die LXX mit 46 Büchern um sieben Schriften mehr als der Tanach, in dem zum Beispiel das Buch der Weisheit nicht steht.

Martin Luther (+1546) bezeichnete jene Schriften, die nicht in der Bibel der Juden enthalten sind, als 'Apokryphen'. Er betrachtete sie zwar nicht als notwendig, aber als nützlich. Im Neuen Testament stellte er den Jakobusbrief gleichsam zur Strafe hinter die anderen Schriften, weil ihm dieser Brief dem Grundsatz 'sola gratia' (= allein aus Gnade und Barmherzigkeit) zu widersprechen schien.

Im 'Dekret zu Schrift und Überlieferung' der Sitzung IV des Konzils von Trient (1545–1563) hielt die katholische Kirche daran fest, dass die vom Kirchenlehrer Athanasius aufgezählten Schriften definitiv zur Bibel gehören. (vgl. DS 1501-1508). Gleichzeitig entschieden die Bischöfe im sogenannten 'Vulgatadekret', dass allein der Text der Vulgata, das ist die lateinische Übersetzung des hl. Hieronymus (+420), maßgebend ist.

Viele Jahrhunderte hindurch stützte sich die Kirche bei der Verkündigung in erster Linie auf den Text der Vulgata. Erst als der Ruf „ad fontes“ durch die Humanisten der Neuzeit wie den Gelehrten Erasmus von Rotterdam (+1536) laut wurde, wandte man sich auch den Ausgangstexten der Bibel zu, für das Alte Testament den Texten in Hebräisch und Aramäisch und für das Neue Testament den Handschriften in Altgriechisch.

Das Verdienst von Martin Luther ist es, als Erster die Bibel aus den Ursprachen ins Deutsche übersetzt zu haben. Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Deutsche gab es schon vor Luther. Sein Bestreben war es aber, die Texte der Bibel durch einen Rückgriff auf die Ursprachen besser verstehen zu können.

Zur Philologie des 16. Jahrhunderts kam ab dem 18. Jahrhundert vor allem in Deutschland die sogenannte 'historisch-kritische Methode' hinzu. Dazu gehören die Textkritik, Literarkritik, Überlieferungskritik, Redaktionskritik, Formkritik und der historische Ort. (1) Diese Methoden wurden im 20. Jahrhundert im angelsächsischen Sprachraum durch den missverständlichen Begriff 'kontextuelle Exegese' ergänzt, womit z. B. auch die sog. 'feministische Exegese' gemeint ist.

Die Textkritik war schon Thema des ersten Kapitels. Die Literarkritik befasst sich mit den Vorstufen eines Textes und zeigt, dass zum Beispiel mehrere Autoren zu seiner Entstehung beitrugen, wie das beim Buch Genesis, im Besonderen bei den beiden Schöpfungserzählungen der Fall ist.

Die Überlieferungskritik zeigt, dass Teile von Texten vorher oft lange schon mündlich tradiert worden waren, bis sie schriftlich fixiert wurden. Die Aufzeichnung, vor allem von Erzählungen aus dem Alten Testament, erfolgte oft erst Jahrhunderte später.

Die Redaktionskritik zeigt, dass Texte vom Endredaktor geändert, umformuliert oder sogar ergänzt wurden, um dem Text eine neue Bedeutung zu verleihen, wie das bei Wundererzählungen vorkommt, zum Beispiel bei der Heilung eines Besessenen in Gerasa (heute Jerash), das damals eine römische Garnisonsstadt war, durch Jesus. Der zweite oder sogar erst der dritte Erzähler ließ die unreinen Geister nach ihrer Austreibung durch Jesus angeblich in eine Schweineherde fahren.

Die Formkritik befasst sich mit dem sogenannten 'genus litterarium', der literarischen Gattung, eines Textes oder mit dessen Sitz im Leben. Dadurch ist zu erkennen, dass Wundererzählungen manchmal nur als Staffage dienen. Zum Beispiel folgt dem Thema im Johannesevangelium 'Jesus ist das Licht der Welt' die Heilung eines Blinden oder dem Thema 'Jesus ist die Auferstehung und das Leben' die Auferweckung des Lazarus.

