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Neue Methoden aus der Weltraumpsychologie gegen Einsamkeit, Stress und andere Krisen Astronaut*innen und Menschen in Extremumgebungen erleben die Herausforderungen und Gefühle, denen auch wir auf der Erde uns täglich stellen müssen, besonders intensiv. Warum also nicht von denjenigen lernen, die monate- oder gar jahrelang isoliert von Freund*innen und Familie in einer lebensfeindlichen Umgebung zurechtkommen müssen? Denn Einsamkeit, Zukunftsängste und Stress dominieren seit Jahren Social-Media-Kanäle, Protestaktionen und Therapiezimmer weltweit, während Bedürfnisse wie Zusammengehörigkeit und Teilhabe in scheinbar galaktische Ferne rücken. Was ist nötig, um trotz Distanz Verbindungen zu anderen Menschen zu schaffen? Wie können wir für ein gutes Miteinander in Teams und auch zu Hause sorgen? Was gelingt gut im All – und wo scheitern selbst die mutigsten Marspionier*innen? Die Psychotherapeutin und Teampsychologin Alexandra de Carvalho forscht und arbeitet in dem noch jungen Feld der Weltraumpsychologie. Sie versorgt uns mit Strategien für mehr Widerstandskraft und Krisenfestigkeit im Alltag – wissenschaftlich fundiert, dabei aber locker-leicht und eingängig erzählt.
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Seitenzahl: 395
Alexandra de Carvalho
Was wir von der Weltraumpsychologie für unseren Alltag lernen können
[Widmung]
Ready for take-off?
01 Einsamkeit
Anders als alle anderen: wie wir lernen, uns einsam zu fühlen
Sozial in der Steppe – warum Einsamkeit für Steinzeitmenschen gefährlich war
In kleinen Schritten Aliengefühle überwinden
Einsamkeitsforschung: wie Daten uns Isolation erklären
Wenn Einsamkeit zur Belastung wird
Einsam im Eis? Das muss nicht sein!
Als Astronautin alleine im All
Kontaktbrücken zu anderen Menschen schlagen: Wie geht das?
02 Motivation
Weitermachen, wo andere aufhören würden
Wie aus Missionsträumen ein Startplan entsteht
Wenn Ideen beflügeln: Die erste deutsche Astronautin
Ich will! Ich machs!
Kurskorrektur oder Mission Abort?
Wer fliegen will, darf fühlen üben
03 Gruppen
Dazugehören – was steckt dahinter?
Ein Turm aus Marshmallows, Spaghetti und Tape
Gruppentraining im Eis
Von Euphorie bis Winterschlaf: wie Gruppendynamik sich über die Zeit verändert
Rückendeckung in der Wüste
04 Anpassung
Achtung beim Wiedereintritt in die Atmosphäre!
Rückenschmerzen, poröse Knochen und Glubschaugen
Warm anziehen, basteln oder Augen zu und durch? Wie wir uns an Extreme anpassen
Plan for the worst, hope for the best
Schwerkraft testen, Sprungkraft fördern – beweg dich mal!
05 Ressourcen
Mini-Tomaten für das Mondbuffet
Wenn die Klimaangst das Fühlen beherrscht
Die Ressourcenfrage im Weltall
Der Salat der Zukunft: Gurken aus dem Wohnzimmer
06 Grenzen
Leben in der Groß-WG: zwischen Näheaufbau, Grenzziehung und Putzplan
Wohnkonzepte fürs All etablieren
Weltraumarchitektur und Raumkonzepte für gelungene Habitate
Weltraumwohnungen mit Wohlfühlcharakter
07 Kommunikation
Ground Control to Major Tom
Aber Houston – ich habe ein Problem!
Lost in communication
Liebe über 100000 Fußballfelder
08 Kultur
Interplanetarer Kultur-Clash in der Wüste Negev
Erklärungsmodelle für gefühlte Grenzen
Das internationale Office – wie Zusammenarbeit quer über den Globus gelingt
Borschtsch versus Bœuf bourguignon
Wo die Realität jede Simulationsstudie übertrifft
09 Macht und Führung
Macht? Ein Begriff, der Ambivalenzen auslöst
Gute Führung? Eine lebenslange Lernaufgabe
Führungsstile: bestimmen, belohnen oder doch lieber folgen?
Führung in extremen Umgebungen – zwischen schnellen Entscheidungen und Autonomie
Führung heißt folgen – und braucht gute Vorbilder
Wie wir auf Anleiterinnen und Chefs reagieren
Wenn Kontrolle limitiert ist – Autonomie während astronautischer Langzeitmissionen
10 Neugierde
Was wir brauchen, um Mammutspuren zu erschnüffeln oder neue Planeten zu entdecken
Gemeinsam entdecken wir mehr
Der Mars im Garten auf 16 Quadratmetern
Eine zweite Chance
11 Distanz
Erde? Bist du da?
Riechen, Tasten, Schmecken – wie wir Ankerpunkte ermöglichen
Wo die Erde weiter weg ist als das All
Von Igelbällen, Murmeln und Chilibonbons
12 Langeweile
Forschung in Kopftieflage – öde oder nicht?
Total spannend! Was ist Langeweile?
Boredom, Boreout und keinen Bock
Armut oder Antriebsschwierigkeiten – langweilen wir uns alle gleich?
Mit Saxophon und Badminton für mehr Spaß im Weltall
Puh, wie öde! Mein Kompass für Bedürfnisse
13 Perspektivenwechsel
Die Erde von oben sehen – der Overview-Effekt
Von der Cupola aus dein zu Hause entdecken
Ehrfurcht – ein Gefühl, das zum Staunen anregt!
Demut – sich unwichtiger fühlen, um mitfühlender zu handeln
Wie auch Erwachsene den »Wow-Effekt« erleben können
Perspektivwechsel anregen – Kerndisziplin in der Psychotherapie
Staunen – auf der Sofakante sitzend
Danksagung
Für alle, die sich fragen, ob es im Weltall genug Platz für unsere Gefühle gibt.
Und die neugierig sind loszureisen, um das zu erforschen.
Houston, wir müssen mal über Gefühle reden!
Innsbruck! Ein Sandsturm! »Och nee!« Zu meiner linken Seite stützt unser Teamarzt das Gesicht in seine Hände. »Das jetzt auch noch. Die Hitze im Feld reicht mir, ehrlich gesagt. Schau dir mal bitte ihren Puls an. Das ist zu warm da draußen, sie muss ins Habitat zurückkommen.« Ich rutsche ein paar Zentimeter nach links und schaue auf einen Bildschirm, der die Telemetrie abbildet. Herzrate, Temperatur, Puls. Alle Werte befinden sich in einem Bereich, der mir sagen soll: Rund 3000 Kilometer entfernt steckt gerade eine sogenannte Analog-Astronautin in einem Raumanzugsimulator in der Wüste, sammelt Gesteinsproben und schwitzt. Eine Analog-Astronautin ist eine Raumfahrerin, die auf der Erde wissenschaftliche Erkenntnisse für zukünftige astronautische Raumfahrtmissionen sammelt. Dafür simuliert sie mit einem sechsköpfigen Team einen Aufenthalt auf dem Planeten Mars mit allem, was dazugehört. Weltraumdusche. Astronautenfutter. Experimente. Vier Wochen lang. Ein silbernes Habitat – eine Art Wohnkuppel – zum Schlafen, Essen und »zur Erde« Kommunizieren. Spaziergänge durch die »Marswüste« finden nur in einem schweren Raumanzug statt. Währenddessen sitze ich in Innsbruck in einer Lagerhalle, die als Mission Support Center dient. Aus dem Fenster fällt mein Blick auf den ersten Winterschnee, den ich auf den Berggipfeln erahnen kann. Ganz andere Welt!
