Mit 82 nach Berlin - Ursula Guthörl - E-Book

Mit 82 nach Berlin E-Book

Ursula Guthörl

0,0

Beschreibung

Als sich die lebenslustige Ursula mit Anfang achtzig entschließt, ihre Zelte in Luxemburg abzubrechen und nach Berlin zu ziehen, erntet sie Erstaunen und Anerkennung. Für die alterslose Frau, die neugierig auf die Zukunft ist, nie aufhört, Pläne zu schmieden, und sich optimistisch den Veränderungen des Lebens stellt, ist dieser Umzug nur eine weitere Aufbrucherfahrung in ihrem erkenntnisreichen Leben. In Form eines Tagebuchs beschreibt Ursula den Abschied von Luxemburg sowie ihren neuen Lebensabschnitt in Berlin und lässt dabei ihre Gedanken immer wieder auch in die Vergangenheit schweifen. Ursula blickt zurück auf ihre Begegnungen mit der Liebe, betrachtet das Leben und die Menschen, die ihren Lebensweg gekreuzt haben, und reflektiert darüber, wie sehr die indische Philosophie ihr Denken und ihr spirituelles Sein geprägt hat. Die Lebensfreude, die in Ursulas Worten und Schilderungen steckt, ist geradezu ansteckend. Wer die Ansicht vertreten sollte, dass man mit achtzig zum "alten Eisen" gehöre und Veränderungen scheuen müsse, wird eines Besseren belehrt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 294

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Weitere Publikationen der Autorin:

„Mein Hindu-Sohn“

(Frieling-Verlag Berlin, 2024)

„Abhärtungen und Freuden“

(Frieling-Verlag Berlin, 2023)

„Körbe in Kampen“

(Frieling-Verlag Berlin, 2023)

„Die Erde hängt an einem Faden“

(August von Goethe Literaturverlag, 2023)

„Tanz um den Göttelborn“

(novum Verlag, 2022)

„Zeichen und Gnade“

(edition sawitri, 2021)

„Wasser-Morgen oder Intuition und Liebe“

(Edition Göttelborn, 2005)

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Am 15. 5. 2014 schrieb ich in mein Tagebuch

21. 5. 14

22. 5. 14

1. 6. 14

8. 6. 14

9. 6. 14

21. 12. 1981

11. 6. 14

22. 6. 14

29. 6. 14

Mit 78 Jahren 2. 8. 2014

Die Maid auf der Düne 2. 8. 2014

26. 11. 15

5. 12. 15

Mittwoch

13. 12. 15

14. 12. 15

10. 1. 2016

12. 1. 16

16. 1. 16

Der Zahn der Zeit (22. 12. 2015)

30. 1. 16

1. 2. 16

9. 3. 2016

24. 5. 2016

7. 11. 2016

8. 3. 2017

5. 6. 2017

13. 5. 17

13. 5. 17

3. 6. 17

4. 6. 17

4. 6. 17

23. 6. 2017

1. August

2. August

3. August

9. August

24. September 2017

30. September 2017

14. 11. 2017

Untergang der Erde

25. 12. 2017

1. 1. 2018

13. 4. 2018

18. 4. 2019

22. 4. 2019

30. 4. 2019

2. 5. 2018

9. 5. 2018

29. 5. 2018

2. 6. 2018

10. 6. 2018

27. 6. 2018

28. 6. 2018

9. 7. 2018

7. 8. 2018

10. 8. 2018

11. 8. 2018

12. 8. 2018

1. 9. 2018

2. 9. 2018

4. 9. 2018

5. 9. 2018

18. 9. 2018

26. 9. 2018

4. 10. 1018

10. 10. 2018

3. 11. 2018

4. 11. 2018

23. 11. 2018

28. 11. 2018

30. 11. 2018

17. 3. 2019

18. 3. 2019

31. 3. 2019

24. 2. 2019

2. 4. 2019

27.4.2019

April 2019

27. 10. 2019

21. 11. 2019

VORWORT

Mit 77 habe ich beschlossen, im Alter von 80 von Luxemburg nach Berlin zu ziehen, denn dann wird, falls alles gut geht, meine neue Eigentumswohnung bezugsfertig sein. Ich (be)wundere mich selbst ein bisschen, wie es meine Entschlusskraft geschafft hat, besorgtes, träges Anhaften zu überwinden, um nach über 50 Jahren Gewohntes und Bequemes hinter mir zu lassen. Geholfen haben mir wahrscheinlich frühere Aufbruchserfahrungen, wenn ich fast keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere mehr sah.

Mit 22 Jahren kündigte ich nach vier Jahren meine schlecht bezahlte Stelle bei einer französischen Bank in Saarbrücken, um als „Mother’s help“ in London besser Englisch zu lernen. Ich hatte den Plan, Flugbegleiterin (damals: Stewardess) zu werden. Das verwirklichte sich (zum Glück) nicht, weil sie mich zu klein und meine Handgelenke zu schwach fanden. Als Trost sagte die Prüferin: „Sie haben eine künstlerische Begabung.“

Damit konnte ich wenig anfangen und bewarb mich bei den Röchling’schen Eisen- und Stahlwerken in Völklingen als Betriebssekretärin in den Kohlenwertstoffbetrieben. Mein ehemaliger Chef bei der Bank hatte mir diesen Tipp gegeben und für mich im Personalbüro angerufen. Ich hätte auch als seine Sekretärin bei der Dresdner Bank anfangen können, doch Bank interessierte mich nicht mehr. Außerdem rauchte Herr Hell Zigarre, was ich schlecht vertrug, so sympathisch er mir sonst war.