Der 'historische Ort' meint die Datierung eines Textes, aus der dann auch die Bedingungen oder Gründe seines Entstehens erklärt werden können, wie das bei den Polemiken gegen die Juden zum Beispiel in Paulusbriefen und in johanneischen Schriften der Fall ist. (2)

Als Gegenpol zur historisch-kritischen Methode entstand seit den 1970er Jahren in den USA der Begriff der sog. 'kanonischen Exegese' oder der kirchlichen Auslegung, die es faktisch schon immer gab. Diese Auslegung steht besonders bei den sog. 'Erweckungsbewegungen' des 20. Jahrhunderts im Vordergrund.

Diese Art des Schriftverständnisses ist weniger an der Aussageabsicht des Autors als an der inneren Betroffenheit vom Literalsinn, also dem buchstäblichen Sinn, einer Textstelle in der Bibel interessiert und daran, wie eine Glaubensgemeinschaft den Text verstehen will. Dadurch geschieht oft eine Umdeutung des ursprünglichen Sinnes eines Textes. Gleichzeitig betrachten sich aber gerade die Vertreter der kanonischen Exegese paradoxerweise als besonders bibeltreu.

Zu meiner Frage nach dem Maßstab der Textauslegung wurde mir von einem Mitglied der 'Iglesia Pentecostal Unida de Colombia' (Vereinigte Pfingstkirche von Kolumbien, Übers. durch den Verfasser) folgende Auskunft erteilt: „La palabra de Dios es para predicar y no para discutir“ (= Das Wort Gottes ist zum Verkündigen da und nicht zum Besprechen, Übers. durch den Verfasser). Damit war gemeint, dass man das Textverständnis der kirchlichen Gemeinschaft als solches hinzunehmen und nicht zu hinterfragen habe.

Die Autoren des Neuen Testaments zitierten meist aus der Septuaginta, sehr selten aus dem Tanach, und zum Teil nur nach dem Gedächtnis, um ihre Aussagen zu unterstreichen und vor allem um zu zeigen, dass sich eine Verheißung des Alten Testaments erfüllt habe. Durch den neuen Kontext kam es auch zur Umdeutung von Schriftstellen. Die Frage ist nun, ob der Tanach, wie ihn der Jude Jesus verstanden hatte, eine neue Deutung braucht.

Kardinal Ratzinger forderte jedenfalls eine „Relecture“, so als würden die Juden ihre eigene Bibel missdeuten. Der Tanach sei vom Glauben an den auferstandenen Christus her auszulegen:

„Als Christen sind wir davon überzeugt, dass das Alte Testament […] seine ganze Zielrichtung erst findet, wenn es von Christus her gelesen wird. […] und das Alte Testament ein unfertiges Fragment bleibt, wenn es nicht ins Neue übergeht.“ (3)

Ein zweiter Maßstab besteht für die traditionelle Theologie in der Bulle 'Iniunctum nobis' (1564) von Papst Pius IV. (1559-1565). Darin ist als Bekenntnis des Konzils von Trient (1546-1563) festgeschrieben, die Kirche werde die Heiligen Schriften nie „iuxta unanimem consensum patrum“ (DS 1863), also niemals gegen den „einstimmigen Konsens“ der Kirchenväter (circa 2. - 8. Jahrhundert) auslegen.

Nachbiblische Theologen hatten schon früh damit begonnen, im Neuen Testament trennende Unterschiede zwischen dem Glauben der Juden und dem der Christen zu suchen oder zu konstruieren. Als erster nahm der sogenannte 'Barnabasbrief', der um die Jahre 132-135 geschrieben wurde, die sogenannte Substitutionstheorie des Galaterbriefs wieder auf. Danach hätten die Juden ihre Verheißungen an die Christen verloren.

Markion (+160) wollte deshalb den Tanach ganz aufgeben. An den Kathedralen des Mittelalters stellte man Israel als Frau mit verbundenen Augen dar, weil die Juden Jesus nicht als Messias (an)erkannten.

Eine Sensation war es deshalb, als Papst Johannes Paul II. am 13. April 1986 in der Synagoge von Rom die Juden als „ältere Brüder und Schwestern“ der Christen bezeichnete. Mit dieser gut gemeinten Titulierung wollte er das Judentum großzügigerweise als gleichwertig mit dem Christentum anerkennen. Seine Formulierung war aber insofern eine christliche Anmaßung, als die Juden Haupterben und die Christen nur Miterben, also mit Israel nicht gleich erbberechtigt sind (vgl. Eph 3,6).