Plötzlich fliegt die Tür zum Flight Control Room auf, und die Frau, die sich um die Durchführung aller wissenschaftlichen Experimente kümmert, kommt hereingestürmt. »Was ist da los? Ich dachte, heute machen wir das Experiment. Die Wissenschaftler brauchen endlich ihren Datensatz.« Neben mir schüttelt der Arzt den Kopf: »Die müssen wohl erst mal warten. Es ist zu warm im Anzug. Du weißt doch: Safety first! Und dann erst Science und Simulation! Es geht immer erst mal darum, dass es unseren Analog-Astronauten gut geht!« Die Frau schaut nicht gerade begeistert. »Wir haben auch eine Rückmeldung direkt aus dem Feld«, schaltet sich nun eine weitere Stimme ein. »Earth Com« – also die Person, die mit den Menschen im Feld über Chat spricht: »Die Astronautin möchte weitermachen. Sie sagt, sie fühle sich fit!« Ich blicke in ratlose Gesichter. Wer soll nun entscheiden? »Das ist knifflig«, sage ich, »auf der einen Seite müssen wir die Telemetrie beachten und die Astronauten davor schützen, wenn sie sich selbst überschätzen. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch die Erfahrungswerte aus den letzten zwei Wochen im Feld beachten, die das Team dort gesammelt hat.« Ich merke, dass sich Spannung bei allen Beteiligten im Mission Support Center aufbaut. Alle wollen, dass die Mission erfolgreich verläuft, aber natürlich schaut jedes Teammitglied auch auf seine eigenen Bereiche. Experimente durchführen, medizinische Sicherheit gewährleisten oder im Raumanzug auf dem Rover durch die Wüste fahren. Und ich? Was will ich? Ich möchte in meiner Rolle als Teampsychologin, dass es allen Beteiligten bei dieser Analog-Mission, psychisch so gut wie möglich geht. Das ist unter den Bedingungen, unter denen wir zusammenarbeiten, ziemlich komplex. Kommunikation zwischen dem simulierten Mars – einem Habitat in der israelischen Wüste – und der Erde – eine Lagerhalle in Innsbruck – findet ausschließlich über Chat statt. Um die Entfernung zwischen Erde und Mars nachzuahmen, dauert es zehn Minuten, bis Nachrichten übermittelt werden. Temperaturumschwünge werfen unsere Pläne oft um. Im Habitat ist es meist zu laut oder zu eng zum Schlafen. Dichte Arbeitspläne stressen die kleine Crew. Und ab und an hat auch mal jemand Heimweh nach einer echten Dusche, oder es herrscht dicke Luft in der Gruppe.
Kommt dir bekannt vor? Für solche Situationen muss man sich weder auf dem Mars noch auf einer Analog-Mission in der Wüste befinden. Undefinierte Arbeitshierarchien. Eine viel zu enge Wohnung. Und auf WhatsApp wieder keine Antwort bekommen? Auch unser eigenes Leben kann sich manchmal wie eine Extremexpedition anfühlen. Wir jonglieren Kinderversorgung, Job und Angehörigenpflege innerhalb eines viel zu kurzen Arbeitsalltags. Manche von uns fühlen sich so einsam und entfremdet von ihren Mitmenschen, als würden sie Planeten voneinander trennen. Wir balancieren zwischen Langeweile und Überforderung, führen Konflikte und versuchen, über 13-Zoll-Bildschirme Beziehungen mit Menschen am anderen Ende der Welt herzustellen.
Und außerhalb deines Mikrokosmos? Auch da herrschen krasse Krisen. Oder wie es die Wissenschaft formuliert: »kollektive Grenzsituationen«[1], die den Verlust an Stabilität in unserer Welt beschreiben. Lassen wir die Nachrichten-Pop-ups im Handy mal Revue passieren: Menschengemachte Krisen, wo man hinsieht, und alle stellen uns täglich vor neue Herausforderungen. Pandemie, Klimakrise, Kriege, Inflation und Energieknappheit reihen sich aneinander und übertünchen nur marginal schon bestehende Alltagsprobleme wie Fachkräftemangel, mangelhafte Betreuungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, Pflegenotstand, Mieterhöhungen und das Gefühl, trotz fünf verschiedener Dating-Apps eigentlich niemanden zum Reden zu haben. Wie soll man damit klarkommen? Und wie soll man sich dabei fühlen?
Genauso wie viele Freundinnen, Nachbarn oder Arbeitskolleginnen suche ich ebenfalls immer wieder nach Möglichkeiten, um diese Zeiten gut zu meistern. Von dieser Suche handelt mein Buch. Mein Ziel: Erkenntnisse aus zwei Bereichen zusammenbringen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – aus der Arbeit im Weltraum beziehungsweise in Extremumgebungen und der Psychologie. Dahinter verbirgt sich eine eigene Disziplin – die »Weltraumpsychologie« oder auch »Raumfahrtpsychologie«. Wahrscheinlich hast du noch nie etwas davon gehört, oder? Dieser eher unbekannte Teilbereich der Psychologie untersucht, wie sich Astronautinnen, aber auch Menschen in extremen Umgebungen auf der Erde unter Belastung verhalten und fühlen. Von den Methoden der Weltraumpsychologie und den Erfahrungen dieser Menschen können auch wir in unserem ganz irdischen Alltag profitieren. Versprochen!
Wie komme ich dazu, mich mit Raumfahrtpsychologie zu beschäftigen? Ich gehörte schon als Kind zum Subtypus neugieriger Nerd. Von 1994 aufwärts durfte ich diverse kindertaugliche Science-Fiction-Sendungen rauf und runter schauen, die auf dem Röhrenfernseher im Wohnzimmer Raketenstarts und intergalaktische Begegnungen zeigten. 1997 kam der NASA-Lander »Pathfinder« auf dem Mars an, und ein Jahr später wurde »Sarya«, das erste Modul der ISS, ins Weltall geschossen. Das Weltraumteleskop »Hubble« schickte derweil Bilder aus dem All. Ich wollte unbedingt Astronautin werden, musste aber auf der Rückbank des Opel Corsa einsehen, dass mein Magen nicht die Resistenz hatte, die ich für einen Flug ins All brauchen würde. Trotzdem blieb ich der Raumfahrt emotional verbunden.
Was mich bis heute fasziniert, ist nicht nur die Tatsache, dass Menschen ins All reisen, sondern vor allem die dahinterstehende Mentalität. »Das geht nicht« gibt es hier nicht, sondern ein »Lass uns das Unmögliche ausprobieren«. Einfach mal machen. Dabei rückte für mich die Frage nach dem Menschen und seinen Motiven immer mehr in den Vordergrund. Warum reisen Menschen ins All? Und was fühlen sie dabei? Und um das zu verstehen, studierte ich erst mal Psychologie und approbierte als psychologische Psychotherapeutin. In meinem Alltag begegne ich nun Menschen, die psychotherapeutische Unterstützung suchen und mit Depressionen, Ängsten, Suchterkrankungen oder Lebenskrisen zu mir kommen. Psychotherapeutin zu sein bedeutet für mich, Menschen dabei zu helfen, sich zu erden, und mit ihnen gemeinsam einen sicheren Raum zu schaffen, aus dem heraus sie sich wieder neue Horizonte für ihr Leben erschließen können. Dabei hilft die astronautische Mentalität: »The sky is not the limit«. Auch wenn es uns manchmal unmöglich erscheint, für unsere Sorgen einen Ausweg zu finden, kann es uns doch gemeinsam gelingen.
Seit rund neun Jahren arbeite ich zusätzlich als Teampsychologin mit sogenannten Analog-Astronauten zusammen, die auf der Erde testen, was Menschen brauchen, um eine lange Zeit abseits der Erde psychisch und körperlich zu überleben und zurechtzukommen. Starten wir mit einem kleinen Einblick in die Weltraumpsychologie – und was sie mit unserem Alltag zu tun haben könnte.