Die Völklinger Hütte hatte einen gewissen Nimbus damals im Saarland. Fünf Jahre erduldete ich das Martyrium in dieser belastenden, stinkenden Dreckschleuder, und saß abends meistens zu Hause deprimiert bei meinen Eltern herum, weil ich in unserem kleinen Industrieort Göttelborn keinen Freundeskreis hatte und einige Liebesbeziehungen auch nicht von Dauer waren. Mit 25 Jahren dachte ich, mein Leben wäre ohne Perspektive, und ich spielte mit dem Gedanken, es wegzuwerfen. Doch das hätte ich meinen Eltern nicht antun können. Außerdem hielt ich es für Sünde. Über diese Phase meines Lebens habe ich bereits geschrieben. Sie ist ferne Vergangenheit.

Ungefähr ab 29 hat sich das Blatt zum Glück gewendet, als ich nach Luxemburg auswanderte. Von 1966 bis 1998 war ich sozusagen „Beamtin auf Lebenszeit“ bei der Europäischen Kommission. Dort kamen mir nun meine französischen und englischen Sprachkenntnisse zugute.

Im Großherzogtum habe ich mich weiter bemüht, die wahre Liebe zu finden, jedoch vergebens. Die ist mir erst im Alter von 44 in Pondicherry (Südindien) begegnet. Leider starb mein jordanisch-palästinensischer Liebster bereits eineinhalb Jahre später mit 30 Jahren durch Ertrinken im Indischen Ozean. Ich blieb also Single. Ein anderer Mann, den ich auf allen Ebenen akzeptieren und lieben konnte, ist mir nicht ein zweites Mal begegnet. Scheinbar hast du jetzt andere Aufgaben während dieser Lebensphase zu erfüllen, dachte ich und nahm sie wohl oder übel bereitwillig an.

Der Aufbruch nach Südindien veränderte mein Dasein grundlegend. Nach dem Tod meiner Mutter entwickelte sich meine innere spirituelle Neigung immer mehr. Sie brachte mich in Kontakt mit dem „Yoga“ (ich würde ihn eher Philosophie nennen) von Sri Aurobindo und Mirra Alfassa. Also nahm ich mir einen unbezahlten Urlaub von drei Jahren bei der Europäischen Kommission und begab mich 1980 zum ersten Mal nach Auroville und Pondicherry in Südindien. Darüber habe ich ein Buch mit dem Titel „Wasser-Morgen“ geschrieben und im Selbstverlag veröffentlicht.

Weil ich Berlin recht interessant finde und auch einige Freundinnen und Freunde dort leben, hat mir meine Intuition eingegeben zuzugreifen, als mir Barbara ein neues Bauprojekt an der Spree zeigte. Ich fackelte daher nicht lange und unterschrieb den Kaufvertrag. Ein wenig besorgt war ich allerdings, als ich den Tank einer Heizölfirma schräg hinter meiner zukünftigen Wohnung sichtete. Als ich näher daran vorbeiging, stieg ein Hauch von Heizöl in mein geruchsempfindliches Näschen. Angesichts der zahlreichen Vorteile des Bauprojektes am Goslarer Ufer wischte ich jedoch diesen Nachteil kurzentschlossen beiseite. Schließlich rieche ich in Luxemburg auch manchmal das Benzin der Flieger, die vom nahen Flughafen (ca. 3 km entfernt) aufsteigen. Auch der Autolärm am frühen Morgen stört mich zunehmend. Also die eierlegende Wollmilchsau gibt es nicht.

Gegen Ende 2016 ist die Fertigstellung der Gebäude geplant. Nun braucht es noch ein wenig Geduld und Spucke, bis ich meine neue Heimat – sozusagen als Alterssitz – erobern oder eher gewinnen kann. Luxemburg ist mir nach 50 Jahren langweilig geworden, und ich habe ein Gefühl, als ob ich noch einen Aufbruch und neue Erfahrungen in einer andern Umgebung brauche. Außer Emmy habe ich keine engeren Freundinnen im Großherzogtum. Im allmählich ansteigenden Alter würde ich im Großherzogtum zur Einsiedlerin mutieren. Falls irgendwann mein Führerschein nicht mehr verlängert würde, könnte ich mich nicht mehr frei bewegen und meine Besorgungen machen. Luxemburg ist in dieser Hinsicht weniger großzügig als Deutschland, wo man unbegrenzt vom Alter Auto fahren darf.

In eine Pflegeeinrichtung würde ich auch nur mit größtem Widerwillen einziehen. Meine fast vegane Ernährungsweise könnte ich dort wohl kaum durchziehen. Auch die ständige Gefahr, vom Personal oder von Mitbewohnern im Zimmer überrascht zu werden, würde ich schlecht ertragen. Deshalb muss ich Vorkehrungen treffen, solange ich körperlich noch in der Lage dazu bin. In Berlin scheint es auch relativ einfach zu sein, sich, falls notwendig, in der eigenen Wohnung betreuen zu lassen. Die Berliner Wohnung würde sich, im Gegensatz zur Luxemburger Behausung, gut für fremde Pflegekräfte eignen.

In der Zwischenzeit versuche ich nun, die Erfahrungen beim Wohnungsbau aufzuschreiben. Auf diese Weise langweile ich mich nicht während der Wartezeit, und für andere Menschen könnte mein Beispiel vielleicht ebenfalls aufschlussreich sein. Wenn ich Leuten von meinem Umzugsvorhaben mit 80/81 nach Berlin erzähle, sehe ich Erstaunen und eine gewisse Anerkennung dieser späten Initiative in ihren Augen. Die meisten hätten scheinbar nicht mehr die Traute dazu, im höheren Alter ein solch anstrengendes Projekt in Angriff zu nehmen.