Joseph Ratzinger folgte der Meinung seines geschätzten Vorgesetzten und Vorgängers im Papstamt nicht, sondern drehte das Rad wieder zurück und bezeichnete im Jahr 2000 noch als Leiter der Glaubenskongregation und im Jahr 2005 als Papst Benedikt den Glauben der Juden mit einer rhetorischen Frage als „ungültigen Weg“, sprich als Irrweg:

„Die andere Frage ist, inwieweit mit dem Aufstehen der Kirche […], mit dem Geschehen des Neuen Bundes, dann ein Leben im Alten Bund, das sich dem von Christus kommenden Neuen nicht öffnet, noch ein in sich gültiger Weg ist“. (4)

Im Jahr 2008 formulierte er konsequenterweise die Karfeitagsfürbitte für die Juden im Missale Romanum neu. Seitdem betet man wieder um die Konversion, die Bekehrung, der Juden:

„Pro conversione Judaeorum: Oremus et pro Iudaeis. Ut Deus Dominus noster illuminet corda eorum, ut agnoscant Iesum Christum salvatorem omnium hominum.“ (Missale Romanum)

Von 1971 an war gemäß Röm 9-11 gebetet worden, die Juden mögen in Treue fortschreiten auf dem Weg, den ihnen der Bund Gottes gewiesen hat. Seit 2008 aber soll Gott wieder ihre Herzen erleuchten, damit auch sie Jesus als Messias und Retter anerkennen. Das war eine Kehrtwendung.

Besonders in den Kapitel 9-11 des Römerbriefs hatte sich der Apostel Paulus eingehend mit der Rolle der Juden im Heilswerk Gottes befasst. In Röm 11,11 stellte er die Frage:

„[...] mae eptaisan hina pesoosin; mae genoito, alla too autoon paraptoomati hae sooteria tois ethnesin […].“

Die spanische Version dieser Textstelle in einer Bibel für evangelische Christen in Lateinamerika lautet so:

„[...]?Cayó Israel hasta destruirse? De ninguna manera […].“ (5) = Ist Israel etwa bis zur Selbstzerstörung (hin)gefallen? Auf keinen Fall. (Übers. durch den Verfasser)

Diese Version ersetzt im Hauptsatz 'stolpern' widersinnig durch 'fallen' und im Infinitiv 'zu Fall kommen' durch 'sich zerstören'. Die Übersetzer hatten den Sinn des Satzes offenbar nicht verstanden, denn Paulus schreibt hier nur von einem Anstoßen, Stolpern oder Straucheln, das bei Israel eben nicht zum Fall und noch weniger zu einem Glaubensabfall führte.

Tatsächlich münzte man aber die Bemerkung über die Ungläubigen in 2 Kor 4,4 auf die Juden und bezeichnete sie ab dem Jahr 592 als „perfidi“ (= treulos), als Apostaten, als vom rechten Glauben Abgefallene, obwohl sie ihren Glauben nie geändert hatten. Israel ist bei Paulus gerade nicht zu Fall gekommen.

Die spanische Version milderte den Fall Israels aber insofern, als sie altgriech. 'paraptooma' nicht mit „Verfehlung“, sondern nur mit „error“ (= Irrtum) übersetzte. Josef Kürzinger (+1984) hatte in seiner 8. Auflage des NT 1960 Röm 11,11 so übersetzt:

[…] Sind sie etwa gestrauchelt, um zu Fall zu kommen? Das sei ferne! Vielmehr kam durch ihre Verfehlung das Heil zu den Heiden […]. (6) (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Eine Verfehlung ist ein moralisches Versagen und bedeutet einen Vorwurf. Es ist außerdem nicht zu erkennen, was Straucheln mit einer Verfehlung zu tun haben soll. Deshalb änderte die EÜ 1979 „Verfehlung“ zu einem „Versagen“ Israels.