Wie passt Raumfahrt mit Gefühlen und damit im weitesten Sinne mit Psychologie überhaupt zusammen? Fühlen ist nicht unbedingt das Erste, was man mit astronautischer Raumfahrt verknüpft. Für Astronautinnen ist es immer noch stark stigmatisierend, sich psychologische Hilfe zu holen. Das hat seinen Grund: Die Raumfahrt entspringt militärischen Strukturen. The Right Stuff, ein Spielfilm, der auf einem Roman von Tom Wolfe basiert, prägte Anfang der 1980er Jahre das Bild von Astronauten. Ulrich Walter beschreibt die damalige Wahrnehmung in seinem Buch Reiseziel Weltraum mit einem »unausgesprochenen Kodex von Tapferkeit und Machogehabe, der sie nicht nur Militärjets, sondern auch Raketen besteigen ließ, deren unbemannte Testversionen man beim Start nicht selten explodieren sah.«[2] Platz für Gefühle? So wie Astronautinnen wahrgenommen werden, eher Fehlanzeige. Dieses Bild hält sich bis heute noch hartnäckig. Chris Hadfield, ehemaliger kanadischer Astronaut, schreibt in seinem Buch Anleitung zur Schwerelosigkeit über das gesellschaftliche Bild von Astronauten: »In Filmen mühen sich Astronauten nicht mit russischen Vokabellisten ab. Sie sind Superhelden. Selbst die Besonnensten unter uns sind gewissermaßen von diesem Bild beeinflusst worden.«[3] Obwohl im Raumschiff selbst immer mehr ein Umdenken stattfindet. Der deutsche Astronaut Alexander Gerst äußerst sich in seinem Buch Horizonte folgendermaßen zum Thema Risiko: »Ich halte mich für einen eher vorsichtigen Menschen! Risiko ist für mich kein Selbstzweck, sondern eher ein manchmal notwendiges Mittel. Wettbewerbe zum Beispiel, bei denen es darum geht, wer am effektivsten die Todesangst unterdrücken kann, so wie einige Base-Jumper oder Big-Wave-Surfer sie ausfechten, interessieren mich nicht.«[4]
Halten wir also fest: Das Bild des angstfreien Kampfjetpiloten, der sich auf den Weg ins All macht, um im schlimmsten Fall noch auf dem Weg todesmutig zu explodieren, hat heutzutage nicht mehr viel mit der Realität zu tun. Astronautinnen und Menschen in Extremumgebungen teilen unsere alltäglichen Probleme und Gefühle. Manche können ihnen sogar verstärkt begegnen. Sie sind keine fehlerfreien Heldinnen. Viele Geschichten in diesem Buch zeigen, wo selbst die motiviertesten und geübtesten Menschen an ihre Grenzen gelangen oder sich mal danebenbenehmen. Das zu verstehen, ist nicht nur wichtig, damit wir lernen, welchen immensen Einfluss unsere Umgebung und Krisen auf jeden von uns nehmen können. Sondern auch, dass wir keine Helden sein müssen, um Probleme und Sorgen zu bewältigen. Wenn wir uns vom Mythos der perfekten Astronauten befreien, können wir von den Strategien der Menschen in Extremsituationen lernen und brauchen nicht – im sprichwörtlichen Sinne – zu ihnen aufschauen.
Unsere Erfahrungen aus längeren Testmissionen auf der Erde und Aufenthalten im All zeigen, dass die Psyche im All ein immer wichtigerer Faktor wird. Sobald Menschen ins All reisen, begegnen sie körperlichen und seelischen Herausforderungen wie Schlaflosigkeit und Schwierigkeiten, die kognitive Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Oder sie erleben Gefühle wie Angst und Panik.[5] Es ist daher sinnvoll und notwendig, auf der Erde so viel wie möglich zu testen, bevor die erste Mission Richtung Mars startet. Die Menschen müssen sich nicht nur technisch, sondern auch emotional auf extreme Missionen vorbereiten.
Doch wo ist es möglich, Emotionsregulation für das Leben auf dem Mars zu trainieren? Auf der Erde? Ja! Mit Hilfe von Analog-Missionen. Die Weltraumpsychologie nutzt isolierte und abgeschottete Umgebungen, auch bekannt als »Isolated, Confined and Extreme Environments« (ICE), um das Verhalten von Menschen in extremen, gefährlichen oder isolierten Umgebungen zu erforschen und sie auf den Umgang mit emotionalen Krisen vorzubereiten. Seit der Frühzeit der Apollo-Missionen greifen Wissenschaftlerinnen auf spezielle Habitate, Bergexpeditionen oder Tiefseemissionen zurück, um Bedingungen zu simulieren, die dem Leben auf dem Mond oder Mars ähneln könnten. Analog-Astronautinnen leben wochen- oder monatelang abgeschieden wie im All. In dieser Zeit führen sie wissenschaftliche Experimente durch, testen technische Geräte oder simulieren die zeitverzögerte Kommunikation zur Erde. Menschen, die an Analog-Missionen teilnehmen, leben dann beispielsweise zurückgezogen in einem Habitat – und dürfen nur mit Raumanzug vor die Tür. Wer zu Hause anrufen möchte, muss die Zeitverzögerung einberechnen oder darf sogar nur über Chat kommunizieren. Duschwasser wird limitiert zur Verfügung gestellt, und das Essen stammt aus dem Missionsvorrat. Die Erkenntnisse über physische Verfassung, Verhaltensweisen, Gruppenzusammenarbeit oder Leistung, die wir in ICE-Umgebungen sammeln, können wir idealerweise später für Langzeitmissionen Richtung Mond und Mars nutzen.
Heutzutage gibt es zahlreiche Organisationen, die Analog-Missionen durchführen und uns verdeutlichen, wie wichtig der Faktor Mensch in der astronautischen Raumfahrt ist. Es gibt viele Projekte, die auf der Erde simulieren, wie es im All sein könnte. Analog-Astronautinnen zwängen sich in Overalls durch Gletscherspalten (AMADEE-15), trainieren in Höhlen (ESA Caves) oder versuchen, unter Wasser miteinander zu kommunizieren (NEEMO). Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte die Crew von »Mars-500«, die eine Marsexpedition simulierte und eine Vielzahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammentrug.[6] Ziel des 520-tägigen Isolationsexperiments war es, psychologische Erfahrungswerte über die Gruppendynamik, aber auch die körperliche Fitness und die Arbeitsleistung der Crew zu sammeln. Was hat man bei diesem Experiment herausgefunden? Es zeigte sich, dass die Teammitglieder, die Stress und ihre Gefühle besser regulieren konnten, das Zusammenleben auf engem Raum als positiv erlebten. Sie berichteten von persönlichem Wachstum und beschrieben das Experiment als belohnend. Die Probanden mit einer geringeren Stressresistenz verzeichneten einen höheren Angstpegel.[7]
Doch was führt dazu, dass wir entweder Sinnerfüllung finden oder Lagerkoller entwickeln? 2015 traf ich einen der Teilnehmer von Mars-500, Romain Charles, der mir berichtete, welche Strategien helfen, um so eine Mission erfolgreich zu meistern: »Es hat mir geholfen, jeden Tag den gleichen Rhythmus und eine Routine zu haben. Und ich habe immer versucht, mich aktiv zu halten und zu beschäftigen, damit keine Langeweile aufkommt.« Wir lernen also: Es kann hilfreich sein, ein paar Tricks und Handwerkszeug für herausfordernde Situationen bereitzustellen.
Aber können wir wirklich durch Simulationsexperimente und Arktisexpeditionen herausfinden, was genau uns helfen könnte, wenn wir unter Stress und Druck geraten oder es mit Angst und Einsamkeit zu tun haben? Ist unser Alltag überhaupt vergleichbar mit dem Alltag einer Analog-Astronautin?