Mir ist bewusst, dass sich Verlage nicht gerade um unbekannte alte Autoren reißen. Darum kümmere ich mich jedoch nicht, wenn die Lust zum Schreiben über mich kommt. Immerhin habe ich kürzlich im Radio gehört, dass Filme und Bücher über und von Menschen fortgeschrittenen (fortschrittlichen?!) Alters immer gefragter und erfolgreicher werden. Das klingt ja nicht schlecht. Wahrscheinlich kaufen ältere Semester mehr Gedrucktes als junge. Wer weiß, was der Kosmos – oder wer auch immer – für mich noch in petto hält?

Schon in jungen Jahren hatte ich die vage Ahnung, dass ich erst im hohen Alter meine Bestimmung erreiche. Also creme und massiere ich tapfer meine Falten und halte mein Gewicht unter 50 kg, damit ich auch äußerlich fit und halbwegs ansehnlich bleibe, sollte mich der schriftstellerische Erfolg wider alle Vernunft im Greisenalter doch noch überraschen. Wenn nicht, verlasse ich meinen Körper wenigstens mit dem Gefühl, mein Möglichstes getan zu haben. Auf der anderen Ebene sind die irdischen Erfahrungen und Resümees vielleicht auch nicht ganz ohne Sinn, und im nächsten Leben könnte ich eventuell darauf aufbauen. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich allerdings das Abenteuer „Erde“ lieber nicht erneut absolvieren, da die Zukunftsaussichten für unseren Planeten nicht gerade rosig sind.

Die Umsiedlung nach Berlin erscheint mir außerdem in gewisser Weise wie eine Vorübung zum endgültigen Abgang von der irdischen Bühne. Das Anhängen an der Materie und an Gewohnheiten sollte man überwinden, um gut vorbereitet, mit leichtem Gepäck, in der jenseitigen Welt einzutreffen und ohne allzu langes Herumirren den richtigen Ort zu finden – vielleicht auch wiederzufinden. Bei dieser Gelegenheit bin ich auch gezwungen, meine Schränke zu entrümpeln. Dazu kann ich mich nur unter Druck überwinden. Im Grunde neige ich nämlich eher zum Horten und Bequemsein.

Das heißt allerdings nicht, dass ich so bald wie möglich die Erde verlassen möchte. 51 Jahre Luxemburg scheinen jedoch ausreichend für mich zu sein, obwohl es viele gute Möglichkeiten für ein bequemes Leben in diesem kleinen Ländchen gibt. Allerdings hat sich auch einiges zum Nachteil verändert. So ruhig und gemütlich wie in früheren Jahren ist es nicht mehr. Die ganze Stadt ist eine Baustelle, und der Autoverkehr hat stark zugenommen, sogar auf der Nebenstraße vor meiner Wohnung in Senningerberg. In die Innenstadt fahre ich nur noch per Bus, wenn es unbedingt notwendig ist. Das Auto parke ich außerhalb auf dem Kirchberg.

Also breite ich nach und nach meine Flügel aus und stelle mir vor, ab Herbst 2017 (inzwischen wurde die Fertigstellung der Wohnung um ein Jahr verschoben) in Berlin gut gelaunt in die Sonne zu blinzeln, anstatt traurig im Regen zu stehen und mich in Luxemburg nur noch mit den Alters-Zipperlein zu beschäftigen. Um diesem Ziel nach und nach näher zu rücken, bin ich am 9. Mai wieder für 12 Tage in die Hauptstadt geflogen. Ich wusste natürlich, dass die Baugenehmigung für das Goslarer Ufer 1 immer noch nicht die letzte Unterschrift aufwies, wollte mich jedoch selbst vom Zustand des Grundstücks überzeugen. Ich wanderte zu Fuß hin und sah außer einigen Aufräumarbeiten keine Zeichen eines Baubeginns. Auch mein Anruf bei Project-Immobilien brachte nichts Neues. Also hatte ich Zeit, intensiv den Kontakt mit meinen Freundinnen und Freunden zu pflegen und kulturelle Angebote zu nutzen.

Am 15. 5. 2014 schrieb ich in mein Tagebuch:

Heute, um 12.30 Uhr, treffe ich Ruth am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Barbara, die nicht weit von meinem Hotel wohnt, traf ich bereits mehrmals. Am Sonntag haben wir einen Flohmarkt zusammen besucht. Ich spiele mit dem Gedanken, meine Massen an Kleidungsstücken, die ich seit langem nicht mehr trage, dort zum Kauf anzubieten, sollte ich tatsächlich ab Herbst 2017 in Berlin wohnen. Alle meine Schätzchen finde ich hübscher und tragbarer als die Brocken, die ich auf dem Flohmarkt gesichtet habe. Ich jedenfalls hätte mir nichts davon kaufen wollen. Außerdem sind meine Sachen aus natürlichen Materialien. Synthetik dulde ich nicht auf meinem Körper.

Barbara kutschierte mich mit dem Auto herum. Ein Auto möchte sie in Berlin nie entbehren, meinte sie. Wenn ich bezweifle, dass ich in Berlin einen Benzinstinker besitzen möchte, rät sie mir unbedingt von diesem Verzicht ab. Sie schlug vor, dass Wolfgang, ihr Mann, mein Auto 2017 von Luxemburg nach Berlin fahren würde. Da ich mir – unter anderem aus Kostengründen – keine Garage mitgekauft habe, würde das Auto dann in jedem Wetter im Freien auf der Straße stehen. Es wäre allerdings eine Umstellung für mich, meine Einkäufe ohne Auto zu bewerkstelligen. Aber wahrscheinlich wäre es sogar billiger, für jeden Einkauf ein Taxi zu rufen, als einen Privatwagen zu unterhalten. Außerdem müsste ich mich um nichts kümmern. Immerhin werde ich dann über 80 sein und allmählich etwas schwächer werden. Ruth sagte auch, dass die meisten Läden nach Hause liefern. Die Bioläden, bei denen ich nachfragte, antworteten allerdings, dass sie das nicht tun.