Auch damit fiel die EÜ aus dem Bild, denn Stolpern beruht auf keinem Versagen, sondern auf einem unbeabsichtigten Fehltritt. Die EÜ 2016 änderte deshalb „Versagen“ zu „Fehltritt“:

„[...] Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs. Vielmehr kam durch ihren Fehltritt das Heil zu den Heiden […]. (Hervorhebungen durch den Verf.)

Die Wiedergabe von 11,11b als Finalsatz ergibt keinen Sinn, denn wer stolpert schon, um hinzufallen? Ein Sturz nach einem Straucheln ist nie Absicht sondern eine mögliche, aber unbeabsichtigte Folge. Altgriech. 'hina' bedeutet auch 'sodass', was den Übersetzern der EÜ 2016 leider auch sonst entgangen ist. Der Sinn von Röm 11,11 ist also:

„Strauchelten sie etwa, sodass sie zu Fall kamen? Keineswegs. Vielmehr kam durch ihren Fehltritt das Heil zu den Heiden [...].“

Die EÜ 2016 fährt in Röm 11,15 fort:

„Denn wenn schon ihre Zurückweisung für die Welt Versöhnung bedeutet, was wird dann ihre Annahme anders sein als Leben aus den Toten?“ (Hervorhebung durch den Verfasser)

Die EÜ 1979 hatte hier altgriech. „apobolae“ mit „Verwerfung“ übersetzt. Fehlübersetzungen geschehen oft dann, wenn man immer das Schlechteste annimmt. Vom Kontext her geht es hier nicht einmal um Zurückweisung, sondern nur um eine Zurückstellung, also um eine zeitweise Hintansetzung, eine Heilsverzögerung, die zur Erretung der Heiden notwendig ist.

Joseph Ratzinger warf auch den Vertretern der historisch-kritischen Methode Einseitigkeit und Unfähigkeit vor, die beiden Testamente zusammenhängend zu verstehen. In Wirklichkeit verfuhren aber gerade Dogmatiker und Systematiker, was Papst Benedikt zeitlebens blieb, immer wieder selektiv, indem sie Lehrsätze oft ohne Rücksicht auf den Sinn im Kontext der Bibel mit dem Literalsinn eines Satzes aus der Bibel begründeten. Auch Joseph Ratzinger verfuhr bisweilen so, wie noch zu zeigen ist.

So wurde das geozentrische Weltbild bis zur Zeit Galileo Galileis und länger unter anderem mit dem Satz „Und die Sonne blieb stehen [...]“ (Jos 10,13) begründet. (Mehr dazu in meinem Buch „Irrwege des Christentums“). Mariens immerwährende Jungfräulichkeit wurde und wird mit dem Zitat aus Jes 7,14 nach der LXX begründet: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären […]“ (Mt 1,23). Die Schuld am Kreuzestod Jesu und damit das Recht auf Verfolgung der Juden wurde unter anderem aus „Da rief das ganze Volk: Sein Blut – über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) abgeleitet.

Auf Grund dieser kanonischen/kirchlichen Exegese war das Lehramt nicht in der Lage, sich in 1900 Jahren von den antijüdischen Äußerungen in Paulusbriefen, Evangelien und Geheimer Offenbarung klar zu distanzieren. Erst die historisch-kritische Methode ordnete sie als lokal begrenzt und zeitbedingt ein und ebnete dadurch den Befreiungsschlag vom theologisch bedingten Judenhass durch das Vatikanum II (1962-1965).

Es überrascht, dass bereits Papst Pius XII. in seiner Enzyklika 'Divino Afflante Spiritu“ (1943) zur Auslegung der Hl. Schrift alle Methoden der Philologie einforderte und das Vatikanum II (1962-1965) festschrieb, dass die Kirche unter der Hl. Schrift steht und nicht über ihr.

Biblische Exegese ist also nach päpstlicher Lehre zunächst Philologie und damit Sprach- und Literaturwissenschaft. Sie untersucht die Bedeutung eines Wortes oder eines Textes sowohl von der Grammatik und der Semantik (Bedeutung sprachlicher Zeichen) als auch vom Kontext her.

Bei übersetzten Texten, wie es die Septuaginta und die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas sind, aber auch bei theologischen Begriffen im Johannesevangelium und in den Briefen des Neuen Testaments kann es zum richtigen Verständnis angebracht, wenn nicht sogar notwendig sein, dass man auf den (gemutmaßten) Ausgangstext bzw. Ausgangsbegriff oder zumindest auf andere Textbeispiele der Ausgangssprache zurückgreift.