Direkt mal bei einer Expertin nachgefragt. Die Psychologin Agnieszka Skorupa sitzt mit einer Kaffeetasse vor ihrem PC. Ab und zu läuft ihre Katze über die Tastatur. Eher irdisch gemütliches Ambiente als galaktische Faszination. Agnieszka untersuchte schon in ihrer Doktorarbeit, wie Menschen sich in Polarregionen an extreme Situationen anpassen, aber auch, wie sich die die Gruppendynamiken in Analog-Missionen entwickeln. Agnieszkas klare Antwort an dieser Stelle: »Ja! Wir können aus Simulation und extremen Umgebungen auf der Erde super lernen!« Ihre Begründung: »Unsere Psyche ist ja dieselbe.« Terrestrische Extrembedingungen sind dabei sogar besonders lehrreich! Teilweise sind die Bedingungen, die wir auf der Erde vorfinden, viel komplexer als jene, denen Menschen aktuell im All begegnen. Wer in der Antarktis überwintert, kann im Notfall nicht mal eben zurück in die Heimat fahren. Eine Evakuierung von der ISS ist hingegen innerhalb weniger Stunden möglich.[8] Und auf unseren Alltag auf der Erde übertragen? Auch da sieht sie Parallelen: »Ja klar ist das vergleichbar! Denn am Ende wünschen Menschen in der Antarktis sich genau dasselbe wie du oder ich in unserem Leben. Beziehungen. Schlaf. Gutes Essen.«
Der US-amerikanische Psychiater und Raumfahrtpsychologe Nick Kanas schreibt in seinem Buch Humans in Space noch über einen anderen wichtigen Aspekt, nämlich dass wir in Analog-Missionen die Möglichkeit haben, viele Variablen zu kontrollieren.[9] Wir können die Lichtverhältnisse, die Sporteinheiten, die Gruppendynamik und durch spontane Aufgaben sogar das Stresserleben der Gruppe beeinflussen. Für wissenschaftliche Studien sind das perfekte Bedingungen. Aber es gibt natürlich auch Grenzen: Aspekte wie Schwerelosigkeit oder das Gefühl, ganz weit weg von der Erde zu sein, können wir nicht simulieren. An dieser Stelle begegnet uns, wie bei irdischen Krisen auch, die echte Lebensrealität. Auch auf der Erde, im alltäglichen Leben haben wir nicht immer einen Plan, wenn wir uns Herausforderungen stellen müssen.
Wie gehen Menschen damit um? Während der Coronapandemie reagierten viele auf den gefühlten Kontrollverlust und die Isolation mit Depressionen, Stress, Schlafproblemen oder ungesunden Essgewohnheiten.[10] Die aktuelle weltpolitische Lage, die Kriege in der Ukraine und in Nahost, lassen uns sorgenvoll in die Zukunft blicken. Dazu kommt die Klimakrise, die noch mal andere Gefühle in uns freisetzt. Der Begriff »Eco Anxiety« beschreibt die Gefühlssuppe aus Angst, Traurigkeit und Ohnmacht, die wir bei der Vorstellung, dass unsere Erde in weiten Teilen für zukünftige Generationen unbewohnbar werden könnte, empfinden. Man weiß aus Studien, dass, wenn zu viele belastende Informationen auf uns einströmen, wir müde davon werden.[11] Es gibt sogar Theorien, die besagen, dass Menschen nicht zu viele Sorgen auf einmal haben können: Man nennt das den »Finite Pool of Worry« – frei übersetzt das »begrenzte Sorgenkontingent«. Viele Krisen gleichzeitig überfordern uns. Menschen wählen aus, was ihnen Kopfschmerzen bereitet. Wir reagieren dann, wenn eine Krise uns persönlich betrifft, Veränderungen schnell passieren, sie uns in unseren moralischen Werten erschüttern und sich mit ihren Konsequenzen zeitnah auf uns auswirken.
Der Psychotherapeut Fabian Chmielewski hält deswegen in seinem Buch Globale Krisen in der Psychotherapie fest, wie wesentlich es ist, Krisen Wichtigkeit beizumessen und sie im Miteinander zu benennen, denn sie können uns auf verschiedenen Ebenen belasten.[12] Sogenannte existenzielle Bedürfnisse beschreiben unseren Drang zu überleben, uns zu ernähren, und treten dann auf, wenn wir uns fragen, was passiert, wenn Putin den roten Knopf drückt. Psychologische Bedürfnisse, beispielsweise nach Austausch und Zugehörigkeit, können durch Isolation verletzt werden. Und zuletzt begegnen uns epistemische Bedürfnisse. Wir wollen die Welt um uns herum einordnen können: Wem kann ich trauen? Was ist wahr? All das verdeutlicht vor allem eins: Krisengemachte Gefühle sind real. Und: Krasse Themen können krasse Gefühle hervorrufen.
Was bedeutet das nun für meine Mission, Weltraumpsychologie und Krisenbewältigung in unserem Alltag zusammenzubringen? Menschen in Analog-Missionen und extremen Situationen stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie wir im Alltag – nur geballter. Vor allem aber liefern die Missionen Studien und Daten, die Rückschlüsse auf das Fühlen und Verhalten in Krisenzeiten erlauben. Deswegen können wir aus der Antarktis oder dem All so viel mehr lernen, als es vielleicht auf den ersten Blick scheint.
Reisen wir dafür noch mal in die israelische Wüste – und in die Lagerhalle nach Innsbruck. Der Arzt entscheidet, die Analog-Astronautin zurückzuholen. Auch wenn er weiß, dass die Einschätzung im Feld eine andere ist und die Analog-Astronauten seine Entscheidung womöglich nicht verstehen werden. Er trägt die Verantwortung und möchte die Gesundheit der Einsatzperson nicht riskieren. Seine Entscheidung zieht viel notwendigen Austausch zwischen Lagerhalle und Wüste nach sich und neue Planung, um den Stress rauszunehmen, der entstanden ist, genauso wie ein »Danke« ins Feld, das unsere Wertschätzung für die getane Arbeit vermitteln möchte. Arbeiten in Extremumgebungen bedeutet oft eine Gratwanderung zwischen Risikoabwägung und Abenteuerlust. Realistisch betrachtet: Die perfekte Lösung existiert nicht immer. Manche Situationen sind so komplex, dass eine einfache Antwort nicht möglich ist. Schnelle Entscheidungen sorgen für Frust und passen schlichtweg nicht zur Lebensrealität derer, die Tausende Kilometer entfernt arbeiten. Das ist die Realität. Was wir aber lernen können, ist, wie wir mit solchen Sackgassen, Engpässen und Tiefflügen umgehen können.
Was erwartet dich nun? Dieses Buch bietet dir einen Perspektivenwechsel an, der im besten Fall dabei hilft, in turbulenten Zeiten die Bodenhaftung nicht zu verlieren.
Es gehört zu meinem Beruf und meinem leidenschaftlichsten Interesse, mit zahlreichen Menschen über den Umgang mit Gefühlen, Krisen und Herausforderungen zu sprechen. Dazu zählen solche, die im Feld der astronautischen Raumfahrt monatelang entkoppelt von der Erde leben oder genau das beforschen. Oder welche, die in Extremumgebungen wie der Antarktis überwintern. Genauso wie Menschen auf der Erde, die in ihrem Leben mal mindestens genauso große Fertigkeiten entwickeln mussten wie eine Astronautin. Denn auch meine Klientinnen in der Psychotherapie haben es geschafft, mit existenziellen Erfahrungen wie Einsamkeit, Leben mit wenigen Ressourcen, Distanz zur Familie und zu Freunden, Zusammenwohnen auf engstem Raum, Krieg, Gewalt oder Konflikten fertigzuwerden und immer die Hoffnung wiederzufinden. Mit ihnen lerne ich jeden Tag, wie man große Herausforderungen meistern kann. Spoiler: Wir können nicht alle Probleme um uns herum beseitigen, aber wir können üben, mit den dazugehörigen Gefühlen selbstfürsorglich umzugehen.