Zu Ruth in Kreuzberg fuhr ich heute per Taxi. Der Fahrer war sehr sympathisch und gebildet. Wir führten ein angeregtes Gespräch miteinander. Außerdem sah er recht interessant aus, so als wäre das Taxifahren auch nicht sein ursprünglicher Traumberuf gewesen. Er verlangte 17 Euro, und ich gab ihm 18. Die Entfernung von Charlottenburg bis Kreuzberg ist ziemlich groß. Ich fand den Preis nicht unverschämt. In Berlin habe ich bis jetzt nur gute Erfahrungen mit Taxifahrern gemacht. Wenn ich mich verabschiede, bin ich immer ein bisschen traurig, diesen angenehmen Menschen nie mehr wiederzusehen.

Während ich auf Ruth am Kottbusser Tor auf der Straße wartete, beobachtete ich die Menschen. Der Unterschied zwischen Charlottenburg und Kreuzberg ist markant. In Kreuzberg fühle ich mich ein wenig wie in einem orientalischen Land. Die deutsch aussehenden Leute wirken oft ziemlich abgehärmt, ärmlich, ja sogar kränklich.

Ruth führte mich in ein ayurvedisches Restaurant. Eigentlich wirkt es eher wie eine Kantine. Dort sahen die Menschen intelligent und bewusst aus. Man kann dort nicht nur essen, sondern auch alle möglichen ayurvedischen, vorwiegend asiatischen Lebensmittel einkaufen. Die Location wird, wie es scheint, nur von Insidern frequentiert, die sie durch Mundpropaganda weiterempfehlen. Von außen gab es keinen Hinweis auf ein Restaurant und einen Laden. Die Atmosphäre ist sympathisch und vertrauenerweckend. Es gibt täglich nur ein Gericht. Heute bestand es aus einer Art Nudelsuppe mit Spinat, Kräutern und Tofu. Als Vorspeise servierte man in Reispapier gewickelte Rohkost und zum Nachtisch einen kleinen Pudding. Zu trinken gab es Ingwertee.

Nach dem Essen saßen wir noch eine Weile und besprachen unsere Probleme. Ruth fühlt sich durch den unerledigten Nachlass von ihrem verstorbenen Liebsten Joachim stark belastet. Inzwischen ist sie allerdings so weit, dass sie etwas Abstand davon nimmt und einsieht, dass sie den angefangenen Umbau des Dachgeschosses in dem Haus, wo Joachim außerdem eine kleine Wohnung besaß, unmöglich vollenden kann. Sogar Joachim hatte das Ganze satt, weil es ihm über den Kopf wuchs und die Behörden Probleme wegen des Brandschutzes machten. Erben wird Ruth sowieso nichts. Joachim hatte zusammen mit einigen Bekannten einen Verein zur Fertigstellung dieses Projekts gegründet. Die unfertigen Wohnungen sind also im Besitz dieses Vereins. Alleiniger Geldgeber war allerdings Joachim. Möglicherweise wollte er durch dieses Arrangement Steuern sparen. Ruth ist inzwischen Vorsitzende dieses Vereins.

Sie nahm mich mit in seine Wohnung. Sie ist nicht groß, wirkt aber hell und freundlich. Wir sahen uns seine Bibliothek an. Ruth schlug vor, dass ich mir etwas als Andenken aussuche. Ich nahm mir eine kleine Compilation „On Women“ und ein Drama „Eric“ von Sri Aurobindo sowie ein Buch „Kreatives Schreiben lernen“ mit. Dort standen auch meine eigenen Bücher, die ich Joachim geschenkt hatte. Ruth nahm sich mein „Wasser-Morgen“ mit. Sie zeigte mir auch das Dachgeschoss. Ich erschrak ein wenig, als ich sah, in welch schlechtem, unfertigem Zustand es noch war. Anschließend begaben wir uns in einen Bioladen mit Restaurant, wo wir Tee tranken und Schwarzwälderkirsch aßen. Das Mittagessen hatte nicht lange satt gehalten.

Ruth und ich hatten viel zu besprechen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir Freundinnen bis an mein Lebensende bleiben. Sie ist ja 28 Jahre jünger als ich. Unterwegs kamen wir an einer imposanten roten Kirche vorbei und verspürten den Wunsch, sie von innen zu sehen. Sie ist ein idealer Raum für Konzerte. Viele Veranstaltungen wurden angezeigt. Die Gottesdienste stehen, wie mir scheint, nicht mehr im Vordergrund. Als wir, wieder ohne zu suchen, vor einer Toilette standen, nutzten wir die Gelegenheit zur Erleichterung.

Wir durchquerten einen alten Friedhof und standen plötzlich vor den Gräbern von Felix Mendelsohn-Bartholdy und seiner Frau Fanny Hensel und ihrem Vater. Alle starben jung. Felix wurde nur 38 und Fanny 42 Jahre alt. Er starb nur einige Monate nach ihr. Ich wunderte mich wieder, wie Menschen es schaffen, in einem solch kurzen Leben einen so großen Ruhm zu erlangen. Schließlich wanderten wir zur U-Bahn, wo ich die Nr. 1 bis Uhlandstraße auf dem Ku-Damm nahm.

Ich hatte mir den Plan, wie ich ohne Umsteigen zu meinem Hotel gelange, angeschaut. Es sah so aus, als wenn man durch die Uhlandstraße sehr schnell in die Goethestraße gelangt. Auf dem Ku-Damm fand ich die Abzweigung der Uhlandstraße jedoch nicht und wechselte die Richtung, lief an der Gedächtniskirche und dem Kino Zoopalast vorbei, bis ich die Kantstraße erreichte und schließlich in die Uhlandstraße einbiegen konnte. Diese Gegend war mir bekannt, doch ich benötigte mindestens eine Dreiviertelstunde und schleppte schwere Taschen, weil ich noch einige Lebensmittel eingekauft hatte. Jedenfalls war ich froh, als ich endlich meine Zimmertür aufschloss.