In der Ausgangssprache ist der Sinn eines Begriffes oder eines Textes manchmal klarer zu erkennen, als es in einer Übersetzung möglich ist. Das gilt zum Beispiel in der LXX für den Begriff '(ex)ilaskomai', der im Deutschen meist mit 'sühnen' übersetzt wird, oder im Vaterunser die Bitte „Geheiligt werde dein Name“.

Manchmal reicht zum richtigen Verständnis eine bloße Analyse des übersetzten Textes nicht aus, weil vielleicht schon im Ausgangstext ein Wort verloren gegangen ist, wie das bei den nur auf Altgriechisch überlieferten Abendmahlsworten Jesu der Fall zu sein scheint. Durch die Rekonstruktion des Textes der Ausgangssprache kann manchmal der ursprüngliche Sinn einer Übersetzung leichter erfasst werden.

Manchmal kommt durch die wörtliche Übersetzung nicht oder nicht hinreichend zum Ausdruck, was in der Ausgangssprache gemeint war. Dies möge ein Erlebnis veranschaulichen: Als ich vor Jahren meinen weißrussischen Freund Valentin in Vitebsk (Belarus), der Heimatstadt Marc Chagalls, besuchte, teilte er mir im Verlauf des Gesprächs auf Deutsch mit: „Bei mir Bruder". Ich sah diesen Verwandten aber die ganze Woche nicht bei ihm.

Als ich später Russisch lernte, merkte ich, dass es in dieser Sprache kein Verb für 'haben' gibt. Erst dann verstand ich, was mir mein weißrussischer Freund sagen wollte: Russisch "U minya brat" (= „bei mir Bruder“) bedeutet auf Deutsch „Ich habe einen Bruder“. Einem solchen Missverständnis erliegen regelmäßig die Interpreten der ersten Vaterunser-Bitte, wie noch zu zeigen ist, weil sie die Ausgangssprache außer Acht lassen.

Manchmal wird in Übersetzungen ein Begriff der Ausgangssprache durch ein anderes Wort ersetzt, weil man einen Begriff der Ausgangssprache in der Zielsprache nicht verwenden will. Das gilt zum Beispiel für den Ersatz von hebr. 'SATAN' durch altgriech. 'diabolos' (= Teufel) fast immer in der Septuaginta und oft im Neuen Testament. Dadurch kommt es beim Leser immer wieder zu Missverständnissen.

Günther Schwarz (+2009), evangelischer Pfarrer und Kenner der aramäischen Sprache, übersetzte die Worte Jesu in das Aramäische, die Muttersprache Jesu, zurück, um Jesus noch besser zu verstehen. Ihm fiel dabei auf, dass zum Beispiel im Vaterunser der Evangelist Lukas von einem "Erlass der Sünden", der Evangelist Matthäus aber von einer "Vergebung der Schuld" schrieb.

Das war nach Schwarz nur möglich, weil im Aramäischen das Substantiv 'HOBA' sowohl 'Sünde' als auch 'Schuld' bedeutet, was im Hebräischen nicht der Fall ist. Damit ist nach Schwarz erwiesen, dass Jesus seine Jünger das Vaterunser nicht auf Hebräisch, sondern auf Aramäisch lehrte. (7) Er hätte dies auch mit dem 'Kaddisch' beweisen können. Dieses Gebet, das die Juden beim Gottesdienst in der Synagoge auf Aramäisch sprechen, enthält ebenfalls die ersten beiden Vaterunser-Bitten.

Schwarz dehnte aber seine Erkenntnisse über die Originalsprache des Vaterunsers unbesehen auf alle Worte Jesu aus. Nach ihm habe Jesus die schriftliche und die mündliche Überlieferung der Juden im westaramäischen Dialekt ausgelegt und auch seine Streitgespräche mit den Pharisäern in dieser Sprache geführt.