Wie genau das geht, möchte ich herausfinden: Wie kann ich, wenn das Leben wie ein Meteorit auf mich einschlägt, einen kühlen Kopf bewahren und mich emotional in Sicherheit bringen? Das ist gar nicht so einfach, denn ein guter Umgang mit den eigenen Gefühlen ist mindestens genauso komplex wie der Aufbau des Universums.
Bei allem, was ich in diesem Buch über Stress- und Krisenbewältigung berichten kann, soll und kann es keine Psychotherapie ersetzen. Und es ist auch nicht sein Ziel, dir eine ausgetüftelte Bedienungsanleitung für alle Lebenslangen mitzugeben. Unsere Grundvoraussetzungen und Lebensumstände sind so verschieden, dass es gar nicht möglich wäre, Ideen und Strategien von anderen Menschen eins zu eins zu kopieren. Dennoch bin ich mir sicher: An der Schnittstelle zum Universum können wir viel voneinander lernen. Mit diesem Buch möchte ich dich einladen, die Lösungswege und Gedanken anderer Menschen kennenzulernen, aber dich auch ermutigen, deine eigene Kreativität zu erkunden und selbst zu entscheiden, welche Ideen für dich passend sind.
Die Geschichten und das gesammelte Wissen sollen dabei weder Druck auslösen noch die Illusion vermitteln, fortan jedes Gefühl kurvenlos navigieren zu können. Denn auch das ist wichtig: Selbst jahrelanges Astronautinnentraining schützt nicht vor der Übelkeit beim Eintritt in die Schwerelosigkeit. Genauso wenig verleiht die Berufsbezeichnung Astronaut einem Menschen die Fähigkeit, immer alles unter Kontrolle zu haben, kaputte Gegenstände ohne Anleitung reparieren zu können und niemals Angst zu haben. Und auch alle, die auf dem Boden geblieben sind, werden immer wieder Bruchlandungen machen. Ich sags dir, wie es ist: Selbst mein Master of Science in Psychologie und meine Approbation als psychologische Psychotherapeutin befreien mich nicht von eigenen tiefen Gefühlen wie Traurigkeit, Scham oder der Unwissenheit, die das Leben manchmal mit sich bringt. Jedem von uns kann es passieren, dass Krisen uns aus der Umlaufbahn schleudern.
Das zu akzeptieren, kann uns helfen, schwierigen Situationen mit ein wenig mehr Leichtigkeit zu begegnen.
In der astronautischen Raumfahrt, aber auch auf der Erde geht es täglich darum, eigene Grenzen kennenzulernen und manche zu überwinden. Die Auseinandersetzung mit uns selbst in einer extremen Umgebung markiert schnell, wo unsere Grenzen liegen. Wir begegnen ihnen brutal, und manche von ihnen sind nicht verhandelbar. Denn egal, wie viel wir wissen oder üben: Manches – typisch Menschliches – wird bleiben. Wir werden immer atmen, schlafen und essen müssen. Und wir werden immer fühlen.
Das Schöne dabei ist: Wir können zusammen herausfinden, wie ein guter Umgang mit Krisen aussehen kann. Irvin Yalom spricht hier von der Universalität des Leidens[13]. Wir denken immer, dass wir uns allein isoliert und nicht gut genug finden – aber im Gespräch mit anderen lernen wir, dass wir viele Themen oft ähnlich wahrnehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade dann, wenn wir Ressourcenknappheit, Zukunftsangst und andere globale Turbulenzen erleben, es wichtig ist, mit anderen Menschen ein Team zu bilden. So wie im All.
Wenn du also das nächste Mal nachts an die Decke starrst, weil du dich allein und überfordert von der Welt da draußen fühlst, könnte es sich vielleicht lohnen, das Fenster weit zu öffnen und nach oben, in den Nachthimmel, zu schauen. Dort kreist in rund 400 Kilometer Höhe ein Mensch, der sich ebenfalls ab und zu einsam, von anderen Menschen unverstanden oder gestresst fühlt – und vielleicht die eine oder andere weitere Erfahrung mit dir teilt: eine Astronautin!
»Kann einem ’ne Scheißangst machen, wenn man ganz alleine hier rumfliegt, was?«
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Als Alien andocken und mit anderen Lebewesen zusammenfinden
Du stehst auf einer Party. Alle um dich herum lachen, berühren sich, liegen sich in den Armen. Dämmerlicht. Gläser klirren. Ein Teppich aus Stimmen umwebt deine Ohren. Du schaust durch die Menge, alles verschwimmt. Nur einen kleinen Schritt. Mal mit der Person sprechen, die gegenüber von dir steht. Komm schon! Du haderst. Auch wenn euch nur ein Meter Luftlinie trennt, fühlt sich der Weg für dich unüberwindbar an. Du bleibst stehen und bist dir nicht sicher, ob es gerade die Nebelmaschine ist, die deine Wahrnehmung eintrübt, oder dieses Gefühl, das stärker als der Bass in dir dröhnt. Es macht sich in deinem Brustkorb breit und legt sich wie eine schwere Decke über dich. Dumpf. Es tut förmlich weh. Du bist dir sicher, immer anders als alle anderen zu sein. Ein Alien inmitten von Erdlingen. Du schließt die Augen. Atmest aus. Am liebsten würdest du verschwinden, dich einfach in Luft auflösen.
Einsamkeit. Wir alle haben dieses Gefühl schon einmal erlebt. Ich kenne das Gefühl wahrscheinlich genauso gut wie du. Vielleicht wurdest du nach dem Umzug in eine neue Stadt oder dem Ende einer Liebesbeziehung damit konfrontiert. Oder du gehörst zu den schätzungsweise 17 Prozent der deutschen Bevölkerung, die von sich behaupten, sich häufig einsam zu fühlen.[1] Spätestens im Jahr 2020 sind viele von uns pandemiebedingt – zumindest für einen kurzen Moment – dem Gefühl der Einsamkeit begegnet.[2], [3] In meiner therapeutischen Arbeit bespreche ich das Thema Einsamkeit fast täglich. Einsamkeit ist ein komplexes Thema. Mal eben ein paar Leute treffen, reduziert Einsamkeitsgefühle nicht automatisch. Der Blick in Ratgeber, die Ehrenämter zur Kontaktsuche oder Schaumbäder zur Selbstfürsorge empfehlen, zeigt: Es gibt kein Patentrezept, das Verbindung zu anderen Menschen garantiert. Das macht Einsamkeit so mächtig. Und so unangenehm.
Obwohl Einsamkeit in Umfragen hohe Werte verzeichnet, sprechen wir im Alltag wenig darüber. Scham und die Befürchtung, stigmatisiert zu werden, führen dazu, dass einsame Menschen sich eher noch weiter zurückziehen, anstatt sich ihren Mitmenschen zu offenbaren[4]. Wenn ich einsam bin, dann muss es doch an mir liegen! Dabei könnte es Einsamkeit reduzieren, wenn wir mit anderen darüber reden würden. Womöglich braucht es an dieser Stelle ein paar sanfte Zwischenschritte. Anderen zuhören, wie sie dieses Gefühl erleben, kann ein erster Versuch sein, um dazugehörige Emotionen wie Scham vorsichtig abzubauen.
Ein Mensch, mit dem ich über Einsamkeit sprechen möchte, weil ich weiß, dass er viele Phasen davon durchlebt hat und es geschafft hat, sie zu überwinden, ist Ian. Ian kenne ich seit rund zehn Jahren. Es fiel mir nicht schwer, ihn mir einzuprägen. Eine laute Stimme und vor allem – pure Begeisterung, wenn es um Raumfahrt geht. Ian interessierte sich schon immer für die Erkundung des Weltraums und war immer wieder in lokalen Gruppen von raumfahrtbegeisterten Menschen aktiv. Mittlerweile leitet er Teams und übernimmt auch mal eine Führungsrolle. Ich lernte Ian damals als einen mutigen Menschen kennen, der mit anderen in Kontakt tritt. So auch mit mir. Aber schon damals verriet er mir, dass das nicht immer so leicht für ihn war.