21. 5. 14

Heute Abend um 18.00 geht mein Flug zurück nach Luxemburg. Um zwölf musste ich das Zimmer räumen. Die Koffer stehen an der Rezeption, und ich sitze nach einem Spaziergang durch die Knesebeck- und Grolmannstraße im Eiscafé Allegretto. Ich lese in Christina Kesslers Buch „Wilder Geist – Wildes Herz“ folgenden Satz: „Das Typische am Leben ist, dass es immer weitergeht“, und mir fallen die Zeilen eines Liedes ein, das ich als junge Frau geschrieben habe, und zwar:

Immer weiter geht das Leben,

Niemand weiß für wie lang.

Doch was nützt dir alles Streben,

Ist dein Herz immer bang?

Freu dich nur, freu dich nur

Jeden Tag, jeden Tag,

Weil du da bist,

Und halt sie zurück deine Klag.

Refrain:

Manches scheint am Anfang schlecht,

Aber siehst du näher hin,

Ist es dir im Grunde recht,

Alles liegt noch drin.

Glaube nicht, dass du alleine

Immer Glück haben musst.

Lache nur, doch nicht zum Scheine,

Sei dir immer bewusst:

Alles kommt, alles geht,

Alles kommt, alles geht.

Neuer Mut gibt dir Kraft.

Es ist niemals zu spät.

Refrain:

Manches scheint am Anfang schlecht,

Aber siehst du näher hin,

Ist es dir im Grunde recht.

Alles liegt noch drin.

Mit solchen Liedtexten und Gedichten habe ich mich in der Jugend selbst getröstet und mir Mut gemacht. Andernfalls hätte ich meinen Körper wahrscheinlich nicht bis zum 79. Lebensjahr behalten.

Auf dem Bürgersteig vor dem Eiscafé hielt ich es in der prallen Sonne nicht mehr aus. Daher habe ich mich jetzt in der Bio-Bäckerei niedergelassen und trinke einen frisch gepressten O-Saft. Um drei kommt Barbara, um tschüss zu sagen. Um vier möchte ich am Flughafen eintreffen.

Noch immer hat mich Project-Immobilien nicht vom Baubeginn unterrichtet. Diesen Berlin-Besuch habe ich also ausschließlich meinen Freundinnen gewidmet. Unsere Treffen sind harmonisch verlaufen. Nur die Fahrt mit der s-Bahn nach Köpenick wurde durch irgendwelche Probleme zweimal unterbrochen. Anstatt bis Ostkreuz durchzufahren, forderte uns eine Lautsprecherstimme auf, den Zug bereits in Ostbahnhof zu verlassen und im Pendelverkehr weiterzufahren. Die Wartezeit auf dem Bahnsteig war ziemlich lang.

Kurz nach Ostkreuz stockte der Zug erneut, und es hieß, dass die Fahrt bis auf unbestimmte Zeit durch ein Problem unterbrochen sei. Ich rief Elke (bereits zum zweiten Mal) an. Sie riet mir, mit der Straßenbahn weiterzufahren, was ich auch tat. Es klappte gut. Die Fahrt dauerte jedoch ziemlich lang. Als ich etwas ratlos vor dem Fahrkartenautomat stand, kam ein Mann und half mir. Diese spontane Hilfsbereitschaft berührte mich angenehm. Überhaupt erlebe ich die Berliner als recht freundlich. Eigentlich hätte ich kein neues Ticket kaufen müssen, weil alle Verkehrsmittel im Verbund sind. Ich war mir jedoch nicht sicher und wollte keine Strafe riskieren.

Alles in allem brauchte ich zwei Stunden von meinem Hotel bis zu Elkes Wohnung. Abends hatte ich keine Lust mehr auf eine erneute Himmelfahrt und gönnte mir ein Taxi. Elke meinte allerdings, dass es teuer würde. Ich war jedoch zu müde und wollte auch nicht spät im Hotel eintreffen, weil ich noch vorhatte zu kochen. Das Taxi kostete 36.80 Euro. Ich hatte mit noch mehr gerechnet. Der Fahrer war sehr freundlich und erklärte mir die interessanten Fabrikgebäude, an denen wir vorbeikamen. Sie wurden zum Teil schon vor dem Ersten Weltkrieg gebaut. Heute werden sie anders als ursprünglich genutzt.

Gestern fuhr mich Barbara nach Potsdam, ins holländische Viertel mit vielen Läden und Restaurants. Die Boutiquen haben mich enttäuscht, während Barbara alles toll fand. Allerdings kann sie wegen ihrer Pölsterchen solche Sachen nicht tragen. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass wir zum berühmten Schloss mit Park fahren, doch Barbara fand den Weg nicht dorthin und geriet in ziemliche Panik. Ich bereute bereits ein wenig, dass ich ihrem Vorschlag, nach Potsdam zu fahren, gefolgt war. Ich bin keine besonders unternehmungslustige Touristin. Barbara ist lieb und wollte mir etwas bieten. Schließlich waren wir wieder auf der Straße, auf der wir gekommen waren und machten am Wannsee halt. Dort fanden wir ein Gartenlokal am Wasser, wo wir uns entspannten und erholten. Der Ausflug war also doch erbaulich und keine Pleite.

Gerade sehe ich wieder zwei Frauen, die ihre dicken Wabbelhintern in hautengen weißen Hosen präsentieren. Ich verstehe das nicht. Ich selbst trage immer gern eine etwas längere Bluse, obwohl ich schlank bin. Möglicherweise sehen sich diese Frauen selbst mit total unkritischen Augen, sonst würden sie doch nicht unbedingt ihre unvorteilhaften Seiten betonen. Oder denken sie trotzig: Jetzt erst recht!