Durch diese Fehleinschätzung und durch seine dogmatischen Festlegungen kam er zu recht sonderbaren Deutungen der Lehre Jesu, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird. Um diese Spekulationen abzuwehren, stellte Thomas Söding, katholischer Exeget für Neues Testament, folgende Behauptung auf:

"Eine Übersetzung ins Aramäische ist nicht grundlegend anders zu beurteilen als eine ins Lateinische oder Deutsche." (8)

Hierbei übersieht Söding freilich Folgendes: Eine Übersetzung der Übersetzung entfernt sich von der Ursprungs- oder Ausgangssprache, weil man dem Text dabei eine weitere fremde Ausdrucks- und Denkweise überstülpt, wohingegen eine Rück-Übersetzung die Denkweise der Ausgangssprache zurückholt und damit den Sinn der Übersetzung erhellen kann, wie oben dargelegt wurde. Gerade weil Söding dies verkennt, gelingt es ihm nicht, zum Beispiel den Sinn der ersten Vaterunser-Bitte richtig zu erfassen, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist. Bei der Auslegung von biblischen Schriften darf man aber von der semitischen Denkweise nicht absehen.

Wer bei der Bibelexegese die Ausgangssprache oder vergleichbare Texte vernachlässigt, hält sich auch nicht an das Rundschreiben "Afflante Divino Spiritu" (1943), wo Papst Pius XII. unter der Überschrift "Benutzung der Urtexte" von einem Exegeten verlangt, er solle "seine Schriftauslegung durch all die Hilfsmittel führen, die die verschiedenen Zweige der Philologie bieten". (9)

Fazit

Das Lehramt der Kirche steht unter der Hl. Schrift und nicht über ihr. Das bedeutet, Lehrsätze der Kirche sind am globalen Sinngehalt der Bibel zu messen. Die wirkliche Bedeutung von einzelnen Bibelstellen darf nicht durch spätere Glaubenssätze einfach präjudiziert, also im Voraus entschieden werden, wie es die sog. kanonische Bibelexegese oft machte und macht.

Damit die Bibel ihre kritische Funktion erfüllen kann, hat ihre Auslegung gemäß dem Rundschreiben des Papstes Pius XII. von 1943 nach wissenschaftlichen Kriterien zu erfolgen. Dazu gehört vor allem die Philologie. Besonders für das Verständnis der Evangelien können Rück-Übersetzungen oder auch Texte, die der Ausgangssprache ähnlich sind, von großem Nutzen sein.

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(1) Siehe dazu Grundlegendes bei Rudolf Pesch: Neuere Exegese, 112 – 141.

(2) Siehe dazu Rudolf Pesch: Antisemitismus in der Bibel? Das Johannesevangelium auf dem Prüfstand.

(3) Joseph Kardinal Ratzinger: Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald. Stuttgart München 2000, 127-128.

(4) Ratzinger, 127.

(5) La Liga Bíblica (Übers. und Hg.): Santa Biblia. La Palabra de Dios para todos.

(6) Josef Kürzinger: Das Neue Testament.

(7) Vgl. Günther Schwarz: Das älteste Evangelium,

(8) Thomas Söding: Die Muttersprache des Messias. In: Welt und Umwelt der Bibel. 4/2018, 41.

(9) Papst Pius XII.: Enzyklika Divino Afflante Spiritu.

3. Überlieferung und Bedeutung der vier Evangelien

Viele Menschen denken, dass sie über das Leben Jesu, seine Kindheit, sein öffentliches Auftreten, seine Todesumstände, seine Auferstehung, seine Erscheinungen und seine Himmelfahrt historische Angaben bekommen, wenn sie in den vier Evangelien nachlesen. In Wirklichkeit aber sind die Evangelien in erster Linie Glaubensbekenntnisse und keine Biographie Jesu. Jeder Evangelist hat dabei eigene Akzente gesetzt und seine Darstellung Jesu anders gestaltet.

I. Die Quellen der ersten drei Evangelisten

Bei einer Synopse (= Zusammenschau), einem Vergleich der Evangelien nach Lukas (Lk), Markus (Mk) und Matthäus (Mt) erkennt man sehr viele Gemeinsamkeiten von Lukas und Matthäus einerseits mit dem Markusevangelium andererseits. Die meisten Bibelforscher, darunter vor allem der evangelische Exeget für Neues Testament Werner Georg Kümmel (+1995), gehen davon aus, dass das Evangelium nach Markus eine gemeinsame Quelle