Ian winkt in die Kamera und verkündet: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, aber ich muss auf jeden Fall gleich nach den Nudeln gucken.« Er deutet auf den Herd und die Dunstschwaden, die sich zur Decke schrauben. Klar, Abendessen muss sein. Also sprechen wir, bis al dente uns unterbrechen wird. Der Raum, in dem Ian sitzt, ist karg. Eine trostlose Gemeinschaftsküche in einem Wohnheim in Belgien. Ian wohnt hier vorübergehend für sein Praktikum beim Belgischen Institut für Weltraum-Aeronomie. Das Zentrum bietet technische Unterstützung für Experimente an Bord der Internationalen Raumstation. Ob es Spaß macht? Ein lautes JA als Zustimmung. Es gibt viel zu lernen. Spannende Menschen, Einblicke in das, was Ian schon immer geliebt hat – astronautische Raumfahrt, vor allem ISS Operations. Ian strahlt, es geht ihm gut, und ich freue mich darüber. Es gab eine Zeit, da fiel es ihm schwer, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen.
Heute ist Ian gerne bereit, davon zu erzählen, was es für ihn bedeutet hat, einsam zu sein, und was er tut, wenn er merkt, dass dieses Gefühl sich erneut in seinem Leben breitmacht. Denn auch das kommt vor. Wenn Ian über Einsamkeit spricht, kann ich nur erahnen, wie oft er diesem diffusen und trotzdem schmerzhaften Gefühl schon begegnet sein muss. Er kannte es schon sehr früh in seinem Leben. Der junge Mann mit der lauten, durchdringenden Stimme spult gedanklich durch die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend. Einmal die Zeitmaschine ankurbeln: Schon früh bemerkt er, dass er sich für alles interessiert, was außerhalb der Erdatmosphäre stattfindet. Astronauten, Satelliten und die Erkundung des Weltraums faszinieren ihn. Ian, das ist dieser laute Junge, der oft auffällt, weil er nicht wartet, bis andere ausgeredet haben. Weil er eine klare Meinung hat und die auch kundtut. In der Schule wählt er den Physik-LK – und damit auch die Isolation von anderen Menschen. Denn die meisten anderen Jugendlichen an seiner Schule interessieren sich eher für Kunst oder Sprachen, was hier auch der Lernschwerpunkt ist. Ian trottet über die Schulflure und ist meistens allein. Ihm fehlen Menschen, mit denen er sich verbunden fühlt. Immer mehr spürt er, dass er sich seiner Umgebung nicht zugehörig fühlt und dass ihn das traurig macht. Gleichzeitig fällt es ihm schwer, klar in Worte zu fassen, was fehlt. Wie kann man sich etwas wünschen, was man noch nie erlebt hat? Ian beginnt, sich die Verantwortung für seinen Außenseiterstatus selbst zuzuschreiben. »Als Jugendlicher glaubt man ja ›das ist die Welt‹, weil man nichts anderes kennt. Wenn es unter den 200 Menschen in meinem Umkreis keinen gibt, der mir ähnlich ist, dann wird das unter den acht Milliarden Menschen auf der Welt nicht anders sein.« Er fühlt sich schuldig, weil er anders als alle anderen wahrnimmt. Und er befürchtet, dass dieser Zustand niemals enden wird. Das, was Ian beschreibt, wird in der Forschung als »subjektiv wahrgenommene, soziale Isolation«[1] beschrieben. Das heißt, dass man zwar objektiv von anderen Menschen umgeben ist, sich aber dennoch nicht zugehörig oder verbunden fühlt. Viele Menschen kennen, aber mit niemandem wirklich reden können. Das tut weh!
Was heißt Einsamkeit? Eine Definition findet sich auf der Webseite des »Kompetenznetzes Einsamkeit«. Dort wird deutschlandweit das bestehende Wissen über Einsamkeit und Präventions- sowie Interventionsmöglichkeiten erarbeitet und gebündelt. Die Einsamkeitsforscherin Prof. Dr. Maike Luhmann definiert Einsamkeit in Anlehnung an eine Originaldefinition aus den 1980er Jahren[2] als »eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen«.[3]
Es gibt also einen fundamentalen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Wir können uns inmitten einer großen Gruppe sehr plötzlich sehr einsam fühlen oder – ganz im Gegenteil – mit nur zehn Menschen im All unterwegs sein, ohne einsam zu sein. Konkretes Beispiel: Die Astronauten auf der ISS leben zwar sozial isoliert mit nur wenigen Menschen zusammen, sie fühlen sich aber nicht unbedingt außen vor.[4], [5] Soziale Isolation kann die subjektive Einsamkeit zwar begründen, muss aber nicht zwingend dazu führen. Es gibt eben auch Menschen, die gerne allein sind. Die nur eine Freundin brauchen und keine große Gruppe. Im All gibt es nur wenige Menschen, denen Astronautinnen begegnen können. Gleichzeitig verfügen sie über stetigen Kontakt zur Erde über Video und Chat. Entscheidend ist also nicht die Anzahl der Menschen, sondern die Qualität unserer Beziehungen.
Unverbundenheit ist eines der wichtigsten Merkmale von Einsamkeit: Es zählt nicht, wie viele Menschen uns umgeben, sondern wie sehr wir uns von diesen auf einer qualitativen Ebene verstanden und gesehen fühlen. Das kann uns in verschiedenen Bereichen des Alltags begegnen. Vielleicht vermissen wir es, intime Beziehungen zu führen. Es kann uns fehlen, Teil einer Gruppe zu sein oder sogar Teil einer größeren Gemeinschaft.[6]
Wenn wir uns längere Zeit einsam und abgeschieden fühlen, tendieren Menschen dazu, Theorien darüber zu entwickeln, warum das so ist – so wie Ian. Wir glauben, dass wir anders als alle anderen sind oder unsere Eigenschaften für andere nicht ausreichen, um mit ihnen eine Freundschaft zu führen. Das kann dazu führen, dass wir uns noch stärker zurückziehen. Ein ziemlicher Teufelskreis!
Ian beschreibt Einsamkeit fast wie eine Art körperlichen Schmerz. Und tatsächlich bestätigen wissenschaftliche Ergebnisse aus Studien, dass sich Einsamkeit so anfühlen kann.[1] Warum leiden wir, wenn wir einsam sind?
Zu Beginn der Menschheitsgeschichte war es überlebenswichtig, in Gruppen oder Gemeinschaften zu leben, da isoliert zu sein, mit Gefahren verbunden war.[2] Gehen wir einmal zurück zu den Anfängen, als Menschen noch gejagt und gesammelt haben. Der Alltag eines Homo sapiens bestand damals aus Nahrungsbeschaffung, Fortpflanzung und den Anstrengungen des alltäglichen Überlebens. Wer in der Steppe durchhalten wollte, war gezwungen, sich in eine Gruppe zu integrieren, um Aufgaben wie die Jagd, die Bewachung der Schlafstätte und die Versorgung von Nachwuchs aufzuteilen. Der Verlust der sozialen Struktur erhöhte demzufolge das Risiko zu sterben. Das Zusammenleben mit anderen garantierte vor allem, dass man am Folgetag auch noch lebendig war. Als Schutzmechanismus entwickelten Menschen daher körperliche Reaktionen, die als Warnsignale dienten. Angst, Unruhe oder Stress. Auch wenn wir heutzutage theoretisch allein überleben könnten, sind Körper und Psyche immer noch auf soziale Beziehungen angewiesen. Unser psychischer Bausatz sagt: Wenn du das fühlst, dann such dir eine Gruppe, um dein Überleben zu sichern.