22. 5. 14

Nun bin ich auf dem Flughafen eingetroffen. Auf der großen Anzeigetafel vor der Eingangshalle war seltsamerweise kein Flug um 18 Uhr nach Luxemburg angezeigt. Mein Taxifahrer war wieder sehr nett und stieg sogar aus, um näher an die Tafel heranzugehen. Schließlich sah ich auf dem Ticket nach und stellte fest, dass der Flug erst um 20 Uhr ging. Ich schämte mich ein wenig. Ich hatte die Uhrzeit mit der Abflugzeit in Luxemburg verwechselt. Der Fahrer zeigte keine spöttische Miene.

Wir waren uns während der nicht sehr langen Fahrt richtig nahegekommen. Er erzählte mir, dass er Perser sei, aber schon ewig lange in Berlin lebe. Als er den Iran verließ, war die Bezeichnung „Perser“ noch üblich. Er hat Familie, einschließlich zwei Enkel, und hätte früher einen akademischen Beruf ausgeübt. Das scheint bei vielen Fahrern der Fall zu sein. Die Unterhaltungen mit ihnen sind fast immer recht interessant. Vor vier Jahren verlor er seine Arbeit im Umweltamt wegen mangelnder Finanzen und machte sich als Taxifahrer selbständig. Während seiner Tätigkeit im Umweltamt sei er meist draußen in der Natur unterwegs gewesen. Das habe seinem Wesen entsprochen. Schon während seines Studiums in Deutschland habe er sich sein Geld mit Taxifahren verdient. Er sei jetzt 68, erzählte er mir, und halte sich nach der Arbeit meist zu Hause auf. Berlin gefalle ihm sehr gut, und er fühle sich wohl in der Stadt. Als ich zu ihm sagte, dass ich die Taxifahrer in Berlin meist sehr intelligent finde, antwortete er, dass sie häufig studiert hätten.

Ich erzählte ihm auch von mir, dass ich eine Wohnung in Berlin gekauft habe und mit 81 nach Berlin ziehen würde. Darüber staunte er natürlich und machte mir Komplimente. Er ist ein sehr gut aussehender Mann, in den ich mich glatt hätte verlieben können. Als ich ausgestiegen war, winkten wir uns noch zu, und ich bereute ein wenig, dass ich ihm nicht meine Karte gegeben oder ihn nach Namen, Telefon- oder E-Mail-Nummer gefragt hatte. Vielleicht treffe ich ihn in Berlin ja einmal wieder, wenn ich ein Taxi rufe. Doch das ist eher unwahrscheinlich, es sei denn, eine höhere Kraft hilft mit.

Ich stelle fest, dass sich dieser Text immer mehr zu einem Loblied auf die Berliner Taxifahrer entwickelt. Bis jetzt hat auch noch keiner versucht, mich übers Ohr zu hauen. Vielleicht werde ich irgendwann ein Buch über die Taxifahrer in Berlin schreiben. Mir kommt in den Sinn, dass ich, sollte ich mich je in einigen Jahren in Berlin einsam fühlen, nur ein Taxi zu rufen brauche. Aber möglicherweise denken die dann: Was will die Alte von mir?

Im Flughafengebäude fand ich einen angenehmen Platz in einem Restaurant, wo ich mich entspannt niederließ und in mein Tagebuch schrieb. Nun wurde mir bewusst, dass meine Schusseligkeit keinen Nachteil, sondern eher einen Vorteil für mich nach sich zog. In der Stadt hatte ich recht lange im Bio-Café gesessen und keine Lust mehr, woanders hinzugehen. Ich holte also mein Gepäck im Hotel ab und fuhr zum Flughafen. Alles wurde perfekt von meinem weisen Inneren, das, wie mir scheint, mit den höheren Ebenen in Verbindung steht, organisiert. Mein äußeres Wesen irrt sich manchmal, empfindet aber Dankbarkeit, wenn am Ende doch alles perfekt korrigiert wurde. Ohne diese Verwechslung hätte ich auch nicht den liebenswürdigen Taxifahrer getroffen. Wenn ich nach meinem nächsten Berlin-Aufenthalt wieder um 20 Uhr nach Luxemburg zurück fliege, werde ich am Nachmittag eventuell in ein Kino gehen. Das habe ich bereits einmal getan.

Während ich im Bio-Café saß, rief mich Barbara an und kam kurz darauf per Fahrrad angeflitzt. Nach dem Irrtum mit der Abflugzeit überlegte ich später, ob ich ihr davon erzähle und dachte: eher nicht, weil sie mich dann womöglich für etwas senil hält. Doch dann habe ich es mir anders überlegt. Sie sagte, dass sie meinen Indientext bereits gelesen habe. Geäußert, ob sie ihn interessant findet, hat sie sich nicht. Möglicherweise wirkt er etwas befremdlich auf sie.

Im Flughafen beobachtete ich wieder meine Mitschwestern und stellte erneut fest, dass die Mehrzahl der Frauen figürlich unvorteilhaft gekleidet ist. Das ist wahrscheinlich die Schuld der Textil-Industrie. Qualität ist zweitrangig. Außerdem entwerfen die Designer Formen, die den Proportionen der weiblichen Körper wenig entsprechen oder sie zu stark modellieren. Die Käuferinnen wollen modisch aussehen und kaufen unkritisch das ein, was ihnen selten steht, finde ich. Aber vielleicht bin ich auch nicht mehr auf dem neuesten Stand, was die angesagte Mode betrifft. Alles darf scheinbar nicht mehr zu perfekt aussehen, sondern in erster Linie lässig oder körperbetont.

Gestern waren Barbara und ich zusammen im Kino am Kurfürstendamm. Yves St. Laurent hieß der Film. Die Schauspieler waren gut, ich habe jedoch Zweifel an der Authentizität der Geschichte. Freunde und Familie von St. Laurent sind wahrscheinlich nicht zufrieden mit dem Inhalt. Nach dem Kinobesuch lud ich Barbara in ein italienisches Restaurant mit dem Namen „Aida“ ein.

1. 6. 14

Heute ist der Geburtstag meiner Mutter Wilhelmine. Sie hat ihren Körper bereits im Alter von 59 vor 40 Jahren verlassen. Ich denke, dass sie keine Perspektive mehr für ihr Leben sah und es leid war, ständig allein im Haus zu sitzen, da sie auch keine Freunde mehr in Göttelborn hatte, während es mein Vater vorzog, seine Abende in der Kneipe der Eltern seiner Schwiegertochter zu verbringen. Dort spielte er meist Skat. Als er 84 war und bereits ein Bein wegen Durchblutungsstörungen verloren hatte, heiratete er die geschiedene Frau seines Sohnes, um ihr eine gute Witwenrente zu hinterlassen. Sie hatte es berechnend darauf abgesehen und alles dafür Nötige in die Wege geleitet.

Pflegen wollte sie ihn allerdings nicht. Da er in einem Pflegeheim lebte und gerade im Krankenhaus lag, weil sein zweites Bein auch noch amputiert werden sollte, bestand keine Gefahr für sie. Er starb jedoch vor der zweiten Amputation. Wie es scheint, waren die Gefühle meines Vaters für sie auch von männlicher Art. Als einzigen Entschuldigungsgrund für ihn kann ich allenfalls seine Liebe zu den zwei bereits erwachsenen Enkeltöchtern akzeptieren. Sein Sohn schien ihm egal zu sein. Da er vollkommen von der andern Familie beeinflusst war, gab er meinem Bruder alle Schuld am Schiefgehen der Ehe.

Kurz vor seinem Tod erhielten wir (mein Bruder und ich) die amtliche Mitteilung von unserer Enterbung. Das Haus war uns jedoch bereits vorher überschrieben worden, weil er sich nicht mehr darum kümmern wollte und konnte. Ich selbst lebte ja schon lange in Luxemburg und war gefühlsmäßig nicht mehr wirklich betroffen. Allenfalls wunderte ich mich. Mein Vater war meinem Herzen schon lange nicht mehr nahe. Als ich noch zu Hause lebte, stritten wir meistens miteinander. Er ging mir ziemlich auf die Nerven. Obwohl Mutter und ich uns liebten, war sie auch froh, als ich endlich mit 29 das Haus in Richtung Luxemburg verließ. Die ewigen Diskussionen zwischen Vater und Tochter musste sie nun nicht mehr ertragen. In Deutschland verdiente ich nicht genug, um mir eine annehmbare Wohnung leisten zu können. Außerdem war im Elternhaus genug Platz. In Luxemburg begann nun ein neues Leben für mich.

Wenn ich mit über 80 wirklich nach Berlin ziehe, werde ich über 50 Jahre in Luxemburg gelebt haben. In Berlin habe ich mehr Freunde als im Großherzogtum, wo ich im höheren Alter wahrscheinlich zur Eremitin werden würde. Wirklich integriert fühle ich mich in Luxemburg nicht, weil ich die luxemburgische sogenannte Sprache nicht lernen wollte. Sie liegt mir nicht. Auch deshalb hätte ich keine Lust, in ein luxemburgisches Seniorenheim zu ziehen, sollte ich irgendwann nicht mehr in der Lage sein, mich selbst zu versorgen. Die Atmosphäre in Berlin spricht mich mehr an. Nach einigen Besuchen habe ich bereits ein gewisses Heimatgefühl für Charlottenburg entwickelt.

In Christina Kesslers Buch lese ich folgenden Satz: „Im Licht der modernen Wissenschaften können wir mit Gewissheit sagen: Die Weltordnung bleibt hinsichtlich des moralischen oder unmoralischen Verhaltens von Individuen indifferent. Sie sympathisiert nicht, bevorzugt niemanden und bestraft nicht. Sie erfüllt einfach ihre Aufgabe: nämlich das Ganze ein Ganzes bleiben zu lassen.“

Gleichzeitig lese ich Sri Aurobindos Buch „The Life Divine“. Es widerspricht der These von Christina Kessler nicht, sondern bestätigt sie gewissermaßen. Ich hoffe, dass mein begrenzter Verstand mich nicht täuscht. Ich bin ja nicht akademisch gebildet, sondern habe mir meine Erkenntnisse selbst erarbeitet und erlebt. Ich lese Sri Aurobindos Werke mehr mit meinem intuitiven Verstand. Wegen Sri Aurobindo ging ich 1979 zum ersten Mal nach Südindien (Pondicherry und Auroville) und fand durch ihn all meine eigenen Gedanken und Erfahrungen bestätigt und entwickelte mich durch ihn und Mira Alfassa (Die Mutter), seine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin, hoffentlich noch ein bisschen weiter.

8. 6. 14

In Christina Kesslers Buch lese ich gerade über die Liebe. Sie schreibt zum Beispiel: „Liebe ist die implizite Ordnung, die den Kosmos organisiert und gleichzeitig die Dynamik erhält, die ihn bewegt.“

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Liebe wirklich das einzige ist, was zählt im Dasein – dem irdischen und dem jenseitigen. Sie wird einem geschenkt, wenn man sich ihr öffnet. Wir Menschen assoziieren die Liebe meist zu ausschließlich mit dem körperlichen Aspekt. Auch ich machte mich in der Jugend irgendwann auf die Suche nach der wahren Liebe zwischen Mann und Frau auf allen Ebenen. Aber jedes Mal, wenn ich glaubte, ein Zipfelchen erwischt zu haben, entzog es sich mir wieder. Alle Liebesbeziehungen endeten enttäuschend.