Die Eigenschaften, die wir benötigen, um mit anderen in Kontakt zu treten, bringen wir von Geburt an mit. Mitgefühl! Schon kleine Kinder zeigen in den ersten Lebensjahren empathisches Verhalten und erkennen, wenn ein anderer Mensch traurig oder wütend ist.[3] Sie können in diesem Alter möglicherweise noch keine genauen Gründe für die Gefühle anderer benennen, wollen aber automatisch helfen. Das zeigen Studien, in denen Kleinkinder zum Beispiel ihr eigenes Spiel unterbrechen, um etwas aufzuheben, was jemand anderes fallen gelassen hat.[4] Wir entwickeln als Kinder schnell ein Gefühl für unsere Umgebung, welche Stimmung gerade herrscht und welche Bedürfnisse andere Menschen gerade haben könnten. So können wir unsere Position innerhalb einer Gruppe stärken – und garantieren unsere eigene Sicherheit. Auch als Erwachsene sind wir dann idealerweise in der Lage, eine traurige Freundin in den Arm zu nehmen oder anderen zuzuhören. Die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen und mit ihnen mitzufühlen, verbindet uns miteinander.
Aber du kennst das bestimmt auch: Du möchtest jemanden näher kennenlernen. Aber du traust dich nicht, fühlst dich schüchtern oder vielleicht fällt dir Smalltalk schwer. Sich zu anderen dazustellen? Wir alle wissen, dass das nicht immer so einfach ist.
In sozialen Situationen kann sich Einsamkeit sogar schlimmer anfühlen, als wenn man allein in seiner Wohnung sitzt. Auch Ian fühlte sich vor allem unter anderen Menschen einsam: »Alle reden miteinander und schaffen es, im Gespräch eine gemeinsame Ebene zu entwickeln. Es ist eine quälende Erfahrung, unter Menschen zu sein und sich dennoch abgeschnitten von ihnen zu fühlen. Dann wurde mir immer bewusst, wie einsam ich eigentlich bin. Was sagt es über mich aus, wenn keiner von den vielen Menschen hier Lust hat, mit mir zu sprechen?« In der Psychologie gibt es mittlerweile einen Begriff, der Ians Erleben, wie ich finde, ziemlich gut einfängt: existenzielle Einsamkeit.[5], [6] Das klingt heftig. Dieser Begriff beschreibt, dass Menschen sich grundlegend von anderen abgeschnitten fühlen können. Solche, die sich existenziell einsam fühlen, beschreiben eine allgegenwärtige Distanz zwischen ihnen und anderen Menschen. Ihr Erleben ist mit Gefühlen von Leere, Entfremdung und dem Eindruck, von anderen verlassen worden zu sein, verknüpft[7]. In meiner therapeutischen Arbeit begegnen mir häufiger Menschen, die diesen Gefühlskomplex seit vielen Jahren kennen. Oft fühlen sich Menschen im Umgang mit diesem Mix aus Sehnsucht und Traurigkeit überfordert.
Intensive Gefühle können schmerzvoll sein. Es ist natürlich, dass in so einem Fall die Flucht aus dem Gefühl heraus als die erstbeste Option erscheint. Bei manchen Menschen sind es Alltagsausreden: »Ich habe sowieso keine Zeit« – das Verstecken hinter To-do-Listen und dem Job, in virtuellen Welten, hinter der Kunst, dem Essen oder einer Reise auf die andere Erdhalbkugel. Solche Strategien helfen uns kurzfristig, führen langfristig aber oft dazu, dass wir uns noch mehr isolieren.
Es gibt zahlreiche Ideen und Tipps oder Ratgeber zum Thema, wie man Einsamkeit beheben kann. Aber mal ehrlich – wenn das Gefühl so tief sitzt, dann hilft »mal rausgehen« nicht. Dann braucht es professionelle Unterstützung, einen ruhigen Raum des Vertrauens, in dem man vorsichtig üben kann, sich anderen Menschen zuzuwenden.
Wie geht es Ian heute? Er nimmt sich als Mensch wahr, der gute soziale Beziehungen hat. Aber aktuelle Krisen führen durchaus dazu, dass er sich zwischenzeitlich doch mal einsam fühlt. Während der Coronapandemie sah Ian über Monate hinweg kaum einen Menschen. Dabei waren die ersten drei Monate entschleunigend. Es war schön, nicht in die Uni gehen zu müssen und Zeit zu Hause zu verbringen. Auch ich erinnere mich an die erste Phase der Pandemie: Waldspaziergänge, Bananenbrot und YouTube-Yoga. Mal nett, nichts zu müssen. Keine »Fear of missing out«, stattdessen eine ganz klare Liaison mit der eigenen Jogginghose. Doch dann kam der Winter und brachte neben kühleren Temperaturen einen nicht enden wollenden Lockdown mit sich, der das Gefühl von Einsamkeit unter den Weihnachtsbaum legte. So ging es auch Ian: »Da kam diese Zeit, in der sich alle zurückzogen. Ich habe mich dann wieder so einsam gefühlt wie früher. Dann, nach dem Winter, habe ich mich langsam doch wieder mit einzelnen Menschen getroffen. In dieser Phase hat selbst der introvertierteste Mensch – und dazu zähle ich mich – gemerkt, dass man mal soziale Kontakte braucht.«
Was dann passierte, beschreibt Ian als spannende Entwicklung in seinem Leben: »Wir haben plötzlich alle angefangen, darüber zu sprechen, wie es uns geht. Tiefe Gespräche. Da ist so eine Coolness von einem abgefallen.« Ian bestätigt das, was die Einsamkeitsforschung uns sagt: Wir brauchen vor allem emotional tiefe Beziehungen zu anderen Menschen.
Ian schaut heute aus einer anderen Perspektive auf seine Vergangenheit und hat eine gute Erklärung dafür gefunden, warum sich manche Menschen einsam fühlen: Jeder braucht Leute, die zu einem passen. Und die muss man erst mal finden. Gar nicht so einfach, vor allem, wenn man eher introvertiert oder schüchtern ist. Für einen einzelnen Menschen kann es schwierig sein, ein passendes soziales Biotop zu finden. Ian sieht darin auch eine gesellschaftliche Aufgabe: »Gerade Kinder und Jugendliche benötigen Unterstützung von anderen Menschen, um ihre eigene Identität zu entwickeln und ein Umfeld zu finden, in dem es für sie leicht ist, durch ihre Talente oder Interessen auf Wertschätzung zu stoßen.«
Dann plötzlich – Nudeln! Ian springt auf, läuft zu dem zischenden Gefäß, ich sehe, wie Wasser aus dem Topf auf die Herdplatte läuft. »Alles unter Kontrolle«, ruft Ian und kommt einige Augenblicke später mit einem Teller voller Spaghetti wieder. Erst mal Parmesan, bevor Ian weiterberichtet.
Er hat noch etwas beobachtet: »Oft ist man ja in Strukturen eingebettet, die man sich nicht aussuchen kann. Schule, Familie, Nachbarschaft. Manchmal passt man mit seinen Interessen und Neigungen nicht so gut in seine Umgebung. Und wenn man nicht die positive Erfahrung macht, dass es auf dieser Welt doch Leute gibt, die ähnlich ticken, dann zieht man sich irgendwann in sich zurück. Weil man nur erlebt, dass man anders ist.« Fröhlich sticht er mit seiner Gabel in den Teller Nudeln. Soße? Überbewertet! Außerdem muss es heute schnell gehen, und die belgische Wohnraumküche bietet nicht viel Luxus zum Kochen ausgedehnter Mahlzeiten: »Ich habe gleich noch ein virtuelles Meeting mit anderen Weltraum-Leuten, wir hängen da zusammen ab.«
Von Ian lerne ich: Einsamkeit hängt stark mit den Beziehungserfahrungen zusammen. Haben wir gelernt dazuzugehören, oder werden wir ausgeschlossen? Das prägt uns!
Ein anderer Mensch, mit dem ich mich entschlossen habe, über Einsamkeit zu sprechen, ist Nia. Sie ist Mitte zwanzig, lebt in einer größeren Stadt in Deutschland und fasst hier gerade in einem sozialen Heilberuf Fuß. Nia sitzt gemütlich in ihrer von Pflanzen überwucherten Wohnung auf einem Stuhl vor ihrem Bildschirm. Verknotet und kreativ. Bevor wir miteinander ins Gespräch kommen, sendet sie mir zwei Mindmaps zu, mit allem, was ihr zum Thema Einsamkeit eingefallen ist. In zwei verschiedenen Handschriftarten stehen dort Fragen wie »Fühlen sich Schneeflocken einzigartig?« aber auch ein Zitat aus dem bekanntesten Kinderbuch von Charlie Mackesy: »Eine unserer größten Freiheiten liegt darin, wie wir auf Dinge reagieren.«[1]
Wenn sich Nia an ihre Kindheit erinnert, dann fährt sie in Gedanken eine lange Straße hinauf, bis auf einen Berg, auf dem sich ihr Haus damals befindet. Direkt am Waldrand. »Ich kenne den Wald wie meine Westentasche«, erzählt Nia. Sie spricht langsam, denkt über jeden Satz nach, den sie formuliert. Nia erinnert sich an ihre Vergangenheit. Sie findet früh Freundschaften – und fühlt sich doch immer »anders« als alle anderen. Leiser. Sie mag die Ruhe. Klavier spielen, malen, den Wald erkunden, das gefällt Nia viel mehr als wilde Spiele mit anderen Kindern. »Wenn ich an den Kindergarten oder an die Schule denke, dann war es mir dort viel zu laut. Zu viele Kinder, Lärm, ich habe immer sehr sensibel auf meine Umgebung reagiert.« Sie zieht sich zurück und schafft sich eine, die ruhiger ist als ihre Umgebung da draußen. Inmitten von Laubbäumen und Klavierpartituren begegnet ihr aber auch das Gefühl von Einsamkeit. »Wenn ich anderen Menschen gesagt habe, dass es mir zu laut ist und die dann geantwortet haben, dass das so nicht stimmt, hat mich das einsam gemacht. Ich habe gelernt, dass die Art, wie ich meine Umgebung und Sinnesreize wahrnehme, nicht zu stimmen scheint und in Frage gestellt wurde.« Nia nimmt daraus mit, dass sie zu sensibel ist und sich nicht so anstellen soll. In ihr entsteht das Gefühl, anders zu sein als alle anderen – wie bei Ian. Und ähnlich wie ihn erfasst sie das Gefühl von Einsamkeit meistens dann, wenn sie sich in einer Gruppe von Menschen aufhält.
Zu Hause, da gibt es viele Möglichkeiten, um dem Gefühl zu entfliehen. Musik hören oder machen, zeichnen. Ihr Zufluchtsort ist bis heute die Natur geblieben. »Denn, in der Natur, da wird man nicht in Frage gestellt. Man wird nicht gesehen, aber man wird auch nicht übersehen.« Doch auch wenn Nias Kindheit aus Spaziergängen im Wald und musikuntermalten Phantasiewelten besteht, fehlen ihr andere Menschen, die ihr ähnlich sind. Sie wünscht sich Freundschaften. Nur eben in leiser Sprache. Während die Welt um sie herum weiterhin laut und wild bleibt, formen sich immer mehr Gedanken in ihrem Kopf, die ihre Art zu fühlen zunehmend in Frage stellen. Nia denkt, für Beziehungen zu anderen Menschen nicht auszureichen, und entwickelt Ansprüche an sich selbst: »Ich habe geglaubt, ich muss achtsam, liebevoller und besser werden, damit man mich endlich mal mag«, erzählt sie. Das erzeugt Druck. Als junge Erwachsene beginnt sie dann zu tanzen und stößt hier auf Gleichgesinnte. Sie entdeckt Menschen, die zu ihr passen. Nia beschreibt die Menschen aus ihrer Tanzszene als »einzigartig wie Schneeflocken, aber auch ziemlich ähnlich«.
Was meint Nia, könnte helfen, um Einsamkeit zu bekämpfen? »Wir müssten enttabuisieren, dass Menschen sich auch mal einsam fühlen. Und dass sie dann nach Hilfe fragen. Denn dafür braucht man ganz schön viel Stärke.« Auch der Autor Daniel Schreiber formuliert in seinem Buch Allein, dass Einsamkeit häufig stark tabuisiert wird. Wer einsam ist, erlebt das fast schon als ein persönliches Scheitern[2].
Doch Nias Erfahrung mit Einsamkeit macht sie auch zu Expertin in Krisenzeiten: »Während der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass sich viele Menschen das erste Mal mit dem Thema beschäftigen. Ich selbst habe mich total erfahren gefühlt und dachte nur: ihr Anfänger!« Als Nia mir das erzählt, lacht sie. Stimmt, das wollte sie eigentlich auch noch auf ihre Mindmap schreiben.
Einsamkeit hat viele Gesichter. Ian und Nia sind zwei davon. Ihre Erfahrungen decken sich mit Erlebnissen, von denen auch andere Klientinnen oder Freunde berichten und die ich selbst aus meinem Leben kenne. Halten wir fest: Einsamkeit kennen viele von uns besser, als wir vor anderen zugeben würden. Und auch das Gefühl, komisch, anders oder unausstehlich zu sein, kommt vielen von uns bekannt vor. Vielleicht könnte es fast schon eine kleine Revolution gegen die Stille sein, wenn wir lernen, genau darüber miteinander zu sprechen.
Persönliche Erfahrungen sind essenziell, wenn wir Einsamkeit begreifen wollen. Aber auch der Blick in die Wissenschaft hilft uns, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Einsamkeit besser zu verstehen. Einsamkeit ist ein verbreitetes Phänomen – und ermöglicht dadurch flächendeckende Studien.
Wie einsam sind die Menschen in Deutschland? Anruf bei Dr. Theresa Entringer. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und untersucht dort Persönlichkeitseigenschaften und deren Entwicklung, aber auch Aspekte psychischer Gesundheit. Sie erforscht außerdem die Einflüsse der Coronapandemie auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit in Deutschland. Ich spreche im November 2022 mit ihr und frage nach: Wie einsam sind wir?
Erst mal: Einsamkeit zu untersuchen, ist schwierig. Es gibt keine normierte Viruslast für dieses Gefühl. Hinzu kommt, dass Faktoren wie soziale Normen, soziales Leben, Digitalisierung und die individuelle Lebensumgebung unser Einsamkeitserleben beeinflussen. Um zu erfassen, wie einsam wir uns fühlen, stellen Theresa Entringer und ihre Kolleginnen ihren Studienteilnehmerinnen drei Fragen: Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Gesellschaft anderer fehlt? Wie oft haben Sie das Gefühl, außen vor zu sein? Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Sie sozial isoliert sind?[1] Während der Coronapandemie stiegen die Werte enorm an.[2] Menschen fühlten sich deutlich einsamer als in den Vorjahren. Theresa Entringer konnte messen, dass dieser Trend nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen rückläufig war: »Wir haben über den Sommer 2020 immer wieder Daten erhoben und festgestellt, dass das Einsamkeitserleben in Richtung der Vorjahre ging. Es gibt noch keine gesicherten Daten, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Zahlen zum Ausgangsniveau zurückbewegen.« Eine sich steigernde »Einsamkeitspandemie«, die in den Medien oft beschrieben wird, ist anhand der Datenlage also nicht erkennbar.[3] Die Zukunft vorhersagen kann niemand. Dennoch ist es für Forscherinnen, die beispielsweise im Kompetenznetz Einsamkeit mitwirken, essenziell, die Entwicklung zu beobachten.