Mit ungefähr vierzig gab ich die angestrengte Suche auf und überantwortete die Angelegenheit einer höheren Instanz. Ein Spruch aus der Kirche kam mir wieder in den Sinn, obwohl ich mit Religionen eigentlich nichts mehr am Hut hatte: „Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt“. Es gefiel mir, nicht mehr alle Verantwortung und Mühe allein tragen zu müssen. Auf wunderbare Weise kam die Angelegenheit „Liebe“ jetzt ins Rollen.

In einem Buch las ich Folgendes: Man lege einen besonderen Stein auf den Kleiderschrank und stehe jede Nacht ohne Wecker auf, um den Stein einen Moment in die Hand zu nehmen und um sich etwas zu wünschen. Mein Wunsch war „Liebe“. Dieses Ritual verfolgte ich ausdauernd und gewissenhaft während rund acht Monaten. Ja sogar ins Krankenhaus nahm ich meinen Stein mit. Gleichzeitig fand ich diese Handlungen etwas kindisch.

Eigentlich führte ich sie einer Kollegin-Freundin zuliebe aus, die ursprünglich diese Idee hatte und ebenfalls jede Nacht einen Stein streichelte. Jeden Morgen erzählten wir uns im Büro, ob wir es nicht vergessen hatten. Diese Freundin war verheiratet und hatte eine Tochter. Später erfuhr ich, dass sie daran arbeitete, ihren Mann mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. Er selbst erzählte mir nach ihrer Scheidung, dass er im Keller überall Püppchen mit Nadeln gefunden hätte. Er überlebte jedoch und wurde auch nicht krank. Seine Ex-Frau war danach allerdings jahrelang in einem schlechten Gesundheitszustand.

Gleichzeitig las ich das Buch eines sogenannten tibetischen Lamas, in dem er erklärte, wie man mit dem subtilen Körper in höhere Welten aufsteigen kann durch gelenkte Meditation. Das faszinierte mich, und ich wollte es ausprobieren. Später hörte ich dann, dass dieser Lama ein Scharlatan wäre. Meiner spirituellen Entwicklung hat er allerdings nicht geschadet, im Gegenteil. Er scheint das richtige Instrument für meine Bewusstwerdung gewesen zu sein. Geholfen hat vielleicht auch, dass ich nicht fanatisch war und das Ganze mehr spielerisch ohne Erwartungen praktizierte.

Eines Nachts – ich hatte gerade meinen Stein in der Hand gehalten und Liebe gewünscht – lag ich wieder im Bett und stellte mir vor, jetzt den physischen Körper zu verlassen. Dann ging es auch schon los. Ohne Anstrengung stieg ich höher und höher. Ich war mir vollkommen bewusst, dass meine fleischliche Hülle auf dem Bett lag, während meine Seele, begleitet vom Verstand und vom Gefühl, in höheren Ebenen unterwegs war. Ich sah wunderbare Landschaften, die ich jedoch mit Worten nicht beschreiben kann, und durchquerte mehrere verschiedene Ebenen hintereinander. Den Übergang von einer Ebene zur nächsten spürte ich jedes Mal deutlich. Eine Art Energie schien mich zu tragen und zu führen. Die Atmosphäre dieser Welten war pure Liebe. Sie war allgegenwärtig, hüllte mich ein und durchdrang meinen subtilen Körper. Ich war absolut glücklich und wäre gern in diesen „himmlischen Regionen“ geblieben.

Als ich wieder auf der Erde zurück war, beschloss ich – kurz vor dem physischen Körper schwebend – diese wunderbare Reise zu wiederholen, was auch gelang und sogar ein drittes Mal. Nach dem letzten Aufstieg merkte ich, wie die Energie nachließ. Sie genügte jedoch noch, um auszuprobieren, ob ich waagerecht schwebend durch die Wände komme, ohne Widerstand zu spüren. Das klappte auch. Wieder im Körper fühlte ich mich wunderbar gut, und ich war mit Freude und Dankbarkeit für dieses überirdische Erlebnis erfüllt. Am Morgen danach erzählte ich begeistert in der Kantine einem sympathischen Kollegen davon. Er sah mich nur entgeistert an und vermied es fortan, mit mir zu reden. Das war mir eine Lehre.

Diese Liebesempfindung war unendlich intensiv. Auf der Erde kann man eine solche wahrscheinlich nie erleben. Jahre später traf ich dann in Indien meine sogenannte große Liebe in der Gestalt eines Mannes. Ich war überglücklich und wäre sofort, wenn nötig, für ihn gestorben. Trotzdem war diese Liebe nicht mit derjenigen in den jenseitigen Welten zu vergleichen. Sie war lediglich ein Abglanz davon. Das seelisch-geistige Erleben auf den jenseitigen Ebenen hat mein irdisches Leben verwandelt. Von Stund an war ich nie mehr vollkommen niedergeschlagen und deprimiert, obwohl es noch über fünf Jahre dauerte, bis ich Abdullah, meinen Liebsten, Ende 1979 in Pondicherry traf.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Allerdings musste ich bereits nach knapp eineinhalb Jahren Abschied von ihm nehmen, weil er Anfang 1982, während meiner Abwesenheit, im Indischen Ozean ertrank. Als ich die Nachricht erhielt, war ich natürlich am Boden zerstört. Trotzdem half mir auch jetzt die Gewissheit, dass das Leben mit dem irdischen Tod nicht endet. Abdullah besuchte mich in meinem Schlafzimmer in Luxemburg. Diese Erfahrung war vollkommen natürlich, als hätte er wieder einen irdischen Körper. Wir umarmten und küssten uns ganz real und verschmolzen irgendwie miteinander. Danach erholte ich mich von meinem Kummer und bereitete den nächsten Aufenthalt in Indien vor.

9. 6. 14